Das Buch
Jamie Conklin wächst in Manhattan auf und wirkt wie ein normaler Junge. Mit seiner alleinerziehenden Mutter Tia teilt er aber ein Geheimnis: Er kann von klein auf die Geister kürzlich Verstorbener sehen und mit ihnen reden. Und die Toten müssen alle seine Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Tia ist Literaturagentin und hat sich gerade aus großer finanzieller Not gekämpft, da stirbt ihr lukrativster Autor. Der langersehnte Abschlussband seiner großen Bestsellersaga blieb leider unvollendet – wäre da nicht Jamies Gabe. Das Befragen der Toten ruft allerdings auch ungewollte Dämonen herbei.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
STEPHEN KING
SPÄTER
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
LATER
bei Titan Books, London
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Copyright © 2021 by Stephen King
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-27738-3
V002
Für Chris Lotts
»Es kommt nicht immer ein neuer Tag.«
Michael Landon
Ich fange nicht gern mit einer Rechtfertigung an – wahrscheinlich gibt es dagegen sogar eine Regel wie die, einen Satz nie mit einer Präposition enden zu lassen –, aber nach dem Durchlesen der dreißig Seiten, die ich bisher geschrieben habe, glaube ich, das tun zu müssen. Es geht um ein bestimmtes Wort, das ich ständig verwende. Von meiner Mutter habe ich jede Menge vulgäre Ausdrücke gelernt und die auch von klein auf benutzt (wie ihr noch feststellen werdet), aber das Wort, um das es hier geht, ist nicht vulgär. Es lautet später wie in »später dann«, in »später habe ich erfahren« und in »erst später ist mir klar geworden«. Ich weiß, dass das monoton klingt, aber ich hatte keine andere Wahl. Meine Geschichte fängt nämlich in einer Zeit an, wo ich noch an den Weihnachtsmann und die Zahnfee glaubte (obwohl ich da schon mit sechs meine Zweifel hatte). Heute bin ich zweiundzwanzig, weshalb das jetzt später ist, alles klar? Wenn ich in meinen Vierzigern bin – vorausgesetzt, dass ich es bis dahin schaffe –, werde ich wahrscheinlich auf das zurückblicken, was ich mit zweiundzwanzig zu verstehen meinte, und erkennen, dass ich eine Menge überhaupt nicht verstanden habe. Es gibt immer ein Später, das weiß ich jetzt. Zumindest bis wir sterben. Dann ist wohl alles andere vorher.
Ich heiße Jamie Conklin, und einmal habe ich einen Thanksgiving-Truthahn gemalt, den ich für saugeil hielt. Später – und zwar nicht viel später – stellte ich fest, dass er eher saumäßig misslungen war. Manchmal ist die Wahrheit echt beschissen.
Das Ganze hier ist wohl eine Horrorstory. Also dann mal los.
Jetzt bin ich bald fertig (und ich erinnere mich, dass ich mal dachte, dreißig Seiten zu schreiben wäre eine Menge!), aber noch nicht ganz, also bitte dabeibleiben, bis man sich Folgendes zu Gemüte geführt hat.
Meine Großeltern – mein einziges Großelternpaar, wie sich herausstellte – starben auf dem Weg zu einer Weihnachtsfeier. Irgendein Typ, der zu viel Weihnachtspunsch intus hatte, schleuderte über drei Fahrspuren einer vierspurigen Straße hinweg und stieß frontal mit ihnen zusammen. Der Besoffene überlebte, wie das so oft der Fall war. Als mein Onkel (zugleich mein Vater, wie sich herausstellte) davon erfuhr, machte er in New York gerade die Runde bei mehreren Weihnachtsfeiern, um Verlegern, Lektoren und Schriftstellern Honig ums Maul zu schmieren. Seine Agentur war gerade erst gegründet worden, und Onkel Harry (mein lieber alter Papa!) war wie jemand, der im tiefen Wald ein Häufchen brennende Zweige anzündete und hoffte, damit ein großes Lagerfeuer zu entfachen.
Zur Beerdigung kam er heim nach Arcola, einem kleinen Ort in Illinois. Anschließend fand im Haus der Conklins ein Leichenschmaus statt. Lester und Norma Conklin waren sehr beliebt gewesen, weshalb viele Leute kamen. Manche brachten Essen mit, und manche hatten Alkohol dabei, der bekanntlich gern als Pate für Überraschungsbabys dient. Tia Conklin, die damals gerade das College hinter sich und ihre erste Stelle bei einem Steuerberater angetreten hatte, trank eine ziemliche Menge. Ihr Bruder ebenfalls. Oje, oje, nicht wahr?
Als alle Gäste heimgegangen sind, sieht Harry Tia in ihrem Zimmer auf dem Bett liegen, nur mit einem Slip bekleidet. Sie weint sich die Augen aus. Harry legt sich neben sie und nimmt sie in die Arme. Nur um sie zu trösten, wohlgemerkt, aber eine Art Trost führt zu einer anderen. Nur dieses eine Mal, aber einmal ist genug, und sechs Wochen später erhält Harry – nach New York zurückgekehrt – einen Anruf. Nicht lange danach tritt meine schwangere Mutter in seine kleine Firma ein.
Hätte die Literaturagentur in dieser von harter Konkurrenz geprägten Szene ohne meine Mutter wohl überlebt, oder wäre das Häuflein aus Zweigen und Blättern, das mein Vater/Onkel aufgeschichtet hatte, mit einer kleinen, weißen Rauchwolke verpufft, bevor er die ersten größeren Holzscheite hinzufügen konnte? Schwer zu sagen. Als die Agentur ins Rollen kam, lag ich in einem Stubenwagen, pinkelte in meine Pampers und machte Gugu. Aber meine Mutter war gut in ihrem Beruf, das weiß ich. Wäre sie das nicht gewesen, so wäre die Agentur später, als der Finanzmarkt zusammenkrachte, schlicht untergegangen.
Im Ernst, es gibt eine Menge schwachsinnige Legenden über durch Inzest gezeugte Kinder, vor allem wenn Vater und Tochter oder Schwester und Bruder die Eltern sind. Ja, es kann medizinische Probleme geben, und ja, die Chancen dafür sind bei Inzest ein bisschen höher, aber die Vorstellung, dass die Mehrheit dieser Kinder schwachsinnig, mit nur einem Auge oder mit Klumpfüßen geboren wird? Reiner Quatsch. Wie ich herausbekam, sind die häufigsten Defekte bei Babys aus inzestuösen Beziehungen zusammengewachsene Finger oder Zehen. Ich habe Narben an der Innenseite von Mittel- und Ringfinger der linken Hand, weil die chirurgisch getrennt wurden, als ich noch ein Säugling war. Als ich meine Mutter das erste Mal zu den Narben befragte – da war ich kaum älter als vier oder fünf –, erklärte sie mir, das hätten die Ärzte getan, bevor sie mich aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hätte. »Ging kinderleicht«, sagte sie.
Und natürlich ist da das andere, womit ich geboren wurde, was eventuell damit zu tun haben könnte, dass sich meine Eltern einst, an Trauer und Alkohol leidend, etwas näher gekommen sind, als das für Bruder und Schwester angebracht gewesen wäre. Möglich ist aber auch, dass meine Fähigkeit, Tote zu sehen, überhaupt nichts damit zu tun hat. Eltern, die nicht die einfachste Melodie halten können, können singende Wunderkinder bekommen, Analphabeten großartige Schriftsteller. Manchmal kommt ein Talent von nirgendwoher, wenigstens scheint es so.
Moment mal, ich muss hier was gestehen.
Die ganze Geschichte hier ist fiktiv.
Ich weiß nämlich gar nicht, wie Tia und Harry Eltern eines lebhaften männlichen Babys namens James Lee Conklin geworden sind, weil ich Onkel Harry nie nach irgendwelchen Einzelheiten gefragt habe. Er hätte es mir erzählt – bekanntlich können die Toten nicht lügen –, aber ich wollte es nicht wissen. Nachdem er die erwähnten drei Worte ausgesprochen hatte – das bin ich –, wandte ich mich von ihm ab und ging ins Pflegeheim, um meine Mutter zu suchen. Er folgte mir nicht, und ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich dachte, er würde vielleicht zu seiner Trauerfeier kommen oder zur Zeremonie am Grab, aber das war nicht der Fall.
Auf der Rückfahrt in die Stadt (mit dem Bus wie in früheren Zeiten) fragte Mama mich, ob etwas nicht in Ordnung sei. Doch, sagte ich, ich würde nur versuchen, mich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Onkel Harry wirklich nicht mehr da war. »Es kommt mir so vor wie damals, wo ich meine Milchzähne verloren habe«, sagte ich. »In mir drin ist ein Loch, das ich ständig spüre.«
»Ich weiß«, sagte sie und umarmte mich. »Mir geht es genauso. Aber traurig bin ich nicht. Das hab ich vorher nicht erwartet und bin es jetzt tatsächlich nicht. Weil er eigentlich schon sehr lange nicht mehr da war.«
Es tat gut, umarmt zu werden. Ich liebte meine Mama, und ich liebe sie noch heute, aber an jenem Tag habe ich sie angelogen, und zwar nicht nur, indem ich ihr etwas verschwieg. Es war nämlich nicht so, wie einen Milchzahn zu verlieren, sondern so, als würde mir ein zusätzlicher Zahn wachsen, für den in meinem Mund kein Platz war.
Bestimmte Fakten lassen die Geschichte, die ich gerade erzählt habe, allerdings wahrscheinlicher werden. Lester und Norma Conklin kamen tatsächlich durch einen betrunkenen Autofahrer ums Leben, als sie auf dem Weg zu einer Weihnachtsfeier waren. Und Harry kam zu ihrer Beerdigung nach Illinois. Im Arcola Record Herald habe ich einen Artikel gefunden, in dem steht, er habe die Grabrede gehalten. Tia Conklin wiederum hat Anfang des folgenden Jahrs tatsächlich ihre Stelle gekündigt und ist nach New York gezogen, um ihrem Bruder mit seiner neuen Literaturagentur zu helfen. Und James Lee Conklin kam wirklich etwa neun Monate nach der Beerdigung im Krankenhaus Lenox Hill auf die Welt.
Also ja, ja, ja und genau, genau, genau, es könnte alles genau so sein, wie ich es erzählt habe. Jedenfalls spricht eine gewisse Logik dafür. Aber es könnte auch anders gelaufen sein, was mir wesentlich weniger gefallen würde. Zum Beispiel könnte es sich darum handeln, dass eine junge Frau, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte, von ihrem ebenfalls besoffenen, geilen älteren Bruder vergewaltigt wurde. Der Grund, weshalb ich nicht weitergefragt habe, ist einfach: Ich wollte es nicht wissen. Frage ich mich, ob die beiden über eine Abtreibung nachgedacht haben? Manchmal. Mach ich mir Sorgen, ich könnte mehr von meinem Onkel/Vater geerbt haben als die Grübchen, die sich zeigen, wenn ich lächle, und die ersten Spuren von Weiß, die bereits im zarten Alter von zweiundzwanzig Jahren in meinem schwarzen Haar aufgetaucht sind? Oder, um es direkt zu sagen, mache ich mir Sorgen, ich könnte im immer noch zarten Alter von dreißig, fünfunddreißig oder vierzig Jahren anfangen, den Verstand zu verlieren? Ja. Natürlich tue ich das. Laut Internet hat mein Vater/Onkel an einer Alzheimer-Krankheit mit frühem Beginn und familiärer Häufung gelitten. Die lauert auf Genen mit Namen PSEN1 und PSEN2, daher gibt es einen Test dafür. Man muss nur in ein Röhrchen spucken und auf das Ergebnis warten. Ich nehme an, dass ich den Test machen werde.
Später.
Jetzt noch was Lustiges – wenn ich die Seiten durchgehe, merke ich, dass mein Stil mit der Zeit immer besser geworden ist. Ich will mich gewiss nicht mit Faulkner oder Updike vergleichen, sondern nur sagen, dass ich mich verbessert habe, indem ich etwas tat, was wohl für die meisten Dinge im Leben gilt. Ich hoffe nur, auf andere Weise besser und stärker zu sein, wenn ich dem Ding wiederbegegne, das Therriault in Besitz genommen hat. Das werde ich nämlich. Seit jenem Abend in Marsdens Haus, als das, was Liz im Spiegel sah, sie in den Wahnsinn getrieben hat, habe ich es nicht zu Gesicht bekommen, aber es wartet auf mich. Das spüre ich. Ich weiß es sogar, obwohl ich nicht weiß, was dieses Ding ist.
So oder so kommt es nicht darauf an. Ich werde mein Leben nicht mit der Frage verbringen, ob ich im mittleren Alter den Verstand verlieren werde, oder damit, dass der Schatten dieses Dings über mir hängt. Es hat mir schon an zu vielen Tagen die Freude geraubt. Die Tatsache, dass ich das Kind eines Inzests bin, kommt mir lächerlich unwichtig vor, verglichen mit der schwarzen Hülle von Therriault, durch deren aufgesprungene Haut das Todeslicht leuchtet.
In den Jahren nachdem dieses Ding mich erneut zu einem Wettkampf, einem weiteren Ritual von Chüd aufgefordert hat, habe ich viel gelesen und bin dabei auf eine Menge abergläubische Vorstellungen und merkwürdige Legenden gestoßen, die keinen Eingang in die Roanoke-Bücher von Regis Thomas oder in Bram Stokers Dracula gefunden haben. Während es häufig darum geht, dass lebende Menschen von Dämonen besessen sind, habe ich nirgendwo eine Kreatur entdeckt, die in der Lage gewesen wäre, Tote in Besitz zu nehmen. Am nächsten kommen dem Geschichten über bösartige Geister, aber das ist eigentlich absolut nicht dasselbe. Daher habe ich keine Ahnung, womit ich es zu tun habe. Ich weiß nur, dass ich damit umgehen muss. Ich werde nach ihm pfeifen, es wird kommen, wir werden uns umarmen, anstatt uns gegenseitig rituell auf die Zunge zu beißen, und dann … Tja. Dann werden wir erfahren, was passiert, oder nicht?
Ja, das werden wir. Wir werden es erfahren.
Später.
Ich war gerade mit meiner Mutter auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatte mich an die Hand genommen, und in der anderen hielt ich meinen Truthahn, den wir Erstklässler in der Woche vor Thanksgiving angefertigt hatten. Ich war stolz wie Oskar. Wir machten das folgendermaßen: Man legte eine Hand auf ein Blatt Tonpapier und umfuhr sie mit einem Wachsmalstift. So entstanden der Schwanz und der Rumpf. Was den Kopf anging, war man auf sich selbst gestellt.
Als ich Mama meinen Truthahn zeigte, sagte sie ja, ja, ja, genau, genau, genau, total super, aber ich glaube nicht, dass sie ihn sich richtig angesehen hat. Wahrscheinlich dachte sie stattdessen an eines der Bücher, die sie verkaufen wollte. »Das Produkt an den Mann bringen«, wie sie es nannte. Mama war nämlich Literaturagentin. Früher hat das ihr Bruder gemacht, mein Onkel Harry, aber ein Jahr vor der Zeit, von der ich hier erzähle, hatte Mama seine Agentur übernommen. Das ist eine lange, ziemlich traurige Geschichte.
»Ich hab Dunkelgrün genommen, weil das meine Lieblingsfarbe ist«, sagte ich. »Das weißt du doch, oder?« Inzwischen waren wir fast da. Unsere Wohnung lag nur drei Straßen von meiner Schule entfernt.
Ja, ja, ja, hat Mama gesagt. Außerdem: »Wenn wir zu Hause sind, spielst du was oder schaust dir Barney und den Zauberschulbus an, Kleiner. Ich muss massenhaft Anrufe erledigen.«
Worauf ich ja, ja, ja von mir gegeben habe, was mir einen Knuff in die Seite und ein Grinsen einbrachte. Ich fand es immer toll, wenn ich meine Mutter zum Grinsen bringen konnte. Schon mit sechs wusste ich nämlich, dass sie das Leben äußerst ernst nahm. Später stellte ich fest, dass das teilweise an mir lag. Sie ging irgendwie davon aus, dass sie ein ziemlich gestörtes Kind aufziehen würde. Der Tag, von dem ich gerade erzähle, war jedenfalls der, wo sie definitiv zu dem Schluss kam, dass ich doch nicht gestört war. Was für sie einerseits eine Erleichterung und andererseits keine gewesen sein muss.
»Du sprichst mit keinem darüber, ja?«, sagte sie später an jenem Tag zu mir. »Außer mit mir. Und vielleicht nicht mal mit mir, Kleiner. Okay?«
Ich sagte okay. Wenn man klein ist und es sich um die eigene Mama handelt, sagt man zu allem okay. Außer natürlich, sie erklärt einem, dass es Zeit fürs Bett ist. Oder sie befiehlt, bloß ja den ganzen Brokkoli aufzuessen.
Als wir zu Hause ankamen, war der Aufzug immer noch kaputt. Theoretisch könnte man sagen, das Ganze wäre vielleicht anders gelaufen, wenn das Ding funktioniert hätte, aber das glaube ich nicht. Leute, die behaupten, im Leben gehe es nur um die Entscheidungen, die wir treffen, und um die Wege, die wir wählen, haben meiner Meinung nach keinen blassen Schimmer. Egal ob Treppe oder Aufzug, wir wären in jedem Fall im zweiten Stock gelandet. Wenn der flatterhafte Finger des Schicksals auf einen zeigt, führen alle Wege zum selben Ort, meiner Meinung nach jedenfalls. Eventuell werde ich meine Meinung ändern, wenn ich älter bin, aber das glaube ich eigentlich nicht.
»Was für ein Scheißaufzug«, sagte Mama. Und dann: »Das hast du nicht gehört, Kleiner.«
»Was denn?«, sagte ich, was mir ein weiteres Grinsen einbrachte. Es sollte das letzte an jenem Nachmittag sein, so viel kann ich verraten. Ich fragte, ob ich ihre Tasche tragen solle, in der wie immer ein Manuskript steckte. An jenem Tag war es ein dickes, das nach circa fünfhundert Seiten aussah (wenn das Wetter gut war, saß Mama immer auf einer Bank und las, während sie darauf wartete, dass ich aus der Schule kam). »Lieb von dir«, sagte sie. »Aber was erkläre ich dir immer?«
»Jeder muss im Leben seine eigene Last tragen«, sagte ich.
»Haargenau.«
»Ist es von Regis Thomas?«, fragte ich.
»Richtig geraten. Von dem guten alten Regis, der unsere Miete bezahlt.«
»Geht es um Roanoke?«
»Musst du das wirklich fragen, Jamie?« Was mich zum Kichern brachte. Alles, was der gute alte Regis schrieb, spielte in Roanoke. Das war die Last, die er im Leben trug.
Wir stiegen die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo sich außer unserer noch zwei weitere Wohnungen befanden. Unsere hinten im Flur war die schickste. Vor der Tür von 3A standen Mr. und Mrs. Burkett, und mir war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Mr. Burkett rauchte eine Zigarette, was ich bei ihm noch nie gesehen hatte und was in unserem Haus außerdem verboten war. Seine Augen waren blutunterlaufen, und die Haare standen ihm in wirren grauen Büscheln vom Kopf ab. Ich sagte immer Mister zu ihm, aber eigentlich war er Professor Burkett und lehrte an der New York University irgendetwas Kluges. Englische und europäische Dichtung, wie ich später erfuhr. Mrs. Burkett stand barfuß nur im Nachthemd da. Das Nachthemd war ziemlich dünn. Ich konnte durch es hindurch fast alles von ihr sehen.
»Was ist denn passiert, Marty?«, fragte meine Mutter.
Bevor er etwas erwidern konnte, zeigte ich ihm meinen Truthahn. Weil Mr. Burkett traurig wirkte und ich ihn aufmuntern wollte, aber auch weil ich so stolz darauf war. »Schauen Sie mal, Mr. Burkett! Ich hab einen Truthahn gemalt! Schauen Sie mal, Mrs. Burkett!« Beim Hinhalten hob ich ihn vors Gesicht, weil sie nicht denken sollte, dass ich auf ihren Busen glotzte.
Mr. Burkett achtete nicht auf mich. Ich glaube, er hatte mich nicht mal gehört. »Tia, ich habe eine schreckliche Nachricht. Heute Morgen ist Mona gestorben.«
Meine Mutter ließ die Tasche mit dem Manuskript zwischen ihre Füße fallen und schlug sich die Hand vor den Mund. »O nein! Das ist nicht wahr!«
Er brach in Tränen aus. »Sie ist nachts aufgestanden und hat gesagt, sie will ein Glas Wasser trinken. Ich bin wieder eingeschlafen, und heute Morgen lag sie auf dem Sofa und hatte eine Steppdecke bis zum Kinn gezogen. Da bin ich auf Zehenspitzen in die Küche gegangen und hab Kaffee aufgesetzt, weil ich dachte, der Duft würde sie auf-auf-w-w-w… würde sie aufwecken …«
Dann brach er wirklich zusammen. Mama nahm ihn in die Arme, wie sie es mit mir tat, wenn ich mir wehgetan hatte, obwohl Mr. Burkett ungefähr hundert Jahre alt war (vierundsiebzig, wie ich später erfuhr).
Und da sagte Mrs. Burkett etwas zu mir. Sie war schwer zu verstehen, wenn auch nicht so schwer wie manche anderen, weil sie noch ziemlich frisch war. »Truthähne sind nicht grün, James«, sagte sie.
»Meiner schon«, sagte ich.
Meine Mutter hielt Mr. Burkett immer noch in den Armen und wiegte ihn irgendwie hin und her. Die beiden hörten Mrs. Burkett nicht, und mich hörten sie auch nicht, weil sie erwachsene Dinge taten: Mama spendete Trost, Mr. Burkett heulte.
»Ich hab Doktor Allen angerufen«, sagte Mr. Burkett. »Als er dann da war, meinte er, dass sie wahrscheinlich einen Schlag hatte.« Wenigstens glaube ich, dass er das gesagt hat. Er weinte so sehr, dass er nicht gut zu verstehen war. »Er hat für mich beim Bestattungsinstitut angerufen. Die haben sie weggebracht. Ich weiß gar nicht, was ich ohne sie tun soll.«
Mrs. Burkett sagte: »Wenn mein Mann nicht aufpasst, wird er deiner Mutter mit seiner Zigarette noch das Haar versengen.«
Was er tatsächlich tat. Ich konnte die schmorenden Haare riechen, ein Gestank wie beim Damenfriseur. Mama war zu höflich, etwas zu sagen, aber sie sorgte dafür, dass er sie losließ, und dann nahm sie ihm die Zigarette ab, warf sie auf den Boden und trat darauf. Das fand ich richtig eklig, eine echte Schweinerei, aber ich hielt den Mund. Ich kapierte, dass es sich um eine besondere Situation handelte.
Außerdem kapierte ich, dass er durchdrehen würde, wenn ich weiter mit Mrs. Burkett sprach. Mama ebenfalls. Selbst ein kleiner Junge weiß gewisse grundlegende Dinge, wenn er nicht weich in der Birne ist. Man sagt bitte, man sagt danke, man wedelt in der Öffentlichkeit nicht mit dem Schniedel herum, man kaut nicht mit offenem Mund, und man spricht nicht mit toten Leuten, wenn sie neben lebenden Leuten stehen, die gerade erst anfangen, sie zu vermissen. Zu meiner Verteidigung will ich nur sagen: Beim ersten Anblick war mir noch nicht bewusst gewesen, dass sie tot war. Später wurde ich besser darin, den Unterschied zu beurteilen, aber damals musste ich das erst noch lernen. Durch das Nachthemd von Mrs. Burkett konnte ich hindurchschauen, durch sie selbst nicht. Tote sehen genauso aus wie Lebende, nur dass sie immer die Kleidung wie beim Sterben tragen.
Währenddessen kaute Mr. Burkett die ganze Sache noch einmal durch. Er erzählte meiner Mutter, wie er neben dem Sofa auf dem Boden gesessen und die Hand seiner Frau gehalten hatte, bis der Arzt kam, und dann wieder, bis die Leute vom Bestattungsinstitut gekommen waren, um sie wegzuschaffen. Eigentlich sagte er: »Um sie von dannen zu bringen«, was ich nicht verstand, bis Mama es mir erklärte. Das Weinen hatte zwischendurch nachgelassen, nahm jetzt jedoch wieder Fahrt auf. »Ihre Ringe sind weg«, sagte er unter Tränen. »Nicht nur ihr Hochzeitsring, sondern auch der Verlobungsring mit dem großen Diamanten. Ich hab auf dem Nachttisch auf ihrer Bettseite nachgeschaut, wo sie die Dinger immer hinlegt, wenn sie sich die Hände mit der scheußlich riechenden Arthritissalbe einreibt …«
»Die riecht tatsächlich erbärmlich«, bestätigte Mrs. Burkett. »Das Lanolin da drin ist im Grunde nur Schaffett, aber irgendwie hilft’s.«
Ich nickte, um auszudrücken, dass ich verstanden hätte, sagte aber nichts.
»… und auf dem Waschbecken im Bad, weil sie die Ringe manchmal da liegen lässt … Überall hab ich nachgeschaut.«
»Die werden schon wieder auftauchen«, sagte meine Mutter besänftigend, und da ihre Haare jetzt nicht mehr gefährdet waren, nahm sie Mr. Burkett wieder in die Arme. »Sie tauchen bestimmt wieder auf, Marty, mach dir darüber keine Sorgen.«
»Ich vermisse sie so sehr! Ich vermisse sie jetzt schon!«
Mrs. Burkett wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. »Wahrscheinlich dauert es nicht mal sechs Wochen, bis er Dolores Magowan zum Mittagessen ausführt.«
Mr. Burkett flennte, und meine Mutter tröstete ihn, so wie sie mich tröstete, wenn ich mir mal das Knie aufschürfte oder wie damals, als ich ihr eine Tasse Tee machen wollte und mir heißes Wasser auf die Hand geschwappt ist. Es herrschte also irgendwie ein ziemlich hoher Lärmpegel, weshalb ich es riskierte, wenn auch nur mit leiser Stimme.
»Wo sind Ihre Ringe denn, Mrs. Burkett? Wissen Sie das?«
Wenn sie tot sind, müssen sie die Wahrheit sagen. Im Alter von sechs Jahren wusste ich das allerdings noch nicht; ich nahm einfach an, dass alle Erwachsenen, ob nun lebendig oder tot, stets die Wahrheit sagten. Natürlich glaubte ich damals auch, Goldlöckchen wäre ein echtes Mädchen. Man darf mich gern als dämlich bezeichnen, aber immerhin glaubte ich wenigstens nicht, dass die drei Bären auch wirklich sprechen konnten.
»Im obersten Fach vom Flurschrank«, sagte sie. »Ganz hinten, hinter den Fotoalben.«
»Warum da?«, fragte ich, worauf meine Mutter mir einen seltsamen Blick zuwarf. Soweit sie sehen konnte, unterhielt ich mich mit dem leeren Wohnungseingang … obwohl sie eigentlich längst wusste, dass ich ein bisschen anders als andere Kinder tickte. Nach einem nicht gerade schönen Vorfall im Central Park – dazu bald mehr – bekam ich mit, wie sie einer von ihren Verlagsfreundinnen am Telefon erzählte, ich hätte eine besondere Beziehung zur Geisterwelt. Was mir einen gewaltigen Schrecken einjagte. Geister setzte ich nämlich mit Gespenstern gleich, und vor denen hatte ich furchtbare Angst.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Mrs. Burkett. »Aber da hatte ich wahrscheinlich schon den Schlaganfall. Das heißt, meine Gedanken sind in Blut ertrunken.«
In Blut ertrunkene Gedanken. Das habe ich nie vergessen.
Mama fragte Mr. Burkett, ob er mit in unsere Wohnung kommen wolle, zu einer Tasse Tee (»oder etwas Stärkerem«), aber er lehnte ab, weil er noch einmal nach den verschwundenen Ringen seiner Frau suchen wollte. Daraufhin fragte sie ihn, ob wir ihm was vom Chinesen mitbringen sollten, wenn wir dort unser Abendessen holten, und er sagte: »Das wäre schön, vielen Dank, Tia.«
»De nada«, sagte meine Mutter (das verwendete sie beinah so oft wie ja, ja, ja und genau, genau, genau), und dann erklärte sie ihm, wir würden ihm das Essen gegen sechs in die Wohnung bringen, falls er nicht bei uns essen wolle, wozu er gern eingeladen sei. Nein, sagte er, er würde lieber bei sich essen, aber er fände es nett, wenn wir uns dann zu ihm gesellen würden. Nur dass er zu uns sagte, als wäre Mrs. Burkett noch am Leben. Was sie ja nicht war, obwohl sie dastand.
»Bis dahin hast du die Ringe bestimmt gefunden«, sagte Mama. Sie nahm mich an die Hand. »Komm, Jamie. Wir besuchen Mr. Burkett später wieder. Jetzt lassen wir ihn erst mal lieber für sich allein.«
»Truthähne sind nicht grün, Jamie«, sagte Mrs. Burkett. »Und das da sieht sowieso nicht wie ein Truthahn aus. Das sieht aus wie ein Klecks, aus dem Finger ragen. Ein Rembrandt bist du nicht gerade.«
Tote Leute mussten die Wahrheit sagen, was okay war, solange man die Antwort auf eine Frage erfahren wollte, aber wie schon gesagt, die Wahrheit war halt manchmal echt beschissen. Weshalb ich irgendwie wütend auf Mrs. Burkett wurde, wenn auch nur kurz, weil sie auf einmal zu weinen anfing. Sie wandte sich Mr. Burkett zu und sagte: »Wer wird jetzt dafür sorgen, dass du die Gürtelschlaufe hinten an deiner Hose nicht vergisst? Dolores Magowan? Da fress ich doch ’nen Besen!« Sie küsste seine Wange … oder küsste in deren Richtung, das war mir nicht ganz klar. »Ich habe dich geliebt, Marty. Das tu ich immer noch.«
Mr. Burkett hob die Hand und kratzte sich an der Stelle, wo ihre Lippen ihn berührt hatten, als würde es ihn da jucken. Das hat er wohl jedenfalls gedacht.
Also ja, ich kann tote Leute sehen. Das war schon immer so, soweit ich mich erinnern kann. Allerdings ist es nicht so wie in dem einen Film mit Bruce Willis. Manchmal ist es einfach nur interessant, manchmal eher beängstigend (wie bei dem Typen im Central Park), und manchmal ist es extrem nervig, aber hauptsächlich ist es einfach so, wie es ist. Wie wenn man Linkshänder ist oder schon als Dreijähriger klassische Musik spielen kann oder von früh einsetzender Demenz betroffen ist wie mein Onkel Harry, als der erst zweiundvierzig war. Als Sechsjähriger sind mir zweiundvierzig Jahre alt vorgekommen, aber schon damals habe ich begriffen, dass man in dem Alter eigentlich zu jung dafür ist, nicht mehr zu wissen, wer man ist. Oder welchen Namen die Dinge haben – aus irgendeinem Grund hat mir das immer am meisten Angst gemacht, wenn wir Onkel Harry besucht haben. Seine Gedanken sind zwar nicht im Blut von einem geplatzten Gehirngefäß ertrunken, aber ertrunken sind sie trotzdem.
Wir sind zur 3C rüber. Meine Mutter brauchte beim Aufschließen etwas Zeit, weil an unserer Tür drei Schlösser waren. Laut Mama war das der Preis, den man bezahlte, wenn man stilvoll wohnen wollte. Unsere Wohnung hatte sechs Zimmer und lag zur Straße hin. Mama nannte sie den Palast an der Avenue. Zweimal pro Woche kam eine Putzfrau. In dem Parkhaus an der Second Avenue hatte Mama einen Range Rover stehen, mit dem wir manchmal nach Speonk zu Onkel Harry fuhren. Dank Regis Thomas und einigen anderen Schriftstellern (aber hauptsächlich dank dem guten alten Regis) lebten wir in Saus und Braus. Allerdings sollte das nicht ewig andauern, eine deprimierende Entwicklung, von der ich nur allzu bald erzählen werde. Im Rückblick denke ich manchmal, mein Leben war wie ein Roman von Dickens, nur halt mit Kraftausdrücken.
Mama warf Manuskript- und Handtasche aufs Sofa und setzte sich. Das Sofa gab das furzende Geräusch von sich, das uns normalerweise zum Lachen brachte, jedoch nicht an jenem Tag. »Verdammte Scheiße«, sagte Mama, dann hob sie abwehrend die Hand. »Das hast du …«
»Ich hab es nicht gehört, nein«, sagte ich.
»Gut. Ich brauche einen Elektroschockkragen oder irgendein Ding, das jedes Mal summt, wenn ich in deiner Gegenwart fluche. Als Training sozusagen.« Sie schob die Unterlippe vor und blies sich die Fransen aus der Stirn. »Ich muss noch zweihundert Seiten vom neuesten Regis lesen …«
»Wie heißt das Buch denn diesmal?«, fragte ich, wobei ich schon wusste, dass im Titel von Roanoke vorkommen würde. Das war immer der Fall.
»Die Geistermaid von Roanoke«, sagte sie. »Es ist eines von seinen besseren, mit viel Se… Mit viel Küssen und Kuscheln.«
Ich rümpfte die Nase.
»Tut mir leid, Kleiner, aber die Damen lieben nun mal pochende Herzen und heiße Lenden.« Sie warf einen Blick auf die Tasche mit der Geistermaid von Roanoke, die mit den üblichen sechs bis acht Gummibändern gesichert war. Wenn eines von den Dingern riss, gab Mama immer einige von ihren besten Ausdrücken von sich. Viele davon verwende ich noch heute. »Jetzt hab ich allerdings den Eindruck, dass ich nichts will als ein Glas Wein trinken. Vielleicht sogar eine ganze Flasche. Mona Burkett war zwar eine echte Zimtzicke, und wahrscheinlich ist er ohne sie besser dran, aber momentan ist er doch ziemlich am Boden zerstört. Ich hoffe bloß, dass er Verwandte hat, weil ich keine Lust habe, als oberste Trostspenderin zu dienen.«
»Sie hat ihn auch geliebt«, sagte ich.
Mama warf mir einen seltsamen Blick zu. »Ja? Meinst du?«
»Das weiß ich. Sie hat zwar was Gemeines über meinen Truthahn gesagt, aber dann hat sie geweint und ihm einen Kuss auf die Backe gegeben.«
»Das hast du dir bloß eingebildet, James«, sagte sie, wenn auch nur halbherzig. Inzwischen wusste sie es besser, da bin ich mir ganz sicher, aber es fällt Erwachsenen unheimlich schwer, so was zu glauben, und ich meine auch zu wissen, warum. Wenn sie als Kinder herausbekommen, dass der Weihnachtsmann ein Fake, Goldlöckchen kein echtes Mädchen und der Osterhase reiner Bullshit ist – das sind nur drei Beispiele, ich könnte weitere aufzählen –, entsteht in ihnen ein Komplex, und sie hören auf, an irgendwas zu glauben, was sie nicht mit eigenen Augen sehen können.
»Nee, das hab ich mir nicht eingebildet. Sie hat gesagt, ein Rembrandt wär ich nicht gerade. Wer ist das eigentlich?«
»Ein Maler«, sagte sie und blies sich wieder die Fransen aus der Stirn. Ich weiß nicht, wieso sie die nicht einfach abgeschnitten oder sich eine andere Frisur zugelegt hat. Was kein Problem gewesen wäre, weil sie wirklich hübsch war.
»Wenn wir zum Essen rübergehen, darfst du Mr. Burkett auf keinen Fall etwas von dem erzählen, was du angeblich gesehen hast.«
»Tu ich schon nicht«, sagte ich. »Aber sie hatte recht. Mein Truthahn ist beschissen.« Ich war ziemlich deprimiert darüber.
Offenbar war das sichtbar, jedenfalls streckte Mama die Arme aus. »Komm mal her, Kleiner.«
Ich ging zu ihr und umarmte sie.
»Dein Truthahn ist wunderschön. Es ist der schönste Truthahn, den ich je gesehen habe. Ich werde ihn an den Kühlschrank hängen, und da wird er für immer bleiben.«
Ich drückte sie, so fest ich konnte, und vergrub das Gesicht in der Höhlung ihrer Schulter, damit ich ihr Parfüm riechen konnte. »Ich hab dich lieb, Mama.«
»Ich hab dich auch lieb, Jamie, und zwar ganz doll. Jetzt geh spielen, oder setz dich vor den Fernseher. Ich muss die Anrufe machen, bevor ich das Essen bestelle.«
»Okay.« Ich machte mich auf den Weg in mein Zimmer, blieb jedoch gleich wieder stehen. »Sie hat ihre Ringe auf das oberste Fach in dem Schrank im Flur gelegt, hinter die Fotoalben.«
Meine Mutter starrte mich mit offenem Mund an. »Wieso das denn?«
»Das hab ich sie auch gefragt, und sie hat gesagt, sie weiß es nicht. Da wären ihre Gedanken schon in Blut ertrunken, hat sie gemeint.«
»Du lieber Himmel«, flüsterte Mama und griff sich mit der Hand an den Hals.
»Du solltest dir was ausdenken, wie wir es ihm erzählen, wenn wir bei ihm zum Essen sind. Dann muss er sich keine Sorgen mehr darum machen. Kann ich Hühnchen General Tso haben?«
»Ja«, sagte sie. »Aber mit braunem, nicht mit weißem Reis.«
»Genau, genau, genau«, sagte ich und ging Lego spielen. Ich baute gerade einen Roboter.
Die Wohnung der Burketts war kleiner als unsere, aber hübsch. Als wir nach dem Essen unsere Glückskekse knackten (auf meinem stand Eine Feder in der Hand ist besser als ein Vogel in der Luft, was absolut keinen Sinn ergibt), sagte Mama: »Hast du eigentlich schon in den Schränken nachgeschaut, Marty? Nach den Ringen, meine ich?«
»Weshalb sollte sie ihre Ringe denn in einen Schrank legen?« Eine durchaus vernünftige Frage.
»Na ja, wenn sie gerade einen Schlaganfall hatte, konnte sie vielleicht nicht mehr ganz klar denken.«
Wir aßen an dem kleinen, runden Tisch in der Küchennische. Mrs. Burkett saß auf einem von den Hockern an der Theke und nickte nachdrücklich, als Mama das sagte.
»Vielleicht schaue ich später nach«, sagte Mr. Burkett. Er klang ziemlich unentschlossen. »Jetzt bin ich zu müde und zu durcheinander.«
»Dann schau im Schlafzimmerschrank nach, sobald du dazu kommst«, sagte Mama. »Ich gehe jetzt gleich zu dem im Flur. Nach dem ganzen süß-sauren Schweinefleisch tut mir ein bisschen Bewegung ganz gut.«
»Ist sie da ganz alleine drauf gekommen?«, sagte Mrs. Burkett. »Ich wusste gar nicht, dass sie so clever ist.« Inzwischen war sie schon nicht mehr so gut zu verstehen. Nach einer Weile würde ich sie überhaupt nicht mehr hören können, sondern nur noch sehen, wie sich ihr Mund bewegt, so als wäre sie hinter einer dicken Glasscheibe. Und bald danach würde sie verschwunden sein.
»Meine Mama ist total clever«, sagte ich.
»Ich würde nie das Gegenteil behaupten«, sagte Mr. Burkett. »Aber wenn sie die Ringe in dem Schrank da draußen findet, fresse ich einen Besen.«
Genau in dem Moment sagte meine Mutter: »Na also!«, und kam mit den Ringen auf der ausgestreckten Hand wieder. Der Hochzeitsring war nichts Besonderes, aber der Verlobungsring war riesig. Mit einem echten Diamanten.
»Das ist doch nicht die Möglichkeit!«, rief Mr. Burkett aus. »Wie um alles in der Welt …?«
»Ich habe zum heiligen Antonius gebetet«, sagte Mama, warf mir jedoch einen schnellen Blick zu. Wobei sie grinste. »Antonius, du guter Mann, führe mich an die Ringe heran! Und wie du siehst, hat es geklappt.«
Ich überlegte, Mr. Burkett zu fragen, ob er seinen Besen mit Salz und Pfeffer essen wolle, ließ es aber bleiben. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, Scherze zu machen, und außerdem stimmte es, was meine Mutter immer sagte: Klugscheißer machen sich nur unbeliebt.
Drei Tage später fand die Beerdigung statt. Es war meine erste, und sie war interessant, wenngleich sie mir nicht gerade Spaß gemacht hat. Immerhin musste sich meine Mutter nicht als oberste Trostspenderin betätigen. Mr. Burkett hatte eine Schwester und einen Bruder, die diese Rolle übernehmen konnten. Sie waren alt, wenn auch nicht so alt wie er. Während der ganzen Trauerfeier weinte er, und seine Schwester reichte ihm ein Papiertaschentuch nach dem anderen. Ihre Handtasche war offenbar voll davon. Ich staunte, dass da noch Platz für irgendetwas anderes war.
Am Abend bestellten Mama und ich uns Pizza bei Domino’s. Mama trank Wein, und ich bekam als besondere Belohnung Kool-Aid, weil ich mich bei der Beerdigung gut benommen hatte. Als nur noch ein Stück Pizza übrig war, fragte sie mich, ob ich meinen würde, dass Mrs. Burkett da gewesen sei.
»Klar. Sie saß auf der Treppe zu dem Ding, wo der Pfarrer und die anderen Leute gestanden haben, um was zu sagen.«
»Du meinst den Ambo. Konntest du …« Sie nahm sich das letzte Stück, beäugte es, legte es wieder hin und sah mich an. »Konntest du durch sie hindurchschauen?«
»Meinst du wie durch einen Geist im Kino?«
»Ja. Das meine ich wohl.«
»Nee. Sie war ganz da, aber immer noch in ihrem Nachthemd. Ich hab mich gewundert, dass ich sie gesehen hab, weil sie schon vor drei Tagen gestorben ist. Normalerweise halten die nicht so lange durch.«
»Sie verschwinden einfach?« Als ob sie versuchen würde, sich darüber klar zu werden. Ich merkte, dass sie nicht gern darüber sprach, war jedoch froh, dass sie es tat. Es war eine Erleichterung.
»Ja, genau.«
»Was hat sie denn getan, Jamie?«
»Sie hat einfach bloß dagesessen. Ein-, zweimal hat sie einen Blick auf ihren Sarg geworfen, aber hauptsächlich hat sie nur ihn angesehen.«
»Mr. Burkett. Marty.«
»Genau. Einmal hat sie was gesagt, aber das konnte ich nicht hören. Wenn sie tot sind, werden ihre Stimmen schnell leiser, wie wenn man im Autoradio die Musik runterdreht. Nach einer Weile kann man sie überhaupt nicht mehr hören.«
»Und dann sind sie fort.«
»Ja«, sagte ich. Ich hatte einen Kloß im Hals, weshalb ich den Rest von meinem Kool-Aid trank, um ihn wegzubekommen. »Fort.«
»Hilf mir jetzt schnell beim Wegräumen«, sagte sie. »Dann können wir eine Folge von Torchwood anschauen, wenn du willst.«
»Klar, cool!« Meiner Meinung nach war Torchwood nicht richtig cool, aber dass ich eine Stunde länger aufbleiben durfte als sonst, war total cool.
»Fein. Sofern dir klar ist, dass wir das nicht zur Gewohnheit werden lassen. Aber zuerst muss ich dir etwas erklären, was sehr wichtig ist. Deshalb spitz jetzt die Ohren, und zwar gut.«
»Okay.«
Sie ließ sich auf ein Knie nieder, damit unsere Gesichter mehr oder weniger auf gleicher Höhe waren, und ergriff mich bei den Schultern, sanft, aber fest. »Erzähl nie wem, dass du tote Leute siehst, James. Niemals.«
»Man würde mir sowieso nicht glauben. Hast du ja früher auch nicht getan.«
»Irgendwas hab ich durchaus geglaubt«, sagte sie. »Seit dem Tag damals im Central Park. Erinnerst du dich noch?« Sie blies sich die Fransen aus der Stirn. »Natürlich erinnerst du dich. Wie könntest du das wohl je vergessen.«
»Ich erinnere mich.« Wobei es mir anders lieber gewesen wäre.
Sie kniete immer noch vor mir und sah mir in die Augen. »Also hör zu. Es ist gut, dass die Leute so etwas nicht glauben. Aber vielleicht glaubt jemand es irgendwann doch. Und dann könnte es zu unangenehmem Gerede kommen, wenn du nicht sogar in Gefahr gerätst.«
»Warum das denn?«
»Ein alter Spruch sagt, tote Männer reden nicht mehr, Jamie. Aber mit dir tun sie das. Und zwar Männer und Frauen, oder? Du sagst, sie müssen auf Fragen reagieren und wahrheitsgemäß antworten. Als ob Sterben wie eine Dosis Natriumthiopental wäre.«
Ich hatte keine Ahnung, was das war, was meine Mutter mir offenbar an der Nasenspitze ansah, weshalb sie sagte, das wäre jetzt nicht weiter wichtig. Aber ich solle mich daran erinnern, was Mrs. Burkett auf meine Frage nach ihren Ringen gesagt habe.
»Wieso?« Ich war meiner Mutter gern so nahe wie jetzt gerade, aber dass sie mich derart aufmerksam ansah, gefiel mir gar nicht.
»Die Ringe waren wertvoll, besonders der Verlobungsring. Man stirbt mit Geheimnissen, Jamie, und es gibt immer Leute, die solche Geheimnisse erfahren wollen. Ich will dir keine Angst einjagen, aber manchmal ist Angst die einzige Warnung, die wirkt.«
Wie der Mann vom Central Park mir die Warnung erteilt hatte, im Verkehr aufzupassen und beim Radfahren immer meinen Helm zu tragen, dachte ich … sprach es aber nicht aus.
»Ich rede schon nicht darüber«, sagte ich.
»Und zwar nie. Außer mit mir. Wenn es unbedingt sein muss.«
»Okay.«
»Gut. Dann sind wir uns ja einig.«
Sie stand auf, und dann gingen wir zum Fernsehen ins Wohnzimmer. Als die Sendung vorbei war, putzte ich mir die Zähne, pinkelte noch mal und wusch mir die Hände. Mama brachte mich ins Bett, gab mir einen Kuss und sagte, was sie immer sagte: »Ich wünsch dir eine gute Nacht, das Lichtlein wird nun ausgemacht. Träum was Schönes, schlafe fein, bald schon wird es wieder morgen sein.«
Pipi!
»Die Chance, dass das passiert, ist total winzig. Wenn man sie neben eine Ameise legen würde, wäre die Ameise so groß wie Godzilla.« Darüber musste ich grinsen, wodurch ich mich auch gleich besser fühlte. Da ich jetzt älter bin, weiß ich, dass sie entweder schwindelte oder falsch informiert war, aber das Gen, von dem das ausgelöst wird, was Onkel Harry hatte – früh einsetzende Demenz –, hatte sie selbst nur verfehlt, Gott sei Dank.
»Ich werde nicht sterben, du wirst auch nicht sterben, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass deine merkwürdige Begabung verkümmert, wenn du älter wirst. Also … alles gut?«
»Alles gut.«
»Keine Tränen mehr, Jamie. Träum was Schönes, schlafe fein …«
»Bald schon wird es wieder morgen sein«, ergänzte ich.
»Genau, genau, genau.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und ging hinaus. Die Tür ließ sie einen Spalt offen, wie sie es immer tat.
Ich wollte ihr nicht erzählen, dass ich nicht wegen der Beerdigung geweint hatte und auch nicht wegen Mrs. Burkett, weil die mir nämlich keine Angst machte. Das tun die meisten nicht. Nur der Fahrradmann im Central Park, der hat mir brutal Angst gemacht. Der war richtig gruselig.