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80 Jahre nach dem Holocaust: ein Buch, das uns die Augen öffnet.

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist – die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.

Peter Longerich, geboren 1955, lehrte als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und war Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags und Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Seine Bücher über die »Politik der Vernichtung« (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, »Davon haben wir nichts gewusst!« (2006), sind Standardwerke. Seine zuletzt bei Siedler erschienenen Biographien über »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und »Hitler« (2015) fanden weltweit Beachtung.

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Peter Longerich

Antisemitismus:
Eine deutsche Geschichte

Von der Aufklärung bis heute

Siedler

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Copyright © 2021 by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Jonas Wegerer

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen


ISBN 978-3-641-16577-2
V002


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Inhalt

Prolog

Einleitung: Einige begriffliche und methodische Vorüberlegungen

I. 1780–1871

1. Die »bürgerliche Verbesserung« der Juden im Zeitalter der Aufklärung

2. Judenemanzipation, früher Nationalismus und Romantik (1807–15)

3. Emanzipationsdebatte und antijüdische Gewalt nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft (1815–20)

4. Restaurationszeit und Vormärz (1820–48)

5. Die Durchsetzung der Emanzipation (1848–71)

II. 1871–1918

1. Die erste antisemitische Welle (1870er und 1880er)

2. Die zweite antisemitische Welle der 1890er und die Ausbreitung des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft

3. Antisemitismus und Rasse: Der intellektuelle Diskurs seit den 1890ern

4. Völkischer Antisemitismus

5. Die Neuformierung der antisemitischen Bewegung seit 1912

6. Erster Weltkrieg

III. 1918–1933

1. Antisemitismus in den Nachkriegsjahren (1918–23)

2. Formierung und Vormarsch der Neuen Rechten (1924–29)

3. Gesellschaftlicher Ausschluss der Juden

4. Der rassistische Diskurs: Rassenhygiene und jüdische Rasse

5. Siegeszug der Antisemiten (1930–33)

IV. 1933–1945

1. Anfänge der nationalsozialistischen »Judenpolitik« (1933–35)

2. Die »Entjudung« der deutschen Gesellschaft und ihre Folgen

3. In den gesellschaftlichen Tod (1936–39)

4. »Judenpolitik« in anderen europäischen Ländern

5. Ausbreitung und Radikalisierung der Judenverfolgung (1939–41)

6. Holocaust (1941–45)

V. NACH DEM HOLOCAUST

1. Latenter Antisemitismus nach 1945

2. Neue Erscheinungsformen und tradierte Inhalte – Die 1960er und 1970er

3. Vergangenheitspolitische Neuorientierungen der 1980er

4. Antisemitismus im wiedervereinigten Deutschland

5. Antisemitismus und deutsche Identität

Epilog: Antisemitismus heute – ein durchlöchertes Tabu

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Prolog

Das Manuskript zu diesem Buch habe ich im Herbst 2019 beendet. In diesem Herbst, am 9. Oktober, dem Tag des jüdischen Versöhnungsfestes, versuchte ein schwer bewaffneter Täter, sich gewaltsam Zugang zu dem von etwa 80 Personen besuchten Gottesdienst in der Synagoge von Halle zu verschaffen; wäre ihm dies gelungen, hätte dies ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des Holocausts ein in der Bundesrepublik beispielloses Massaker unter im Lande lebenden Juden zur Folge gehabt. Der Ausgang der Ereignisse von Halle ist noch in frischer Erinnerung: Frustriert wandte sich der Täter, bekennender Antisemit und Rechtsextremist, von der Synagoge ab und ermordete eine zufällig vorbeikommende Frau und anschließend einen Gast in einem nahen Döner-Imbiss. Die Tat von Halle, die sich in eine globale Serie von ähnlichen Gewalttaten mit vielen Toten einordnen lässt, löste nicht nur weltweites Entsetzen aus, sondern führte in Deutschland zu einer aufgeregten Debatte über die Motive des Täters, über rechtsextreme Gewalt und das Fortwirken des Antisemitismus, über Repression und Prävention zur Verhinderung solcher Gewalttaten sowie über Versäumnisse auf diesem Gebiet in der Vergangenheit.

Die Debatte machte erneut deutlich, dass der Hass auf die Juden eine zentrale Rolle im rechtsextremen Weltbild einnimmt, das im Übrigen aus einem Konglomerat von Fremdenfeindlichkeit, Antiislamismus, militantem Antifeminismus, Antiisraelismus und Verschwörungstheorien besteht, letztlich aber »die Juden« für die großen Übel dieser Welt verantwortlich macht. Über den Rechtsextremismus hinaus, das wurde in dieser Debatte deutlich, ist der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Abstufungen in der Gesellschaft weit verbreitet. Diese Popularität der Judenfeindschaft gibt nicht nur dem Gewalttäter von Halle das Gefühl, seine Tat werde insgeheim von vielen gebilligt, sondern hat zur Folge, dass alle bisherigen Anstrengungen zur Bekämpfung des Antisemitismus keineswegs dazu geführt haben, ihn zu einem bloßen Randphänomen zu reduzieren. Er ist vielmehr mitten unter uns und anscheinend unausrottbar.

Ohne auf alle Facetten der durchaus unterschiedlich erfolgenden Begriffsbestimmung einzugehen, soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass in diesem Buch unter Antisemitismus alle Einstellungen und Verhaltensweisen zusammengefasst werden, die Personen, die als Juden wahrgenommen werden, aufgrund dieser Zurechnung zum jüdischen Kollektiv negative Eigenschaften unterstellen. Es geht also um das Zuordnen bekannter antijüdischer Stereotype auf eine Person oder eine Personengruppe, die als Juden eingestuft werden, sei es nun als Angehörige der jüdischen Religion, des jüdischen Volkes oder einer jüdischen »Rasse«, als Bürger Israels – oder auch auf Menschen, die tatsächlich gar keine Verbindung zum Judentum haben. Dabei geht es aber nicht nur um bloße Vorurteile gegenüber Juden; vielmehr konstruiert der Antisemitismus aus den negativen Eigenschaften, die er den Juden zuschreibt, eine Weltanschauung, in der sie als Verursacher aller möglicher Übel eine zentrale Rolle einnehmen. Dabei sind die Übergänge vom geläufigen, unreflektierten Vorurteil zur gefestigten Ideologie durchaus fließend.1

In den letzten Jahren häuften sich alarmierende Meldungen über die Zunahme des Antisemitismus. In Deutschland, so war und ist vielerorts zu lesen, nähmen Übergriffe auf Juden zu, würden jüdische Schulkinder gemobbt, würden in den Medien (insbesondere im Internet) zunehmend antisemitische Statements verbreitet, die so noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Laut Meinungsumfragen verbinden viele Menschen ihre zunehmend negative Einstellung zu Israel mit den altbekannten antijüdischen Stereotypen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden Josef Schuster spricht über ein Jahr nach dem Anschlag in Halle davon, »dass wir einen deutlich enthemmteren Antisemitismus in Worten erleben, wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht vorgestellt habe«.2 Ähnliche Trends lassen sich in vielen anderen europäischen Ländern feststellen. Die amerikanische Anti-Defamation League schätzte aufgrund der von ihr durchgeführten Umfragen im Jahre 2015 die Zahl der erwachsenen Antisemiten weltweit auf über eine Milliarde.3 Auch wenn man solche Perspektiven zumindest zum Teil als überzogen einschätzen mag, so ist nicht zu leugnen, dass mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Holocausts das Phänomen des Antisemitismus in erheblichem Umfang existiert und einiges dafür spricht, dass es an Bedeutung zunimmt.

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint der Antisemitismus, gerade vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Gewalt vor allem durch muslimische Jugendliche in einigen europäischen Ländern, immer mehr als ein transnationales europäisches Phänomen; mit einer wachsenden Fixierung auf den jüdischen Erzfeind Israel in der muslimischen Welt und der weltweit zunehmenden Resonanz globalisierungskritischer, tendenziell antisemitischer Verschwörungstheorien gar als ein globales Problem. Aus historischer Sicht wäre eine solche – abermalige – Wandlung des Phänomens, bei der verschiedene Formen der Judenfeindschaft miteinander verschmolzen werden, keine Überraschung. Denn wie in diesem Buch im Einzelnen zu schildern sein wird, besitzt der Antisemitismus eine chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit, liefert immer neue Begründungen für die Judenfeindschaft, die von seinen Anhängern, so unterschiedlich, ja widersprüchlich diese Argumente auch sind, als Facetten der gleichen Grundwahrheit angenommen werden: Je heterogener Formen und Motive, je vieldeutiger die Judenfeindschaft, desto größer die Gewissheit, dass an der Sache doch irgendetwas dran sein muss. So entsteht im Laufe der Zeit ein Arsenal von Argumenten, die zu einem immer größeren Fundus an »Wissen« über Juden und ihr Verhalten aufgespeichert werden. Die gemeinsame Teilhabe an diesem Fundus macht es diversen Gruppierungen mit höchst unterschiedlichen Interessenlagen möglich, Allianzen zu schmieden: Allianzen, die negativ in der gemeinsamen Feindschaft gegenüber den Juden begründet sind. Gerade wegen seiner Wandlungen und seiner Vieldeutigkeit besitzt der Antisemitismus in seinem Kern eine scheinbar unausrottbare Kontinuität: die wie auch immer begründete Feindschaft gegen Juden.

Eine historische Analyse des Antisemitismus, wie sie in diesem Buch unternommen wird, zielt nicht, wie sozialwissenschaftliche, sozialpsychologische und psychoanalytische Ansätze, auf eine generelle Erklärung des Phänomens.4 Vielmehr gelten für Entstehung und Ausbreitung des Antisemitismus in verschiedenen Epochen, und in den einzelnen Epochen jeweils in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, jeweils unterschiedliche Erklärungen. Die Beharrlichkeit des Phänomens über die Zeit und seine zunehmende Virulenz ergeben sich aus der Kumulation der verschiedenen Formen des Antisemitismus in einem zeitlichen Kontinuum, und nicht aus einer einmaligen oder immergleichen Situation. Eine Typologie der verschiedenen Formen der Judenfeindschaft, wie sie die Antisemitismusforschung leistet, führt dann in die Irre, wenn sie nicht in der Analyse der Verschmelzung dieser verschiedenen Typen in einem historischen Prozess mündet. Die Frage »Warum die Juden?« kann nicht ohne Einsicht in diesen sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozess beantwortet werden. Und in einer »deutschen Geschichte« des Antisemitismus, wie sie hier beabsichtigt ist, muss bei der Analyse dieses historischen Prozesses die wechselvolle Herausbildung einer Form von nationaler Identität im Vordergrund stehen, die die Juden nicht als gleichberechtige Mitbürger ertragen kann.

Einleitung:
Einige begriffliche und methodische Vorüberlegungen

Es geht also in diesem Buch darum, die historischen Wurzeln des heutigen Antisemitismus zu erklären.

Zu diesem Zweck konzentriert sich die Darstellung zeitlich auf die Geschichte und Vorgeschichte des »modernen« Antisemitismus, d. h. die Geschichte der Judenfeindschaft seit dem Beginn der Emanzipation und der ihr vorausgehenden Debatte, also seit dem späten 18. Jahrhundert. Mit der »drohenden« und dann realen Gleichberechtigung der Juden erhält die Judenfeindschaft eine ganz andere Qualität als in den Jahrhunderten zuvor, in denen die Juden als abgesonderte und in ihrem religiösen Grundirrtum verharrende Minderheit angesehen wurden; jetzt, mit der Emanzipation, erscheinen sie vorwiegend als global verschworene Bedrohung der traditionellen Gesellschaftsordnung und der (im Entstehen begriffenen) Nation, ja als ihre potentiellen Zerstörer. Dabei geht es in erster Linie um die Geschichte des »radikalen« modernen Antisemitismus, also die Geschichte der politischen Bewegung, die die Emanzipation verhindern und dann rückgängig machen wollte und schließlich im Holocaust eine mörderische »Endlösung« für das von ihr selbst geschaffene Problem fand. Da der Ausgangspunkt dieses Buches aber die Fortexistenz des Antisemitismus nach dem Holocaust und bis in die Gegenwart ist, stellt sich darüber hinaus die Frage, in welchen Formen und Begründungszusammenhängen der nach wie vor »moderne« Antisemitismus in den mehr als siebzig Jahren nach Auschwitz weiterbestehen konnte.

Räumlich befasst sich diese Darstellung vorwiegend mit Deutschland, also dem Land, das sich der Emanzipation der Juden seit Ende des 18. Jahrhunderts so nachdrücklich widersetzte, in dem der Begriff in den 1870ern erfunden wurde, der schließlich weltweite Verbreitung finden sollte, und in dem 1933 eine radikalantisemitische Bewegung an die Macht kam, um ihre judenfeindlichen Vorstellungen in der denkbar brutalsten Form nicht nur im eigenen Land, sondern in ganz Europa zu realisieren. Dabei soll aber die Geschichte des deutschen Antisemitismus in einen internationalen Kontext eingebettet werden.

Methodisch gehe ich davon aus, dass die Exklusion einer Minderheit nur durch die Frage nach der Identität der sie ausgrenzenden Mehrheit befriedigend beantwortet werden kann. Damit muss sich diese Darstellung vor allem auch mit der Geschichte des deutschen Nationalismus befassen und wird (in der Form von Überblicken) auch auf die mit der »Reinheit der eigenen Nation« begründete Ausgrenzung der Juden in anderen Ländern eingehen. Um diese Position klarer zu machen, will ich sie gleich von einer vorwiegend sozialgeschichtlichen Erklärung abgrenzen. Die weit verbreitete sozialgeschichtlich bzw. funktional informierte Lesart würde den Antisemitismus in etwa folgendermaßen erklären: Offensichtlich sind die »Argumente« der Antisemiten falsch und dumm, sie haben mit der Realität des jüdischen Lebens nichts oder sehr wenig zu tun, die Anklagen der Judengegner sind nachweisbar falsch und absurd. Um zu erklären, wie sie trotzdem historisch so wirksam werden konnten, bietet sich an, den Antisemitismus zu einer nahezu beliebig einzusetzenden Strategie zu erklären, die von den wahren (politischen, wirtschaftlichen, sozialen) Problemen ablenken soll. Es handelt sich demnach in erster Linie um ein Phänomen, das in Krisenzeiten von interessierter (herrschaftsnaher) Seite eingesetzt wird, um einen Sündenbock dinghaft zu machen. Der »Gründerkrach«, die abgeschwächte Konjunktur im späten Kaiserreich, und seine gesellschaftlichen Widersprüche, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit und die Wirtschaftskrise der frühen 1930er wären dann solche Krisenzeiten, in denen der Antisemitismus mit seinen falschen Begründungen gedeihen konnte. Diese Erklärung kann natürlich einiges abdecken, sie ist insgesamt gesehen aber unzureichend: Sie erklärt nämlich nicht hinreichend, warum immer die Juden das Opfer solcher Krisen und der dann entwickelten Ablenkungsstrategien wurden, und zwar deshalb, weil sie sich zu wenig mit der »Wir«-Position der Antisemiten beschäftigt, warum diese ihre Identität und Existenz ausgerechnet von den Juden bedroht sehen.

In der chronologischen Abfolge wird deutlich werden, dass die Judenfeindschaft von Epoche zu Epoche – entsprechend des Identitätsverständnisses der Mehrheitsgesellschaft – erheblichen Veränderungen ausgesetzt ist, ja ihren Charakter und ihre »Argumente« mehrfach grundlegend wandelt. Die Vergleiche mit anderen Ländern zeigen, dass diese Wandlungsfähigkeit des Phänomens durchaus transnationaler Natur ist. Trotzdem besitzt der Antisemitismus, über die letzten zweieinhalb Jahrhunderte, ein erhebliches Maß an Kontinuität, und zwar nicht nur deshalb, weil er sich immer gegen die gleiche Zielgruppe richtet: Im Laufe der Zeit erarbeiten sich die Antisemiten ein Arsenal an »Wissen« über die Juden und ihre Schädlichkeit, das ständig erweitert und zunehmend von konkreten und im Einzelnen begründbaren Vorwürfen zu verallgemeinernden Stereotypen abstrahiert wird, ein Prozess, den man als antisemitische Codierung bezeichnen kann. Die Einsicht in Wandlungsfähigkeit und Kontinuität des Antisemitismus hilft auch zu erklären, dass der Antisemitismus nach Auschwitz zwar seinen Charakter als »Post-Holocaust« und israelbezogener Antisemitismus grundlegend gewandelt hat, seine Stereotype und Feindbilder aber zu einem großen Teil aus dem alten antisemitischen Arsenal bezieht.

Wenn es in diesen Buch um den »modernen« Antisemitismus geht, dann bedarf dies einer begrifflichen Klarstellung die zugleich schon in die reale Geschichte der Judenfeindschaft führt. Häufig wird in der Literatur – auch begrifflich – zwischen einer älteren, religiös motivierten Judenfeindschaft und dem modernen säkularen und rassistischen Antisemitismus unterschieden. Doch diese Differenzierung ist in dieser einfachen Form problematisch und wird in diesem Buch aufgegeben; die Begründung führt uns bereits zu zentralen Themenstellungen:

Schon die mittelalterliche und frühneuzeitliche Judenfeindschaft war zwar ursprünglich in der von den Christen beanstandeten religiösen Differenz begründet, jedoch häufig mit anderen durchaus weltlichen Motiven und Interessen vermischt. Die vormodernen Judenverfolgungen richteten sich tatsächlich gegen eine Minderheit, die in der Gesellschaft aufgrund ihrer unterschiedlichen Religion und damit verbundenen andersartigen Lebensweise, aber ebenso aufgrund ihrer sozialökonomischen Position und einer ihr zugeschriebenen fremden Mentalität, eine Sonderstellung außerhalb der ständischen Ordnung einnahm. Auch den getauften Juden schlugen vielfach Vorurteile entgegen, der Faktor der jüdischen Abstammung als kollektiver Makel spielte durchaus eine Rolle.

Ist der Faktor Religion als Erklärung für die vormoderne Judenfeindschaft also durchaus ergänzungsbedürftig, so ist die in der älteren Literatur häufig für die 1870er angesetzte Zäsur von religiöser Judenfeindschaft und modernem, rassistischem Antisemitismus sicherlich eine heute nicht mehr aufrechtzuerhaltende Vereinfachung. Denn es ist zum einen klar, dass die »religiöse« Judenfeindschaft auch nach den 1870ern weiterexistierte (im Vergleich mit früheren Jahrhunderten allerdings so stark mit säkularen Aspekten vermischt, dass ihre »rein religiöse« Form eine Minderheitsposition darstellte). Zum anderen aber finden sich auch schon vor den 1870ern, nämlich seit dem Beginn der Emanzipationsdebatte um 1780, in der Argumentation der Judengegner zunehmend (und rasch überwiegend) säkulare Motive: Die Emanzipation der Juden wird nicht primär aus religiösen Gründen bekämpft, sondern wegen der verhängnisvollen Rolle, die man dem Juden nach der Erlangung seiner Gleichberechtigung zuordnet. Dazu gehört insbesondere der Vorwurf eines betrügerisch-raffinierten jüdischen Wirtschaftsgebarens, der kulturellen »Zersetzung«, ihrer nationalen Unzuverlässigkeit usw. In der Abwehr der Emanzipationsbewegung werden Juden nicht mehr primär als Religion, sondern als Volk, dann als Rasse wahrgenommen, ja es mehren sich die Stimmen, die in ihrer Ablehnung des religionslosen, modernen Judentums die jüdische Religion an sich positiv bewerten. Die Anti-Emanzipationsbewegung formt also in ihrer inhaltlichen Begründung bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die »modernen« antisemitischen Argumente aus, während sie organisatorisch (antisemitische Parteien, Verbände und Massenpresse) tatsächlich erst seit den 1870ern (jedoch mit starken Vorläufern in den 1860ern) »modern« ist. Wenn also der Begriff Antisemitismus erst in den 1870ern aufkommt, so wird die Zeit seit Ende des 18. Jahrhunderts häufig als »frühantisemitisch« bezeichnet, um so die Übergangsphase von einem religiös begründeten zu einem modernen Antisemitismus zu kennzeichnen.

Festzuhalten ist dabei auch, dass die Wahrnehmung der Juden als »Rasse« erst nach 1900 einen überwiegend deterministischen Zug erhielt, nachdem sich nämlich die biologische Erkenntnis durchsetzte, dass das Erbgut durch im Laufe des Lebens erworbene Eigenschaften nicht verändert wird: Wenn man nun einen Menschen einer Rasse zuordnete, dann schien auch die Teilhabe an kollektiv vererbbaren, nicht veränderbaren Eigenschaften unwiderruflich festgelegt. Vor 1900 wird der Begriff der Race hingegen überwiegend nicht in einer deterministischen, d. h. eine Veränderbarkeit der Juden ausschließenden Art und Weise gebraucht, sondern er stellt eine inhaltlich weitgehend offene Beschreibung der Juden als Abstammungsgemeinschaft dar und wird häufig als synonym für jüdisches Volk oder jüdische Nation verwendet. Allerdings, um die Sache noch komplizierter zu machen, finden sich bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Stimmen, die »Race« doch in einem deterministischen Sinne verwenden, und nach 1900 gibt es Rasseideologen, die dem alten, Lamarck’schen Weltbild (wonach erworbene Eigenschaften vererbt werden) anhängen, also an die Erziehbarkeit der Juden glauben.

Ein weiterer Punkt, der hier infrage gestellt werden soll, ist der Versuch, den Vorurteilskomplex Judenfeindschaft/Antisemitismus von »realen« Konflikten von Juden und ihrem nichtjüdischen Umfeld abzugrenzen. Zu unterscheiden wäre nach dieser Auffassung demnach, ob eine judenfeindliche Einstellung etwa auf ein tatsächliches Konkurrenzverhältnis von jüdischen und christlichen Kaufleuten zurückzuführen ist oder ob eine solche Gefährdung der eigenen wirtschaftlichen Position nur eine in der Realität nicht (oder nur ganz marginal) nachvollziehbare Phobie der christlichen Geschäftsleute darstellt. Diese Unterscheidung zwischen realer und imaginierter Begründung für Judenfeindschaft erscheint mir nicht überzeugend. Sie besitzt keine Trennschärfe: Es macht keinen Sinn, historisches Handeln nach der Realitätsnähe (d. h. nach einer nachträglich analysierten Realitätsnähe) beurteilen zu wollen. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass menschliches Handeln immer von »Imagination«, d. h. von bestimmten Einschätzungen der Realität bestimmt ist und heftige »Imagination« die Realität durchaus verändern kann. Denkt man etwa an die Geschichte der frühneuzeitlichen Religionskriege, der sozialistischen Arbeiterbewegung oder der heutigen Klimaschutzbewegung und ihrer Gegner, so erweist sich rasch, dass eine Unterscheidung zwischen Realität und nur vorgestellter Realität als analytisches Werkzeug nicht wirklich hilfreich ist. Daher wird auch in diesem Buch Antisemitismus nicht als Resultat einer jüdisch-christlich/deutschen Beziehungsgeschichte beschrieben, sondern als ein Phänomen, das sich in erster Linie durch eine intensive Beschäftigung mit dem Antisemitismus erklären lässt.

Im Gegensatz zum Haupttrend der Geschichtsschreibung über den Antisemitismus komme ich zu dem Ergebnis, dass bei der Kumulation der Judenfeindschaft durch die verschiedenen Epochen hin zur Verfolgung im »Dritten Reich«, der Zeitabschnitt der Weimarer Republik (und weniger das Kaiserreich) besondere Beachtung verdient. Und zwar nicht zuletzt wegen einer weit verbreiteten Suche nach einer neuen nationalen Identität, die sich – ausgrenzend – auf das »deutsche Volkstum« bezog.

Kurz und gut, damit sind eine ganze Reihe von grundlegenden Konventionen der Geschichte von Judenfeindschaft und Antisemitismus infrage gestellt. Wenn aber die Unterscheidung zwischen religiöser Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus in dieser Form nicht möglich ist, so stellt sich auch die Frage, ob nicht die begriffliche Konvention endgültig aufgegeben werden muss, nämlich von Judenfeindschaft oder Antijudaismus nur im Falle A, von Antisemitismus nur im Falle B zu sprechen. Diese terminologische Unterscheidung unterstellt etwa für das Kaiserreich und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Abgrenzung von kirchlichem »Antijudaismus« und völkischem, schließlich nationalsozialistischem »Antisemitismus«, die höchst fragwürdig ist und einprägsam zeigt, wie sehr Begrifflichkeiten die Wahrnehmung von historischen Phänomenen prägen.

Was nun die in diesem Buch verwandte Terminologie anbelangt, so scheue ich davor zurück, den Begriff Antisemitismus für die Zeit vor seiner tatsächlichen Einführung in den 1870ern zu verwenden oder vom »Frühantisemitismus« im Zeitraum 1780–1870 zu sprechen. Es handelt sich ja um einen historischen Begriff aus jener Zeit kurz nach der Reichsgründung, der eine neue Form von Judenfeindschaft suggerieren will: Bekämpft werden nicht mehr die konkreten Juden, sondern das Abstraktum »Semitismus«, ein Synonym für das durch rechtliche Gleichstellung der Juden von ihnen errichtete System völlig neuartiger Qualität, das, wenn ihm kein Widerstand entgegengehalten wird, zu einer – in apokalyptischen Bildern ausgemalten – Zerstörung der bestehenden Gesellschaftsordnung führen würde.

Werden die Antisemiten mit ihren Parteien, Verbänden und Publikationen zunächst als eine Außenseiterbewegung wahrgenommen, so werden mit der gesellschaftlichen Ausbreitung des Antisemitismus, spätestens seit den 1890ern, doch sehr rasch die »modernen« Argumente der Antisemiten, die auf Revision der Emanzipation zielen, mit konventionellen judenfeindlichen Positionen und bloßer antijüdischer Polemik vermischt. Daher wird im Folgenden für die Zeit vor den 1870ern von Judenfeindschaft gesprochen und für die Zeit nach der offiziellen Einführung des Begriffs wegen der im Einzelnen nicht oder nur sehr mühsam zu erreichenden Abgrenzbarkeit seiner verschiedenen Formen Antisemitismus als Synonym für Judenfeindschaft verwendet.

I.
1780–1871