Cover

Zum Buch

»Es ist doch nicht möglich, dass der Daseinszweck des Menschen, der im Ebenbild Gottes erschaffen wurde, darin besteht, ein Mistkäfer zu sein …«

Der weltweit gefeierte israelische Dramatiker Joshua Sobol legt sein Opus Magnum vor, ein humanistisches Meisterwerk, einen großen Roman über vier Generationen der Familie Ben-Chaim, eine umfassende Geschichte Israels.

Libby, Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin, nimmt sich nach einer beunruhigenden Begegnung mit einem mutmaßlichen Terroristen Urlaub von der Armee und fährt zu ihrem Großvater Dave in den Kibbuz. Dort stößt sie auf das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und taucht fasziniert in ihre Welt ein. Eva war eine starke, lebenslustige Frau, die in den frühen dreißiger Jahren Kibbuz, Mann und Kind verließ und in Berlin als Tänzerin auftrat, mit revolutionären Theaterleuten und jungen Nazis verkehrte und gerade noch rechtzeitig zurück nach Palästina fliehen konnte.

»Ein vielschichtiges Meisterwerk, das illustriert, dass in der Literatur bisweilen alles möglich ist.« Ha’arez

Zum Autor

JOSHUA SOBOL, 1939 in Tel Mond geboren, lebte in einem Kibbuz und studierte u. a. in Paris Philosophie. Als einer der führenden israelischen Dramatiker lehrte er u. a. an der Universität in Tel Aviv. Weltweit bekannt wurde er mit den Theaterstücken »Weiningers Nacht« (1982) und »Ghetto« (1984), inzwischen hat er über 50 Stücke geschrieben und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Bei Luchterhand erschienen die Romane »Schweigen« (2001) und »Whisky ist auch in Ordnung« (2005).

Zur Übersetzerin

BARBARA LINNER, geb. 1955 in München, Studium der Judaistik, Orientalistik und südosteuropäischer Geschichte, ist die Übersetzerin von u. a. Assaf Gavron, David Grossman, Batya Gur, Judith Katzir, Etgar Keret.

Joshua Sobol

DER GROSSE WIND DER ZEIT

Roman

Aus dem Hebräischen
von Barbara Linner

Luchterhand

Grad in der Mitte unserer Lebensreise

Befand ich mich in einem dunklen Walde,

Weil ich den rechten Weg verloren hatte.

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie

DIE PERSONEN

Die Mitglieder der Familie Ben-Chaim:

Eva Ben-Chaim (= Chaimson) – Tänzerin und Choreographin, eine der Begründerinnen der »Deutschen Abteilung« im Palmach

Josef Scharabi – Evas Mann, Enkel der »Olei betamar«, der ersten jemenitischen Einwanderung (1882) nach Palästina, einer der Begründer der »Arabischen Abteilung« im Palmach

Dave (Uri) Ben-Chaim – Eva Chaimsons und Josef Scharabis Sohn

Dina – Daves Ehefrau

Maoz – Dave und Dina Ben-Chaims Sohn, Politiker mit Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsidenten

Noga – Maoz’ Ehefrau

Libby – Maoz und Noga Ben-Chaims Tochter, Verhörspezialistin für sicherheitsrelevante Häftlinge, Urenkelin von Eva und Josef

Gaby – Dave und Dina Ben-Chaims Sohn, Kybernetiker, Software-Ingenieur und Systemanalytiker

Dana – Gabys Ehefrau, Fernsehfotografin

Gal und Jonit – Gabys und Danas Kinder

Duvesch – Dave und Dina Ben-Chaims Sohn, Landwirt im Jordantal

Dorit – Duveschs Ehefrau

Karin – Duvesch und Dorit Ben-Chaims Tochter

Meirav – Dave und Dina Ben-Chaims Tochter, Evas Enkelin, Maskenbildnerin, Nachtschwärmerin und Lebenskünstlerin

Die Personen, die im Leben der Familie Ben-Chaim auftreten:

Adib Mlihat – Palästinenser mit britischem Pass, Geschichtsdoktorand in England, spezialisiert auf Zionismusgeschichte

Sue – Thailänderin, die auf Duveschs Hof arbeitet

Ali – Arbeiter auf Duveschs Hof

Abir – Alis Frau

Osnat – Literaturdozentin, Geliebte von Maoz Ben-Chaim sowie von Elad u. a.

Chezi – Initiator und Gründer der Softwarefirma Rossman Algorithmics

Chorev – Chezis Sohn, Direktor der Firma Rossman Algorithmics

Mahmud – Beduine, eine Episode in Evas Leben

Rodion Spiridonovitsch Valensin – Evas Jugendliebe

»Das Lederjackett« – deutscher Dramaturg, eine Episode in Evas Leben

Herbert Ihering – Theaterkritiker, Freund des »Lederjacketts«

Johann Brückner – junger Architekt, Mitglied der NSDAP, eine Episode in Evas Leben

Guido Xanadu – Psychotherapeut und vorübergehender Liebhaber von Dorit, Duveschs Frau

Raschti – Bettler auf einem Skateboard

Saliman – Alis Vater

Kennedy – Landwirt im Jordantal, Duveschs ehemaliger Kommandeur und Freund

Ricky – Kennedys Ehefrau

Kristina – dänische Journalistin, Freundin von Dana

Naruz – ägyptischer Intellektueller, Kristinas Ehemann

Professor Alexander – weltweiter Experte der Quantentheorie, Gaby Ben-Chaims Lehrer und Mentor

Mina – Professor Alexanders Frau, Expertin für eingelegte Zunge und Kalbsfußsülze

Zungenfleisch – ketzerischer Orthodoxer, Angehöriger des Gur-Chassidismus, eine Episode in Meirav Ben-Chaims Leben

INHALTSVERZEICHNIS

1. Entlassungsurlaub

2. Ist dir egal, was mit deiner Tochter passiert?

3. Das Tagebuch der Urgroßmutter

4. Ein Feuerstuhl im Jordantal

5. Laboratorien der Freiheit

6. Frauen in den Augen von Frauen

7. Die Honigleimfalle

8. Jochai trifft ein

9. Rodion Spiridonovitsch Valensin

10. Dorit sucht Liebe und erhält eine Therapie

11. An einem andren Ort zur selben Zeit

12. Und jetzt das dritte Auge

13. Der Bettler auf dem Skateboard

14. Eva und Mahmud reiten durchs Land

15. Seltsames Benehmen

16. Was Salimans Vater zu Daves Vater sagte

17. Eva bricht nach Deutschland auf

18. Tauben zum Opferfest

19. Schläge

20. Abendessen mit Kristina und Naruz

21. Begegnung mit dem »Lederjackett«

22. Kriminelle Spiele und dunkle Pläne

23. Der Alte und die Hammada

24. Eine Versammlung von Bewunderinnen im Hof der Dichterin

25. Was verbirgt sich hinter dem »Lederjackett«?

26. Auf dem Weg zu den Vögeln

27. Sues Liebeswunden

28. Ein Gespräch mit Vater

29. »… Und Gaby ist der Vagabund in mir«

30. Leichenschmaus mit Freunden

31. Ein Straßenkünstler auf dem Weg zur Macht

32. Der blaue Traum des Generalmajors

33. Eine schicksalshafte Entscheidung reift in Duveschs Herzen

34. »Wie ein welkes Blatt vom Weinstock, wie eine unreife Frucht vom Feigenbaum«

35. Wo ist Vater?

36. Der Professor und die Puppen

37. Zwei Abschiede

38. Die Generalprobe

39. Das Start-up der Bettelei

40. Ich bin du, du bist ich

41. Satyagraha

42. Pascale

43. Die Einsamkeit des Motorradfahrers

44. Businesslunch im Nobelrestaurant

45. Duvesch und Dorit trennen sich

46. Unser Herz ist eins

47. Alles ist möglich, und alles ist unmöglich

Anmerkungen der Übersetzerin

1. ENTLASSUNGSURLAUB

»Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Und es liegt in unseren Händen und nicht in unseren Händen.« In Libbys Kopf hallten die Worte nach, die ihr der letzte Verdächtige, den sie verhörte, zugeflüstert hatte, während er ihr den winzigen zusammengerollten Zettel, auf dem seine Mail-Adresse stand, in die Haare steckte. Libby raste mit ihrem Motorrad auf der Straße nach Norden, und unablässig toste der Wind in ihren Ohren: Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Der Vorderreifen der schweren Maschine verschlang den schwarzen Asphalt. Der starke Motor dröhnte zwischen ihren Schenkeln. Sie beugte sich nach vorn, stemmte sich gegen den Wind. Näherte sich aufheulend den schnellen Autos, die vor ihr zu kriechen schienen, ging in Schräglage und fegte an den Blechkisten mit ihren abgeschirmten Insassen vorbei, ließ sie weit hinter sich zurückfallen. Sie lieferte sich ungeschützt und schrankenlos dem reinen Erleben aus, das auf sie eindrang, sie bestürmte, sich donnernd vor und hinter ihr brach. Gejagt.

Noch am Morgen hatte Assi, Oberstleutnant Assaf Morag, Chef der Verhörabteilung, sie zu überreden versucht, ihren Entlassungsurlaub um einige Tage zu verschieben.

»Heute Nacht ist ein megafetter Fisch eingetroffen«, so bezeichnete er den letzten fahndungsdienstlich Gesuchten, der ins Netz gegangen war, »ein weißer Hai, eine Bestie. Hättest du keine Lust, ihm den Bauch aufzuschlitzen und ihn für den Schabbat auszunehmen?«

»Jeder im Team wird diese Arbeit gerne machen«, hatte sie erwidert.

»Aber du erledigst in zwei Tagen, was andere in zwei Wochen nicht schaffen«, konstatierte Assi.

»Übertreib nicht«, sagte sie.

»Seit siebenundzwanzig Jahren mach ich jetzt den Job«, sinnierte Assi laut. »Seit der ersten Intifada. Ermittler und Ermittlerinnen habe ich hier schon einige erlebt. Keiner kam auch nur in die Nähe von deiner Verhörtechnik. Dutzende Male hab ich dich dabei beobachtet. Jedes Mal, wenn man dir einen dicken Fisch zur Behandlung reingebracht hat, bin ich fasziniert vor dem Monitor gesessen. Hab dir zugeschaut, wie du sie schuppst …«

»Was hab ich mit ihnen gemacht?«

»Du ziehst ihnen die Schuppen ab, du bringst sie dazu, zu lachen, ernst zu werden, sich aufzuregen, feuchte Augen zu kriegen, zu würgen, zu heulen. Ja! Du bringst sie zum Weinen – die hartgesottensten Mörder, die ich liebend gern umgelegt hätte, bevor wir sie dummerweise lebend erwischt haben. Du berührst einen verborgenen Punkt in ihnen, den nur du mit deinen Laseraugen siehst, und die Hunde machen den Mund auf und spucken die ganze Scheiße aus, die sie im Bauch haben. Und das alles ohne jede Anstrengung. Du versuchst nicht, Empathie zu demonstrieren, du täuschst kein Mitleid, keine Teilnahme oder Verständnis für die Motive und Taten dieser Kerle vor. Ein Wort hier, ein Wort da, und der kälteste Fisch macht den Mund auf und redet. Blubbert von seinem Vater, von seiner Mutter, von den Brüdern und Schwestern und Freunden! Merkt gar nicht – oder erst recht –, wie er locker von seinen Freunden erzählt. Plaudert Namen aus. Einzelheiten. Redet mit dir über Bücher, die er geliebt hat und die sie nicht verstanden haben. Bis an mein Lebensende werde ich diese Giftnatter, diesen Mawasi Abu-l-Wadib, nicht vergessen. Wie du mit ihm in ein Symposium über Glauben und Nichtglauben gedriftet bist, und ich sitz vor dem Monitor und bin fast geplatzt! Hör mir an, wie du über den Tod von Heiligen und über Märtyrertum redest. Wie du ihn davon überzeugst, dass er alles überwinden wird, wenn er diesen Ehrgeiz bewältigt, den Dämon besiegen wird, der ihn daran hindert, seine Schwäche zu überwinden und Freiheit zu erlangen – und ich frag mich, von was zum Teufel redet sie da? Und plötzlich faltet dieser Schuft die Hände, als ob er gleich beten oder flehen will, kriegt brennende, tränennasse Augen, sein Mund klappt auf, und der ganze Müll, der in ihm gärt, kommt in einem solchen Schwall raus, dass ich nur noch gebetet hab, jetzt bloß kein technischer Defekt in der Aufnahme, bevor er fertig ist. Noch nie hatte ich eine, die die Leute so zum Reden bringt wie du«, lamentierte er, »wie machst du das bloß?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Ich rede eben mit ihnen.«

»Das muss eine gewaltige Befriedigung für dich sein, wenn du sie knackst.«

Befriedigung?, fragte sie sich, während sie das Motorrad beschleunigte und mühelos an einem silbernen BMW vorbeizog. Leere, war die Antwort. Eine Leere, in die sie nun mit rasender Geschwindigkeit hineinjagte, während sie Gesichter hinter sich ließ, Gesichter über Gesichter von Häftlingen, die sie in den Jahren ihres Militärdienstes in den abgeschotteten Verhörräumen zum Reden gebracht hatte. Tausende von Menschen, die jetzt wie ein riesiges Feld, dicht an dicht, vor ihr standen, die Köpfe nach hinten geworfen, die Gesichter mit aufgerissenen Augen himmelwärts gewandt, die Münder offene schwarze Wunden, aus denen sich Ströme von Worten ergossen, rauchende, brennende, blutende Worte. Ein Tosen rachgieriger Wut.

Bis sie auf den »Cousin« gestoßen war.

»Also, was meinst du, Libby«, hatte Assi seinen Vorschlag heute Morgen wiederholt, »kürz deinen Entlassungsurlaub um eine Woche ab, bleib noch ein paar Tage bei uns, bring diesen Megahai zum Plaudern, der uns nach drei Jahren endlich ins Netz gegangen ist, und dann scheidest du mit dem Wissen aus, dass du wer weiß wie viele unschuldige Menschen vor dem Tod gerettet hast.«

Sie schwieg, und Assi schloss in seinem überzeugenden Ton: »Also, du bleibst!«

»Nein«, entgegnete sie knapp. »Ich verhöre nicht mehr, und ich bringe niemanden mehr zum Reden.«

Die Entschlossenheit in ihrer Stimme überraschte Assi. Er schaute sie an, wartete auf eine Erklärung, doch es kam keine.

»Was ist los?«, fragte er.

»Das muss ich mit mir selber klären.«

»Hat es was mit der Arbeit zu tun?«

»Hatte ich ein Leben außerhalb der Arbeit?«, gab sie zurück.

»Hat es was mit dem ›Cousin‹ zu tun?«

»Auch.« Obwohl ihr Herz zu explodieren drohte, schwieg sie wieder. Es war das erste Mal, dass Libby ihrem Vorgesetzten ihre Gedanken vorenthielt.

»Was genau hat er dir getan, der ›Cousin‹?«, fragte Assi verwundert. »Bei seinem Verhör ist doch nichts Besonderes rausgekommen?«

»Stimmt«, pflichtete sie ihm rasch bei, um zu kaschieren, was sie entdeckt hatte, »nichts Besonderes.«

Und sie sagte sich: Wenn du deine Gedanken verrätst, führt das zur Vernichtung des Plans des »Cousins«, vielleicht sogar zur Beseitigung des »Cousins« selbst. Denn sie kannte die Abwicklungen der Angelegenheiten sehr gut, die im Gefolge ihrer Arbeit als Verhörspezialistin schon etliche Male mit Liquidierungen auf diverse Arten geendet hatten.

Der »Cousin« war ihr letzter Verhörkandidat gewesen. Assi selbst hatte sie präpariert. Der »Cousin« sei ein besonders schwieriger, heikler Fall, hatte er sie gleich eingangs gewarnt. Sie wollte wissen, was es mit dem Namen auf sich habe, und Assi hatte ihr erklärt, der Mann sei ein Cousin dieses zwölfjährigen Mädchens, das wie besessen am Eingang eines Einkaufszentrums herumgehüpft war, mit einer Stricknadel vor Zivilisten herumgefuchtelt hatte und auf das ein zufällig anwesender Polizist der Grenzwache das Magazin seiner Pistole entleert hatte. Der Cousin, Inhaber eines britischen Passes, sei von Coventry eingetroffen und sollte laut seiner Einreiseerklärung einen Tag nach dem Begräbnis seiner Cousine, das vor einer Woche stattgefunden hatte, nach England zurückfliegen. Der Mann, der von dem Moment an, in dem er in das Flugzeug nach Israel stieg, unter Beobachtung stand, habe aber seine Rückkehr nach England verschoben und sei, eine Riesendummheit, verhaftet worden, als er in Be’er-Scheva ein Auto zu mieten versuchte.

»Wieso Riesendummheit?«, erkundigte sich Libby, und Assi hatte erläutert, dass es viel leichter und effektiver gewesen wäre, sich in dem Moment seiner anzunehmen, in dem er den Wagen in einer der Autowerkstätten in der Westbank mit Sprengstoff gefüllt hätte, denn dann hätten sie mit einem Schlag das ganze Netzwerk aufgedeckt, mit dem dieser Intellektuelle verknüpft war.

»Intellektuelle?«, fragte sie nach.

»Student, Doktorand der Geschichte in Coventry«, präzisierte Assi und betonte, da er Untertan der britischen Krone sei, wäre es opportun, seine Vernehmung so schnell wie möglich abzuschließen, und falls sich herausstellen sollte, dass er doch keine tickende Bombe war, ihn unverzüglich loszuwerden und per Express nach Moschee-City zurückzuschicken. Libby fragte, was dieser Ausdruck bedeuten solle.

»Zwölf Moscheen sind in Coventry in Betrieb«, erklärte Assi, »und soweit wir informiert sind, betet der Cousin regelmäßig in der Nazi-Moschee der Muslimbrüder im Adlernest.«

»Adlernest?«, echote Libby.

Assi grinste. »Nu, in der Eagle Street …« Dann fuhr er fort: »Du gehst in einem langen grauen Kleid mit einem schwarzen Hidschab um den Kopf und einer Brille mit schwarzem Gestell in den Vernehmungsraum und nimmst, quasi als Lehrerin, in Hebroner Arabisch Kontakt mit ihm auf. Ausgangssituation: Ihr wartet beide auf Ungewisses. Du vermutest, dass ihr auf jemand wartet, der euch verhören soll. Du bist verhaftet worden, weil man dich verdächtigt, die Freundin des Lehrers des Mädchens mit der Stricknadel zu sein, aber du bist sicher, dass das Ganze ein Irrtum ist. Du kennst das Mädchen nicht und auch keinen Lehrer von ihr. Es ist anzunehmen, dass er anfängt, Informationen über seine Cousine zu liefern, und von da aus kannst du die Unterhaltung auf das Thema Rache bringen.«

Der »Cousin« war ein stämmiger junger Mann mit bräunlichem Teint, sanftem Gesichtsausdruck und heiter-traurigen Augen. Als sie die »Beichtzelle« betrat, um ihn zu knacken, saß er dort schon seit Stunden und wartete auf sein Verhör, auf Ungewisses, war also »auf kleiner Flamme geschmort und weichgekocht von Befürchtungen und Ängsten«, wie Assi seine Methode formulierte. Als der »Cousin« sie erblickte, blitzte ein mutwilliger Funke in seinen Augen auf, und bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, eröffnete er ihr in fließendem Englisch mit perfekt britischem Akzent, soweit es ihn angehe, könne sie die Verkleidung gerne weiter tragen, wenn es ihr ein angenehmes Gefühl vermittle, sich als strenggläubige muslimische Araberin auszugeben.

»Und soweit es mich angeht«, erwiderte sie ihm in Hocharabisch, »können auch Sie die Verstellung beibehalten, wenn es Ihnen ein angenehmes Gefühl gibt, Ihre unglückliche Muttersprache im Stich zu lassen und in einer Sprache zu reden, die nie die Ihre sein wird.«

»Zum Teufel mit Ihnen!«, rief er in Arabisch aus, doch er beherrschte seine Gefühle sofort wieder und wechselte in sein majestätisches Britisch: »Wie können Sie es wagen, meine Muttersprache unglücklich zu nennen?!«

»Warum sprechen Sie sie nicht, schämen Sie sich ihrer?«

»Ich schäme mich nicht der arabischen Sprache, ich schäme mich vor mir selbst dafür, dass ich sie nicht beherrsche.«

»Das tut mir leid, und ich bitte um Verzeihung, sollte ich einen wunden Punkt berührt haben«, sagte sie.

»Einen äußerst wunden Punkt«, schnaufte er und schluckte hart. »Ich bitte Sie darum, nicht Arabisch mit mir zu sprechen.«

»Warum? Verletze ich eure heilige Sprache?«

»Weil Ihr Arabisch besser ist als meines.«

»Ich hatte wirklich nicht die Absicht, Ihnen wehzutun«, versicherte sie mit ihrer warmen Stimme. »Sprechen wir also Englisch, obwohl Ihr Englisch besser ist als meines.«

»Na gut«, lächelte er, »Sie sind nicht in England aufgewachsen.«

»Und Sie?«

»Seit ich zehn bin«, sagte er.

»Ihre Familie ging nach England?«

»Nein. Meine Familie ist in Palästina geblieben. Als ich zehn war, hat die Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge drei Kinder ausgewählt, die sie auf ihre Kosten in England zur Schule schickte.«

»Und Sie sind geblieben und leben dort?«

»Einstweilen. Wenn ich meine Doktorarbeit abgeschlossen habe, kehre ich zu meinem Volk zurück.« Und nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Und zu meinem Land.«

»Was von beiden ist Ihnen wichtiger?«, fragte sie beinahe flüsternd. Er lächelte bedrückt und antwortete: »Wir müssen das, was ihr uns von dem Land und dem Volk übrig gelassen habt, neu aufbauen.«

»Und wie wollen Sie das Volk aufbauen?«, fragte sie. »Mit einem Krieg nach dem anderen?«

»Als ich im Fernsehen meine Cousine sah, ein zwölfjähriges Mädchen, das verletzt und hilflos auf dem Bürgersteig lag, und euren Soldaten mit gezogener Pistole und die Leute, die schrien: Verpass ihr einen Kopfschuss!, und wie er auf sie geschossen und geschossen hat, drei Kugeln aus nächster Nähe auf sie abfeuerte, da war ich voller Rachgier. Aber als ich zu meiner Schwester nach Hause kam und immer mehr Leute traf, die wie ich vom Durst nach Rache durchdrungen waren, und eure von Kopf bis Fuß bewaffneten Soldaten ringsherum sah, erfüllt von der gleichen Mordlust, die den Soldaten dazu gebracht hat, in den Kopf eines zwölfjährigen Mädchens zu schießen, das verletzt auf dem Bürgersteig lag, habe ich zwei Völker gesehen, die zu irrsinnigen, grausamen, niederträchtigen Bestien geworden sind. Ihr habt hier ein Volk großgezogen, das sich erlaubt, zu zerfleischen, zu morden, zu rauben, zu stehlen und zu lügen, jede Schandtat zu begehen und diese Abscheulichkeiten als Heldentaten zu verklären, wie ihr diese Verbrechen nennt, in denen ihr Tag für Tag tiefer versinkt, berauscht von eurer Macht, bis ihr eines Tages eine Überdosis schluckt und in dieser blutigen Kloake untergehen werdet.«

»Ich dachte, Sie schreiben eine Doktorarbeit in Geschichte, nicht in Demagogie«, erwiderte sie. »Demagogen habt ihr im Überfluss, ernsthafte Historiker allerdings fehlen euch. Schade.«

»Ich versuche, die Wurzeln des Zionismus und sein Erfolgsgeheimnis zu begreifen«, entgegnete er, »und ein Satz in Judah Halevis großem religionsphilosophischem Werk Kuzari hat mich völlig umgeworfen.«

»Welcher Satz?«, fragte sie.

»Jerusalem wird erbaut werden, wenn die Kinder Israels sich so sehr nach diesem heiß ersehnten Ziel verzehren, dass sich seine Steine und sein Staub erbarmen.«

»Das ist nur eine der Wurzeln des Zionismus«, meinte sie, »und nicht die tiefste.«

»Ich würde mich freuen, diesen Dialog zu eröffnen und zur tiefsten Wurzel vorzudringen«, lächelte er.

»Was ist das genaue Thema Ihrer Dissertation?«

»Die Politik der Jewish Agency und der Zionistischen Gewerkschaft in den Jahren 1929–1945.«

»Was hat Sie an diesem seltsamen Thema angezogen?«, erkundigte sich Libby.

»Wenn Sie die revisionistische Presse und die Memoranden lesen, die in jenen Jahren von Vertretern der Jewish Agency und der Zionistischen Gewerkschaft verfasst wurden, werden Sie vielleicht von selbst etwas verstehen, was zu erklären viele Stunden bräuchte. Vielleicht auch Tage. Oder Jahre.«

»Wo finde ich diese Quellen?«

»Es gibt sie im Getzel-Kressel-Archiv in Oxford, in den Archiven der Außenministerien in Frankreich, Deutschland und England, und es gibt ein wichtiges Memorandum von Dr. Paul März und noch ein paar hochinteressante Schriften aus den Jahren 1941–1945 im Zionistischen Archiv in Jerusalem«, erklärte er.

»Ich nehme an, Sie haben diese Memoranden nicht in Be’er-Scheva gesucht«, schlug Libby den Bogen.

»Ich wollte dort ein Auto mieten.«

»Das hängt aber nicht mit diesen Dokumenten zusammen.«

»Und ob das zusammenhängt.« Er lächelte.

»Machen Sie sich lustig über mich?«

»Sie sind kein Mensch, über den man sich lustig macht.«

»Ich höre«, sagte sie.

»Ich wollte zu dem Ort fahren, von dem Ihr Großvater meine Großmutter 1949 vertrieben hat.«

»Was wissen Sie von meinem Großvater?«

»Was wissen Sie von meiner Großmutter?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Ehrlich gesagt, nichts.«

»Was wollen Sie über sie wissen?«

Libby betrachtete ihn und ließ sich Zeit mit der Antwort. Eine tiefe Neugier regte sich in ihr. Was veranlasste ihn, ausgerechnet von seiner Großmutter zu sprechen und nicht von seinem Vater und seiner Mutter, die er überhaupt nicht erwähnte?

Er blickte sie mit seinen heiter melancholischen Augen an. Ein leichtes Lächeln schwebte in seinen Mundwinkeln.

»Was wollen Sie über sie wissen?«, wiederholte er.

»Eine Menge«, antwortete sie schließlich.

»Das wird aber lange dauern. Tage. Wochen.« Er lachte. »Vielleicht beginnen wir damit, dass Sie mir von Ihrem Großvater erzählen?«

»Was wollen Sie über ihn wissen?«

»Lebt er noch?«

»Und wie. Und ich bin mir keineswegs sicher, dass er Ihre Großmutter vertrieben hat.«

»Ich spreche metaphorisch.«

»Ich nicht«, stellte Libby klar. »Aber wenn Sie mir den Namen Ihres Stammes und Ihrer Sippe sagen, könnte ich das mit ihm klären.«

»In seinem Alter ist das Gedächtnis nicht mehr so scharf. Da hat sich wahrscheinlich schon ein Sammelsurium von Geschichten aufgebaut und …«

»Sein Gedächtnis ist scharf wie ein Rasiermesser«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Von welchem Stamm ist Ihre Großmutter?«

»Vom Stamm der Fridschat, aus der Sippe der Mlihat. Von welchem Stamm ist Ihr Großvater?«

»Vom Stamm des Palmach, Sippe Negeveinheit.«

»Wie heißen Sie?«, fragte er unvermittelt.

»Libby. Und Sie?«

»Das wissen Sie doch«, erwiderte er ihr. »Sie haben meine Akte gelesen, bevor Sie hereinkamen.«

»Ich möchte es aus Ihrem Mund hören«, sagte sie provozierend.

»Adib.« Er betonte das b mit Nachdruck, um keinen Zweifel an der arabischen Aussprache aufkommen zu lassen. »Und Ihr Großvater hat meine Großmutter sehr wohl vertrieben. Ihr habt uns zwischen 1949 und 1951 nach Jordanien verjagt.«

»Was heißt hier ›ihr‹ und ›uns‹? Weder ich noch Sie, Adib, waren zu der Zeit auf der Welt.«

»Ich beschuldige Sie nicht persönlich, Libby.«

»Das können Sie ruhig, Adib, wenn es Ihnen das Leben leichter macht. Aber Tatsache ist, dass ich niemanden vertrieben habe und Sie nicht vertrieben worden sind.«

»Persönlich können Sie die Verantwortung für unser Unglück von sich abschütteln, Libby. Das macht Ihnen Ihr Leben sicher leichter. Aber Sie sind Teil des Staates, der dieses Unglück verursacht hat und die Verantwortung von sich weist.«

»Und wenn wir die Verantwortung übernehmen wollten, wozu verpflichtet uns das?«

»Den Schaden, den ihr verursacht habt, zu beheben. Für Land und Besitz zu entschädigen, die ihr jeder Familie geraubt habt. Für jedes Haus, das ihr zerstört habt. Ich bin sicher, das Wort ›Reparationen‹ sagt Ihnen etwas.«

»Wissen Sie, wo genau Ihre Familie gelebt hat?«

»Sie saßen in Tel Chalif, heute – Kibbuz Lahav.«

»Sie wollten einen Wagen mieten, um zum Kibbuz Lahav zu fahren?«, kehrte Libby zum Thema zurück.

»Auch«, nickte er.

Er gibt freiwillig Informationen preis, ging ihr durch den Kopf. Tut er das, um mich von der Hauptsache abzulenken? Doch bevor sie die nächste Frage stellen konnte, überraschte er sie mit einer sanften Bitte: »Seien Sie so gut, Libby, nehmen Sie bitte den Hidschab ab.«

Ohne ein Wort darauf zu erwidern, streckte sie die Hand aus und entfernte beiläufig das Tuch, das ihr Gesicht umschloss. Dann löste sie ihren Haarknoten, schüttelte ihre Haare aus, und die kastanienbraune Flut verteilte sich um ihren Kopf.

»Noch etwas?«, fragte sie trocken.

»Es gibt eine Grenze«, lachte er. »Ich werde Sie nicht bitten, dieses Gewand auszuziehen.«

»Was wollten Sie denn in Lahav?« Sie überging die Wendung, die er dem Gespräch zu geben versuchte.

»Oh! Nichts weiter, nur mit eigenen Augen sehen …«

»Was sehen?«, hakte sie nach.

»Das verrate ich nicht, bevor ich meine Doktorarbeit eingereicht habe«, erwiderte er, »damit man meine These nicht zu Fall bringt, bevor sie die Chance hat, Menschen zu einer Positionsänderung zu bewegen.«

»Wer sollte Ihre These zu Fall bringen wollen?«

»Gehen Sie in Ihrer Geschichte in die fünfziger Jahre zurück, sprechen Sie mit Ihrem Großvater, hören Sie aus seinem Mund, wie schwer es für seine Generation war, die Rachegefühle zu überwinden, übertragen Sie das auf uns, und vielleicht verstehen Sie dann die Größe der Aufgabe, die ich mir aufladen will«, erklärte er.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Helfen Sie mir bitte, so schnell wie möglich an meinen Schreibtisch und zu meiner Bibliothek in Coventry zurückzukommen«, bat er.

»Ich werde mein Bestes tun«, versprach sie.

»Der Hidschab!«, sagte er plötzlich zu ihr. »Erlauben Sie mir, Ihnen behilflich zu sein, ihn wieder anzubringen.«

»Aber bitte!« Sie lachte. »Wenn Ihnen das so wichtig ist …«

»Sehr sogar«, erwiderte er ernsthaft.

Als sie den Kopf senkte, um ihre Haare zusammenzufassen, und er den Hidschab darüber drapierte, spürte sie, wie seine Finger ein Papierkügelchen in ihr Haar schoben, während seine Lippen fast tonlos flüsterten: »Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Es liegt in unseren Händen und nicht in unseren Händen.«

Sie wechselten einen schnellen Blick, und dann ging Libby hinaus, ließ ihn allein zurück.

Draußen kam ihr Assi fröhlich entgegen.

»Das war ausgezeichnete Arbeit«, lobte er sie. »Du hast ihn in null Komma nichts zum Reden gebracht, wir waren ganz fasziniert von eurer Unterhaltung. Und du hast uns vor einer überflüssigen Verwicklung bewahrt.«

»Was für eine Verwicklung?«

»Einen Moment bevor wir ihn festgenommen haben, hätten wir ihn fast liquidiert, aber anstatt zu fliehen, hat der Knabe mit einem britischen Pass gewedelt, und das hat ihn gerettet. Es sind schon offizielle Anfragen von der britischen Botschaft und der UN eingetroffen. Jetzt haben wir uns, dank dir, davon überzeugen können, dass er ein harmloser Intellektueller ist. Ein ungefährlicher Schöngeist. Wir werden ihn heute noch in einen Flieger nach London setzen und Gott danken, dass wir ihn los sind.«

»Dann bin ich froh, dass ich geholfen habe, den Staat vor einer dummen Panne zu bewahren«, sagte Libby.

»Ich hab echt niemand wie dich! Warum willst du dich nicht bei uns verpflichten?«, versuchte Assi, sie festzuhalten.

»Materialermüdung«, erwiderte sie und sah ihm mit unschuldigem Blick direkt in die Augen, während das Papierkügelchen in ihren Haaren unter dem Kopftuch brannte.

»Denk noch mal drüber nach, bevor du dich entscheidest«, drängte er sie.

»Mach ich«, versprach sie.

Als sie sich in ihrem Zimmer umzog, warf sie einen kurzen Blick auf das Papierkügelchen, das sie aus ihrem Haardickicht gezupft hatte, und sagte sich: Solange du nicht weißt, was auf dem Zettel steht, ist das ein bedeutungsloses Stück Papier. Über ein bedeutungsloses Stück Papier musst du keinem Menschen Bericht erstatten. Doch dann überfiel sie ein unwiderstehlicher Drang, und sie spähte hinein. Eine E-Mail-Adresse.

Als sie in der Magazinstelle ihre Ausrüstung zurückgegeben hatte und gerade auf ihr Motorrad steigen wollte, klingelte ihr Mobiltelefon. Ihre Mutter beglückwünschte sie: »Gott sei Dank, dass du den ganzen Militärdienst endlich hinter dir hast, und ohne einen Kratzer.« Dann erwähnte sie noch, dass ein Motorrad ein gefährliches Gerät sei, sie solle vorsichtig und nicht zu schnell fahren auf dem Heimweg.

»Ich fahre in den Kibbuz, um mit Großvater zu reden«, teilte ihr Libby trocken mit.

»Was?!«, drang ein entsetzter Aufschrei aus dem Telefon. »Komm erst mal nach Hause! Hier warten alle auf dich, Jochai kommt auch«, versuchte ihre Mutter, sie zu ködern.

»Ich muss mit Großvater reden.«

»Großvater läuft dir nicht davon, du kannst am Sonntag mit ihm reden.«

»Nein«, sagte Libby entschieden. »Ich fahre zu Großvater.«

»Was ist los?«, fragte ihre Mutter erschrocken.

»Gar nichts«, blockte sie ab. »Ich muss ihn sehen.«

»Na gut«, räumte ihre Mutter nach kurzem Schweigen ein, »aber am Abend bist du zu Hause.«

»Kann sein«, meinte Libby abschließend, schaltete das Telefon aus und entdeckte Assi, der dastand und auf das Ende des Gesprächs gewartet hatte.

»Auf ein Wort?«, fragte er.

»Auch zwei«, erwiderte Libby.

»Ist es endgültig?«

»Endgültig«, sagte sie.

»Ich bin nicht bereit, auf dich zu verzichten, ohne dass du mir erklärst, was los ist.«

»Ich bin ausgelaugt.«

»Etwas genauer«, beharrte er.

»Ich habe 968 Terroristen und Verdächtige verhört und zum Reden gebracht. Gefangennahme. Verhör. Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Verhaftung. Hauszerstörung. Anschlag. Haft. Verhör. Hauszerstörung … 968-mal. Anschlag. Verhaftung. Verhör. Prozess. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Haft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung. Du kennst doch das Lämmchenlied aus der Pessach Haggada? Immer das gleiche Lied, ewig ein Ende mit Schrecken?«

»Hab’s kapiert«, seufzte Assi müde.

»Mir reicht’s!«, stellte Libby fest. Sie startete das Motorrad und fuhr los.

2. IST DIR EGAL, WAS MIT DEINER TOCHTER PASSIERT?

»Maoz, Maoz!«

Der kalte Stahl des Panzerturms schlägt gegen seine linke Schulter, als sie den steilen Abhang hinunterrumpeln.

»Halt!«, schreit er den Fahrer des Panzers an. »Du fährst in den Tunnel rein!«

»Maoz, Maoz!« Wieder knallt seine linke Schulter an den Panzerstahl.

»Halt!«, brüllt er, doch der Fahrer des Panzers reagiert nicht, sondern schlittert mit wachsender Geschwindigkeit in den finsteren Tunnel hinein.

»Maoz, Maoz!«

»Was?!« Maoz riss entsetzt die Augen auf und sah eine weiße Hand an seiner Schulter rütteln. Es dauerte eine Sekunde, bis er registrierte, dass es eine weibliche Hand war. Er ließ seinen Blick den Arm emporwandern, der zu der Hand gehörte, und sah das Gesicht einer Frau. Eine weitere Sekunde – und er erkannte das Gesicht, die Augen, die ihn besorgt betrachteten.

»Noga?« Er gähnte. »Was ist los?«

»Du bist wieder vor dem Fernseher eingeschlafen.«

»Warum hast du mich denn die ganze Nacht hier schlafen lassen?«, wunderte er sich, während er auf die Uhr spähte.

»Wieso die ganze Nacht?«

»Es ist schon sechs Uhr früh!« Er riss den Mund zu einem breiten Gähnen auf. »Hast du die Zeitung reingeholt? Ich habe ein Telefoninterview gegeben …«

»Jetzt ist es sechs Uhr abends«, schalt sie und dann, anklagend: »Und sie ist immer noch nicht gekommen.«

»Wer soll kommen?«, sagte er abwesend.

»Deine Tochter«, warf sie ihm vor. »Hast du vergessen, dass Libby heute ihren Entlassungsurlaub angetreten hat?«

»Ah! Stimmt.« Er gähnte wieder. »Sie wird bestimmt bald kommen. Ich war mir sicher, dass jetzt schon morgen ist.«

»Geh dir das Gesicht waschen, und werd wach«, schimpfte sie angewidert.

»Ich bin doch wach. Ich hatte einen beschissenen Tag. Sigal hat die Korrekturen für den Gesetzesvorschlag nicht vorbereitet, den ich dem Ausschuss präsentieren sollte …«

»Ich hoffe, es ist ihr unterwegs nichts zugestoßen«, unterbrach sie sein müdes Gemurmel.

»Sie war einfach zu faul, diese miese Schlampe. Kommt in die Arbeit …«

»Ich rede von Libby«, unterbrach sie ihn, »nicht von deiner tranigen Sekretärin. Ich hoffe bloß, ihr ist kein Unfall mit dem Motorrad passiert.«

»Woher denn«, wiegelte er ihre Besorgnis ab. »Die Entlassung braucht Zeit. Bis man sich die Ausrüstung hat abzeichnen lassen …«

»Sie ist in der Früh entlassen worden. Schlaf nicht wieder ein!«, befahl sie.

»Ich schlaf nicht ein.«

»Du schläfst mitten im Satz ein.«

»Ich bin grausam wach«, protestierte er. »Was willst du denn?«

»Dass du nachschauen fährst, was mit ihr los ist.«

»Woher soll ich wissen, wo sie jetzt ist?«

»Sie ist bei deinem Vater.«

»Wie, bei meinem Vater?«

»Deine Tochter! Hörst du nicht, was ich zu dir sage, oder kapierst du’s nicht?«

»Hab’s gehört! Sie ist bei meinem Vater. Und?«

»Das kommt dir normal vor?«

»Wie, normal?«

»Das scheint dir in Ordnung?«

»Was ist da nicht in Ordnung? Was …«

»Sie geht in Entlassungsurlaub. Anstatt direkt nach Hause zu kommen, fährt sie zu deinem Vater.«

»Sie hatte immer eine gute Beziehung mit ihm. Seit sie ein Baby war.« Er blickte aus dem Fenster und sagte: »Da, dort geht er.«

»Wer?« Sie schrak zusammen. »Dein Vater?«

»Dieser junge Verrückte, der immer so wahnsinnig laut schreit.« Maoz kniff die Augen zusammen und sagte dann verwundert: »Er hat weiße Kopfhörer auf den Ohren. Er hört anscheinend Musik, und gleichzeitig schreit er. Das schaut nach Kampfschock aus. Es wird uns Jahre kosten, dieses Volk zu heilen. Wenn ich einmal Sicherheitsminister bin …«

»Ich rede mit dir über deine Tochter, und du flüchtest dich zum Volk.«

»Mit Libby ist alles in Ordnung«, stellte er ruhig fest.

»Maoz!«, rief sie ihn zur Ordnung. »Ich bitte dich, steh jetzt auf und fahr zu deinem Vater!«

Er lehnte sich auf: »Was heißt hier, fahr zu deinem Vater?! Das sind anderthalb Stunden Fahrt, wenn nicht zwei, in den Staus um sechs Uhr abends. Und morgen wartet ein Tag auf mich, der …«

»Ich habe das Gefühl, dass ihr etwas passiert ist.«

»Dann ruf an, wenn du dir solche Sorgen machst.« Er machte eine Handbewegung, als verscheuche er eine lästige Fliege.

»Ich habe bei ihm daheim angerufen, ich habe ihr Mobiltelefon angerufen, niemand antwortet.«

»Weißt du nicht, wie die jungen Leute von heute sind? Sie filtern! Sie sieht, dass es du bist – und antwortet nicht.«

»Und das findest du in Ordnung?«

»Sie weiß von vornherein, was du zu ihr sagen wirst.«

»Rechtfertige sie nur, und beschuldige mich«, warf sie ihm vor.

»Ich beschuldige gar niemanden«, seufzte er, während er seinen müden Kopf in die Hand stützte. »Ich beschreibe schlicht eine Situation.«

»Drück dich nur, drück dich«, griff sie ihn an. »Du willst da bloß nicht hinfahren, weil du nicht den Mut hast, deinen Vater zu konfrontieren.«

»Oh, fangen wir jetzt mit der Psychologie an«, stöhnte er.

»Nein«, erwiderte sie. »Das ist keine Psychologie. Du hast nicht den Mut, dich mit ihm über die einfachste und selbstverständlichste Sache der Welt auseinanderzusetzen.«

»Gleich kommen die Nachrichten«, unterbrach er sie. »Wo ist die Fernbedienung?«

»Siehst du, wie du flüchtest? Du kannst es nicht mal hören.«

»Ich höre, höre, höre!« Er spie die Wörter aus. Lass sie reden, sagte er sich. Soll sie sagen, was sie will. Bloß nicht einmischen, nicht reagieren. Lass sie reden, bis ihr die Energie ausgeht.

Aber Noga redete nicht. Es hat keinen Sinn, mit ihm zu reden, denn er hört sowieso nicht zu, dachte sie. Er konnte ihre Gedanken jedoch förmlich hören, einen Schwall von Worten, der sich aus den Bruchstücken der ihm wohlvertrauten Ausbrüche zusammensetzte, wenn sie die in sich aufgestaute Wut nicht mehr eindämmen konnte.

Du musst mit deinem Vater über das Testament sprechen – er kannte die Litanei nur zu gut. Schau dir an, wie dieser Wilde mit bald neunzig noch auf seine Motorradtouren geht. Kein Moped, mit dem ein Sturz in seinem Alter auch schon mit zerschmetterten Knochen enden konnte, sondern ein Ungeheuer, vor dem einen Gott bewahre. Eine Harley-Davidson aus den vierziger Jahren, aus dem Zweiten Weltkrieg. Was denkt er sich dabei, dein Vater, wenn er zu diesen aberwitzigen Touren aufbricht, wenn er mit seiner Höllenmaschine auf den abseitigsten Wegen im Süden des Landes herumdonnert, auf den Straßen im Jordantal zwischen den Dörfern der Palästinenser, auf irgendwelchen unwegsamen Routen, über die sich nicht einmal die Banden der Hell Angels, die auf den verlassenen Straßen in den endlosen Weiten Amerikas wild herumjagen, trauen würden, und er tut, als würden die Gefahren vor ihm die Flucht ergreifen, wenn sie nur von weitem sein Motorrad hören. Und unter uns, wer weiß, ob er nicht jedes Mal, wenn er auf solche Touren geht – ob dieser Kerl ohne Alter nicht sein Motorrad am Haus von irgendeiner unbekannten Geliebten parkt und wir eines Tages noch entdecken, dass er ihr seinen ganzen Besitz vermacht hat, dieser neue Kibbuznikmillionär, und du und deine Geschwister, die ihr sehnsüchtigst darauf wartet, auch wenn ihr nie darüber redet, seine gesamte Hinterlassenschaft zwischen euch aufzuteilen, dann feststellt, dass alles, was er euch hinterlassen hat, die sämtlichen Werke von Gordon, Brenner, Marx und Lenin sind, das Buch der Hagana, das Buch der Jugendbewegung, das Palmach-Buch und – ach ja, auch noch diese humoristische Anekdotensammlung vom Palmach und die Gedichte von Schlonsky, Alterman und Alexander Penn und vielleicht auch die Kiste mit den Heften, den Gedichten und dem Buch, die er seit Jahren schreibt und unterm Bett aufbewahrt, und die Mauser-Luger-Pistole, die in dem gefütterten Lederhalfter an einem Nagel an der Wand neben seinem alten Eisenbett hängt, aber das Haus und das Grundstück, das privatisiert und auf seinen Namen eingetragen worden ist, sein Anteil am Betrieb, der Hunderte Millionen wert ist, und die Dividenden, die er auf irgendeinem Konto, weiß der Teufel, auf welcher Bank gebunkert hat, da werdet ihr euch anschauen, du und deine Geschwister, da werdet ihr sehen, wie jeder von euch nur noch seinen eigenen Arsch anschaut, und dann könnt ihr endlich mit den gegenseitigen Vorwürfen daherkommen und euch selber zerfleischen, weil keiner von euch, als der Mann noch am Leben war und man mit ihm hätte reden können, den Mut hatte, sich die zwei anderen Brüder und eure ausgeflippte Schwester zu schnappen, zu ihm zu gehen und zu sagen: Papa, wir sind deine Kinder, wir kamen aus dem Kibbuz, der einmal deiner war, deiner und nicht unserer, ausgestattet mit zwei Händen und zehn Fingern, mehr hast du uns nicht mitgegeben, um das Leben zu bewältigen, also bitten wir, deine Kinder, dich jetzt, dass du dich mit uns hinsetzt und ein anständiges Testament schreibst, in dem du alles, was du eines Tages – mit hundertzwanzig oder drüber – hinterlassen wirst, gleichberechtigt zwischen uns aufteilst. So hättet ihr handeln müssen, und das hättest du tun müssen, wenn du den Mut dazu hättest, wenigstens für deine Tochter, die jetzt ins Leben aufbricht, aber du bist nicht mal in der Lage, ihr ein kleines Apartment zu stiften, ganz zu schweigen von einer Zweizimmerwohnung und anderen Sachen wie vielleicht ein Universitätsstudium, das den Namen verdient, in den Vereinigten Staaten, damit sie einen Abschluss bekommt, der ihr Arbeit, Lebensunterhalt und ein würdiges Dasein sichert. Denn von deinem Gehalt und den paar Groschen, die ich verdiene, schaffen wir es nicht mal, einen Schekel zu sparen. Man denkt immer, dass wir Millionäre sind, aber in Wahrheit können wir ihr bei der permanent wuchernden Teuerungsrate nicht einmal eine Wohnungsmiete finanzieren, und sie wird gezwungen sein, als Bedienung zu arbeiten oder irgendeinen anderen Notnageljob anzunehmen, um sich selber eine Wohngemeinschaft zusammen mit zwei, drei anderen zu finanzieren. Nur dass man bei euch in der Familie über solche Dinge natürlich nicht spricht, weil es bei euch ja unfein ist, von Geld zu reden und über reale Bedürfnisse echter Menschen, und wenn ihr euch trefft, du und deine Verwandtschaft, bei der Hochzeit von einem der Söhne oder Töchter, könnt ihr bloß Späße machen, Witze reißen oder mit Duvesch, dem Esel, streiten, der sich zur Religion bekehrt hat, abgefallen ist, sich noch mal bekehrt hat und jetzt wie ein räudiger Steppenwolf mit seiner verrückten Frau und seiner Thailänderin in Chazrot-Eitam, dieser pseudobiblischen Pampasiedlung, im Jordantal verrottet. Deshalb braucht es dich nicht zu wundern, falls sich herausstellen sollte, dass euer Vater alles dieser deutschen Freiwilligen hinterlassen hat, wie hieß sie doch gleich, Frieke oder Elfriede, die mit ihm in der Imkerei gearbeitet hat, und man muss schon so stockblind sein wie du, um nicht zu sehen, dass sie bei ihm nicht nur Honig geleckt hat, und er ist ja nicht umsonst zu ihr nach Weimar gefahren, um quasi ihre Methoden der Bienenzucht zu studieren. Nu, also wirklich, ein Mensch an die achtzig, oder wie alt er damals genau war, fährt plötzlich für zwei Monate nach Deutschland, um von einer Frau Doktor mit Anfang vierzig Methoden zur Bienenzucht zu lernen, wobei er weiß, dass der Kibbuz die Imkerei am liebsten ruckzuck auflösen will, um die Hügel, auf denen er Wildpflanzen mit jahreszeitlich wechselnder Blütenfolge kultiviert, am Immobilienmarkt zu verscherbeln?! Also er, der ihr und der ganzen Fakultät dort Bienenzucht und Kultivierung ganzjähriger Blütenfolge beibringen könnte, er muss da hinfahren, um sich bei ihr in der Honigerzeugung fortzubilden?! Echt überzeugend! Kurz gesagt, wundere dich bloß nicht, wenn ihr entdeckt, dass er dieser netten Deutschen seinen gesamten Besitz und das ganze Vermögen vererbt hat, das er aus seinem Anteil am Kibbuzbetrieb gekriegt hat.

Das Zirpen eines Telefons unterbrach die Flut der Wörter, die ihrem beredten Schweigen entströmten und in seinem Gehirn durcheinanderwirbelten. Noga stürzte sich auf das drahtlose Telefon auf dem niedrigen Tisch vor dem Fernsehsessel, in dem er lag, mit schmerzendem Rücken und einem seltsamen, nicht bestimmbaren Schmerz, der in seiner linken Knöchelgegend nagte. Sie warf einen Blick auf das Display und reichte ihm das Telefon, wobei sie verächtlich aus dem Mundwinkel fallen ließ: »Dein Bruder.«

»Duvesch?«, fragte er, während er das summende Gerät lustlos aus ihrer Hand entgegennahm.

»Gaby«, zischte sie.

»Hi, Gaby«, seine Stimme belebte sich, »was gibt’s? … Hmm … Hmmm … Ähm … Ähmmm! … Was du nicht sagst! … Ich höre, ich höre! … Wunderbar, wunderbar! … Hast du ihm gratuliert? … Ach? Wirklich? … Ja, ich weiß … Nein, das wusste ich nicht. Ja, ja! … Unbedingt! … Sicher! … Nein, keine Ahnung … Kann sein … Kann auch gut sein … Gut, rede du mit ihnen. Hast du schon. Gut. Du hast die Aufgaben verteilt. Hundertprozentig. Ich weiß. Ich werde sehen, was ich machen kann … klar, aber klar. Wir bleiben in Kontakt. Bye.«

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Noga.

»Vaters Kibbuz hat einen Börsengewinn von sechshundert Millionen Euro mit der europäischen Betriebsfiliale gemacht.«

»Wie viel kriegt dein Vater davon?«

»Etwa um eine halbe Million, im ersten Schritt.«

»Schekel?«

»Euro.«

»Das ist alles?«

»Reicht dir das nicht?«

»Er hat mit ihm geredet?«

»Nein, Vater ist nicht zu Hause.«

»Er ist wieder verschwunden.«

»Ja. Anscheinend. Er weiß es nicht.«

»Mit wem hat er dann geredet?«

»Mit Libby.«

»Wann?«

»Gerade eben.«

»Also ist sie noch dort.«

»Ja. Ich fahr mal los.«

»Wohin?«

»Vater suchen.«

»Ruf Duvesch an. Vielleicht ist er ins Jordantal runter wie beim letzten Mal.«

»Gaby hat schon mit Duvesch gesprochen. Er ist dort vorbeigekommen. Aber er ist nicht mehr bei ihm.«

»Du fährst jetzt nicht und suchst ihn in den besetzten Gebieten!«

»Nein, das erledigt Duvesch mit seinem Araber.«

»Wohin fährst du dann?«

»Es gibt ein paar Möglichkeiten«, speiste er sie ab.

»Wenn es dein Bruder zu dir sagt – dann fährst du«, warf sie ihm vor.

»Er macht sich auch auf den Weg. Alle fahren ihn suchen.«

»Klar«, höhnte sie. »Jetzt ist er noch zwei Millionen Schekel mehr wert.«

»Zwei und ein bisschen«, korrigierte er.

»Wenn wir im Kibbuz geblieben wären, dann wären wir heute reich.«

»Hätten wir, wären wir! … Du warst nicht gerade versessen drauf, im Kibbuz zu bleiben.«

»Ich komme aus der Stadt. Du bist dort geboren und aufgewachsen.«

»Also bin ich wieder schuld.«

»Ich gebe dir keine Schuld. Du konntest es einfach nicht mit ihm aufnehmen«, stellte sie fest.

»Da war ich nicht der Einzige.«

»Aber das Ende ist schön. Alle seid ihr vor ihm geflüchtet. Und jetzt sucht ihr ihn alle.« Sie grinste.

»Ein Vater ist ein Vater«, ließ er fallen.

»Und Geld ist Geld«, schoss sie zurück.

Er schluckte den giftigen Stachel. Gleich würde er draußen sein. Im Auto. In der Nacht. Allein.