Buch
Eine Mädchenschule in Nigeria, die das Schatzjäger-Ehepaar Sam und Remi Fargo finanziert, hat dringend benötigte Hilfsgüter nicht erhalten. Sofort brechen die Fargos auf, um nach dem Rechten zu sehen. Doch kaum sind sie vor Ort, werden sie und mehrere Schülerinnen entführt. Dabei scheinen es die Kidnapper nicht auf Lösegeld abgesehen zu haben, sondern auf den neusten Fund der Schatzjäger. Aber wieso sind die nigerianischen Räuber auf eine alte Schriftrolle aus, die vor 1500 Jahren den Untergang des Königreichs der Vandalen besiegelte?
Autoren
Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.
Robin Burcell befand sich beinahe drei Jahrzehnte im Polizeidienst von Kalifornien – zunächst als Police Officer, später im Rang eines Detective. Sie hat mit Geiselnehmern verhandelt und wurde vom FBI in Forensik ausgebildet. Sie lebt heute in Nordkalifornien.
Die Fargo-Romane bei Blanvalet
Das Gold von Sparta
Das Erbe der Azteken
Das Geheimnis von Shangri La
Das fünfte Grab des Königs
Das Vermächtnis der Maya
Der Schwur der Wikinger
Die verlorene Stadt
Der Schatz des Piraten
Jäger des gestohlenen Goldes
Das graue Phantom
Das Orakel des Königs
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Clive Cussler
& Robin Burcell
DAS ORAKEL
DES KÖNIGS
Ein Fargo-Roman
Deutsch von Michael Kubiak
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Oracle« bei Michael Joseph, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Sandecker, RLLLP
By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Jörn Rauser
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (everst; Dmitry Molchanov; Anely Ruzhe; VLADJ55; volkova natalia; Stefan Sorean; Sascha Burkard)
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25060-7
V001
www.blanvalet.de
KÖNIGREICH DER VANDALEN, NORDAFRIKA, 533 n. Chr.
Gelimer – der letzte König der Vandalen, der Usurpator
Zazo – Gelimers Bruder
Euric – Gelimers höchster Heerführer
Belisar – General der byzantinischen Armee
GELIMERS VORFAHREN
Hilderich – vorletzter König der Vandalen, von Gelimer ermordet
Geiserich – König der Vandalen, der Nordafrika unterwarf und Hippo Regius belagerte
GEGENWART
IN LA JOLLA
Sam Fargo
Remi (Longstreet) Fargo
Selma Wondrash – Leitende Rechercheurin der Fargos
Professor Lazlo Kemp – Rechercheur und Kryptologe der Fargos
Rubin Haywood – Führungsoffizier bei der CIA
Zoltán – Deutscher Schäferhund der Fargos
IN BULLA REGIA,
TUNESIEN
Dr. Renee LaBelle – Archäologin
Hank – Ausgrabungsleiter
Amal – tunesische Studentin und Doktorandin
José – spanischer Student
Osmond – ägyptischer Student
Yesmine – Amals Mutter
Warren – ehemaliger Ausgrabungsleiter
TUNESISCHE GANGSTERBANDE
Tarek
Hamida
Ben Ayed
Monsieur Karim – tunesischer Antiquitätenhändler
Leila – Karims Assistentin
IN NIGERIA
GASHAKA GUMTI, FARGO’S SCHOOL FOR GIRLS
Pete Jeffcoat – Selmas Assistent, Wendy Cordens Freund
Wendy Corden – Selmas Assistentin, Jeffcoats Freundin
Yaro – Schulhausmeister, Monifas Ehemann
Monifa – Schulhausmeisterin, Yaros Ehefrau
Okoro Eze – Teefarmer, Zaras Vater
Zara – Schülerin, Okoros Tochter
Jol – Schüler
Tambara – Schülerin
Maryam – Schülerin
Jonathon Atiku – Nashas Onkel
IN JALINGO, NIGERIA
STRASSENDIEBE
Nasha Atiku
Chuk
Len
KALU-BROTHERS
Bako Kalu
Kambili Kalu
KRIMINELLE JUGENDBANDE
Makao Oni (alias Scarface) – Kopf der Bande
Jimi
Pili
Dayo
Den
Deric
Urhie
Joe
Was der Mensch sät,
das wird er ernten.
PROLOG
TEIL I
Die Asche fliegt dem ins Gesicht, der sie wirft.
– AFRIKANISCHES SPRICHWORT –
Der Wintermond lag hell auf den Pflasterblöcken, als Gelimer, König der Vandalen, und sein Bruder Zazo auf ihren Pferden durch den alten Triumphbogen galoppierten und danach das Theater, das Forum und die ehrwürdigen eleganten Stadtvillen passierten, die noch in tiefem Schlaf lagen. Als sie das Zentrum der Stadt erreichten, schwenkten sie nach links in Richtung der alten, mit heidnischen Grabmälern gesäumten Landstraße, die aus Bulla Regia heraus- und in die Berge hinaufführte. Sobald die stummen Häuser der Toten hinter ihnen lagen, bogen die Reiter auf eine lange Allee ab, die mit den verzerrten Schatten uralter Olivenbäume gefüllt war. Ihre Pferde scheuten, als sich die Umrisse des teilweise verfallenen Tempels – er war Saturn, dem römischen Gott der Aussaat und des Ackerbaus, geweiht – wie eine drohend aufragende Bastion vor ihnen aus dem Dunkel schälten. Es schien, als hielte ein dichtes Geflecht von Schlingpflanzen seine brüchigen, im Mondlicht silbern schimmernden Mauerreste zusammen, in deren Schatten sich der Eingang zum Tempel des Orakels in dem Hügel hinter den Ruinen befand.
Die beiden Männer zügelten ihre Pferde, stiegen ab und banden sie an einem der Bäume fest.
»Hier entlang«, sagte Gelimer zu Zazo, ging voraus zum Tempel und stieg die Treppe zum Portal hinauf. Dort wurden sie von einem maurischen Mädchen erwartet, das wie aus dem Nichts in dem Durchgang aufgetaucht war.
Das Mädchen geleitete sie über die Terrasse des Tempels und durch den mit geborstenen Säulen gesäumten Innenhof und verschwand in einer Höhle im Innern des Hügels hinter der Kultstätte. Öllampen hingen an der Decke des Felsenkorridors und warfen ihr flackerndes Licht auf Inschriften auf den Tunnelwänden. Als sie die Mitte der Höhle erreicht hatten, blieb das Mädchen vor einer dunklen Kammer stehen. Die beiden Männer blickten sich suchend um. »Wo ist das Orakel?«, fragte Zazo.
Das Kind hob eine mit Henna verzierte Hand und machte eine Geste, die Schweigen gebot. »Seht dort«, sagte das Mädchen, »das Zeichen des Saturns.«
Als sich ihre Augen an den Halbdämmer gewöhnt hatten, wurden sie eines Dreibeinständers mit einer eisernen Feuerschale gewahr, in der glühende Kohlen lagen. Darüber – mitten in der Luft unter der Höhlendecke – erschien ein magisch leuchtendes Quadrat. Körperlos und durchscheinend. Aber deutlich erkennbar.
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Für einen kurzen Augenblick flimmerten die Buchstaben, dann verschwanden sie, als Flammenzungen von der Kohlenglut hochloderten. In dem tanzenden Licht war ein Mädchen zu erkennen, nicht viel älter als das Mädchen, das sie hergeführt hatte. Es saß auf einem hohen Hocker und trug einen Turban auf dem Kopf. Bekleidet war es mit einem langen Gewand, das aussah, als sei es mit blutigen Smaragden besetzt, die im Schein der Flammen in der Eisenwanne auf dem Dreibein funkelten. Als das Mädchen die dunklen Augen öffnete, war es, als blickte sie Gelimer direkt an, aber zugleich auch durch ihn hindurch.
Die Priesterin atmete die Dämpfe ein, die von der dreibeinigen Eisenpfanne aufstiegen. Mit einer Stimme, die so dünn und sanft wie der Wind war, der flüsternd durch die Olivenbäume strich, verkündete sie ihre Prophezeiung. »Saturn hält die Räder fest. Er wahrt das Gleichgewicht zwischen Rhea, Wohlstand und Überfluss, und Lua, Vernichtung und Verfall … Aber höre, o König der Vandalen, die Räder sind aus der Spur. Lua regiert.«
Eine eisige Hand legte sich um Gelimers Herz. »Sage mir, Seherin, was bedeuten deine Worte?«
»Es ist, wie es geweissagt wurde. So wie Gamma auf Beta folgte, folgt jetzt Beta auf Gamma.«
»Vollkommener Unsinn«, sagte Zazo. »Reinstes Kindergeschwätz.«
Die Priesterin atmete tief ein. »Zwei gingen bereits verloren – am zehnten Meilenstein.«
Es war am zehnten Meilenstein, wo ihr Bruder und ihr Neffe bei dem Versuch, das byzantinische Heer vor den Toren Karthagos abzufangen und zu schlagen, den Tod gefunden hatten. Zazo war keineswegs beeindruckt. »Sie könnte die Nachricht auf dem Marktplatz aufgeschnappt haben. Oder einer von Belisars Spionen hat es ihr erzählt. Sprich von meinem Tod, Seherin, damit ich ihn verhindern kann.«
Die Priesterin wandte den Kopf in seine Richtung, ihre Augen waren so schwarz wie Kohle, die darauf wartete, angezündet zu werden. »Hüte dich vor dem dritten Angriff.«
»Die Hexe ist verrückt«, murmelte Zazo. »Was meint sie damit? Was soll es bedeuten?«
Der leere Blick der Seherin kehrte zu Gelimer zurück. »Wisse, o König, die Saturnalien kündigen sich an. Um den Fluch zu brechen, muss die Schriftrolle von jemandem zurückgebracht werden, der von königlichem Blut ist. Ist er es nicht, erwartet ihn der Tod.«
»Wie?«, fragte Gelimer. »Wie und wo finde ich diese Schriftrolle?«
»Der vorletzte König sieht sie aus der Unterwelt. Der Usurpator ist geblendet. Er wird verlieren, was er für wert und teuer hält, bis es von tiefen Schatten verdunkelt wird und nichts als Eitelkeit übrig bleibt.« Dann aber, als hätten ihre Weissagungen sämtliche Kraft in ihrer zierlichen Gestalt aufgezehrt, sank die Priesterin in ihrem Sessel in sich zusammen, sodass es schien, als würde sie verschwinden.
Gelimer und Zazo waren mit ihrer jungen Führerin in der Dunkelheit allein.
»Sie ist eine Maurin«, sagte Zazo zu Gelimer, nachdem das Mädchen sie hinausgeführt hatte. Die beiden Männer ließen die Tempelruinen hinter sich und gingen zu ihren Pferden. »Sie verehrt die alten Götter. Wie kannst du dich derart täuschen lassen, indem du auch nur ein einziges Wort ernst nimmst, das aus ihrem Mund kommt?«
»Ich lasse mich täuschen? Du wirst der Nächste sein, der stirbt, wenn ich diese Schriftrolle nicht finde und zurückbringe.«
»Was für ein Fluch ist das überhaupt, von dem du da ständig redest?«
»Er ist als Rache von der Priesterin ausgesprochen worden, die Geiserich half, seinen Eroberungsfeldzug erfolgreich zu beenden«, sagte Gelimer. »Geiserich stahl die Schriftrolle, versteckte sie und befahl, die Priesterin zu töten. Und dann hat er geschworen, die Schriftrolle zu zerstören, falls jemand die Waffen gegen die Vandalen erheben würde.«
Zazo blieb abrupt stehen. »Glaubst du ernsthaft, dass Dinge, die vor über hundert Jahren geschahen, hier und heute von Bedeutung sein können? Du solltest nicht vergessen, lieber Bruder, dass diese so genannten Orakel es meisterhaft verstehen, sich vage und in Rätseln auszudrücken. Man hört, was man hören will.«
»Dieses Orakel sagte Hilderichs Tod voraus, sofern es ihm nicht gelänge, die Schriftrolle noch vor den Saturnalien zu finden und nach Hippo Regius zurückzubringen.«
»Der einzige Grund, weshalb er sterben musste, ist der, dass Kaiser Justinian ihn wieder auf den Thron setzen wollte. Sein Tod hat überhaupt nichts mit Prophezeiungen zu tun, es ging einzig und allein darum, dein Reich zu schützen.«
»Und was ist mit dem Geständnis, das der vorletzte König auf seinem Totenbett machte? Wie konnte sie wissen, dass Hilderichs letzte Worte der Landkarte galten?«
»Sie hörte, wie Diener sich darüber unterhielten.«
»Dort war aber niemand außer Ammatas, der ihm das Messer auf mein Geheiß hin in den Leib gestoßen hat. Und außer mir erzählte er niemandem davon. Wenn ich diese Schriftrolle finde und den Fluch brechen kann, ehe wir in die Schlacht ziehen, dann rette ich dir vielleicht sogar das Leben.«
Zazo band sein Pferd los, ordnete die Zügel und schwang sich in den Sattel. »Na schön. Dann zeige mir diese Karte.«
Die beiden Männer ritten nach Bulla Regia zurück und dort zu dem königlichen Haus, in das Gelimer eingezogen war, nachdem er seinen Cousin Hilderich vom Thron gestoßen hatte. Vor ihm hatte auch Geiserich in dem Haus residiert, nachdem er die Schriftrolle gestohlen hatte.
Und nun, ein Jahrhundert später, musste Gelimer dafür sorgen, dass die Schriftrolle wieder an ihren angestammten Ort zurückkehrte.
Als sie das königliche Bauwerk erreichten, erhob sich ein Diener, der auf den Eingangsstufen gesessen und ein Schläfchen gehalten hatte, und ergriff die Zügel ihrer Pferde, während sie abstiegen. Die beiden Männer eilten die Treppe hinauf, schritten durch den breiten und hohen Eingang und gelangten ins Atrium, wo Gelimer eine lodernde Fackel aus ihrer eisernen Wandhalterung nahm. Das flackernde Licht entlockte den Mosaiken auf dem Boden ein Funkeln, als ob sich Diamanten unter den Füßen der Brüder befänden, während sie durch die große Halle auf eine Marmortreppe zugingen. Sie führte in einen langen, labyrinthartigen Korridor hinab, der sich in einem unterirdischen Geschoss befand, in dem die Vandalenherrscher vor der sommerlichen Hitze geschützt waren.
Schließlich gelangten die Brüder in den Raum, der früher einmal Geiserichs und, Jahre später, Hilderichs inneres Heiligtum gewesen war. In dem flackernden Licht waren ein Tisch und ein Sessel aus Elfenbein und Ebenholz zu erkennen. Der Boden darunter bestand aus einem Mosaik, das eine Szene aus der alten heidnischen Mythologie zeigte – Echo, die sich hinter einem der beiden Olivenbäume versteckte, die den Tempel flankierten, und den jungen, gutaussehenden Narcissus beobachtete, der am Fuß der Treppe auf dem Bauch lag, nach unten blickte und dem blau-weißen Muster des Wasserbeckens vor dem Tempel eine Hand entgegenstreckte.
»Ich habe diesen Raum und dieses Haus mindestens eintausend Mal durchsucht«, sagte Gelimer. »Hier gibt es keine Karte.«
»Vielleicht war dies Hilderichs letzte Rache. Dich etwas suchen zu lassen, das gar nicht existiert. Was genau hat er zu Ammatas gesagt?«
»Dass ich, wenn ich meine Eitelkeit nicht erkenne, das nicht sehen könne, was sich genau vor meinen Augen befindet.«
Zazo nahm ihm die Fackel aus der Hand und richtete sie auf den Boden. »Narcissus bewundert sein Spiegelbild. Dort hast du die Lösung deines Rätsels.«
Gelimer betrachtete die Schatten, die von der tanzenden Flamme auf das Mosaik geworfen wurden. Echo blickte zu Narcissus hinüber, der offenbar nicht wusste, dass sie in der Nähe war. Hinter ihm befand sich ein Gebäude, das wie der Tempel des Saturn aussah. »Sein Spiegelbild«, sagte Gelimer, während er die Worte der Seherin in Gedanken wiederholte. Er wird verlieren, was er für wert und teuer hält, bis es von tiefen Schatten verdunkelt wird und nichts als Eitelkeit übrig bleibt. Er sah zu seinem Bruder hinauf. »Eitelkeit. Das ist die Karte. Narcissus deutet darauf.«
»Eine Karte von was?«, fragte Zazo und fixierte stirnrunzelnd das Muster des blau-weißen Mosaiks unter Narcissus.
PROLOG
TEIL II
Der Krieg hat keine Augen.
– SWAHILISCHES SPRICHWORT –
Mit einer Handbewegung gebot Gelimer seiner Armee anzuhalten, ehe er und sein Bruder Zazo allein zur Kuppe des Hügels hinaufritten, um einen Blick auf das römische Heerlager in der Ferne zu werfen. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Endgültigkeit überwältigte Gelimer, als sein Blick über die Reihen seiner Feinde, fünfzehntausend an der Zahl, wanderte. Die Schuppenpanzer der römischen Kavallerie und Infanterie funkelten in der Sonne, während sich die Männer um die Feuer vor ihren Zelten drängten und ihre Mahlzeit zubereiteten. »Es ist fruchtlos«, sagte er zu Zazo.
»Denk nicht mehr an die Worte dieser Hexe im Tempel.«
Doch genau diese Prophezeiung wollte Gelimer nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl er Männer ausgesandt hatte, um zu durchsuchen, was von dem nunmehr trockenen widerspiegelnden Wasserbecken im Tempel des Saturn noch übrig war, waren sie mit leeren Händen zurückgekommen. Ein Mann stürzte von seinem Pferd und starb, die anderen weigerten sich aus Angst vor dem Fluch, noch einmal dorthin zurückzukehren. Gelimer hatte sie sogar ein weiteres Mal aufgesucht, aber als sie den Raum hinter dem Tempel betraten, war er verlassen. »Ich darf dich nicht verlieren, Zazo …«
Verärgert musterte ihn sein Bruder. »Wie ist es möglich, dass du heidnischen Prophezeiungen Glauben schenkst?«
»Ich bitte dich, geh nicht in diese Schlacht. Kehre in die Garnison zurück und beschütze deine Frauen und Kinder. Ihnen solltest du mit deinem Mut zur Seite stehen.«
»Und vor meiner Kavallerie das Bild eines Feiglings abgeben? Außerdem ist es mein Tod, der vorausgesagt wurde. Dann überlass doch auch mir die Entscheidung, ob ich mich ihm stelle oder nicht.« Er zückte sein Schwert, stieß es über dem Kopf in die Luft und drehte das Pferd zu seiner Truppe um. Dabei rief er: »Vorwärts!«
Als Antwort ertönte ein vielstimmiger Kampfruf, während die Reiter der Kavallerie ihre Schwerter zogen und Zazo in die Schlacht folgten, ehe Gelimer noch Gelegenheit hatte, den Befehl zu widerrufen. Sie überquerten den Fluss und richteten ihren Vorstoß gegen das Zentrum von Belisars Streitmacht. Gelimers Truppen an der rechten Flanke hielten sich zurück.
Euric, sein Stellvertreter und Heerführer, lenkte sein Pferd neben ihn. »Mein König«, sagte er. »Eure Männer warten auf Eure Befehle.«
Gelimer ritt zu den wartenden Soldaten hinüber, und hier hob er sein Schwert und wiederholte Zazos Schlachtruf. »Vorwärts!«
Euric reckte seine Klinge in die Höhe. »Heil dem König!« Sie ritten los und brachten die rechte Flanke nach vorn, während Zazo das Zentrum in Marsch setzte. Ein Regen aus Pfeilen flog ihnen von den Römern entgegen, aber die Vandalen hoben ihre Schilde und fingen die meisten Geschosse auf. Nur wenige fanden ihr Ziel, und die getroffenen Krieger stürzten zu Boden. Aber die Lücken wurden schnell wieder aufgefüllt, während die Vandalen ihren Schlachtruf erneut anstimmten und sich den römischen Reitern entgegenwarfen.
Schwerter prallten aufeinander, ihr stählernes Klirren hallte überlaut in Gelimers Ohren wider. Ein römischer Reiter griff an. Seine Lanze war auf Gelimers Brust gerichtet. Gelimer parierte den Lanzenstoß mit seinem Schild, zwang sein Pferd mit einem kraftvollen Schenkeldruck zu einer Drehung, brachte sein Schwert nach unten und schlug dem Römer die Lanze aus der Hand. Der Römer versuchte, sein eigenes Schwert zu ziehen, aber Gelimer holte bereits zum tödlichen Streich aus, bohrte ihm die scharfe Spitze seiner Waffe in die Achselhöhle und fegte ihn aus dem Sattel. Dann machte der König sofort kehrt und nahm den zweiten Reiter ins Visier.
Noch mehr römische Pfeile prasselten in die Reihen der Vandalen. Gelimer wirbelte mit seinem Pferd herum, entdeckte die berittenen Bogenschützen hinter der römischen Kavallerie und war schon im Begriff, die Flanke auf seiner Seite in den Kampf zu schicken, als Belisar plötzlich den Befehl zum Rückzug der römischen Armee gab.
Die Vandalen brachen in lauten Jubel aus, und Zazo lachte triumphierend, während er zu Gelimer hinübergaloppierte. »Das sind Feiglinge«, sagte er. »Wie du siehst, haben wir nichts zu befürchten.«
»Lass dich nicht zu einem vorschnellen Urteil verleiten«, warnte Gelimer und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
»Sie haben doppelt so viele Tote wie wir zu verzeichnen.« Zazo wendete sein Pferd, ritt zu seinen Männern und bedeutete ihnen mit einem Wink, erneut anzugreifen.
Gelimer, der seine durch das Orakel geweckten düsteren Vorahnungen nicht verdrängen konnte, beobachtete, wie Zazo und seine Kavallerie die fliehenden Feinde verfolgten, die nicht nur einmal, sondern zweimal versuchten, sich neu zu formieren und ihren Verfolgern standzuhalten. Bei ihrem dritten Versuch ignorierten die römischen Reiter die rechte und die linke Flanke und richteten ihren Angriff ganz auf das Zentrum des Geschehens, wo Zazo und seine Männer kämpften.
Hüte dich vor dem dritten Angriff …
»Alle zu meinem Bruder!«, feuerte Gelimer seine Männer an. »Beschützt meinen Bruder um jeden Preis!«
Seine Kavallerie galoppierte in geschlossener Phalanx vorwärts und zerstreute römische Soldaten in alle Richtungen. Die vandalischen Krieger – bei weitem die besseren Reiter und seit jeher brillante Schwertkämpfer – trieben den Feind zurück, während sich Zazo mit einem Riesen von einem Mann einen mörderischen Zweikampf lieferte.
Wuchtig schlugen sie aufeinander ein, das Klirren ihrer Schwerter hallte über das Schlachtfeld. Der Riese führte einen geraden Stoß aus, verfehlte Zazo jedoch. Er versuchte, den Angriff zu wiederholen, aber Zazo bohrte sein Schwert in die Schulter seines Feindes und hebelte ihn damit aus dem Sattel. Als der Mann in den Staub stürzte, rutschte das Schwert aus seiner Hand. Zum ersten Mal hatte Gelimer das Gefühl, als sei seine Vandalenarmee im Begriff, die Oberhand zu gewinnen.
Sogar Zazo konnte sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Während er das Schlachtfeld überschaute, entdeckte er Gelimer. Als sich ihre Blicke trafen, hob Zazo sein Schwert, winkte ihm und rief: »Heil dem König!«
Hinter ihm raffte sich der Riese auf und griff nach seinem Schwert.
»Zazo!«, stieß Gelimer als Warnruf aus.
Zazo zog sein Pferd herum. Doch es war zu spät. Das Schwert des Riesen beschrieb einen Bogen, und seine Spitze fand die schmale Lücke zwischen den Platten der Rüstung. Zazo schwankte. Seine Augen weiteten sich voller Überraschung, als der Riese abermals zustieß und dann die Klinge aus Zazos Brustkorb wieder herauszog. Zazo konnte sein Schwert nicht mehr festhalten. Es entglitt seinem Griff. Er presste die freie Hand kraftlos auf die Brustwunde und starrte ungläubig auf das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sein Pferd nahm den geschwächten Zustand seines Reiters wahr, bäumte sich auf und warf ihn aus dem Sattel.
»Zazo!«, rief Gelimer, während sich sein Bruder auf die Füße kämpfte. Ein Schub frischer Kraft trieb Gelimer vorwärts. Mit wirbelnder Klinge wühlte er sich durch die Reihen des Feindes und hinterließ eine blutige Schneise gefallener Römer. Der Riese grinste triumphierend, als er Gelimer auf sich zukommen sah. Mit beiden Händen packte er sein Schwert und holte zu einem wuchtigen Hieb auf den Hals Zazos aus.
Gelimers Herz krampfte sich in seiner Brust zusammen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er trieb sein Pferd zu höchster Eile, versenkte das Schwert in der Brust des Riesen, der zurückgeworfen wurde und bereits tot war, ehe er krachend auf dem Boden aufschlug.
Gelimer stieg vom Pferd und starrte wie gelähmt auf den blutüberströmten Leichnam seines Bruders. Um ihn herum tobte die Schlacht weiter, aber der Lärm drang nur noch gedämpft an seine Ohren. Die Welt ringsum verdunkelte sich.
»Herr«, rief Euric. »Was sollen wir tun?«
Gelimer hörte ihn nicht.
»Mein König!« Euric packte ihn bei den Schultern. »Ihre Männer warten auf Befehle!«
»Alles was bleibt, ist Schatten …« Er sank auf die Knie. Das Schlachtfeld war mit toten Vandalen übersät. Seinen Männern. Zazos Männern. »Nichts bleibt zurück als Eitelkeit …« Er hatte Mühe zu atmen. »Zazo …«
»Er ist tot«, sagte Euric. »Und Euch droht das gleiche Schicksal, wenn wir uns nicht schnellstens zurückziehen.« Euric half ihm auf die Füße.
Später konnte sich Gelimer nicht mehr daran erinnern, was weiter geschehen war. Irgendwie gelangte er wieder auf den Rücken seines Pferdes und folgte Euric blindlings, während sich die Reste seiner Armee in alle vier Windrichtungen zerstreuten.
Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.
– CHINESISCHES SPRICHWORT –
Sam Fargo kontrollierte die Zahlen ein zweites Mal. Es stand außer Zweifel. Die Abrechnung der Gelder, die von der Fargo Foundation für ein archäologisches Ausgrabungsprojekt in Tunesien bestimmt waren, wies zahlreiche Unstimmigkeiten auf. »Das sieht nicht gut aus.«
Seine Frau Remi beugte sich zum Bildschirm vor. Als sie die Zahlenkolonnen überflog, lag ein besorgter Ausdruck in ihren grünen Augen. Sie klemmte sich eine Locke ihres kastanienbraunen Haars hinter das rechte Ohr, erhob sich abrupt von ihrem Stuhl und ging hinter Sam im Büro auf und ab. »Wie konnte das passieren? Renee LaBelle ist eine meiner besten und ältesten Freundinnen. Da kann ich doch nicht einfach zum Telefonhörer greifen, sie anrufen und mit Fragen überschütten. Es würde ja klingen, als wollte ich sie beschuldigen.«
Sam drehte sich mit seinem Sessel zu ihr um. Remi und Dr. Renee LaBelle hatten sich damals im Boston College ein Zimmer geteilt und waren seitdem eng befreundet. »Wenn ich bedenke, wie lange ihr euch schon kennt, bezweifle ich eher, dass sie es dir übelnehmen würde. Aber wenn wir unsere Zahlen nicht mit ihren in Einklang bringen, werden wir mit dem Finanzamt Ärger bekommen.«
Remi blieb stehen und blickte auf den Monitor. »Immerhin kann sie sämtliche Geldbewegungen belegen. Ich kann mich erinnern, dass sie davon gesprochen hat, sie hätten einige Probleme mit ihrem neuen Buchhaltungsprogramm. In dieser Phase kam es zu den Fehlbuchungen. Vielleicht hat es auch an einem Programmfehler gelegen. Oder irgendetwas wurde falsch eingegeben.«
Wenn es ein Programmfehler war, dann ein kapitaler. Und noch einiges mehr musste schiefgelaufen sein, dachte Sam. Ein Jahr zuvor, als Remi den Vorschlag gemacht hatte, dass die Fargo Foundation Renee LaBelles archäologisches Ausgrabungsprojekt in Bulla Regia unterstützen solle, hatte er sich von Anfang an dagegen ausgesprochen. Zwar hatten er und Remi diese Stiftung ins Leben gerufen, um damit wissenschaftliche Unternehmungen wie diese zu unterstützen, aber er wusste aus teilweise leidvoller Erfahrung, dass selbst gute Freundschaften durch das schlampige Finanzmanagement eines der Partner ziemlich schnell in die Brüche gehen konnten. Seinerzeit hatte er diese Bedenken zwar geäußert, aber Remi hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihrer Freundin zu helfen, und ihm versichert, dass Renee LaBelles frühere Ausgrabungen regelmäßig bedeutende Funde zutage gefördert hätten.
Leider ließ der Erfolg diesmal auf sich warten. »Wir wissen nichts Genaues, ehe wir uns nicht zusammengesetzt haben, um die Zahlen mit ihr durchzugehen«, sagte er. »Mach Renee klar, dass die kritischen Fragen von unserer Buchhaltung gestellt werden. Es gebe einige steuerliche Probleme. Was ja auch tatsächlich der Fall ist.« Sam warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn Uhr am Vormittag. »Wie spät ist es bei ihnen? Sie sind uns um acht Stunden voraus, nicht wahr?« Er angelte Remis Smartphone vom Schreibtisch und reichte es ihr.
Sie zog sich einen Sessel neben Sam heraus. »Telefon oder Video? Video«, entschied sie, bevor er antworten konnte. »Das ist ein bisschen persönlicher. Komm aber nicht zu nah. Wenn sie dich sieht, könnte sie meinen, wir wollten sie einschüchtern.«
Sam lehnte sich zurück, während sie die Telefonnummer wählte. Das Gesicht ihrer Freundin zeigte einen Ausdruck leichter Überraschung, als es den Bildschirm füllte. »Remi! Warte einen Moment. Ich geh schnell nach draußen, wo es ruhiger ist. Wir sitzen nämlich gerade beim Abendessen.«
»Bleib sitzen und iss zu Ende. Ich kann warten. Ich habe nur einige Fragen zur Buchhaltung. Wir bereiten die Steuererklärung gerade vor.«
»Nein. Nein. Ich wollte dich sowieso anrufen …«
»Wer ist es, LaBelle?«, erklang eine männliche Stimme im Hintergrund.
»Remi Fargo«, antwortete die Archäologin. »Es geht um die Buchhaltung.«
Das Gesicht eines Mannes erschien neben Renee auf dem Bildschirm. »Ich habe LaBelle schon öfter daran erinnert, einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.«
Ihre Freundin nickte bestätigend. »Das hat er wirklich«, sagte sie, dann fiel ihr offenbar ein, dass Remi keine Ahnung hatte, wer der Mann neben ihr war. »Entschuldige. Das ist Hank, unser neuer Betriebsleiter. Hank, Remi Fargo. Sie und ihr Mann leiten die Fargo Foundation. Ich nehme an, Sam ist sicherlich nicht weit entfernt.«
»Er sitzt neben mir«, sagte Remi und drehte den Bildschirm mit der Kamera, sodass Sam ins Bild kam. Er nickte grüßend.
Hank lächelte. »Was meinen Sie? Ich denke an eine Videokonferenz in ein oder zwei Tagen. Wir haben uns schon gedacht, dass Sie einige Fragen haben werden.«
Wenn es sich um geringfügige Unregelmäßigkeiten gehandelt hätte, wäre Sam einverstanden gewesen. Es ging jedoch um zu hohe Geldbeträge, deren Verbleib seiner Meinung nach unzureichend belegt war, um die strittigen Punkte lediglich während einer Videokonferenz zu bereinigen. »Zufälligerweise«, sagte Sam, »kommen wir am nächsten Montag nach Nigeria. Es würde uns nichts ausmachen, ein oder zwei Tage früher zu fliegen und in Tunis einen Zwischenstopp einzulegen. Es würde alles vereinfachen, wenn wir die Gelegenheit nutzten und uns zusammensetzten.«
Renee LaBelle schüttelte den Kopf. »Da gibt es nur ein kleines logistisches Problem. Wir sind in Kenia. Dort findet eine archäologische Konferenz statt. Für wie lange kommt ihr denn nach Nigeria? Vielleicht könnt ihr nachher hierherfahren.«
»Schwer zu sagen«, erwiderte Sam. »Eine Woche, vielleicht länger.« Er und Remi wollten einen Abstecher zur südlichen Grenze des Gashaka-Gumti-Nationalparks machen, wo zwei ihrer Angestellten – Wendy Corden und Pete Jeffcoat – während der letzten Monate ihr Lager aufgeschlagen hatten und den Bau und die Einrichtung einer Mädchenschule beaufsichtigten, die sich auf lange Sicht selbst versorgen sollte. Auch wenn die Arbeiten nahezu abgeschlossen waren, hinkten sie terminmäßig ein wenig hinterher und mussten sich beeilen, alles unter Dach und Fach zu bekommen, bevor die Regenzeit einsetzte. »Wir wollen uns über den Stand eines der Stiftungsprojekte informieren.«
Renees Miene hellte sich auf. »Meinst du diese Schule da draußen im Busch? Habt ihr schon Schülerinnen für diese Einrichtung?«
»Haben wir«, sagte Remi.
»Ich habe eine Idee«, sagte Renee. »Wir könnten die Konferenz einen Tag früher verlassen und euch in Jalingo treffen, anstatt den weiten Weg nach Tunis zurückzufliegen. Wir gehen die Bücher durch, fahren zur Schule raus …« Sie lächelte entwaffnend. »Das ist typisch für mich, dass ich mich selbst einlade. Ich glaube, das Letzte, was ihr brauchen könnt, sind neugierige Besucher, die euch im Weg herumstehen, während ihr arbeitet.«
Das war es, was auch Sam in diesem Moment dachte. Um zu vermeiden, dass das Ganze den Charakter eines touristischen Freundschaftsbesuchs annahm, nickte er bekräftigend. »Wir werden ganz bestimmt sehr beschäftigt sein.«
Offensichtlich war Hank der gleichen Meinung und sagte: »Es wäre ein bisschen viel verlangt, wenn Sie noch so viel Arbeit vor sich haben. Vergessen Sie nicht, dass wir auch noch unser gesamtes Team im Schlepptau haben.« Er deutete mit einem Kopfnicken hinter sich.
Renee drehte ihr Telefon um, sodass die Kamera eine Personengruppe einfing, die an einem Tisch saß. »Warren kennst du ja schon.« Der grauhaarige Ausgrabungsleiter hob und senkte den Kopf kaum merklich, griff nach seinem Bierglas und trank einen Schluck. »Und dies ist eine meiner Studentinnen. Amal, sagen Sie Hallo zu den Fargos.« Eine junge Frau Anfang zwanzig mit langem dunklem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft hatte, hob eine Hand und winkte.
»Tatsächlich«, sagte Remi, »ist es sogar noch besser. Nicht wahr, Sam?«
Offenbar war ihm die Kontrolle über das Gespräch völlig entglitten – falls er sie überhaupt jemals innegehabt haben sollte. »Warum? Was meinst du?«
»Dass nicht nur eine, sondern zwei Frauen mitkommen, die mit den Mädchen sprechen können. Eine Professorin und eine ihrer Studentinnen. Das ist doch eine brillante Gelegenheit.«
Sam hatte nicht den leisesten Schimmer, wie seine Frau auf eine solche Idee hatte kommen können. »Hast du den Schlafsaal vergessen, den wir eigentlich bauen wollten?«
Es überraschte ihn nicht im Mindesten, dass Dr. LaBelles Verstand genauso funktionierte wie der seiner Frau. Sie drehte sich halb zu ihren Kollegen um und meinte: »Wir können doch Hank mitbringen. Er ist als Baustellenleiter die Idealbesetzung.«
»Und was ist mit Warren?«, fragte Hank.
»Was soll denn mit mir sein?« Warren war offenbar überrascht, dass sein Name überhaupt genannt wurde. »Ich bin ein bisschen zu alt für schwere körperliche Arbeit. Außerdem muss hier jemand die Stellung halten.«
»Moment«, sagte Renee. »So funktioniert das gar nicht. Die gesamte Buchhaltung liegt in Tunesien.«
»Kein Problem«, erwiderte Remi. »Wir holen euch in Tunesien ab und fliegen zusammen zur Schule.«
»Eine großartige Idee. Meinen Sie nicht auch, Hank?«
»Was? Ja. Aber auch wir haben einen engen Zeitplan. Ich wüsste nicht, wie wir …«
»Glücklicherweise«, schnitt Renee ihm das Wort ab, »bin ich hier der Boss.« Sie blickte direkt in die Kamera und grinste. »Ruf mich an und nenn mir die Details. Wir halten uns dann bereit.«
Remi beendete das Gespräch, legte das Telefon auf den Schreibtisch und lehnte sich mit hochzufriedener Miene zurück. »Das lief doch bestens.«
»Ist mir etwas entgangen? Wollten wir nicht über die fehlenden Geldbeträge sprechen?«
»Wir sehen uns die Bücher in Tunesien an, bevor wir dann zur Schule hinausfliegen. Ich bin sicher, dass es für alles eine einleuchtende Erklärung gibt.«
Er hoffte, dass sie recht hatte, denn seiner Frau nachher zu sagen, »ich habe dich rechtzeitig gewarnt« kam meistens nicht so gut an.
Gehe zu den alten Wasserstellen für mehr als Wasser zurück; Freunde und Träume sind da, um dich zu treffen.
– AFRIKANISCHES SPRICHWORT –
Eine leichte Brise kam auf, während sich Sam und Remi an den gemieteten Audi RS lehnten, den sie am Rand der Ausgrabungsstätte geparkt hatten. Sam warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war wenige Minuten nach elf. »Bist du sicher, dass Dr. LaBelle zehn Uhr dreißig sagte?«
»Absolut.« Remi holte ihr Smartphone hervor und wählte. »Anrufbeantworter. Was meinst du, sollen wir ein bisschen herumfahren und nach ihr Ausschau halten? Ich bin sicher, dass dies genau der Ort ist, wo sie uns treffen wollte.«
Sam legte einen Arm um ihre Schultern. »Wir können noch etwas warten. Wie oft bietet sich einem Mann die seltene Chance, mit einer bildschönen Frau an seiner Seite unter einem strahlend blauen Himmel zu stehen.«
»Das ist ein schlagendes Argument, Fargo«, sagte sie und schmiegte sich an ihn.
Etwa zehn Minuten später näherte sich ein mittelgroßes blaues SUV und hielt an.
Renee stieg aus und winkte ihnen. »Entschuldigt bitte. Normalerweise beaufsichtigt Warren unsere studentischen Hilfskräfte während des Vormittags, aber er ist einfach nicht zur Arbeit erschienen, und ich habe nicht auf die Uhr geschaut.« Sie überwand die Distanz mit schnellen Schritten und fiel Remi um den Hals. »Rem-rem. Wie schön, dich wiederzusehen. Ich schwöre, du siehst keinen Tag älter aus als damals an eurem Hochzeitstag.«
»Nee-nee«, sagte Remi lächelnd. »Wann haben wir zum letzten Mal diese Namen gehört?«
»Bei der College-Abschlussfeier«, sagten sie wie aus einem Mund und brachen in schallendes Gelächter aus.
Beide Frauen hatten Magisterdiplome in Anthropologie und Geschichte erworben, wobei sich Remi für Handelsrouten in der Antike interessiert und Renee sich der Archäologie zugewandt hatte. Abgesehen davon, dass sie beide schlank waren, ähnelten sie einander jedoch in keiner Weise. Remi mit ihren grünen Augen und dem kastanienbraunen Haar war einen halben Kopf größer als die zierliche blonde, blauäugige Renee. Mit ihren Vornamen hatten sie jedoch bei ihren unglücklichen Professoren – und den meisten ihrer Freunde – einige Verwirrung gestiftet, weil sie einfach unzertrennlich waren und beide Namen nahezu gleich klangen. Als jemand sie Rem-rem und Nee-nee taufte, um Verwechslungen zu vermeiden, waren die Spitznamen an ihnen hängen geblieben, bis Renee das Boston College verließ, um in Archäologie zu promovieren.
Remi hakte sich bei Renee unter. »Es ist schon viel zu lange her«, sagte sie und fühlte sich wegen des eigentlichen Anlasses ihres Zusammentreffens noch immer ein wenig unbehaglich. »Hast du wirklich kein Problem, deine Arbeit für einige Zeit ruhen zu lassen? Und uns zur Schule zu begleiten?«
»Das Timing ist ideal. Niemand wird uns für ein paar Tage vermissen.« Renee lächelte Sam an. »Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn wir mitkommen, Sam?«
»Ich freu mich schon darauf.«
Renee lachte, als sie den Blick bemerkte, den er Remi zuwarf. »Aber bestimmt nicht genauso.«
Sam zwinkerte ihr zu. »Ist die Frau glücklich, freut sich ihr Gatte.«
»Du hast einen klugen Mann geheiratet, Remi.« Renee kicherte verhalten, dann deutete sie mit einem Kopfnicken auf die Hügellandschaft und den blauen Himmel in einiger Entfernung. »Dort liegt unser Ziel. Ich dachte, dass ihr euch vielleicht, bevor wir losfahren, noch einige der älteren Ausgrabungen ansehen möchtet. Ich hoffe, so viel Zeit habt ihr.«
»Wir haben nichts Besonderes geplant«, sagte Sam.
»Ausgezeichnet. Sie haben nämlich bei der Wiederherstellung der Mosaike seit unserer Studienzeit erstaunliche Fortschritte gemacht.« Sie holte ihre Schultertasche aus dem SUV und ging zum Eingang voraus.
Weil ein schweres Erdbeben den größten Teil der antiken Stadt zerstört hatte, war von den Gebäuden nur noch wenig übrig geblieben. Hier und da eine Säule, geborstenes Mauerwerk und ein Teil des Amphitheaters, in dem Bischof Augustinus früher einmal den Bürgern von Bulla Regia wegen ihres lasterhaften Lebens heftig die Leviten gelesen hatte. Die Ruinen der zweistöckigen römischen Luxusvillen boten einen wenig einladenden Anblick. Während des Winters wurde üblicherweise der oberirdische Teil des Hauses genutzt, sodass seine Bewohner in den Genuss der wärmenden Sonnenstrahlen kamen. Im Sommer zogen sie sich dann in die unterirdischen Räumlichkeiten zurück, wo sie vor der sengenden Hitze geschützt waren. Zahlreiche dieser Gewölbe hatten das Erdbeben ohne gravierende Schäden überstanden.
Renee führte sie über das antike Straßenpflaster, erläuterte die Geschichte und die Bedeutung der Ausgrabungsstätte und blieb gelegentlich stehen, um sie auf Details der Mosaike aufmerksam zu machen, über die sie gerade schritten. Renee geleitete sie an den antiken Kunstwerken vorbei, als Remi anhielt und auf eine Menschengruppe in einiger Entfernung deutete. »Sind das nicht Warren und Amal?«
Sam blickte in die angegebene Richtung, während die Frau und drei Männer hinter den Mauerresten eines Patrizierhauses verschwanden.
Renee überschattete die Augen und schaute ebenfalls in die Richtung. »Das müsste Amal gewesen sein. Sie veranstaltet manchmal Führungen, um sich ein bisschen Taschengeld für ihr weiteres Studium zu verdienen. Allerdings wüsste ich keinen Grund, weshalb auch Warren hier sein sollte. Zumal er ja wusste, dass ihr hierherkommt und ich ihn heute Vormittag bei der Ausgrabung brauchte.« Sie warf einen letzten Blick in Richtung der verschwundenen Gruppe, dann steuerte sie auf eine rechteckige schachtähnliche Vertiefung zu, die durch ein Geländer gesichert wurde. »Nehmt euch bloß in Acht«, warnte sie, während sie in ein mit sechs Granitsäulen umgebenes Peristyl in etwa sieben Meter Tiefe hinabblickte. Über den Säulen befanden sich große sechseckige Fensteröffnungen, durch die Licht in den unterirdischen Korridor drang. »Dies ist einer meiner liebsten Funde«, sagte sie, während sie auf einer Treppe ins Herz der Villa hinunterstiegen. Sie trat zur Seite, damit ihre Begleiter das Bodenmosaik in seiner ganzen farbenfrohen Pracht betrachten konnten.
Remi ließ sich auf ein Knie sinken, um die detailreich gestalteten Meereskreaturen und zwei Putten, die rittlings auf Delfinen saßen, genauer in Augenschein zu nehmen. Eine der Putten trug einen Korb voller Edelsteine auf den Armen, die andere hielt einen Spiegel in den Händen – Geschenke für eine Venus, die von zwei Zentauren auf Händen getragen wurde und deren Kopf von einem Heiligenschein umgeben war. »Erstaunlich.«
»Das denke ich auch, wenn ich hierherkomme, um zu arbeiten.« Renee seufzte, während sie sich umschaute, dann begann sie, die Treppe hinaufzusteigen. »Wer hätte vor all den Jahren wohl gedacht, dass unsere Träume in Erfüllung gehen würden?«
»Wir hatten es gedacht«, sagte Remi. Sam lachte. Ganz bestimmt gingen ihm in diesem Augenblick all die gefährlichen Situationen durch den Kopf, in die sie geraten waren und aus denen sie sich hatten befreien können. »Allerdings nicht ganz so, wie Sie es geplant hatten. Oder, Mrs. Fargo?«
Sie sah ihn an und ergriff seine Hand. »Aber auch nicht annähernd.«
Renee wartete am oberen Ende der Treppe auf sie. »Was für euch beide ein Spaß ist, finden wir normalen Menschen ein bisschen extrem.« Plötzlich fuhr sie herum, und ihre Augen weiteten sich, als jemand sie die Treppe hinunterstieß und ihr gleichzeitig die Schultertasche entriss.
Ein Baum bewegt sich nicht, es sei denn, es weht ein Wind.
– NIGERIANISCHES SPRICHWORT –
Sam fing Renee auf, als sie ihm auf den Stufen entgegenstürzte. Sobald sie wieder sicheren Stand hatte, rannte er die Treppe hinauf. Der Mann, der sich Renees Tasche geschnappt hatte, wühlte sie gerade durch, als Sam auf der Treppe auftauchte. Er schaute hoch, dann ergriff er die Flucht. Sam verfolgte ihn über die schmalen Wege des Archäologieparks bis hinaus zu dem Platz, auf dem ihre Autos parkten, als ein dunkles SUV über die Schotterfläche kurvte und eine dichte Wolke aus Staub und Sand in die Luft wirbelte, während es eine Vollbremsung ausführte. Sam holte zügig auf, während der Mann hinter dem Lenkrad sich zur Seite lehnte und die Beifahrertür aufstieß. Der Dieb wandte den Kopf, entdeckte Sam und schleuderte ihm die Tasche entgegen.
Sam wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, bekam dafür das Hemd des Mannes zu fassen, verlor es jedoch gleich wieder aus dem Griff, als der Mann in das SUV hechtete. Der Geländewagen startete sofort durch und entfernte sich. In den wenigen Sekunden, die Sam brauchte, um zu erkennen, dass das hintere Nummernschild des Wagens fehlte, kurbelte der Dieb das Seitenfenster herunter und warf Renees Brieftasche hinaus.
Sam erreichte sie, hob sie auf und ging zurück, um die Tasche aufzunehmen, während Remi und Renee eilig herbeigerannt kamen.
Er reichte Renee die beiden offenbar verschmähten Beutestücke. »Du bist doch nicht verletzt, hoffe ich? Oder doch?«
»Nein, nein. Mehr als alles andere bin ich verärgert«, sagte sie und klappte die Brieftasche auf, um nachzusehen, was fehlte. »Die Häufigkeit der Taschendiebstähle hat erheblich zugenommen, vor allem in der näheren Umgebung unseres Ausgrabungsfeldes. Wäre ich ein bisschen klüger gewesen, hätte ich die Tasche im Wagen gelassen.«
»Ist denn irgendetwas gestohlen worden?«, fragte Remi.
»Ein paar Dinar, aber das ist es auch schon. Wenn ihr mich fragt, dann haben sie mich für eine reiche Touristin gehalten und hatten keine Ahnung, dass ich hier bin, um zu arbeiten.« Sie ließ die Brieftasche in ihre Schultertasche fallen, dann tastete sie ihre Hosentasche ab. »Die Schlüssel sind dort, wo sie hingehören … Ich würde empfehlen, dass wir uns auf den Weg machen.«
»Willst du nicht die Polizei benachrichtigen?«, fragte Sam.
»Wenn sie etwas Wichtiges erbeutet hätten – wie meine Schlüssel oder meinen Pass –, dann würde ich das sicherlich tun. Aber wegen ein paar Geldscheinen? Das lohnt doch die Mühe nicht.«
Als sie zu ihren Wagen kamen, folgten sie Renee am Archäologiepark vorbei in Richtung der Berge und parkten hinter ihr, als sie schließlich anhielt und aus ihrem Wagen ausstieg.
»Dies ist unser Ausgrabungsfeld«, erklärte sie, während sie, Remi und Sam sich einen Hügelabhang hinuntertasteten bis zu einer Stelle, wo Hank zwei jüngere Männer beobachtete, die in einem durch Schnüre markierten Bereich knieten und mit Pinseln Sand und Staub aus einem Abschnitt der Ausgrabungsstätte entfernten. »Von hier aus gibt es nicht viel zu sehen, aber wenn man nahe herangeht, ist es absolut außergewöhnlich.«
Hank bemerkte sie und kam zu ihnen herüber. »Ah, die Fargos. Freut mich, Sie endlich auch persönlich kennenzulernen.«
»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite«, erwiderte Sam und schüttelte ihm die Hand.
»Ist Warren schon zurück?«, fragte Renee LaBelle.
»Nicht dass ich wüsste.« Hank runzelte die Stirn. »Sie sehen ein bisschen angegriffen aus, LaBelle. Ist alles okay?«
»Man hat mir die Handtasche klauen wollen. Es hat aber nicht geklappt, sollte ich hinzufügen. Sam ist hinter dem Kerl hergerannt und hat die Tasche zurückgeholt.«
Hank warf einen Blick auf die Tasche, die über ihrer Schulter hing. »Da es hier seit einiger Zeit wieder von Taschendieben wimmelt, sollten Sie besonders gut aufpassen.«
Sam nickte in Richtung der beiden jungen Männer auf dem Ausgrabungsfeld. »Was gibt es da draußen zu sehen?«
»Dies«, antwortete Renee, »ist die neue Fundstätte, die sich möglicherweise als eine weitere Villa entpuppt. Im vergangenen Jahr haben wir uns einen topografischen Überblick verschafft, einige Bohrungen durchgeführt und mehrere Probeschächte ausgehoben. Noch haben wir mit den eigentlichen Ausgrabungen gar nicht begonnen, aber auch in den oberen Schichten sind wir schon fündig geworden.«
Hank öffnete den Schraubverschluss seiner stählernen Wasserflasche. »Was wir gefunden haben, war nicht ganz so aufregend wie die unterirdischen Räume, die wir zurzeit freilegen. Sie sollten mit Ihren Besuchern runtersteigen, damit Sie alles zu sehen bekommen. Es ist einfach phan-tastisch. Und da wir dort mittlerweile über elektrischen Strom verfügen, können wir auch nachts arbeiten.«
»Das kann noch warten. Ich möchte die Fargos erst noch mit meinen Studenten bekannt machen«, sagte die Archäologin und deutete auf die beiden jungen Männer draußen auf dem Grabungsfeld. »José ist Spanier, und Osmond kommt aus Ägypten. Ich habe ihnen schon von euren … Eskapaden erzählt. Josés Hobby ist ebenfalls die Schatzsuche. Für ihn wird es sicher ein besonderes Erlebnis sein, euch kennenzulernen.«
»Sie sollten das Tageslicht nutzen«, sagte Hank. »Die beiden laufen ja nicht weg.«
»Das ist natürlich ein Argument.« Renee LaBelle lächelte Sam und Remi an. »Sollen wir?«
Sam schaute zu den Männern hinüber, die es offenbar kaum erwarten konnten, den Besuchern vorgestellt zu werden. »Ich mache mich mit ihnen bekannt und komme gleich nach.«
»Ich begleite Sam«, sagte Hank zu Renee. »Nehmen Sie einen Eimer Wasser mit, wenn Sie richtig Eindruck schinden wollen.«
»Das werden wir.« Renee sah Remi mit einem verheißungsvollen Lächeln an. »Das musst du dir unbedingt anschauen … Hatte ich schon erwähnt, dass der Ort mit einem Fluch belegt wurde?«