Cover

Buch

Seit der Adoption des kleinen Max genießen Magnus Bane und Alec ein nahezu idyllisches Leben – so idyllisch, wie es für den Obersten Hexenmeister von Brooklyn und seinen Lebensgefährten, einen Schattenjäger, mitten in New York eben möglich ist. Doch die Ruhe währt nicht lange: Eines Nachts brechen zwei alte Bekannte in Magnus’ Apartment ein und stehlen das mächtige »Weiße Buch«. Mit dessen Hilfe könnten sie höchst unheilbringende Kräfte entfesseln, und so nehmen Alec und Magnus die Verfolgung der Diebe auf. Die Spur führt nach Schanghai, mitten hinein in einen Hort dunkler Magie und den Angriff scheinbar unbesiegbarer Dämonen. Auch wenn Magnus und Alec mit den Schattenjägern Clary, Jace, Isabelle und Simon mächtige Freunde und Unterstützer an ihrer Seite haben, wirkt die Lage fast aussichtslos – zumal eine geheimnisvolle Messerwunde nach und nach Magnus’ Kräfte schwinden lässt …

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sowie zu den lieferbaren Titeln von Cassandra Clare im Goldmann Verlag finden Sie am Ende des Buches.

Cassandra Clare
Wesley Chu

DAS VERLORENE
BUCH

Die Ältesten Flüche

BUCH ZWEI

Roman

Deutsch von Franca Fritz
und Heinrich Koop

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Lost Book of the White« bei Margaret McElderry Books, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York.



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Deutsche Erstveröffentlichung März 2021
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Cassandra Clare, LLC
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Waltraud Horbas
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Entwurfs von Cliff Nielsen
Umschlagmotiv: © 2020 by Cliff Nielsen
TH · Herstellung: ik
Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN: 978-3-641-25102-4
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Steve

C. C.

Für Paula, Hunter und River
Für meine Familie

W. C.

Und dass er auch die Engel, welche ihre Herrschaft nicht
bewahrten, sondern ihre Behausung verließen,
auf das Gericht des großen Tages mit ewigen Fesseln unter
der Finsternis verwahrt hat.

Judas 1,6

Prolog

Idris, 2007

Die Morgendämmerung war noch nicht angebrochen, als Magnus Bane sein Pferd auf die kleine Lichtung dirigierte und über den Tod nachdachte. In letzter Zeit ließ er sich nur selten in Idris blicken – zu viele Schattenjäger auf einem Haufen machten ihn nervös – , aber er musste zugeben, dass der Erzengel ein wirklich hübsches Fleckchen Erde als Heimat der Nephilim ausgewählt hatte. Die kalte Bergluft war frisch und klar. Nadelbäume erhoben sich anmutig in dichten Reihen entlang der Talhänge. Idris konnte manchmal anstrengend sein: düster, schauerlich und Unheil verkündend. Aber diese Region erinnerte Magnus eher an eine Märchenlandschaft. Vielleicht war das der Grund, warum sein Freund Ragnor Fell sein Haus hier errichtet hatte, trotz der vielen Schattenjäger.

Obwohl Ragnor alles andere als ein heiterer Hexenmeister war, hatte er unerklärlicherweise ein heiteres Haus gebaut: ein niedriges Cottage aus Stein, mit einem steilen, strohgedeckten Dach. Magnus wusste aus erster Hand, dass Ragnor das Strohdach direkt von einem Wirtshaus in North Yorkshire wegteleportiert hatte – sehr zur Bestürzung der damaligen Gäste.

Als Magnus jetzt sein Pferd langsam in die Talsenke trotten ließ, spürte er, wie alle Sorgen von ihm abfielen. Am oberen Ende des Tals war die Welt noch schrecklich gewesen: Valentin Morgenstern setzte alles daran, einen Krieg anzuzetteln. Und Magnus war viel stärker in die Angelegenheit verwickelt, als ihm lieb war. Andererseits gab es da diesen Jungen mit den sehr schwer zu beschreibenden blauen Augen …

Aber für die nächste Stunde würde seine Welt nur aus Ragnor und ihm bestehen, wie schon so oft zuvor. Erst danach wollte er sich wieder mit der Welt und ihren Problemen auseinandersetzen müssen, die in Gestalt von Clary Fairchild schon bald hier eintreffen würden.

Er ließ das Pferd hinter dem Haus und rüttelte an der Eingangstür, die nicht verriegelt war und sofort aufschwang. Magnus hatte angenommen, er würde seinen Freund mit einer guten Tasse Tee antreffen oder bei der Lektüre eines Wälzers. Stattdessen war Ragnor jedoch damit beschäftigt, sein eigenes Wohnzimmer zu verwüsten. Er stemmte einen Holzstuhl hoch über den Kopf und schien sich in einer Art Wahn zu befinden.

»Ragnor?«, fragte Magnus.

Statt einer Antwort schleuderte Ragnor den Holzstuhl gegen die Steinmauer, woraufhin er in tausend Splitter zerbrach.

»Störe ich?«, rief Magnus.

Ragnor schien Magnus jetzt erst zu bemerken. Er hielt einen Finger hoch, als wollte er Magnus auffordern, sich einen Moment zu gedulden, und marschierte dann entschlossen zu der Eichenholzkommode auf der anderen Seite des Raums. Dort riss er jede einzelne Schublade heraus und ließ deren Inhalt unter lautem Klirren von Metall und Porzellan auf den Boden fallen. Anschließend richtete er sich auf, lockerte die Schultern und wandte sich Magnus zu.

»Du hast irgendwie einen irren Blick, Ragnor«, sagte Magnus vorsichtig.

Eigentlich war er daran gewöhnt, dass Ragnor einen recht gepflegten Eindruck machte – sorgfältig gekleidet, mit gesund glänzender grüner Haut und schimmernd weißen, elegant gezwirbelten Hörnern auf der Stirn. Der Mann vor ihm dagegen schien in schlechter Verfassung zu sein, was bei Ragnor ein besonders schlimmes Zeichen war. Er machte einen verlorenen Eindruck, während er sich nervös im Raum umsah, als wollte er jemanden erwischen, der sich außerhalb seines Sichtfelds versteckte. Dann fragte er ohne lange Vorrede und mit lauter, klarer Stimme: »Kennst du den Ausdruck sub specie aeternitatis

Magnus war sich nicht sicher, welche Worte er von Ragnor zur Begrüßung erwartet hatte, aber diese hier ganz gewiss nicht. »Bedeutet es nicht in etwa: so wie die Dinge wirklich sind? Wobei das natürlich keine wörtliche Übersetzung ist.« Dieses Gespräch lief bereits jetzt vollständig aus dem Ruder.

»Ja, genau«, sagte Ragnor. »Es bedeutet: aus der Perspektive dessen, was wirklich wahrhaftig ist, absolut wahrhaftig. Nicht die Illusionen, die wir sehen, die wir für real ausgeben, sondern die Dinge ohne irgendeine Form der Illusion. Spinoza.« Nach einem Moment fügte er sinnend hinzu: »Der Mann konnte wirklich einen Schluck vertragen. Allerdings war er hervorragend im Schleifen optischer Linsen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Magnus.

Ragnor schien ruckartig aus seinen Erinnerungen zu erwachen und sah Magnus direkt in die Augen: »Weißt du, was die Essenz ist, sub specie aeternitatis? Nicht unsere Welt, nicht einmal die Welten, die wir kennen, sondern die Gesamtheit von allem? Ich weiß es.«

»Ach, tatsächlich?«, erwiderte Magnus.

Ragnor blickte ihn unverwandt an. »Ja: Dämonen«, erklärte er. »Das Böse. Es ist Chaos bis in den letzten Schlund, ein brodelnder Kessel böswilliger Absichten.«

Magnus seufzte. Sein Freund war depressiv geworden; das widerfuhr Hexenwesen manchmal. Schließlich wurde ihnen im Laufe ihrer Lebensspanne, die die der Irdischen unendlich weit übertraf, die Widersinnigkeit des Universums immer wieder vor Augen geführt – was manchmal amüsant war und manchmal zutiefst traurig. Ein gefährlicher Weg, den Ragnor da einschlug. »Aber manche Dinge sind doch noch lebenswert, nicht wahr?« Magnus versuchte, sich daran zu erinnern, was Ragnor besonders gern mochte. »Der Sonnenaufgang über dem Fudschijama. Eine gute Flasche Tokajer. Das Café, in dem wir in Den Haag Kaffee aus winzigen Fingerhüten getrunken haben. Der sich förmlich einen Weg in den Magen gebrannt hat.« Fieberhaft überlegte er weiter. »Oder der alberne Anblick, wenn ein Albatros auf der Wasseroberfläche landet.«

Endlich blinzelte Ragnor, gleich mehrmals hintereinander; dann ließ er sich in den karierten Ohrensessel fallen, der hinter ihm stand. »Ich bin nicht depressiv, Magnus.«

»Klar, totaler existenzieller Nihilismus – das ist der gute, alte Ragnor, wie wir ihn kennen und schätzen«, erwiderte Magnus.

»Es hat mich eingeholt, Magnus. Einfach alles. Und jetzt ist der große Boss hinter mir her. Der größte. Okay, der zweitgrößte.«

»Aber noch immer ein ziemlich großer Boss«, pflichtete Magnus ihm bei. »Geht es um Valentin? Denn …«

»Valentin!«, blaffte Ragnor. »Für diese idiotischen Schattenjägerspielchen habe ich keine Zeit. Aber das Timing kommt mir gerade recht. Zum Verschwinden. Alles Üble, das im Moment in Idris passiert, hängt vermutlich mit dieser Geschichte mit den Engelsinsignien zusammen. Also kein Grund für die Vertreter der echten Gefahr, das Ganze anzuzweifeln.«

Allmählich hatte Magnus die Nase voll. »Willst du mir nun endlich verraten, worum es hier geht? Schließlich hast du mich gebeten vorbeizukommen. Wegen irgendeiner äußerst dringenden Sache. Können wir eine Tasse Tee trinken, oder hast du den Kessel bereits zerschmettert?«

Ragnor beugte sich vor. »Ich täusche meinen eigenen Tod vor, Magnus.«

Er lachte leise, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand durch eine Tür in einen anderen Raum, wo er vermutlich weitere »Verschönerungsmaßnahmen« durchführte. Zögernd folgte Magnus ihm.

»Warum, um Himmels willen?«, rief er Ragnor nach.

»Keine Ahnung, warum jetzt«, rief Ragnor zurück. »Aber ein ganzer Haufen von ihnen ist auf dem Weg hierher. Wie du ja weißt, kann man sie nicht töten, nur für eine Weile in ihre eigene Dimension zurückschicken. Aber dann tauchen sie wieder auf. Und wie sie dann wieder auftauchen!«

Magnus fragte sich allmählich, ob Ragnor endgültig den Verstand verloren hatte. »Wer?«

Plötzlich tauchte Ragnor direkt neben Magnus auf, aus einem Durchgang, den Magnus für einen Schrank gehalten hatte. »Er fragt, wer«, wiederholte Ragnor sarkastisch. Einen Moment lang klang er wieder wie Magnus’ alter Freund. »Von wem ich rede? Von Dämonen! Dämonenfürsten! Was für ein Name. Warum haben wir ihnen erlaubt, sich selbst einen Namen zu geben? Dabei sind sie gar keine Fürsten.«

»Hast du getrunken?«, fragte Magnus.

»Mein ganzes Leben lang«, erwiderte Ragnor. »Erlaube mir, dir einen Namen zu nennen. Und du sagst mir dann, ob er für dich irgendeine Bedeutung hat.«

»Schieß los.«

»Asmodeus.«

»Der gute, alte Dad«, sagte Magnus.

»Belphegor.«

»Aufgeblasener Angeber«, antwortete Magnus. »Worauf willst du hinaus? Ist einer von ihnen hinter dir her?«

»Lilith.«

Magnus sog scharf die Luft ein. Wenn Lilith sich an Ragnors Fersen geheftet hatte, war das verdammt schlecht. »Mutter aller Dämonen. Samaels Geliebte.«

»Richtig.« Ragnors Augen blitzten auf. »Aber nicht sie. Sondern er

»Samael?«, hakte Magnus belustigt nach. »Niemals.«

»Doch, genau der«, entgegnete Ragnor, mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die Magnus erkennen ließ, dass er keine Witze machte.

»Darf ich mich kurz setzen?«, fragte er, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

Sie zogen sich in Ragnors verwüstetes Schlafzimmer zurück. Es war ihm gelungen, den Bettrahmen genau in der Mitte zu teilen – ein ziemlich beachtlicher Trick. Magnus ließ sich auf dem Schreibtisch nieder, der erstaunlicherweise unversehrt war. Ragnor lief dagegen auf und ab.

»Jedes Kind weiß, dass Samael tot ist«, sagte Magnus. »Er hatte irgendwelche Schritte eingeleitet, wodurch Dämonen in unsere Welt eindringen konnten. Aber dann wurde er getötet, Gerüchten zufolge vom Archistrategos.«

»Du weißt genau, dass Samael nicht wirklich getötet werden kann«, fauchte Ragnor ungeduldig. »Selbst wesentlich schwächere Dämonen als er kommen irgendwann wieder. Es bestand nie ein Zweifel an seiner Rückkehr. Und jetzt ist es so weit.«

»Okay, aber ich verstehe nicht, was das mit dir zu tun hat«, hielt Magnus dagegen. »Ich meine, abgesehen davon, dass wir alle davon betroffen sind. Und jetzt zertrümmer bitte keine weiteren Möbelstücke, bis du es mir erklärt hast.«

Ragnor ließ die Hände sinken, worauf eine Stehlampe, die langsam Richtung Decke getrudelt war, klirrend zu Boden fiel. »Er ist auf der Suche nach mir. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich habe so eine Ahnung.«

»Moment mal«, warf Magnus ein; allmählich begann sein Verstand, Ragnors Erwägungen zu folgen. »Wenn Samael zurück ist, warum richtet er dann kein … kein Chaos an?«

»Er ist noch nicht vollständig zurückgekehrt und kann nicht viel Zeit in unserer Welt verbringen. Offenbar schwebt er noch immer irgendwo da draußen, in einem Bereich zwischen den Welten. Ich denke, er will, dass ich ihm ein Reich besorge.«

Magnus’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ein Reich?«

Ragnor nickte. »Ein Dämonenreich. Eine der anderen Dimensionen in dem Haufen von Seifenblasen, die unsere Realität bilden. Am Anfang wird er noch sehr geschwächt sein. Und Energie brauchen, um seine Macht aufzubauen, seine Magie. Aber wenn er ein Reich findet, das er für sich in Anspruch nehmen kann, ist er in der Lage, es in eine Art Dynamo zu verwandeln, für seine eigene Kraft. Und ich, Ragnor Fell, bin der weltweit führende Experte auf dem Gebiet der Dimensionsmagie.«

»Und auch der bescheidenste. Warum kann Samael nicht selbst ein Reich finden?«

»Bestimmt würde ihm das letztendlich irgendwann gelingen. Wahrscheinlich ist er schon die ganze Zeit auf der Suche. Aber Zeit ist für Dämonen nicht das Gleiche wie für Menschen. Oder für Hexenwesen. Bis zu seiner Rückkehr könnten noch Jahrhunderte vergehen. Oder nur wenige Stunden.« Er verstummte. In einer Ecke des Schlafzimmers sank ein Wäschekorb langsam zur Seite und ergoss seinen Inhalt über die unebenen Holzdielen.

»Also willst du deinen eigenen Tod vortäuschen. Ist das nicht ein wenig … übereilt?«

»Hast du auch nur eine Ahnung, was es bedeutet, wenn Samael seine ursprüngliche Macht wiedererlangt?«, donnerte Ragnor. »Wenn er zu Lilith zurückkehrt und sie ihre Kräfte vereinen? Das würde Krieg bedeuten, Magnus. Ein Vernichtungskrieg gegen die Erde. Totale Zerstörung. Kein Tokajer mehr! Keine Albatrosse!«

»Was ist mit anderen Seevögeln?«

Ragnor seufzte und setzte sich neben Magnus. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als unterzutauchen. Ich muss Samael davon überzeugen, dass ich mich an einem Ort befinde, wo ich für niemanden mehr zu erreichen bin. Ragnor Fell, der Experte für Dimensionsmagie, muss für immer verschwinden.«

Diese Worte musste Magnus erst einmal verarbeiten. Er stand auf und verließ das Schlafzimmer, um das Chaos zu betrachten, das Ragnor in seinem Wohnzimmer verursacht hatte. Eigentlich mochte er dessen Cottage. Seit über einhundert Jahren war es ihm wie ein zweites Zuhause erschienen. Und noch viel länger war Ragnor sein Freund, sein Mentor. Beim Gedanken an dessen »Tod« verspürte er Trauer und Wut. Ohne sich zu Ragnor umzudrehen, fragte er: »Wie kann ich dich finden?«

»Ich werde dich finden«, antwortete Ragnor, »in Gestalt der Person, die ich in dem Moment angenommen habe. Du wirst mich erkennen.«

»Wir könnten ein Codewort vereinbaren«, schlug Magnus vor.

»Das Codewort wird darin bestehen, dass ich dir die Geschichte erzähle, wie du, Magnus Bane, zum ersten Mal einen osteuropäischen Pflaumenbrand namens Sliwowitz getrunken hast«, sagte Ragnor. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du in jener Nacht ein selbstkomponiertes Lied gesungen.«

»Dann vielleicht doch kein Codewort«, meinte Magnus. »Vielleicht kannst du mir einfach nur zuzwinkern oder etwas in der Art.«

Ragnor zuckte die Achseln. »Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis ich mich wieder irgendwo eingerichtet habe. Ich frage mich, als wer ich wohl wiederkehren soll. Na jedenfalls, wenn es sonst nichts zu besprechen gibt …«

»Doch, da ist noch etwas«, erwiderte Magnus. Er drehte sich um und stellte fest, dass Ragnor vom Schreibtisch aufgestanden und zu ihm ins Wohnzimmer gekommen war. »Ich brauche das Weiße Buch«, fügte Magnus mit gedämpfter Stimme hinzu.

Ragnor begann leise zu lachen und brach dann in schallendes Gelächter aus. Fröhlich schlug er Magnus auf den Rücken. »Magnus Bane«, setzte er an, »du schaffst es doch immer wieder, mich mit Schattenweltmachenschaften zu faszinieren – bis zu meinem vorgetäuschten letzten Atemzug. Wofür um alles in der Welt brauchst du das Weiße Buch?«

Magnus sah Ragnor direkt an. »Ich muss Jocelyn Fairchild aus ihrem Koma aufwecken.«

Ragnor lachte erneut. »Herrlich. Einfach herrlich! Es ist nicht nur so, dass du das Weiße Buch brauchst – du musst es auch noch vor Valentin Morgenstern finden. Meine Freundschaft mit dir war immer eine nie versiegende Quelle katastrophaler Ereignisse, Magnus. Das wird mir bestimmt fehlen.« Er lächelte. »Das Buch befindet sich im Landhaus der Waylands. In der Bibliothek. Im Inneren eines anderen Buchs.«

»Es ist in Valentins altem Wohnsitz versteckt?«

Ragnor grinste noch breiter. »Jocelyn hat es dort verborgen. Im Inneren eines Kochbuchs. Ich glaube, es heißt: Einfache Rezepte für die junge Hausfrau. Eine bemerkenswerte Frau, wenn sie auch einen furchtbar schlechten Geschmack bewiesen hat bei der Wahl ihres Ehemannes. Na, wie auch immer: Ich bin dann mal weg.« Er steuerte auf die Tür zu.

»Warte.« Magnus folgte ihm und stolperte dabei über etwas, das sich als Messingstatue in Gestalt eines Affen entpuppte. »Jocelyns Tochter ist auf dem Weg hierher, um dir Fragen zum Weißen Buch zu stellen.«

Ragnor zog die Augenbrauen hoch. »Tja, ich kann ihr nicht helfen. Ich bin nämlich tot. Du wirst ihr die Informationen schon selbst geben müssen.« Er wandte sich zum Gehen.

»Warte«, rief Magnus erneut. »Wie, äh … wie bist du denn gestorben?«

»Ich wurde natürlich von Valentins Schergen getötet«, antwortete Ragnor. »Deshalb täusche ich meinen Tod ja gerade jetzt vor.«

»Natürlich«, murmelte Magnus.

»Sie waren ebenfalls auf der Suche nach dem Weißen Buch. Es ist zu einem Handgemenge gekommen, bei dem ich tödlich verwundet wurde.« Ragnor zog eine ungeduldige Miene. »Muss ich denn alles für dich übernehmen? Hier …« Er stapfte an Magnus vorbei, deutete mit dem linken Zeigefinger auf die Wohnzimmerrückwand und begann, in feurigen abyssischen Buchstaben zu schreiben. »Ich notiere es für dich auf der Wand, damit du es nicht vergisst.«

»Wirklich? Auf Abyssisch?«

»Ich … wurde … von … Valentins … Schergen … getötet … weil … sie …« Er hielt inne und drehte sich zu Magnus um. »Du hast dein Abyssisch nie richtig beibehalten, Magnus. Also dürfte dies eine hervorragende Übung für dich darstellen.« Er widmete sich wieder der Wandbeschriftung. »Jetzt … bin … ich … tot … oh … nein. Da bitte. Das dürfte dir nicht allzu schwerfallen.«

»Warte«, sagte Magnus ein drittes Mal. Allerdings hatte er keine weiteren Fragen. Er nahm ein Glasgefäß, das umgestürzt auf dem Kaminsims lag. »Willst du deine …« Er blickte auf das Etikett und musterte Ragnor dann mit hochgezogener Augenbraue. »… deine Hornpolitur nicht mitnehmen?«

»Meine Hörner werden wohl unpoliert bleiben«, erwiderte Ragnor. »Und jetzt geh mir aus dem Weg. Ich werde nun meinen eigenen Tod vortäuschen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du deine Hörner polieren musst.«

»Doch, das muss man. Oder man sollte es zumindest. Wenn man nicht will, dass sie schmutzig und ungepflegt aussehen. Ich gehe jetzt, Magnus.«

In diesem Moment verlor Magnus endgültig die Fassung. »Muss das denn wirklich sein?«, fragte er und klang selbst in seinen eigenen Ohren wie ein quengelndes Kind. »Das ist doch Irrsinn, Ragnor. Du brauchst nicht zu sterben, um dich zu schützen. Wir können mit dem Spirallabyrinth reden. Du musst diese Sache nicht allein austragen. Du hast Freunde! Mächtige Freunde! Mich beispielsweise!«

Ragnor betrachtete Magnus einen langen Moment. Schließlich ging er zu ihm und umarmte ihn feierlich. Das war vielleicht die fünfte oder sechste Umarmung während ihrer jahrhundertelangen Freundschaft, dachte Magnus. Ragnor legte keinen großen Wert auf körperliche Zuneigungsbezeigungen.

»Das hier ist mein Problem, und ich werde mich selbst damit befassen«, sagte Ragnor. »Das verlangt meine Würde.«

»Ich will damit nur sagen: Du musst das nicht durchziehen

Ragnor trat einen Schritt zurück und musterte ihn traurig. »Doch, das muss ich.« Dann ging er zur Tür.

Magnus betrachtete die brennenden Buchstaben an der Wand, die inzwischen verblasst und kaum noch zu sehen waren. »Keine Ahnung, warum ich so eine Staatsaffäre daraus mache«, sagte er. »Ich weiß doch, dass du theatralische Gesten liebst. Wir werden ja sehen, ob du diesen vorgetäuschten Tod länger als eine Woche durchhältst oder dich schon bald so langweilst, dass du mit deinem Crokinole-Spielbrett in meiner Wohnung auftauchst.«

Ragnor lachte leise und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.

Magnus stand eine ganze Weile einfach nur da und starrte auf den leeren Fleck, auf dem sich sein früherer Mentor gerade noch befunden hatte. Ragnor hatte kein Gepäck mitgenommen, keine Wechselkleidung oder Zahnbürste – er war einfach aus dieser Welt verschwunden.

Die Haustür stand offen, so wie Ragnor sie zurückgelassen hatte. Das passte natürlich besser zu seinem gewünschten Szenario, aber der Anblick schmerzte Magnus wie eine Wunde, und nach einem Moment schloss er sie sanft.

Unter den Trümmern der Küche entdeckte Magnus eine riesige Tonpfeife und im verwüsteten Bad ein Gefäß mit den getrockneten Blättern einer seltenen Pflanze aus Idris, die die Schattenjäger während Magnus’ Kindheit vor vielen, vielen Jahren gern geraucht hatten. Für Ragnor und um der alten Zeiten willen stopfte und entzündete er die Pfeife und zog ein paarmal nachdenklich daran.

Dann sah er vom Fenster aus, wie Clary Fairchild und Sebastian Verlac sich auf einem Pferd der Lichtung näherten, um sich mit ihm zu treffen.

TEIL I

New York

1

Der Schlafdorn

September 2010

Es war bereits spät, und bis vor wenigen Augenblicken hatte auch völlige Ruhe geherrscht. Magnus Bane, Oberster Hexenmeister von Brooklyn, saß im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel, ein offenes Buch auf dem Schoß, und beobachtete, wie sich der Riegel des Schiebefensters hin- und herdrehte. Schon seit einer Woche versuchte jemand, in seine mit Schutzzaubern versehene Wohnung im obersten Geschoss des Hauses einzudringen. Allem Anschein nach hatte derjenige beschlossen, es jetzt auf direkterem Wege zu probieren.

Eine ziemlich törichte Entscheidung, fand Magnus. Denn erstens blieben Hexenwesen gern bis tief in die Nacht auf. Und zweitens lebte er mit einem Schattenjäger zusammen. Der war zwar im Moment auf Patrouille, aber Magnus sah sich durchaus in der Lage, sich selbst zu verteidigen, sogar im Pyjama. Er zog den Gürtel seines schwarzen Seidenmorgenmantels fester und bewegte die Finger, bis er spürte, wie sich seine Magie darin sammelte.

Noch vor wenigen Jahren hätte er auf diesen Einbruchversuch nonchalanter reagiert. Er hätte der Sache ihren Lauf gelassen und darauf vertraut, dass seine Reflexe ihn leiten würden. Doch jetzt saß er aufrecht da und zielte mit zwei Fingern auf das Fenster: Schließlich befand sich sein kleiner Sohn in seinem Zimmer am anderen Ende des Flurs.

Inzwischen schlief der etwas über ein Jahr alte Max die meisten Nächte durch – was einerseits eine große Erleichterung, andererseits aber auch ein ziemlicher Nachteil war, da seine Eltern bis tief in die Nacht aktiv blieben. Max dagegen wachte jeden Morgen Punkt halb sechs mit einem fröhlichen Krähen auf, das Magnus liebte und zugleich fürchtete.

Jetzt wurde das Wohnzimmerfenster langsam nach oben geschoben. Saphirblaue Flammen loderten in Magnus’ Handflächen auf.

Eine Gestalt hievte ihren Oberkörper durch das Fenster und erstarrte dann: ein Schattenjäger in voller Kampfmontur, mit einem Bogen über der Schulter. Überrascht sah er Magnus an.

»Äh, hi«, sagte Alec Lightwood. »Ich bin wieder da. Bitte vernichte mich nicht mit deinen magischen Strahlen.«

Magnus wedelte mit den Händen, woraufhin die blauen Flammen verlöschten. Nur ein paar dünne Rauchkringel kräuselten sich noch um seine Finger. »Normalerweise benutzt du die Haustür.«

»Manchmal brauche ich Abwechslung.« Alec wuchtete den Rest seines Körpers ins Wohnzimmer und schloss das Fenster hinter sich. Magnus warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Okay, ich geb’s zu: Ein Dämon hat meinen Schlüssel gefressen.«

»Wir haben einen unheimlich hohen Schlüsselverbrauch«, stöhnte Magnus und erhob sich, um seinen Freund zu umarmen.

»Moment, nicht! Ich müffle.«

»An Schweißgeruch nach einer langen, arbeitsreichen Nacht ist nichts auszusetzen«, verkündete Magnus und bewegte den Kopf in Richtung von Alecs Hals, zuckte dann aber zurück. »Du müffelst wirklich. Was ist das für ein Gestank?«

»Das«, antwortete Alec, »ist das berückende Aroma des Gewöhnlichen U-Bahn-Tunnel-Rauchdämons.«

»Ach, Schatz.« Magnus küsste Alec trotzdem auf den Hals, hielt dabei jedoch die Luft an.

»Warte, der Großteil des Gestanks haftet an meiner Montur«, sagte Alec. Magnus trat einen Schritt zurück, sodass Alec seine Sachen ablegen konnte: Bogen, Köcher, Stele, mehrere Seraphklingen, Monturjacke, Stiefel, Hemd.

»Lass mich dir helfen«, murmelte Magnus, als der letzte Knopf geöffnet war. Alec schenkte ihm ein warmes Lächeln; seine blauen Augen leuchteten, und Magnus spürte, wie eine Woge der Zuneigung durch seinen Körper raste. Auch nach drei Jahren empfand er noch immer eine überwältigende Liebe für Alec. Die jeden Tag noch zu wachsen schien. Ein wundersames, atemberaubendes Gefühl.

Alecs Mundwinkel zuckten, und er warf einen kurzen Blick in den Flur hinter Magnus.

»Er schläft«, sagte Magnus und küsste Alec auf den Mund. »Schon seit Stunden tief und fest.« Er zog Alec mit sich in Richtung Couch. Ein schnelles Wackeln mit den Fingern und die Kerzen auf dem Beistelltisch flackerten auf, während die Raumbeleuchtung gedimmt wurde.

Alec lachte leise. »Du weißt, dass wir ein hervorragendes Bett haben, oder?«

»Das Bett steht näher beim Kinderzimmer. Hier machen wir weniger Lärm«, murmelte Magnus. »Außerdem müssten wir den Großen Vorsitzenden Miau Tse-tung vom Bett werfen.«

»Ah.« Alec senkte den Kopf und küsste Magnus’ Kehlgrube. Magnus ließ den Kopf in den Nacken fallen und stöhnte leise auf. »Er hasst es, wenn man ihn vom Bett wirft.«

»Warte kurz«, sagte Magnus und trat einen Schritt zurück. Mit einer schwungvollen Bewegung entledigte er sich des Morgenmantels, der als Häufchen schwarzer Seide um seine Füße fiel. Darunter trug er einen marineblauen Pyjama mit kleinen weißen Ankern.

Bei diesem Anblick kniff Alec die Augen leicht zusammen.

»Na ja, schließlich hatte ich nicht damit gerechnet«, räumte Magnus ein. »Sonst hätte ich mir natürlich etwas anderes übergestreift als meinen flauschigen Matrosenschlafanzug.«

»Ich find den total sexy«, erwiderte Alec – doch im nächsten Moment zerriss ein Schrei die Stille der Nacht, und beide erstarrten.

Alec schloss die Augen und atmete langsam aus. Magnus konnte ihm ansehen, dass er innerlich bis zehn zählte.

»Ich geh schon«, sagte er.

»Nein, lass mich. Du bist gerade erst nach Hause gekommen«, erwiderte Magnus.

»Ist schon gut; ich kümmere mich darum. Ich wollte ohnehin kurz nach ihm sehen.« Mit nacktem Oberkörper trottete Alec durch den Flur zu Max’ Kinderzimmer. Dann warf er einen Blick über die Schulter, schüttelte den Kopf und lächelte. »Er schafft es doch jedes Mal, oder?«

»Der Junge hat einen sechsten Sinn«, pflichtete Magnus ihm bei. »Wollen wir das Ganze verschieben?«

»Bleib, wo du bist.«

Magnus öffnete ein kleines Portal zu Max’ Zimmer und sah zu, wie Alec ihren gemeinsamen Sohn aus dem Bettchen nahm und sanft hin- und herschaukelte.

Alec blickte durch das Portal. »Ja, klar, das ist ja so viel einfacher, als den langen Weg durch den Flur zurückzulegen.«

»Mir wurde aufgetragen hierzubleiben.«

Alec zeigte auf das Portal und wandte sich an Max: »Ist das der bapak? Kannst du den bapak sehen?«

Magnus hatte zwar gewollt, dass sein Sohn ihn mit einem Namen ansprach, der seiner eigenen Kindheit entstammte, aber irgendwie fühlte es sich seltsam an. Denn sein menschlicher Stiefvater war für ihn der bapak gewesen. Und jedes Mal, wenn Magnus seinem Jungen diesen Begriff vorsprach, spürte er einen kleinen Stich im Herzen, als würde er über das Grab seines Stiefvaters laufen.

Max beruhigte sich schnell wieder. In den letzten Monaten wurden seine Schreie hauptsächlich von dem ein oder anderen Albtraum ausgelöst, der kaum mehr als eine liebevolle Umarmung erforderte. Verschlafen blinzelte er Magnus an, der lächelte und glitzernde Funken von seinen Fingern sprühen ließ, um seinen Jungen abzulenken. Prompt breitete sich ein Lächeln auf Max’ Gesicht aus, während ihm gleichzeitig die Lider zufielen und er wieder einschlief, bis eines seiner kleinen blauen Ärmchen schlaff herabhing. Max besaß dunkelblaue Haut – sein Lilithmal, zusammen mit den niedlichen Knospen auf seiner Stirn, die sich eines Tages bestimmt zu Hörnern entwickeln würden. Behutsam legte Alec den Jungen zurück in sein Kinderbett. Magnus beobachtete die beiden und verspürte ein seltsames Glücksgefühl beim Anblick des wunderschönen, extrem austrainierten, hemdlosen Mannes mit diesen umwerfend blauen Augen, der sich um ihr gemeinsames Kind kümmerte. Dann verfluchte er innerlich seine eigene Rührseligkeit und versuchte, wieder auf andere Gedanken zu kommen, auf romantische Gedanken.

Doch als Alec zu ihm aufschaute, konnte Magnus im dämmrigen Licht plötzlich erkennen, wie erschöpft er wirkte. »Ich geh schnell duschen«, verkündete er. »Aber danach komme ich wieder zu dir ins Wohnzimmer.«

»Und anschließend brauchst du vermutlich noch eine Dusche«, sagte Magnus. »Beeil dich.« Er schloss das Portal und widmete sich wieder dem Buch, das er vorhin gelesen hatte: eine Abhandlung über mythologische Artefakte aus Skandinavien und deren Träger und Erscheinungsorte im Lauf der Geschichte. Sobald Alec fertig geduscht hatte – wofür er normalerweise etwa zwanzig Minuten brauchte – , würde er sich erneut mit romantischen Gedanken befassen.

Zwei Minuten später stieß Max plötzlich einen leisen Schrei im Schlaf aus. Sofort spitzte Magnus die Ohren, doch als keine weiteren Laute ertönten, entspannte er sich und las weiter.

Kurz darauf hörte er Schritte im Flur. Blitzschnell wirbelte Magnus herum. Er hatte sich nicht geirrt: Jemand hatte tatsächlich versucht, seine Schutzzauber aufzuheben und in die Wohnung einzudringen.

Als er sah, wer in der Wohnzimmertür erschien, sank ihm der Mut. Ganz gleich, weshalb sie hier war, für heute Nacht war es vorbei mit Romantik aller Art.

»Shinyun Jung«, sagte er in einem vorgetäuscht gelangweilten Tonfall. »Bist du hergekommen, weil du mich mal wieder töten willst?«

Shinyun Jungs Lilithmal war ein vollkommen emotionsloses Gesicht, das keinerlei Regung verriet. Als Magnus sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie an eine Marmorsäule gefesselt gewesen, um sie in Schach zu halten, da sie dem Höllenfürsten Asmodeus zu seiner alten Macht hatte verhelfen wollen. Er hatte durchaus Mitgefühl mit ihr: Tief in ihrem Inneren tobten eine enorme Wut und ein schrecklicher Schmerz – Gefühle, die er nur allzu gut nachempfinden konnte. Deshalb war er auch nicht verärgert gewesen, als sie »irgendwie« aus Alecs Obhut entkommen war und er sie nicht dem Rat hatte übergeben müssen.

Doch jetzt stand sie vor Magnus, reglos wie immer. »Es hat mich ziemlich viel Zeit gekostet, deine Schutzzauber zu durchbrechen. Sie waren sehr beeindruckend.«

»Offensichtlich nicht beeindruckend genug«, erwiderte Magnus.

Shinyun zuckte die Achseln. »Ich musste dringend mit dir reden.«

»Wir haben ein Telefon«, sagte Magnus. »Du hättest einfach anrufen können. Darüber hinaus kommt dein Besuch im Moment recht ungelegen.«

»Ich habe wirklich gute Neuigkeiten«, sagte Shinyun, was Magnus nicht erwartet hatte. »Außerdem brauche ich das Weiße Buch. Ich will, dass du es mir gibst.«

Das war nun wieder mehr, als er erwartet hatte.

Magnus überlegte, ob er ihr erklären sollte, dass er ihr zwar alles Gute wünschte, ihr aber auf keinen Fall eines der mächtigsten Zauberbücher der Welt aushändigen würde. Schließlich kannte er sie inzwischen und wusste, was sie alles getan hatte. Stattdessen meinte er: »Es ist nicht mehr in meinem Besitz. Ich habe es dem Spirallabyrinth übergeben. Aber was hast du denn für gute Neuigkeiten?«

Bevor Shinyun etwas erwidern konnte, trat eine zweite Gestalt aus dem Flur ins Wohnzimmer.

Magnus schnappte nach Luft.

Ragnor.

Ragnor, der vor drei Jahren spurlos verschwunden war. Der Magnus versichert hatte, er würde sich bald mit ihm in Verbindung setzen. Magnus hatte erst gewartet, dann aktiv nach ihm gesucht und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass Ragnors Verfolger ihn geschnappt hatten, dass sein Täuschungsmanöver gescheitert war und er jetzt wirklich tot sein musste. Ragnor, um den er getrauert und von dem er sich in Gedanken verabschiedet hatte, wenn auch nicht mit dem Herzen.

Ragnor, der Max auf dem Arm hielt.

Magnus war sprachlos. Unter normalen Umständen wäre er zu Ragnor gegangen, zu ihrer siebten Umarmung. Aber das hier waren keine normalen Umstände. Shinyun war hier, und in Ragnors Blick, mit dem er Magnus musterte, lag ein sehr merkwürdiger Ausdruck.

Außerdem hielt er Max auf eigenartige Weise – vollkommen unbeteiligt, wie einen Sack Mehl. Was Max glücklicherweise nicht zu stören schien: Er wirkte noch völlig verschlafen und blinzelte nur.

»Also«, setzte Ragnor an, in einem schärferen Ton, als Magnus erwartet hätte. »Ich verstehe, was passiert ist. Ich hatte schon immer die Vermutung, dass du eines Tages mit so etwas hier enden würdest, Magnus. Aber ist das auch wirklich klug?«

»Er heißt Max«, antwortete Magnus. Er würde die Situation ruhig angehen, eins nach dem anderen. »Jemand musste ihn bei sich aufnehmen. Also haben wir ihn adoptiert. Er ist unser Sohn. Wie bist du eigentlich hier reingekommen?«

Ragnor lachte leise, ein vertrauter Laut, der durch seine unerwartete Rückkehr irgendwie unheimlich wirkte. »Magnus Bane. Mächtig und weichherzig wie eh und je. Erbarmt sich ständig der Hilflosen und Bedürftigen. Du hast ja eine richtige Zufluchtsstätte hier eingerichtet, mit deinem Schattenjäger und dieser winzigen Blaubeere.«

Angesichts Ragnors Verhalten war Magnus sich nicht sicher, ob er das Recht hatte, Max als Blaubeere zu bezeichnen. »Du verstehst das völlig falsch«, erwiderte er und schaute zu Shinyun, die das Gespräch mit stillem Interesse verfolgte. »Wir sind eine Familie.«

»Aber natürlich seid ihr das«, grinste Ragnor. Seine Augen funkelten.

»Und, täuschst du noch immer deinen Tod vor?«, fragte Magnus. »Oder ist das deine offizielle Rückkehr ins Leben? Und woher kennst du Shinyun? Außerdem wäre es besser, wenn du mir jetzt meinen Jungen gibst.«

Shinyun meldete sich zu Wort. »Ragnor und ich arbeiten bei einem Projekt zusammen.«

Alec stand noch immer unter der Dusche. Magnus überlegte, ob er ein plötzliches, lautes Geräusch machen sollte. Allerdings wollte er vorher Max von Ragnor zurückbekommen. Er beschloss, Zeit zu schinden. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich mich nach der Art dieses Projekts erkundige. Bei unserer letzten Begegnung, Shinyun, hat mein Freund dich freigelassen, in der Hoffnung, dass du eine wichtige Lektion gelernt hattest, was die Zusammenarbeit mit Dämonenfürsten, Herrschern der Hölle und dergleichen betrifft. Ganz besonders hatten wir gehofft, dass du in Zukunft nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten würdest.« Die Kategorie Dämonenfürsten umfasste eine große Bandbreite intelligenter Dämonen. Herrscher der Hölle waren dagegen wesentlich mächtiger – gefallene Engel, die während der himmlischen Rebellion an Luzifers Seite gefochten hatten.

»Selbstverständlich diene ich nicht länger irgendeinem Dämonenfürsten«, erwiderte Shinyun von oben herab.

Erleichtert atmete Magnus auf.

»Ich diene inzwischen dem größten Dämonenfürsten!«, verkündete Shinyun.

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Dem Kapitalismus?«, mutmaßte Magnus. »Ragnor und du … ihr habt ein kleines Unternehmen gegründet und sucht jetzt nach Investoren.«

»Ich diene dem größten der neun Höllenherrscher«, erwiderte Shinyun in einem hämischen, triumphierenden Tonfall, den Magnus noch gut in Erinnerung hatte – und der ihm schon damals nicht gefallen hatte. »Der Wegbereiter! Der Vertilger der Welten! Der Sammler der Seelen!«

»Der Härteste der Harten?«, schlug Magnus vor. »Und Ragnor, alter Kumpel, wie stehst du denn zum Vertilgen von Welten?«

»Ich habe mich bekehren lassen und bin jetzt auch dafür«, antwortete Ragnor.

»Vielleicht hätte ich vorhin erwähnen sollen, dass Ragnor vollkommen unter dem Einfluss meines Gebieters steht«, sagte Shinyun. »Und mein Gebieter hat ihm ein besonderes Geschenk gemacht: einen Svefndorn.« Aus einer Lederscheide an ihrer Hüfte zog sie einen langen, hässlichen Eisenspieß, der mit Stacheldraht umgeben war und eine scharfe, wie ein Korkenzieher geformte Spitze besaß. Der Anblick erinnerte Magnus an eine Art gotischen Schürhaken.

Im nächsten Moment verlor Magnus seine Selbstbeherrschung.

»Gib mir den Jungen, Ragnor«, forderte er, während er aufstand und auf seinen Freund zusteuerte.

»Die Sache ist eigentlich ganz einfach, Magnus«, entgegnete Ragnor und hielt Max aus Magnus’ Reichweite. »Samael, Gebieter über diverse Dämonenfürsten und der größte aller Höllenherrscher, wird das, was er vor tausend Jahren begonnen hat und woran ihn bisher nur die lästigen Nephilim gehindert haben, jetzt unweigerlich vollenden: Er wird über dieses Reich hier herrschen, so wie er über andere geherrscht hat. Die Unabwendbarkeit seines Siegs hat … wie soll ich sagen … meinen Willen mit seiner nahezu grenzenlosen Kraft gebrochen? Ja, ich glaube, das beschreibt es ziemlich gut.«

»Dann war das Vortäuschen deines eigenen Tods also sinnlos«, sagte Magnus.

»Shinyun hat mich gefunden«, räumte Ragnor ein. »Sie war äußerst motiviert.«

Magnus hatte Ragnor fast erreicht, aber Shinyun schob sich erschreckend schnell zwischen sie und hielt Magnus mit der Spitze des Svefndorns auf Abstand. Abrupt hielt Magnus inne und hob beide Hände als Zeichen, dass er aufgab. Sein Herz raste wie wild. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, solange Ragnor Max in seinen Fingern hatte.

»Du verstehst das nicht«, erklärte Shinyun. »Wir haben nicht vor, dir das Weiße Buch zu stehlen. Im Gegenteil: Wir werden dir etwas im Tausch dafür geben. Etwas, das noch viel wertvoller ist.«

Und dann rammte sie Magnus den Svefndorn in die Brust.

Er bohrte sich tief hinein, ohne jeden Widerstand von Muskeln oder Knochen. Magnus empfand keinerlei Schmerz und auch nicht das geringste Bedürfnis zurückzuweichen, während sich der Dorn in sein Herz bohrte. Nur furchtbare Müdigkeit. Er spürte, wie sein Herz um den Dorn herum pulsierte, wollte aber nicht an sich herabschauen, nicht auf den aus seiner Brust ragenden Spieß blicken.

Ein Teil von ihm konnte es einfach nicht fassen, dass Ragnor hier war, das Ganze verfolgte und nichts dagegen unternahm.

Shinyun beugte sich vor und küsste Magnus auf die Wange. Dann drehte sie den Dorn um hundertachtzig Grad, wie ein Zahlenschloss an einem Safe, und zog ihn wieder heraus. Was genauso schmerzlos verlief wie beim Eindringen: Der Dorn hatte lediglich einige rot züngelnde Flammen verursacht, die aus der Einstichstelle schlugen. Vorsichtig berührte Magnus die Flammen, die sich kalt anfühlten und seinen Fingern keinen Schaden zufügten. Und auch die Wunde verursachte keinerlei Schmerz.

Das Gefühl der schrecklichen Müdigkeit lichtete sich allmählich. »Was hast du getan?«, fragte Magnus.

»Wie schon gesagt: Ich habe dir ein großes Geschenk gemacht«, antwortete Shinyun. »Zumindest den ersten Teil davon. Und im Tausch dafür nehmen wir das Weiße Buch mit.«

»Ich habe dir doch schon erklärt …«, setzte Magnus an.

»Ja, aber ich wusste, dass du lügst«, konterte Shinyun, »denn ich habe das Buch bereits gefunden. Im Kinderzimmer deines Jungen, bevor ich mich bemerkbar gemacht habe. Wie das jeder tun würde. Der nicht dämlich ist.«

»Nimm es dir nicht zu Herzen, Magnus«, sagte Ragnor mitfühlend. »Samaels Wille ist mit dem Weißen Buch verbunden, und seine Diener fühlen sich magisch zu ihm hingezogen.«

Das hatte Magnus nicht gewusst, denn sonst hätte er das Buch an einem sichereren Ort aufbewahrt als zwischen den Bilderbüchern seines Sohns. »Ich könnte verhindern, dass ihr mit dem Weißen Buch verschwindet«, sagte er und sah, wie sich Ragnors Augen verengten. »Außerdem ist Alec hier. Aber ich bin euch gegenüber im Nachteil. Ragnor, gib mir Max, dann könnt ihr die Wohnung mit dem Buch verlassen.«

»Wir würden die Wohnung so oder so mit dem Buch verlassen«, erwiderte Shinyun.

Doch Ragnor, der für körperliche Auseinandersetzungen nie viel übrig gehabt hatte, nickte. »Aber keine miesen Tricks«, warnte er Magnus.

»Selbstverständlich nicht«, antwortete Magnus.

Ragnor trat näher und reichte Magnus den Jungen, der ihn sorgfältig in seine linke Armbeuge schmiegte. Dann stach Magnus plötzlich alle fünf Finger seiner rechten Hand gegen Ragnors Brust, in die Herzregion. Sofort spürte er in Ragnors Magie, die in seine Hand strömte, eine andere Kraft: Samaels Willen – eine Leere, ein Ort, an dem das Licht von Ragnors Lebensenergie in tiefste Finsternis überging. Angestrengt versuchte er, diese Kraft aus Ragnor herauszuziehen, ohne dabei Max zu wecken.

»Das ist ein mieser Trick, Magnus!«, brüllte Shinyun, richtete den Svefndorn auf Ragnor und drehte ihn leicht.

Aus Ragnors Kehle drang ein tiefes Gurgeln, während er mit Magnus rang. Dann versteifte sich sein Körper, und in der nächsten Sekunde schleuderte er Magnus mit einem unerwarteten Kraftausbruch von sich fort. Magnus wurde nach hinten geworfen, verlor das Gleichgewicht und schaffte es irgendwie, auf dem Sofa hinter ihm zu landen, Max fest an sich gedrückt. Trotz der relativ weichen Landung wurde der Junge so jäh aus seinem Schlummerzustand gerissen, dass er sofort in Tränen ausbrach.

Sämtliche Erwachsenen im Raum erstarrten. Dann sagte Ragnor sehr leise: »Mach dir nichts daraus, Magnus. Die Kraft, die mir durch meine Loyalität gegenüber Samael verliehen wurde, ist stärker als du oder irgendein anderes Hexenwesen.«

»Ragnor!«, zischte Shinyun. »Halt den Mund! Der Junge …«

Sie kreischte auf. Und stürzte plötzlich zu Boden. Der Schaft eines Pfeils ragte aus ihrer Wade. Das Ganze kam so überraschend, dass Max wieder verstummte.

»Bleibt, wo ihr seid!«, brüllte Alec vom anderen Ende des Flurs. Ragnor drehte sich zu ihm um, mit einem aufrichtig interessierten und verblüfften Ausdruck im Gesicht.

Magnus wusste, dass er eigentlich ins Geschehen hätte eingreifen müssen, doch er lag flach auf der Couch, unter seinem kleinen Jungen. Ungelenk machte er sich daran aufzustehen, ohne Max dabei fallen zu lassen. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, sein Kind wegzuteleportieren, entschied sich dann aber dagegen. Es war einfach zu unsicher. Ihm blieb nicht genug Zeit, um ein Portal zu öffnen. Aber vielleicht konnte er Max zur Decke hinaufschweben lassen …

Seine Gedanken wurden von den verräterischen Geräuschen und Schimmereffekten eines sich öffnenden Portals unterbrochen: Shinyun hatte sich selbst an die Arbeit gemacht. Törichterweise hatte Magnus angenommen, dass sie nicht mehr kampffähig sei. Sofort stürmte Ragnor auf das Portal zu. Magnus würde ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen.

Doch dann ließ ihn ein wahrhaft glorreicher Anblick innehalten: Wie ein griechischer Gott trat Alec aus dem Flur heraus, noch immer tropfnass und mit wirren Haaren. Er trug ein weißes Handtuch um die Hüften, ein Lederband mit dem Lightwood-Familienring um den Hals, eine Rune für Treffsicherheit auf der Brust und sonst gar nichts. Allerdings hatte er einen Pfeil in den wunderschönen Eichenbogen gespannt, der normalerweise als Dekoration an ihrer Schlafzimmerwand hing. Seine Erscheinung erinnerte Magnus an eine Gestalt in einem Renaissancegemälde.

Magnus wusste, dass Alec sich oft Sorgen machte, er sei zu gewöhnlich für Magnus. Und dass er im Vergleich zu den Wundern, die Magnus im Lauf der Jahrhunderte gesehen hatte, doch ziemlich irdisch und profan wirkte. Aber offenbar hatte Alec keine Ahnung, welchen Anblick ein Schattenjäger in vollem Kampfmodus aus nächster Nähe bot.

Er war einfach umwerfend.

Als Magnus ruckartig aus seinen Gedanken erwachte, erkannte er, dass Shinyun das Portal bereits passiert hatte und Ragnor im Begriff war, einen Fuß hineinzusetzen. In der Zwischenzeit hatte er selbst sich aufgerappelt und hielt Max vor sich. Er brauchte beide Hände, um seine Magie freizusetzen, wollte seinen Jungen aber nicht loslassen.

Im nächsten Augenblick zischte ein weiterer Pfeil durch die Luft. Er verfehlte Ragnor um ein Haar, riss aber ein Stück aus dessen Umhang, während sich das Portal um ihn herum schloss.

Dann herrschte plötzlich Stille. Alec drehte sich zu Magnus um, der Max auf dem Arm schaukelte. Der Junge war wieder verstummt.

»War das gerade Ragnor Fell?« Alec wirkte verblüfft. »Zusammen mit Shinyun Jung?« Alec war Ragnor nie begegnet, aber unter Magnus’ Sachen befanden sich zahlreiche Fotos und Skizzen von dem Hexenmeister, sogar ein riesiges Ölgemälde.

»Genau der«, bestätigte Magnus in die Stille hinein.

Alec durchquerte den Raum, ging in die Hocke und nahm den Pfeil mit dem Stofffetzen an sich, der sich in eine der Holzdielen gebohrt hatte. Als er aufschaute und Magnus ansah, wirkte seine Miene düster. »Aber Ragnor Fell ist doch tot.«

»Nein«, sagte Magnus und schüttelte erschöpft den Kopf. »Ragnor lebt.«