Bemerkenswerte Schilderungen darüber, was Menschen an der Schwelle des Todes erlebten, bevor sie wieder ins Leben zurückkehrten, gab es schon immer. Lange wurden diese von der Wissenschaft aber ignoriert oder einfach als Täuschungen des Gehirns abgetan. Auch der Psychiater Dr. Bruce Greyson war skeptisch – bis ihm etliche seiner Patient*innen von schier unglaublichen Nahtoderlebnissen berichteten, die sein bisheriges Weltbild ins Wanken brachten. Dr. Greyson begann, diese Erlebnisse mit all seiner wissenschaftlichen Kompetenz systematisch zu erforschen. Heute gilt er als der weltweit führende Experte auf diesem Gebiet. Begleiten Sie den Autor auf eine faszinierende Reise, die unschätzbar wertvolle Erkenntnisse für jeden von uns bereithält – und die tatsächlich die Angst vor dem Tod nehmen kann.
Dr. med. Bruce Greyson
Nahtod
Grenzerfahrungen zwischen den Welten
Bahnbrechende Erkenntnisse eines Arztes über das Leben nach dem Tod
Die Erforschung des Jenseits
Aus dem Englischen übersetzt
von Juliane Molitor
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel After: A Doctor Explores What Near-Death Experiences Reveal about Life and Beyond bei St. Martin’s Essentials, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, USA.
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Copyright © 2021 by Dr. Bruce Greyson
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Redaktion: Ralf Lay, Mönchengladbach
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München unter Verwendung eines Motivs von © Vitalina / Getty Images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-25833-7
V001
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Für diejenigen, die auf der Schwelle zum Tod standen und ihre sehr persönlichen und tiefgreifenden Erfahrungen großzügig mit mir teilten.
Inhalt
Einleitung: Eine Reise in unbekannte Welten
1. Eine Wissenschaft des Rätselhaften
2. Außerhalb der Zeit
3. Die Lebensrückschau
4. Die ganze Geschichte verstehen
5. Woher wissen wir, was wirklich ist?
6. Den Körper verlassen
7. Oder den Verstand verloren?
8. Sind Nahtoderlebnisse real?
9. Die Biologie des Sterbens
10. Das Gehirn zum Zeitpunkt des Todes
11. Der Geist ist nicht das Gehirn
12. Bleibt das Bewusstsein bestehen?
13. Himmel oder Hölle?
14. Und was ist mit Gott?
15. Das ändert alles
16. Was hat das alles zu bedeuten?
17. Ein neues Leben
18. Unsanfte Landung
19. Eine neue Sicht der Wirklichkeit
20. Leben vor dem Tod
Dank
Anmerkungen
Register
Einleitung
Eine Reise in unbekannte Welten
Vor fünfzig Jahren sagte eine Frau, die gerade einen Suizidversuch hinter sich hatte, etwas zu mir, das alles infrage stellte, was ich über den Geist sowie das Gehirn und darüber zu wissen glaubte, wer wir wirklich sind.
Die Spaghetti waren schon fast in meinem Mund, als der Piepser an meinem Gürtel losging und mir die Gabel aus der Hand fiel. Ich hatte mich auf das Handbuch für Notfallpsychiatrie konzentriert, das aufgeschlagen neben meinem Tablett lag, und das plötzliche Piepen erschreckte mich. Die Gabel fiel auf meinen Teller, und die Tomatensauce spritzte auf die aufgeschlagene Seite. Ich griff nach unten, um den Piepser auszuschalten, und sah, dass auch meine Krawatte einen Tropfen Spaghettisauce abbekommen hatte. Ich fluchte leise, wischte den Klecks weg und tupfte die Stelle mit einer feuchten Serviette ab, bis der Fleck zwar weniger dunkel, dafür aber etwas größer war. Ich hatte mein Medizinstudium erst vor ein paar Monaten abgeschlossen und versuchte verzweifelt, professioneller auszusehen, als ich mich fühlte.
Ich ging zum Telefon an der Wand der Cafeteria und wählte die Nummer auf dem Display meines Piepsers. In der Notaufnahme lag eine Patientin, die eine Überdosis genommen hatte, und ihre Mitbewohnerin wartete auf ein Gespräch mit mir. Ich wollte keine Zeit damit verschwenden, über den Parkplatz zum Bereitschaftsraum zu gehen und mich umzuziehen. Also nahm ich den weißen Laborkittel von der Stuhllehne, knöpfte ihn zu, um den Fleck auf meiner Krawatte zu verstecken, und ging in die Notaufnahme.
Als Erstes las ich den Aufnahmeschein, den eine Krankenschwester ausgestellt hatte. Holly studierte im ersten Semester an der Universität. Ihre Mitbewohnerin, die sie ins Krankenhaus gebracht hatte, wartete in der Familienlounge auf mich. Aus den Notizen der Krankenschwester und des Assistenzarztes ging hervor, dass Holly zwar stabil, aber nicht wach war und dass sie im Untersuchungsraum 4 lag mit einem »Sitter«, der sie beobachtete – eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme für psychiatrische Patienten in der Notaufnahme. Ich fand sie auf einer Trage liegend, in einem Krankenhausnachthemd, mit einer Kanüle im Arm und Herzmonitorleitungen, die von ihrer Brust zu einer mobilen Maschine führten, die man neben die Trage gerollt hatte. Ihr zerzaustes rotes Haar bedeckte das ganze Kissen und umrahmte ein blasses, kantiges Gesicht mit einer dünnen Nase und schmalen Lippen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie bewegte sich nicht, als ich den Raum betrat. Auf dem Regalbrett unter ihrer fahrbaren Trage lag eine Plastiktüte mit ihren Kleidern.
Ich legte meine Hand sanft auf Hollys Unterarm und rief ihren Namen. Sie antwortete nicht. Ich fragte den Sitter, einen älteren Afroamerikaner, der in einer Ecke des Untersuchungsraums saß und eine Zeitschrift las, ob er mitbekommen habe, dass Holly die Augen aufgeschlagen oder gesprochen hätte. Er schüttelte den Kopf. »Sie war die ganze Zeit weg«, sagte er.
Ich beugte mich über Holly, um sie zu untersuchen. Sie atmete langsam, aber regelmäßig, und es roch nicht nach Alkohol. Ich nahm an, dass sie eine Überdosis Medikamente ausschlief. Der Puls an ihrem Handgelenk war normal, ließ aber alle paar Sekunden einen Schlag aus. Ich bewegte ihre Arme auf der Suche nach Steifheit und in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu bekommen, welche Medikamente sie genommen hatte. Ihre Arme waren locker und entspannt; und als ich sie bewegte, wurde Holly nicht wach.
Ich bedankte mich bei dem Sitter und machte mich auf den Weg zur Familienlounge am anderen Ende des Flurs. Im Gegensatz zu den Untersuchungsräumen war die Familienlounge mit bequemen Stühlen und einer Couch ausgestattet. Auf einem Beistelltisch standen eine Kaffeekanne, Pappbecher, Zucker und ein Milchkännchen. Hollys Mitbewohnerin Susan, ein großes Mädchen mit einer athletischen Figur und braunen, fest zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren, ging dort auf und ab. Ich stellte mich vor und bat sie, sich zu setzen. Ihre Augen wanderten durch den Raum. Dann setzte sie sich an ein Ende der Couch und spielte nervös mit dem Ring an ihrem Zeigefinger. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich neben sie. Der fensterlose Raum war nicht klimatisiert, und ich schwitzte in der Hitze des Spätsommers in Virginia. Ich zog den Standventilator etwas näher und knöpfte meinen Kittel auf.
»Sie haben das Richtige getan, Susan, als Sie Holly in die Notaufnahme gebracht haben«, begann ich. »Können Sie mir erzählen, was heute Abend passiert ist?«
»Ich kam am späten Nachmittag von einem Seminar nach Hause«, sagte sie. »Da lag Holly ohnmächtig auf ihrem Bett. Ich rief ihren Namen und schüttelte sie, bekam sie aber nicht wach. Also suchte ich die Beraterin unseres Wohnheims auf, und die rief den Rettungswagen an, der sie hierhergebracht hat. Ich bin dann gleich in mein Auto gestiegen und hierhergekommen.«
Ich ging immer noch davon aus, dass Holly eine Überdosis Medikamente genommen hatte, und fragte: »Wissen Sie, welche Tabletten sie genommen hat?«
Susan schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Tablettenröhrchen gesehen«, sagte sie, »aber ich habe auch nicht danach gesucht.«
»Nahm sie regelmäßig Medikamente?«
»Ja, ein Antidepressivum, das sie von der Studentenklinik bekam.«
»Gibt es in eurem Wohnheimzimmer noch andere Medikamente, die sie genommen haben könnte?«
»Ich habe Medikamente gegen meine Krampfanfälle, die ich im Badezimmerschrank aufbewahre; aber soweit ich weiß, hat sie nichts davon genommen.«
»Hat sie regelmäßig getrunken oder irgendwelche Drogen genommen?«
Susan schüttelte erneut den Kopf. »Nicht, dass ich es mitbekommen hätte.«
»Hat sie noch andere medizinische Probleme?«
»Ich glaube, nicht, aber ich kenne sie nicht so gut. Ich kannte sie gar nicht, bevor wir vor einem Monat in das Wohnheim gezogen sind.«
»Aber sie hat jemanden bei Student Health wegen Depressionen konsultiert. Hat sie in letzter Zeit niedergeschlagen oder ängstlich gewirkt oder sich seltsam verhalten?«
Susan zuckte die Achseln. »So nah waren wir uns nicht. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.«
»Verstehe. Wissen Sie zufällig etwas über bestimmte Belastungen, denen sie in letzter Zeit ausgesetzt war?«
»Soweit ich weiß, hat sie in ihren Kursen gute Leistungen erbracht. Wissen Sie, es ist für uns alle eine Umstellung, neu im College und zum ersten Mal weg von zu Hause zu sein.« Susan hielt kurz inne und fügte dann noch hinzu: »Aber sie hatte Probleme mit diesem Typen, mit dem sie ausgegangen ist.« Sie machte wieder eine Pause. »Ich denke, er hat sie vielleicht dazu gedrängt, bestimmte Dinge zu tun.«
»Sie gedrängt, bestimmte Dinge zu tun?«
Susan zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl.«
Ich wartete, aber sie sagte nichts mehr.
»Sie waren sehr hilfreich, Susan«, sagte ich. »Gibt es noch etwas, wovon Sie denken, dass wir es wissen sollten?«
Susan zuckte erneut die Achseln. Ich wartete wieder, doch auch diesmal sagte sie nichts mehr. Ich bildete mir ein, ein leichtes Schaudern gesehen zu haben.
»Wie geht es Ihnen mit alldem?«, fragte ich und legte meine Hand sanft auf ihren Arm.
»Mir geht es gut«, sagte sie ein wenig zu schnell. »Aber ich muss zurück ins Wohnheim. Ich muss noch einen Aufsatz schreiben.«
Ich nickte. »Danke, dass Sie Holly hergebracht haben und noch geblieben sind, um mit mir zu sprechen. Gehen Sie jetzt ruhig zurück zu Ihrem Aufsatz. Sie können morgen früh noch einmal nach ihr sehen, wenn Sie möchten. Wir rufen Sie an, wenn sich etwas anderes ergibt.«
Susan nickte und stand auf, und ich brachte sie zur Tür. Als ich ihr die Hand gab, fiel mein Blick erneut auf den Fleck auf meiner Krawatte, und ich knöpfte meinen Kittel wieder zu, damit die Mitarbeiter der Notaufnahme ihn nicht bemerkten.
Ich ging über den Flur zurück zu Hollys Zimmer, um nachzuschauen, ob sie mittlerweile aufgewacht war. Sie lag immer noch bewusstlos da, und der Sitter bestätigte, dass sie sich nicht gerührt hatte, seit ich weggegangen war. An diesem Abend hatte ich nicht mehr viel zu tun. Ich sprach mit dem Assistenzarzt, der Holly untersuchte und sagte, er wolle sie auf die Intensivstation verlegen, um ihren unregelmäßigen Herzschlag überwachen zu lassen. Dann rief ich den Psychiater der Fakultät an, der mich in dieser Nacht unterstützte. Er meinte auch, ich könne im Moment nichts mehr tun, gab mir aber den Rat, alles zu dokumentieren. Am Morgen sollte ich dann noch einmal nach Holly schauen und mit ihr sprechen. Bei der Visite um acht Uhr morgens sollte ich ihren Fall den leitenden Psychiatern des Ärzteteams vorstellen.
Als ich über den Parkplatz zum Bereitschaftsraum ging, gratulierte ich mir, dass ich mich nicht lächerlich gemacht und Glück gehabt hatte, dass diese Patientin auf der Intensivstation gelandet war und demnach der Assistenzarzt für ihren Aufnahmebericht und die Maßnahmen in dieser Nacht verantwortlich war und nicht ich.
Als ich am nächsten Morgen gut ausgeschlafen, frisch angezogen und entsprechend erquickt auf die Intensivstation kam, suchte ich das Regal im Stationszimmer nach Hollys Krankenakte ab. Eine der Krankenschwestern schrieb gerade etwas hinein und schaute zu mir auf. »Sie sind aus der Psychiatrie?«, fragte sie.
Ich nickte und sagte: »Ich bin Dr. Greyson.« Es war nicht schwer, mich als den Seelenklempner zu identifizieren, weil ich der Einzige auf der Intensivstation war, der unter dem weißen Kittel Straßenkleidung trug und keinen OP-Anzug.
»Holly ist jetzt wach, und Sie können mit ihr sprechen, aber sie ist immer noch ziemlich schlaftrunken«, sagte die Krankenschwester. »Sie war die ganze Nacht stabil, bis auf ein paar ventrikuläre Extrasystolen.« Ich wusste, dass diese unregelmäßigen Herzschläge vielleicht gar nichts zu bedeuten hatten, aber sie konnten auch mit den Medikamenten zusammenhängen, die sie in der Nacht zuvor genommen hatte.
»Danke«, sagte ich. »Ich werde jetzt kurz mit ihr sprechen, aber das Ärzteteam wird in etwa einer Stunde hier sein, um sie zu befragen. Glauben Sie, sie ist stabil genug, um heute in die Psychiatrie verlegt zu werden?«
»O ja«, sagte die Krankenschwester und verdrehte die Augen. »In der Notaufnahme knubbeln sich die Patienten, die nur darauf warten, dass hier ein Bett frei wird.«
Ich ging zu Hollys Zimmer und klopfte an den Rahmen der offen stehenden Tür. Sie hatte jetzt einen Schlauch in der Nase und einen im Arm; und die Herzmonitorleitungen waren mit einem Bildschirm über ihrem Bett verbunden. Ich zog den Vorhang um ihr Bett hinter mir zu und rief sie leise beim Namen. Sie machte ein Auge auf und nickte.
»Holly, ich bin Dr. Greyson«, sagte ich. »Ich bin im Psychiatrieteam.«
Sie schloss die Augen und nickte wieder. Ein paar Sekunden später murmelte sie leise und etwas schleppend: »Ich weiß, wer Sie sind. Ich erinnere mich an Sie von letzter Nacht.«
Ich hielt kurz inne und ließ unsere Begegnung in der Nacht davor in Gedanken Revue passieren. »Letzte Nacht in der Notaufnahme sah es aus, als hätten Sie geschlafen«, sagte ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich sehen können.«
Sie hatte die Augen immer noch geschlossenen und murmelte leise: »Nicht in meinem Zimmer. Ich habe gesehen, wie Sie mit Susan gesprochen haben, die auf einer Couch saß.«
Ich war sprachlos. Sie hatte uns auf keinen Fall am anderen Ende des Korridors sehen oder hören können. Ich fragte mich, ob dies nicht ihr erster Besuch in der Notaufnahme war und ob sie vielleicht ahnen konnte, dass ich dort mit Susan gesprochen hatte.
»Das Personal hat Ihnen gesagt, dass ich letzte Nacht mit Susan gesprochen habe?«, schlug ich vor.
»Nein«, sagte sie jetzt deutlicher. »Ich habe Sie gesehen.«
Ich hielt inne und war mir nicht mehr sicher, wie ich nun weiter vorzugehen hätte. Ich sollte dieses Gespräch leiten, Informationen über die Gedanken sammeln, die zu ihrer Selbstverletzung geführt hatten, und darüber, was in ihrem Leben vor sich ging. Aber ich war verwirrt und wusste nicht, wie ich weitermachen sollte. Ich fragte mich, ob sie nur mit mir, dem neuen Assistenzarzt, spielte und mich aus dem Konzept zu bringen versuchte. Wenn ja, leistete sie gute Arbeit. Sie spürte meine Unsicherheit, schlug beide Augen auf und stellte zum ersten Mal Augenkontakt her.
»Sie hatten eine gestreifte Krawatte um mit einem roten Fleck drauf«, sagte sie bestimmt.
Ich beugte mich sehr langsam vor und fragte mich, ob ich sie richtig verstanden hatte. »Wie bitte?«, fragte ich und war kaum in der Lage, die Worte auszusprechen.
»Sie hatten eine gestreifte Krawatte um mit einem roten Fleck drauf«, wiederholte sie und sah mir direkt in die Augen. Anschließend wiederholte sie mein Gespräch mit Susan – alle meine Fragen und Susans Antworten. Außerdem beschrieb sie, wie Susan auf und ab gegangen war und ich den Ventilator bewegt hatte – alles, ohne dabei irgendeinen Fehler zu machen.
Meine Nackenhaare stellten sich auf, und ich bekam eine Gänsehaut. Sie konnte das unmöglich alles wissen. Sie hätte vielleicht erraten können, welche Fragen ich wahrscheinlich stellen würde, aber woher hätte sie jedes Detail wissen sollen? Hatte schon früher am Morgen jemand mit ihr gesprochen und ihr erzählt, was ich als Vermerk in ihre Akte notierte? Aber sonst war niemand mit Susan und mir im Raum gewesen. Wie sollte eine andere Person bis ins Details wissen, was wir gesagt und getan hatten? Und außerhalb der Familienlounge hatte in dieser Nacht niemand den Fleck auf meiner Krawatte bemerkt. Auf keinen Fall hätte Holly wissen können, dass ich mit Susan gesprochen hatte, geschweige denn, dass sie mit dem Inhalt unserer Unterhaltung oder dem Fleck auf meiner Krawatte vertraut gewesen wäre. Und doch war genau dies der Fall.
Jedes Mal, wenn ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, was sie da sagte, war ich wie benebelt. Ich konnte nicht leugnen, dass sie alle Details meines Gesprächs mit ihrer Mitbewohnerin kannte. Ich hatte es mit eigenen Ohren gehört, es war definitiv so. Aber ich konnte nicht herausfinden, woher sie all das wusste. Ich sagte mir, dass es ein Glückstreffer oder eine Art Trick sein musste.
Aber ich hatte keine Vorstellung, wie ein solcher Trick funktionieren sollte. Holly wachte gerade aus ihrem überdosierten Medikamentenschlaf auf. Sie hatte seit dem Tag zuvor nicht mehr mit ihrer Mitbewohnerin gesprochen. Wie konnte sie wissen, was Susan und ich gesagt hatten? Hatten sich Holly und Susan möglicherweise abgesprochen, bevor sie die Überdosis genommen hatte? Hatten sie geplant, was Susan zu mir sagen sollte? Aber den Spaghettisaucenspritzer auf meiner Krawatte hätten sie nicht planen können. Außerdem war Susan sehr aufgeregt gewesen, als ich mit ihr in der Notaufnahme gesprochen hatte, und Holly war jetzt immer noch benommen und niedergeschlagen. Es sah überhaupt nicht aus wie ein Scherz und fühlte sich auch nicht so an.
Ich hatte keine Antworten auf diese Fragen, aber auch keine Zeit, länger darüber nachzudenken, und ich wusste auch einfach nicht, wo ich das Ganze einordnen sollte. Dieser Vorfall ereignete sich Jahre bevor irgendjemand im englischsprachigen Raum den Begriff »Nahtoderfahrung« je gehört hatte. Und er hat mich belastet, weil ich ihn nicht erklären konnte. Alles, was ich tun konnte, war, diese Fragen im Hinterkopf abzulegen.
Hollys unregelmäßige Atmung, die darauf hinwies, dass sie wieder eingeschlafen war, brachte mich zurück in die Gegenwart. Meine Verwirrung konnte an diesem Tag nicht Thema sein. Es war meine Aufgabe, Holly zu helfen, ihre Probleme zu lösen und ihr gute Gründe zum Weiterleben zu geben. Im Moment musste ich mich darauf konzentrieren, in Erfahrung zu bringen, welche Stressfaktoren es in ihrem Leben gab, und ihre Suizidgedanken einzuschätzen, bevor das Ärzteteam zur Visite kam.
Ich berührte sie sanft am Arm und sprach sie erneut an. Sie öffnete ein Auge, und ich versuchte, meine Befragung fortzusetzen. »Holly, können Sie mir von Ihrer Überdosis letzte Nacht erzählen? Was hat dazu geführt?« Ich hatte mich genug gesammelt, um von ihr zu erfahren, dass sie eine Überdosis Elavil eingenommen hatte, ein Medikament, das gefährliche Herzrhythmusstörungen verursachen kann, und dass sie schon früher in der Highschool »ein paar« Überdosen eingenommen hatte. Sie bestätigte alles, was Susan mir erzählt hatte, und fügte noch ein paar Details hinzu. Sie erzählte mir außerdem, sie sei regelrecht überwältigt vom sozialen Druck im College und fühle sich den anderen Studenten nicht zugehörig. Sie sagte, sie wolle die Universität verlassen, nach Hause zurückkehren und ein örtliches Community College besuchen, aber ihre Eltern sagten ihr immer wieder, sie solle sich mehr Zeit für diese Entscheidung nehmen. Als es aussah, als schlafe sie gleich wieder ein, dankte ich ihr für das Gespräch und kündigte an, dass das Psychiatrieteam in etwa einer Stunde zu ihr kommen würde. Sie nickte und schloss die Augen.
Ich rief die Studentenklinik an, hinterließ eine Nachricht, dass Holly bei uns aufgenommen worden war, und forderte die Berichte über ihre psychiatrische Behandlung an. Dann schrieb ich einen kurzen Aufnahmebericht, der weitgehend auf dem beruhte, was Susan mir am Abend zuvor erzählt hatte, sowie auf dem wenigen, was mir an diesem Morgen an Hollys Stimmung und Gedankengängen aufgefallen war. Aber meine Präsentation vor dem Ärzteteam in der Psychiatrie war alles andere als vollständig. Hollys Behauptung, mich gesehen und gehört zu haben, während sie in einem anderen Raum schlief, erwähnte ich mit keinem Wort, und ich beschloss in dem Moment auch, keinen meiner Kollegen davon in Kenntnis zu setzen, zumindest so lange nicht, bis ich eine vernünftige Erklärung dafür hatte. Bestenfalls dachten sie, es sei mir entgangen und ich habe mich unprofessionell verhalten. Schlimmstenfalls fragten sie sich, ob es mir wirklich entgangen war oder ich mir das Ganze nur einbildete.
Es war absolut unmöglich, sagte ich mir, dass Holly gesehen oder gehört hatte, was in der Familienlounge geschah, während sie am anderen Ende der Notaufnahme schlief. Sie musste auf irgendeine andere Weise davon erfahren haben. Ich konnte mir allerdings keinen Reim darauf machen, welche andere Weise das gewesen sein konnte. Keine der Krankenschwestern auf der Intensivstation hatte Kenntnis von meinem Gespräch mit Susan in der Notaufnahme, und keiner der am Abend zuvor diensthabenden Mitarbeiter in der Notaufnahme wusste etwas über die Details, die Holly mir mitgeteilt hatte. Sosehr mich dieser Vorfall auch beunruhigte – mich, den Assistenzarzt, der noch grün hinter den Ohren war und das Gefühl haben wollte, genau zu wissen, was er tat –, ich konnte ihn nur wegstecken, mit dem ungewissen Plan, irgendwann in der Zukunft darauf zurückzukommen. Ich habe nicht einmal meiner Frau Jenny davon erzählt. Es war einfach zu schräg. Es wäre mir peinlich gewesen, jemandem zu erzählen, dass dies geschehen war und dass ich es ernst nahm. Und ich wusste auch: Wenn ich es jemandem erzählte, würde es sehr viel schwieriger werden, es zu ignorieren, und ich wäre gezwungen, mich irgendwie damit auseinanderzusetzen.
Ich glaubte, es müsse eine vernünftige physikalische Erklärung dafür geben, dass Holly diese Dinge wusste, und ich müsse diese Erklärung selbst finden. Und wenn nicht … Nun, die einzige Alternative war, dass der Teil von Holly, der denkt und sieht und hört und sich irgendwie erinnert, ihren Körper verlassen und mir den Flur entlang in die Familienlounge gefolgt war und ohne Augen oder Ohren mein Gespräch mit Susan in sich aufgenommen hatte. Das ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, was es heißen würde, meinen Körper zu verlassen. Soweit ich es beurteilen konnte, war ich mein Körper. Aber ich konnte es mir zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben nicht leisten, über diese Dinge nachzudenken. Ich war nicht in der Position, diesen Vorfall genauer zu untersuchen: Susan aufzuspüren und sie zu fragen, ob sie den Fleck auf meiner Krawatte bemerkt hatte, und wenn ja, ob sie ihn irgendjemandem gegenüber erwähnt hatte; die Krankenschwestern ausfindig zu machen, die in der Nacht davor in der Notaufnahme gearbeitet hatten; ganz zu schweigen davon, jemanden zu finden, der vielleicht gesehen hatte, wie ich in der Cafeteria meine Gabel fallen ließ, und der dann mit Holly gesprochen hatte, so unwahrscheinlich das auch gewesen wäre. Ich war auch nicht in der Verfassung, den Vorfall genauer zu untersuchen. Ich wollte ihn eigentlich nur vom Tisch haben.
Mittlerweile versuche ich seit einem halben Jahrhundert zu verstehen, wie Holly von diesem Spaghettisaucenfleck hatte wissen können. Nichts in meiner Vergangenheit oder meiner wissenschaftlichen Ausbildung bis zu diesem Punkt hatte mich auf einen solchen Frontalangriff auf mein Weltbild vorbereitet. Ich war von einem sachlichen, skeptischen Vater erzogen worden, für den das ganze Leben Chemie war. Und auf dem Weg zu meiner eigenen Karriere als Mainstream-Wissenschaftler nahm ich mir ein Beispiel an ihm. Als akademischer Psychiater habe ich mehr als hundert wissenschaftliche Artikel in von Experten begutachteten medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Ich hatte das Glück, an der Medizinischen Fakultät der University of Michigan den psychiatrischen Notdienst leiten zu können. Außerdem war ich Chefarzt der Psychiatrie an der University of Connecticut und hatte an der University of Virginia die Chester-F.-Carlson-Stiftungsprofessur für Psychiatrie und Neuro- und Verhaltenswissenschaften inne. Weil ich oft zur rechten Zeit am rechten Ort war, bekam ich Forschungsstipendien von Regierungsbehörden, Pharmaunternehmen und privaten, gemeinnützigen Forschungsstiftungen. Ich hatte das Privileg, in Stipendienprüfungsgremien und Programmplanungsworkshops der National Institutes of Health mitzuwirken, und habe bei einem Symposium über Bewusstsein vor den Vereinten Nationen gesprochen. Ich habe Auszeichnungen für meine medizinische Forschung bekommen und wurde zum Distinguished Life Fellow der American Psychiatric Association gekürt.
Alles in allem kann ich auf eine sehr zufriedenstellende Karriere als akademischer Psychiater zurückblicken – zum großen Teil dank der brillanten und hilfreichen Mentoren und Kollegen, die Anerkennung für meinen Erfolg verdient haben. In all den Jahren hatte ich die quälenden Fragen zu Geist und Gehirn, die Holly mit ihrem Wissen über diesen Fleck auf meiner Krawatte aufgeworfen hatte, aber stets im Hinterkopf. Als Skeptiker hielt mich mein persönliches Bedürfnis, Beweise zu finden, davon ab, meine Augen vor solchen Ereignissen zu verschließen – Ereignissen, die unmöglich schienen –, und führte mich auf die Reise ihrer wissenschaftlichen Erforschung.
Ich war gerade Leiter des psychiatrischen Notdienstes an der University of Virginia geworden, während Raymond Moody 1976 als Assistenzart dort anfing. Nachdem sich Raymonds Buch Life After Life (dt. Leben nach dem Tod), das erste Buch in englischer Sprache, in dem der Begriff near-death experience (NDE) – »Nahtoderfahrung« (NTE) – vorkam, als Überraschungsbestseller erwiesen hatte, wurde er in kurzer Zeit regelrecht überschwemmt mit Briefen von Lesern, die solche Erfahrungen gemacht hatten. Da er keine Zeit hatte, all diese Briefe zu beantworten, bat er mich, seinen Schulungsleiter in der Notaufnahme, um Hilfe. Und ich war fassungslos, als mir klar wurde, dass Hollys Erfahrung, die mich so schockiert hatte, überhaupt nicht einzigartig war. Raymond hatte andere Patienten befragt, die behaupteten, ihren Körper verlassen und beobachtet zu haben, was anderswo vor sich ging, während sie dem Tod sehr nah waren.
Diese Offenbarung erregte meine Aufmerksamkeit und brachte mich dazu, einen evidenzbasierten Ansatz für NTEs zu verfolgen. Hätte ich Raymond nicht kennengelernt und sein bahnbrechendes Buch nicht gelesen, wäre ich der Spur dieses Spaghettisaucenflecks vielleicht nie gefolgt. Aber mir wurde schnell klar, dass NTEs kein neues Phänomen sind. Ich entdeckte eine Vielzahl von Berichten über Nahtoderfahrungen in antiken griechischen und römischen Quellen, allen wichtigen religiösen Traditionen, Erzählungen indigener Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt und der medizinischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Zusammen mit Kollegen von anderen Universitäten, die ebenfalls über NTEs gestolpert waren, gründete ich die International Association for Near-Death-Studies (IANDS), eine Organisation zur Unterstützung und Förderung der Erforschung dieser Erfahrungen. Über ein Vierteljahrhundert lang war ich Forschungsdirektor bei IANDS und gab das Journal of Near-Death Studies heraus, die einzige wissenschaftliche Zeitschrift, die sich mit der Erforschung von Nahtoderfahrungen beschäftigt. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich mehr als tausend Nahtoderfahrene um mich geschart, die freundlicherweise bereit waren, einen Fragebogen nach dem anderen für mich auszufüllen, manche davon seit mehr als vierzig Jahren. Ich konnte die Ergebnisse dieser »Freiwilligen« mit den NTEs von Patienten vergleichen, die beispielsweise wegen Herzstillstand, Krampfanfällen und Suizidversuchen ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Im Laufe der Zeit entdeckte ich gemeinsame und universelle Themen in diesen Erfahrungen, die sich jeder kulturellen Interpretation entziehen, sowie Muster durchgängiger Nachwirkungen auf die Einstellung, die Überzeugungen, die Werte und die Persönlichkeit des Einzelnen. Und ich konnte zeigen, dass diese Erfahrungen nicht einfach als Traumzustände oder Halluzinationen abgetan werden können.
Was ich in diesen fünfundvierzig Jahren gefunden habe, ist eine »Akte« mit Nahtoderfahrungen aus aller Welt, von denen manche schon jahrhundertealt sind. Ich habe festgestellt, dass NTEs häufig vorkommen und niemanden bevorzugen. Sogar Neurowissenschaftler haben sie. Als der Neurochirurg Eben Alexander an einer seltenen Gehirninfektion erkrankte, die ihn in ein einwöchiges Koma stürzte, aus dem er mit lebhaften Erinnerungen an ein aufwändiges Nahtoderlebnis erwachte, kam er in meine Praxis, weil er diese scheinbare Unmöglichkeit verstehen wollte.
In nahezu einem halben Jahrhundert, in dem ich mich bemühte, Nahtoderfahrungen zu verstehen, stellte ich fest, dass ihre Auswirkungen die einzelnen Erfahrungen weit übertreffen. Je mehr ich über sie erfuhr, desto mehr schienen sie nach einer Erklärung zu schreien, die über unsere begrenzten alltäglichen Vorstellungen von Geist und Gehirn hinausgeht. Und diese neuen Ansichten über unseren Geist und unser Gehirn eröffnen uns die Möglichkeit zu untersuchen, ob unser Bewusstsein nach dem Tod unseres Körpers fortbestehen könnte. Und das wiederum stellt unsere Vorstellung, wer wir sind, welches unser Platz im Universum ist und wie wir unser Leben führen wollen, infrage.
Einige meiner Kollegen aus den Naturwissenschaften haben mich gewarnt, mein aufgeschlossener Ansatz zur Erforschung »unmöglicher« Erfahrungen wie NTEs könne die Schleusen für Aberglauben alle Art öffnen. Als Skeptiker sage ich: »Nur her damit!« Seien wir nicht voreingenommen nur aufgrund unserer Überzeugungen. Stellen wir diese herausfordernden Ideen auf den Prüfstand, und finden wir heraus, ob es sich tatsächlich um Aberglauben handelt – oder vielleicht um Fenster, die uns den Blick auf ein umfassenderes Bild der Welt ermöglichen. Die NTE-Forschung ist weit davon entfernt, uns von der Wissenschaft weg in den Aberglauben zu führen. Vielmehr zeigt sie, dass wir die Wirklichkeit wesentlich genauer beschreiben können, wenn wir wissenschaftliche Methoden zur Erforschung der nichtphysischen Aspekte unserer Welt einsetzen, als wenn wir uns auf die naturwissenschaftliche Erforschung physikalischer Materie und Energie beschränkten.
Wenn ich den wissenschaftlichen Erkenntnissen folge, die sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt haben, und keiner Theorie oder keinem Glaubenssystem den Vorzug gebe, weiß ich, dass ich viele meiner Freunde enttäuschen werde, die die eine oder eine andere Ansicht bevorzugen. Ich weiß, dass einige meiner spirituellen Freunde Einwände dagegen haben, dass ich die Möglichkeit ernst nehme, NTEs könnten durch physische Veränderungen im Gehirn hervorgerufen werden. Und ich weiß, dass einige meiner materialistischen Freunde bestürzt sind, weil ich die Möglichkeit ernst nehme, der Geist sei in der Lage, unabhängig vom Gehirn zu funktionieren. Und ich weiß, dass es in beiden Lagern einige gibt, die sich vielleicht darüber beschweren, dass ich es mir leicht mache, indem ich nicht Partei ergreife.
Aber genau genommen verlangt die intellektuelle Redlichkeit, dass ich in dieser Debatte möglichst keine Partei ergreife. Ich denke, es gibt genug Beweise, um sowohl einen physiologischen Mechanismus für NTEs als auch die fortgesetzte Funktion des Geistes unabhängig vom Gehirn ernst zu nehmen. Die Annahme, dass NTEs auf einen nicht identifizierten physiologischen Prozess zurückzuführen sind, ist plausibel und im Einklang mit der philosophischen Ansicht, dass die reale Welt eine rein physische ist. Andererseits ist der Glaube, dass NTEs ein spirituelles Geschenk sind, ebenfalls plausibel und im Einklang mit der philosophischen Ansicht, dass unser Sein auch einen nichtphysischen Aspekt hat. Aber keine dieser Ideen, die zwar plausibel sind, ist eine wissenschaftliche Prämisse – denn es gibt keinen Beweis, der eine von beiden jemals widerlegen könnte. Sie sind vielmehr eine Sache des Glaubens.
Wie ich in diesem Buch zeigen möchte, gibt es keinen Grund, warum NTEs nicht sowohl spirituelle Geschenke sein als auch durch bestimmte physiologische Ereignisse ermöglicht werden können. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse legen nahe, dass beide Ideen konfliktfrei wahr sein können – was es uns ermöglicht, die künstliche Kluft zwischen Wissenschaft und Spiritualität zu überbrücken. Meine Offenheit für beide Ansichten bedeutet jedoch nicht, dass ich keine Meinung zur Bedeutung von Nahtoderfahrungen hätte.
Jahrzehnte der Forschung haben mich überzeugt, dass Nahtoderlebnisse – unabhängig von ihrem Ursprung – sehr real und tiefgreifend sind und tatsächlich wichtige Quellen für Einsicht und spirituelles Wachstum darstellen. Ich weiß, dass sie für die Erlebenden selbst von entscheidender Bedeutung sind, weil sie ihr Leben verändern. Ich glaube, dass sie auch für Wissenschaftler von Bedeutung sind, weil sie wichtige Schlüssel zu unserem Verständnis von Geist und Gehirn enthalten. Und ich denke, sie sind auch für uns alle wichtig, weil sie uns etwas über den Tod und das Sterben erzählen und vor allem über das Leben und unsere Lebensweise.
Im gesamten Text dieses Buches habe ich die methodischen und statistischen Details meiner Forschung ausgelassen, aber wer technische Details zu den von mir erwähnten Studien haben möchte, wird sie in der Literatur finden, die unter »Anmerkungen« am Ende dieses Buches zitiert ist. Alle meine von Experten geprüften Zeitschriftenartikel können von der Website der Fakultät für Wahrnehmungsstudien an der University of Virginia (www.uvadops.org) heruntergeladen werden.
Dieses Buch basiert zwar auf den fünfundvierzig Jahren meiner wissenschaftlichen Forschung zu NTEs, wurde aber nicht speziell für andere Wissenschaftler geschrieben. Und obwohl ich hoffe, dass Menschen, die selbst ein Nahtoderlebnis hatten, das Gefühl haben, dass ich ihren Erfahrungen gerecht geworden bin, habe ich dieses Buch nicht speziell für sie geschrieben. Ich habe dieses Buch vielmehr für all die übrigen von uns geschrieben, für diejenigen, die neugierig sind auf die unglaubliche Reichweite des menschlichen Geistes und auf die tiefgreifenderen Fragen zu Leben und Tod.
Es wurde schon viel über das Sterben und darüber, was danach kommen könnte, gesagt und geschrieben – und oft werden wissenschaftliche und religiöse Standpunkte gegeneinander ausgespielt. Ich versuche in diesem Buch, diese Diskussion voranzutreiben und den Dialog zu verändern. Ich hoffe, zeigen zu können, dass Wissenschaft und Spiritualität durchaus vereinbar sind und dass Sie die Wissenschaft nicht aufgeben müssen, um spirituell zu sein. Auf meinem Weg habe ich gelernt, dass eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Welt, die dazu führt, dass unser Glaube und unsere Erkenntnis auf Beweisen basiert, uns nicht davon abhalten muss, die spirituellen und nichtphysischen Aspekte unseres Lebens zu schätzen. Andererseits muss uns die Wertschätzung des Geistigen und Nichtphysischen nicht davon abhalten, unsere Erfahrungen wissenschaftlich zu bewerten und unsere Überzeugungen und Erkenntnisse auf Beweise zu stützen.
Obwohl ich viel über das Sterben und das, was danach kommen könnte, gelernt habe, geht es hier nicht nur um den Tod. Dies ist auch ein Buch über das Leben und wie wir es leben, über den Wert des Mitgefühls und unsere gegenseitige Verbundenheit und darüber, was ein Leben sinnvoll und erfüllend macht.
Beim Schreiben dieses Buches ging es mir nicht darum, Sie von einem bestimmten Standpunkt zu überzeugen, sondern vielmehr darum, Sie zum Nachdenken zu bringen. Ich hoffe, zeigen zu können, dass eine wissenschaftliche Perspektive uns helfen kann zu verstehen, was uns Nahtoderfahrungen über das Leben und den Tod sagen und über das, was vielleicht nach dem Tod kommt. Indem ich den wissenschaftlichen Beweisen gefolgt bin, habe ich viel über Nahtoderfahrungen und ihre Bedeutung gelernt. Ich habe dieses Buch geschrieben, um meine Leidenschaft für diesen Weg mit Ihnen zu teilen. Mein Ziel ist es, Sie dazu zu motivieren, über die Fragen nachzudenken und die Antworten abzuwägen. Ich will Sie nicht dazu bringen, einer bestimmten Sichtweise zu glauben, sondern Ihre Ansichten über Leben und Tod neu zu bewerten. Ich bin kein Moses, der die Zehn Gebote übergibt. Ich bin ein Wissenschaftler, der mitteilt, was die Daten meiner Meinung nach nahelegen.
So verzweifelt ich meine gesamte Begegnung mit Holly auch aus meinem Gedächtnis löschen wollte, ich war zu diesem Zeitpunkt schon Wissenschaftler genug, um zu wissen, dass ich sie nicht einfach ignorieren konnte. Vorzugeben, dass etwas nicht passiert ist, nur weil wir es nicht erklären können, ist das genaue Gegenteil von Wissenschaftlichkeit. Meine Suche nach einer logischen Erklärung für das Rätsel um den Spaghettisaucenfleck hat bei mir dazu geführt, dass ich ein halbes Jahrhundert zu diesem Thema forschte. Diese Forschung hat nicht alle meine Fragen beantwortet, aber sie hat mich dazu gebracht, einige meiner Antworten infrage zu stellen. Und sie sollte mich bald auf ein Territorium führen, das ich mir im Traum nicht hätte vorstellen können.