Buch
Seit seiner Kindheit lebt Joel als Einzelgänger, der niemanden in sein Herz lässt. Nicht weil er das will – sondern weil er muss. Denn Joel hat Träume. Träume, die ihm die Zukunft der Personen zeigen, die er liebt. Oft weiß er schon Tage, Monate oder sogar Jahre im Voraus, was den Menschen um ihn herum passieren wird. Doch erzählen kann er es niemandem.
Callie träumt schon immer von den schönsten Orten dieser Welt, doch nach dem Tod ihrer besten Freundin lebt die junge Frau zurückgezogen und nimmt an den aufregenden Momenten des Lebens stets nur als stille Beobachterin teil. Das alles soll sich verändern, als sie Joel trifft und sich die beiden unsterblich ineinander verlieben.
Bis Joel von Callies Zukunft träumt …
Autorin
Holly Miller ist im englischen Bedfordshire geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium arbeitet sie unter anderem als Marketingleiterin, Redakteurin und Werbetexterin, ihre wahre Leidenschaft galt aber schon immer dem Schreiben von Geschichten. Die Autorin lebt mit ihrem Partner und ihrem Hund in Norfolk. »Ein letzter erster Augenblick« ist ihr erster Roman.
Weitere Informationen unter: www.hollymillerauthor.com
www.facebook.com/blanvalet und
www.twitter.com/BlanvaletVerlag
Holly Miller
Ein
letzter
erster
Augenblick
ROMAN
Deutsch von
Astrid Finke
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»The Sight of You« bei Hodder & Stoughton, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2020 by Holly Miller
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Daniela Bühl
Covergestaltung: © FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © Shutterstock.com (mamita; KatarinaF; Aristarh)
DN · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-25892-4
V002
www.blanvalet.de
Joel, es tut mir so leid. Dich so wiederzusehen … Warum bin ich nur in den Zug eingestiegen? Ich hätte auf den nächsten warten sollen. Es wäre egal gewesen. Meine Haltestelle habe ich sowieso verpasst, und wir kamen zu spät zur Hochzeit.
Weil ich den ganzen Weg nach London nur an dich denken konnte, daran, was auf dem Zettel stehen könnte, den du mir gegeben hast. Als ich ihn dann endlich auseinanderfaltete, starrte ich so lange darauf, dass ich schon an Blackfriars vorbei war, bis ich den Kopf wieder hob.
Es gab auch ein Meer von Dingen, die ich dir sagen wollte, musste. Aber ich hatte einfach einen Aussetzer, als ich dich sah. Vielleicht war es die Angst, zu viel zu sagen.
Aber was, wenn es das heute war, Joel? Was, wenn heute das letzte Mal war, dass ich dein Gesicht sehe, deine Stimme höre?
Die Zeit rast, und ich weiß ja, was kommt.
Ich wünschte, ich wäre geblieben. Nur noch ein paar Minuten. Es tut mir so leid.
Es ist ein Uhr nachts, und ich stehe mit bloßem Oberkörper an meinem Wohnzimmerfenster. Der Himmel ist klar und mit Sternen übersät, der Mond eine Murmel.
Jeden Moment wird mein Nachbar Steve die Wohnung über mir verlassen. Mit seinem wütend in der Babyschale zappelnden Töchterchen wird er zu seinem Auto gehen. Er fährt Poppy mitten in der Nacht durch die Gegend, versucht, sie durch das Brummen der Reifen und seine Playlist von Bauernhoftierlauten zu besänftigen.
Da ist er. Die schläfrig schleppenden Schritte auf der Treppe, Poppys Quengeln. Sein typisches Malträtieren unserer Haustür. Ich sehe ihn auf den Wagen zugehen, aufschließen, zögern. Er ist verwirrt, merkt, dass etwas nicht stimmt. Aber sein Gehirn hinkt noch hinterher.
Dann begreift er. Flucht, greift sich an den Kopf. Dreht ungläubig zwei Runden um das Auto.
Sorry, Steve, ja, alle vier Reifen. Eindeutig aufgestochen. Heute Nacht fährst du nirgendwohin.
Ein paar Sekunden lang ist er eine Statue, im Neonlicht der Straßenlaterne. Dann veranlasst ihn etwas, direkt in die Fensterscheibe zu sehen, durch die ich ihn beobachte.
Ich behalte die Nerven. Solange ich mich nicht rühre, muss es für ihn praktisch unmöglich sein, mich zu entdecken. Meine Jalousien sind geschlossen, die Wohnung still und dunkel wie eine Reptilienhöhle. Er kann nicht wissen, dass ich das Auge an eine einzelne Lamelle gedrückt habe. Dass ich alles verfolge.
Einen Moment lang verschmelzen unsere Blicke, dann wendet er sich ab und schüttelt den Kopf, während Poppy der Straße ein gut getimtes Brüllen spendiert.
Im Haus gegenüber geht ein Licht an. Ein heller Kegel trifft auf das dunkle Pflaster, eine genervte Stimme ertönt: »Ach, komm schon!«
Steve hebt die Hand und macht kehrt. Ich höre die beiden auf der Treppe, Poppy energisch heulend. Steve ist an unregelmäßige Zeiten gewöhnt, aber Hayley versucht bestimmt, zu schlafen. Sie hat erst vor Kurzem ihre Stelle in einer renommierten Londoner Kanzlei wieder angetreten, was bedeutet, dass sie sich nicht leisten kann, in Meetings einzunicken.
Trotzdem. Meine Aufgabe für heute ist erledigt. Ich streiche sie aus dem Notizbuch, setze mich aufs Sofa und öffne die Jalousielamellen, damit ich die Sterne betrachten kann.
Ich belohne mich mit einem Glas Whisky, denn das gönne ich mir bei besonderen Gelegenheiten. Dann mache ich einen doppelten daraus und trinke ihn zügig.
Zwanzig Minuten später bin ich bettreif. Ich bin auf eine ganz spezielle Form von Schlaf aus, und was ich heute Nacht getan habe, müsste mir dazu verhelfen.
»Er ist ja so heiß«, sagt meine über achtzigjährige Nachbarin Iris, als ich ein paar Stunden später bei ihr auftauche, um ihren gelben Labrador Rufus abzuholen.
Es ist noch keine acht Uhr, was möglicherweise erklärt, warum ich keinen Schimmer habe, von wem sie spricht. Ihr Nachbar Bill, der fast jeden Morgen mit dem neuesten Klatsch und Tratsch oder einem komischen Flugblättchen bei ihr vorbeischaut? Der Postbote, der uns gerade durchs Fenster fröhlich zugewinkt hat?
Postboten. Immer entweder albern gut gelaunt oder restlos griesgrämig. Nie ein Mittelweg.
»Zurzeit schläft er auf den Küchenfliesen, damit er es kühler hat.«
Ach natürlich. Sie meint den Hund. Das passiert mir häufiger, als mir lieb ist: zu erschöpft für eine simple Unterhaltung mit jemandem zu sein, der mindestens doppelt so alt wie ich ist. »Gute Idee.« Ich lächle. »Vielleicht probiere ich das auch mal aus.«
Sie wirft mir einen strengen Blick zu. »Damit werden Sie die Damen wohl kaum für sich einnehmen, oder?«
Ah genau, die Damen. Wer war das noch mal? Iris ist offenbar überzeugt, dass sie bei mir Schlange stehen, unbedingt ihr Leben auf Pause schalten möchten, um sich mit einem Kerl wie mir abzugeben.
»Wird ihm das auch nicht zu viel?« Sie deutet auf Rufus. »Da draußen in der Hitze?«
Ich war mal Tierarzt. Jetzt nicht mehr. Aber ich glaube, Iris fühlt sich durch meine Qualifikation beruhigt.
»Heute ist es kühler«, versichere ich ihr. Sie hat Recht damit, dass es in letzter Zeit warm war, es ist ja auch erst September. »Und wir gehen runter zum Bootsteich, eine Runde planschen.«
Sie grinst. »Sie auch?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich ziehe es vor, die öffentliche Ordnung erst nach Feierabend zu stören. Das macht es aufregender.«
Sie strahlt, als wären meine lahmen Witze das Highlight ihres Tages. »Wir haben so ein Glück, dass wir Sie haben, stimmt’s, Rufus?«
Man muss dazusagen, dass Iris selbst ziemlich toll ist. Sie trägt Ohrringe in Obstform und hat ein Premium-Abo bei Spotify.
Ich bücke mich, um Rufus anzuleinen, während er sich erhebt. »Er ist immer noch zu schwer, Iris. Das macht es für ihn nicht leichter bei der Hitze. Wie läuft es mit seiner Diät?«
Sie zuckt die Achseln. »Er riecht Käse aus hundert Metern Entfernung, Joel. Was soll ich sagen?«
Ich seufze. Seit fast acht Jahren halte ich Iris jetzt schon Vorträge über Rufus’ Ernährung. »Was hatten wir abgemacht? Ich gehe mit ihm spazieren, Sie kümmern sich um den Rest.«
»Ja, ja, ich weiß, ich weiß.« Sie scheucht uns mit dem Gehstock aus dem Wohnzimmer. »Aber ich kann seinem Blick einfach nicht widerstehen.«
Als ich im Park ankomme, habe ich insgesamt drei Hunde im Schlepptau. (Neben Rufus führe ich noch zwei andere für ehemalige Kunden aus, die nicht mehr so mobil sind. Es gibt noch einen vierten, eine Dogge namens Bruno. Aber der ist sozial inkompatibel und extrem kräftig, deshalb gehe ich mit ihm erst nach Einbruch der Dunkelheit Gassi.)
Obwohl die Luft über Nacht frischer geworden ist, halte ich mein Versprechen mit dem Bootsteich. Ich lasse die Hunde von der Leine, und meine Stimmung hebt sich, als sie wie Pferde ins Wasser galoppieren.
Ich atme durch. Rede mir zum wiederholten Male gut zu, dass ich letzte Nacht das Richtige getan habe.
Es musste sein. Denn die Sache ist die: Fast schon mein gesamtes Leben habe ich prophetische Träume. Klare, lebensechte Visionen, die mich aus dem Schlaf reißen. Sie zeigen mir, was passieren wird, Tage, Wochen, Jahre später. Und die Betroffenen sind immer Menschen, die ich liebe.
Die Träume kommen ungefähr einmal die Woche, das Verhältnis von gut zu schlecht zu neutral ist einigermaßen ausgewogen. Aber die düsteren Vorahnungen sind es, die ich am meisten fürchte: die Unfälle und Krankheiten, Schmerz und Unglück. Sie sind der Grund dafür, dass ich unentwegt nervös bin, immer in höchster Alarmbereitschaft. Dass ich mich ständig frage, wann ich zum nächsten Mal den Lauf des Schicksals umlenken, überstürzt in jemandes wohlbedachte Pläne eingreifen muss.
Oder, schlimmer noch, ein Leben retten.
Vom Ufer des Sees aus beobachte ich meine vierbeinigen Schützlinge, grüße ein Grüppchen Hundebesitzer aus wohlweislich weiter Ferne. Sie treffen sich meistens morgens an der Brücke, winken mich zu sich, falls ich den Fehler begehe, Augenkontakt herzustellen. Ich halte Abstand, seit sie anfingen, Tipps über guten Schlaf auszutauschen, und ihr Gespräch sich Hausmitteln und Therapien, Tabletten und Gewohnheiten zuwandte. (Ich verabschiedete mich höflich und verschwand. Seitdem bleibe ich für mich.)
Das Ganze betraf mich zu stark. Denn in meinem Streben nach einer traumlosen Nacht habe ich alles ausprobiert. Ernährungsumstellung, Meditation, Suggestion. Lavendel und weißes Rauschen. Milchgetränke. Schlaftabletten mit Nebenwirkungen, ätherische Öle. Ein Sportprogramm, das so krass war, dass ich mich zwischendurch übergeben musste. Mit Mitte zwanzig regelmäßig extreme Alkoholphasen in der irrigen Annahme, ich könnte meinen Schlafzyklus verändern. Aber Jahre des Experimentierens bewiesen, dass mein Zyklus unumstößlich ist. Und nichts konnte daran jemals rütteln.
Dennoch, schlichte Mathematik besagt, dass weniger Schlaf gleich weniger Träume ist. Deshalb bleibe ich dieser Tage bis in die frühen Morgenstunden auf, unterstützt vom Fernseher und einem ziemlich heftigen Koffeinkonsum. Danach gestatte ich mir ein kurzes, konzentriertes Ausruhen. Ich habe meinen Kopf darauf trainiert, damit zu rechnen, nach nur wenigen Stunden aus dem Schlaf geschreckt zu werden.
Weshalb ich auch jetzt dringend Kaffee brauche. Also pfeife ich die Hunde aus dem Wasser und laufe über den Pfad am Fluss entlang zurück. Auf der Straße rechts von mir kommt das richtige Leben allmählich in Gang. Berufsverkehr, Fahrradfahrer, Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit, Lieferwagen. Ein Orchester, das seine Instrumente für einen ganz gewöhnlichen Wochentag stimmt.
Es ruft in mir eine eigenartige Sehnsucht nach Normalität hervor. Im Augenblick habe ich nicht viele geistige Kapazitäten für Erwerbsarbeit, Freundschaften oder Gesundheit frei. Wegen der Sorgen und des Schlafmangels bin ich ständig kaputt, fahrig, zerstreut.
Damit mich die ganze Sache nicht ins Grab bringt, halte ich mich an einige nicht übermäßig strenge Regeln: täglich körperliche Bewegung, nicht zu viel Alkohol, keine Liebe.
Nur zwei Menschen habe ich in meinem Leben die Wahrheit gestanden. Und beim zweiten schwor ich mir, dass es das letzte Mal war. Weshalb ich auch Steve nicht erzählen kann, dass ich gestern Nacht auf eine schlimme Vorahnung in Bezug auf Poppy reagiert habe: mein Patenkind, das ich so liebe wie meine eigenen Nichten. Ich sah alles vor mir, den erschöpften Steve, der mit Poppy auf dem Rücksitz an der Kreuzung zu bremsen vergisst; seinen Wagen, der mit fünfzig Stundenkilometern gegen einen Laternenmast prallt. Nach dem Unfall musste das Baby aus dem Auto geschnitten werden.
Also ergriff ich die nötigen Maßnahmen. Womit ich mir diesen doppelten Whisky verdient hatte, wenn ich das mal so sagen darf.
Ich leine die Hunde wieder an und gehe nach Hause. Steve muss ich aus dem Weg gehen, zumindest ein Weilchen. Je länger ich den Kopf einziehen kann, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er mich mit dem gestrigen Vorfall in Verbindung bringt.
Sobald ich die Hunde abgegeben habe, werde ich mir ein Café suchen, um mich zu verkriechen, denke ich. Ein Plätzchen, wo ich still in einer Ecke meinen Kaffee trinken kann, anonym und unbeobachtet.
»Du kannst mir nicht erzählen, dass dir das noch nie passiert ist.« Dot und ich wischen nach Ladenschluss die Tische im Café ab und spekulieren über den Gast, der vorhin, ohne zu zahlen, gegangen ist. Das ist mein Lieblingsteil der Arbeit – durchatmen und den Tag Revue passieren lassen, den Raum wieder zum Glänzen bringen. Die Septemberluft draußen ist warm und zart wie Pfirsichhaut.
»Vielleicht war es wirklich keine Absicht«, sage ich.
Dot streicht sich durch die wasserstoffblonden Haare. »Mal ernsthaft. Wie lange arbeitest du schon hier?«
»Achtzehn Monate.« Je öfter ich es sage, desto unglaublicher klingt es.
»Achtzehn Monate, und du hattest noch keinen einzigen Zechpreller.« Dot schüttelt den Kopf. »Offenbar hast du das richtige Gesicht.«
»Er hat es bestimmt nur vergessen. Ich glaube, Murphy hat ihn abgelenkt.«
Murphy ist mein Hund, ein schwarz-brauner Mischling. Na ja, mehr oder weniger meiner. Jedenfalls führt er das Traumleben eines Café-Hunds, denn es mangelt hier nie an Leuten, die ihn streicheln und ihm heimlich Leckerbissen zustecken.
Dot schnaubt. »Das Einzige, was der vergessen hat, ist sein Geld.«
Ich habe ihn noch nie gesehen. Andererseits hatte ich viele unserer heutigen Gäste vorher noch nie gesehen. Normalerweise fängt morgens das Konkurrenz-Café oben am Hügel die meiste Kundschaft in Eversford ab, der Kleinstadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht habe. Aber das hatte heute ohne Vorwarnung zu, deshalb strömten die ganzen Bürogänger wortlos bei uns herein, mit ihren Nadelstreifen und ihrem Aftershave und ihren blank polierten Schuhen.
Dieser Gast war allerdings anders. Offen gestanden wäre es mir ein bisschen peinlich, Dot gegenüber zuzugeben, wie stark er mir aufgefallen ist. Er kann nicht auf dem Weg in irgendein Büro gewesen sein, denn seine dunklen Haare waren ungekämmt, und er wirkte unheimlich erschöpft, als hätte er eine harte Nacht hinter sich. Zuerst machte er beim Bestellen einen abwesenden Eindruck, aber als er mir endlich den Blick zuwandte, ließ er ihn unverwandt auf mir liegen.
Wir wechselten nicht mehr als ein paar Worte, aber ich weiß noch, dass er in den Pausen zwischen seinem fieberhaften Schreiben eine stumme Verbindung zu Murphy herstellte.
»Ich könnte mir vorstellen, dass er Schriftsteller ist. Er hatte ein Notizbuch dabei.«
Dot drückt ihren Widerspruch durch die Nase aus. »Schon klar, ein armer Poet. Typisch, sogar Diebstahl musst du romantisieren.«
»Mag ja sein, aber wenn es nach dir ginge, würde bei uns eins dieser Schilder wie an Tankstellen hängen. Wer nicht zahlen kann …«
»Hervorragende Idee.«
»Das war nicht als Vorschlag gemeint.«
»Vielleicht niete ich ihn beim nächsten Mal mit meinem besten Roundhouse-Kick um.«
Ich bezweifle nicht, dass der effektiv wäre. Dot hat vor Kurzem mit dem Kickboxen angefangen und betreibt es mit einer Energie, um die ich sie beneide. Sie macht jeden Hype mit, stürmt wie ein aus dem Käfig gelassenes Geschöpf durchs Leben. Im Gegensatz dazu glaubt sie, ich würde vor der Welt zurückschrecken, mich in die halbdunklen Ecken verkriechen, im hellen Licht blinzeln. Wahrscheinlich hat sie Recht.
»Kein Kung-Fu bei den Gästen«, sage ich. »Café-Vorschrift.«
»Es gibt ja sowieso kein nächstes Mal. Ich hab mir sein Gesicht gemerkt. Wenn ich ihn irgendwo in der Stadt sehe, verlange ich einen Zehner von ihm.«
»Er hatte nur einen Espresso.«
Sie zuckt die Achseln. »Das ist eben unsere Gebühr für Kaffee-Flucht.«
Grinsend gehe ich an ihr vorbei ins Büro, um die Bestellung für die morgige Lieferung auszudrucken. Ich bin erst eine Minute weg, da höre ich Dot rufen: »Wir haben geschlossen! Kommen Sie morgen wieder!«
Als ich den Kopf durch den Türrahmen stecke, erkenne ich die Gestalt vor der Scheibe. Und Murphy offenbar auch, denn er schnüffelt erwartungsfroh an den Scharnieren.
»Das ist er.« In meinem Magen kribbelt es leicht. Groß und schlank, graues T-Shirt, dunkle Jeans. Haut, die auf einen im Freien verbrachten Sommer schließen lässt. »Der Mann, der zu zahlen vergessen hat.«
»Ach.«
»Eins-a-Spürnase, Sherlock.«
Mit einem Grunzen öffnet Dot den Riegel und dreht den Schlüssel herum, zieht die Tür nur einen Spalt auf. Ich höre nicht, was er sagt, nehme aber an, dass er seine Rechnung begleichen möchte, da sie jetzt die Kette aushakt und ihn hereinlässt. Murphy schlittert rückwärts, schwanzwedelnd, mit tanzenden Pfoten.
»Ich hab vorhin gar nicht bezahlt«, sagt er mit entwaffnender Zerknirschtheit. »Aus Versehen. Hier.« Er gibt Dot einen Zwanziger, rubbelt sich durch die Haare, wirft mir einen Seitenblick zu. Seine Augen sind groß, dunkel wie feuchte Erde.
»Ich hole Ihnen Ihr Wechselgeld«, sage ich.
»Nein, das stimmt so. Danke. Entschuldigung.«
»Dann nehmen Sie doch was mit. Noch einen Kaffee, ein Stück Kuchen? Als Dankeschön, weil Sie so ehrlich waren.« Abgesehen von allem anderen scheint irgendetwas an seinem Auftreten um Nettigkeit zu flehen.
Es ist noch ein Rest Drømmekage da, ein saftiger dänischer Rührkuchen mit karamellisierten Kokosflocken, zu Deutsch Traumkuchen. Ich packe ein Stück ein und strecke ihm die Schachtel entgegen.
Er zögert kurz, reibt sich unsicher über die Stoppeln am Kinn. Dann nimmt er die Schachtel, und seine Fingerspitzen stupsen dabei meine an. »Danke.« Mit gesenktem Kopf geht er, und ein warmer Hauch samtiger Luft weht durch die Tür herein.
»Tja«, meint Dot. »Der war ja mal wortkarg.«
»Ich glaube, mit dem Kuchen hab ich ihn aus dem Konzept gebracht.«
»Was sollte das denn überhaupt? Noch einen Kaffee?«, äfft sie mich nach. »Ein Stück Drømmekage?«
Ich kann mir gerade noch verkneifen, rot zu werden. »Wenigstens ist er freiwillig zurückgekommen. Was beweist, dass du schrecklich zynisch bist.«
»Wohl kaum. Bei dem Riesenstück Kuchen hast du trotzdem kaum Gewinn gemacht.«
»Darum geht es nicht.«
Dot zieht eine Microblading-Augenbraue hoch. »Das sieht unser Chef möglicherweise anders. Oder zumindest sein Buchhalter.«
»Nein, Ben würde dir sagen, dass du mehr Vertrauen in die Menschheit haben musst. Du weißt schon, anderen eine Chance geben und so.«
»Also, was hast du heute sonst noch vor?« Mit belustigt funkelnden Augen geht Dot ins Büro, um ihre Jacke zu holen. »Für den guten Zweck draußen schlafen? Spontan eine Suppenküche einrichten?«
»Sehr witzig. Vielleicht gehe ich noch mal bei Ben vorbei, sehen, wie es ihm so geht.«
Darauf entgegnet Dot nichts. Sie findet, dass ich mich zu sehr von den Sorgen um Ben belasten lasse, zu viel meinen Erinnerungen nachhänge.
»Und du?«
Sie taucht wieder auf, die Sonnenbrille in die Haare geschoben. »Wasserski.«
Ich muss lächeln. Klar, was sonst?
»Komm doch mit.«
»Nein, ich bin von Natur aus tollpatschig.«
»Na und? Wasser ist weich.«
»Ach nein, ich geh besser …«
Sie sieht mich durchdringend an. »Du weißt, was ich denke, Cal.«
»Ja.«
»Schon bei Tinder angemeldet?«
»Nein.« Bitte nicht drängeln.
»Ich kann dich auch mit jemandem verkuppeln.«
»Ich weiß.« Dot kann alles. »Viel Spaß heute Abend.«
»Das würde ich dir ja auch wünschen, aber …« Sie zwinkert liebevoll. »Bis morgen.« Und in einer Abschiedswolke Gucci Bloom rauscht sie ab.
Als sie weg ist, schalte ich die Lampen eine nach der anderen aus und setze mich wie immer noch kurz ans Fenster, um den schwachen Duft nach Brot und Kaffeebohnen einzuatmen. Aus Reflex hole ich das Handy aus der Tasche, scrolle zu Grace’ Nummer und wähle.
Nein, das geht so nicht weiter. Schluss jetzt.
Ich lege auf und schalte den Bildschirm wieder aus. Sie anzurufen ist eine Angewohnheit, die ich in letzter Zeit abzulegen versuche, aber ihren Namen auf meinem Handy zu lesen, gibt mir immer Auftrieb wie ein heller Sonnenstrahl an einem schuttgrauen Tag.
Als ich schließlich den Blick durchs Fenster richte, begegnet er unerwartet den aufmerksamen, torfdunklen Augen des Notizbuch-Manns von vorher. Nach dem ersten Schreck verziehe ich den Mund zu einem Lächeln, aber ich bin zu langsam – er sieht auf den Boden und verwandelt sich in einen Schatten, der zügig in das weiche Abendlicht verschwindet.
Die Kuchenschachtel hat er nicht mehr in der Hand. Entweder hat er ihn schon gegessen oder in den erstbesten Mülleimer geworfen.
Mit einem Ruck wache ich um zwei Uhr nachts auf. Ich stehe leise auf und nehme mir mein Notizbuch, um sie nicht zu stören.
Das warme Wetter der letzten Woche ist vorbei und die Wohnung ein bisschen kalt. Ich ziehe mir einen Kapuzenpulli und eine Jogginghose an und gehe in die Küche.
Dort setze ich mich an die Frühstückstheke und schreibe alles auf.
Mein jüngerer Bruder Doug wird jedenfalls begeistert sein. Ich habe geträumt, dass seine Tochter Bella mit zehn Jahren ein Sportstipendium an der örtlichen Privatschule erhält. Als eine der besten Schwimmerinnen im ganzen Landkreis wird sie offenbar jedes Wochenende säckeweise Medaillen gewinnen. Seltsam, wie sich manches entwickelt. Doug bekam als Kind in unserem Schwimmbad Hausverbot, nachdem er eine Arschbombe zu viel gemacht und dem Bademeister den Stinkefinger gezeigt hatte.
Noch ist Bella keine drei. Aber Doug ist der Ansicht, dass man Potenzial nicht früh genug fördern kann. Den vierjährigen Buddy schickt er schon zum Tennis, und bei Britain’s Got Talent holt er sich Tipps für ehrgeizige Eltern.
Wobei mein Traum andererseits bestätigt, dass es sich auszahlen wird. Ich mache mir eine Notiz, ihm gegenüber möglichst bald Schwimmvereine in unserer Gegend zu erwähnen, und unterstreiche sie dreimal.
»Joel?«
Melissa beobachtet mich aus dem Türrahmen, reglos wie eine Spionin.
»Schlecht geträumt?«
Ich schüttle den Kopf, sage ihr, dass der Traum gut war.
Melissa trägt ein T-Shirt von mir und wird es wahrscheinlich auch mit nach Hause nehmen. Sie glaubt, so was wäre süß. Ich hingegen finde es unschön, ein Inventar von meinem eigenen Kleiderschrank erstellen zu müssen.
Jetzt kommt sie zu mir, hüpft auf einen Hocker. Schlägt die nackten Beine übereinander, fährt sich durch die dunkelblonde Mähne. »Kam ich drin vor?« Sie zwinkert auf eine Art, die gleichzeitig neckisch und unverschämt ist.
Offen gestanden wäre das unmöglich, möchte ich sagen, lasse es aber. Sie weiß nicht, was für eine Art Träume ich habe, und so wird es auch bleiben.
Seit mittlerweile fast drei Jahren treffen Melissa und ich uns ungefähr einmal im Monat, normalerweise ohne viel Kontakt dazwischen. Steve hat sich schon öfter, als mir lieb ist, mit ihr unterhalten, als glaubte er, es würde sich lohnen, sie kennenzulernen. Selbst Melissa findet die Vorstellung amüsant und passt ihn im Flur ab, nur um mich zu provozieren.
Ich werfe einen Seitenblick auf die Küchenuhr. Unterdrücke ein Gähnen. »Es ist mitten in der Nacht. Geh doch wieder ins Bett.«
»Nee.« Sie seufzt träge, zupft an einem Fingernagel. »Jetzt bin ich wach. Da kann ich genauso gut mit dir aufbleiben.«
»Wann musst du ins Büro?« Sie arbeitet in der Presseabteilung der Londoner Geschäftsstelle eines afrikanischen Bergbauunternehmens. Ihre Schichten fangen häufig schon um sechs Uhr an.
»Zu früh.« Sie verdreht missmutig die Augen. »Ich melde mich krank.«
Eigentlich hatte ich gleich morgens einen Hundespaziergang mit meinem Freund Kieran geplant und wollte danach in dem Café frühstücken. Ich war jetzt schon mehrmals dort nach dem peinlichen Auftritt letzte Woche, als ich zu zahlen vergaß.
Anfangs, muss ich zugeben, empfand ich eine Art moralische Verpflichtung dazu. Aber inzwischen liegt es mehr an dem Hund und dem großartigen Kaffee. Und dem freundlichen Empfang, obwohl ich bei meinem ersten Besuch nicht gerade ein vorbildlicher Gast war.
»Ehrlich gesagt habe ich schon was vor.« Sofort zieht sich mein Magen vor schlechtem Gewissen zusammen.
Sie legt den Kopf schief. »Charmant, charmant. Weißt du, ich kapiere immer noch nicht, warum du single bist.«
»Du bist doch auch single«, gebe ich zurück, wie jedes Mal.
»Schon. Aber ich bin es freiwillig.«
Das ist eine von Melissas Theorien. Dass ich unbedingt eine Beziehung möchte, kaum erwarten kann, jemandes fester Freund zu sein. Bevor wir uns kennenlernten, war ich fünf Jahre allein, ein Umstand, an dem sie sich ergötzt wie eine Katze an einer Maus. Manchmal schimpft sie mich sogar, ich würde zu sehr klammern, wenn ich ihr nach einem Monat Funkstille eine Nachricht schreibe, ob sie Lust auf Pizzaflitzer hat.
Aber sie irrt sich. Ich war von Anfang an offen mit ihr, habe sie gefragt, ob es für sie okay ist, die Sache mit uns unverbindlich zu halten. Sie lachte und sagte Ja. Meinte sogar, ich sei ganz schön eingebildet.
»Weißt du, eines Tages schlage ich dein Notizbuch auf, während du schläfst, und lese mir genau durch, was du da reinschreibst.«
Ich lache auf und senke den Blick, traue mich nicht, darauf zu antworten.
»Könnte ich es an die Zeitung verkaufen?«
Vielleicht ja: Es steht alles drin. Ein Traum pro Woche seit achtundzwanzig Jahren, und seit ich zweiundzwanzig bin, mache ich mir Aufzeichnungen.
Ich notiere alles, falls ich handeln muss. Aber von Zeit zu Zeit muss ich zusehen, wie ein schlimmer Traum seinen Verlauf nimmt. Wenn sie nicht so ernst sind oder ich keine Möglichkeit zum Eingreifen sehe, unternehme ich nichts. Keins von beidem ist ideal für einen Mann von meinem Gemüt.
Dennoch. Wie Diamanten im Staub glitzern schönere Träume zwischen den schlechten. Beförderungen, Schwangerschaften, kleine Glücksfälle. Und dann gibt es die öden, über das Alltägliche des Lebens. Haarschnitte und Supermärkte, Hausarbeit und Schulaufgaben. Dann sehe ich zum Beispiel, was Doug zum Abendessen hat (Innereien, echt jetzt?). Oder ich erfahre, ob Dad auf Platz eins in der örtlichen Badminton-Liga aufsteigt oder meine Nichte ihren Turnbeutel vergisst.
Die relevanten Daten und Uhrzeiten sind in meinem Kopf präsent, wann immer ich aufwache. Sie sind dort verankert wie mein eigener Geburtstag oder Weihnachten.
Ich achte auf alles, selbst das Harmlose. Halte es in meinem Notizbuch fest. Falls sich irgendwo ein Muster, ein Hinweis versteckt. Etwas, das zu übersehen ich mir nicht erlauben kann.
Jetzt schiele ich nach dem Heft auf der Arbeitsfläche. Bereite mich innerlich darauf vor, dass Melissa es mir wegzunehmen versucht. Sie merkt es sofort und lächelt süßlich, fordert mich auf, mich locker zu machen.
»Möchtest du einen Kaffee?«, frage ich, um das Funkeln in ihren Augen zu dämpfen. Gleichzeitig tut es mir ein wenig leid. Trotz ihres selbstbewussten Auftretens hätte sie sicher nichts dagegen, wenigstens einmal herzukommen und ihre vollen acht Stunden zu bekommen wie ein normaler Mensch.
»Weißt du, bei deinem vielen Geld könntest du dir doch wohl eine anständige Maschine leisten. Niemand trinkt heute noch Instantkaffee.«
Aus dem Nichts schiebt sich ein Bild des Cafés vor mein geistiges Auge. Von Callie, die mir meine Tasse hinstellt, und von dem Blick aufs Kopfsteinpflaster von meinem Platz am Fenster aus. Das beunruhigt mich leicht, und ich verdränge es, löffle Pulver in zwei Becher. »Welches viele Geld?«
»Wie du immer tust, als wärst du arm, toll. Früher warst du Tierarzt, und jetzt arbeitest du nicht.«
Das stimmt nur zum Teil. Ja, ich habe Ersparnisse. Aber nur weil ich rechtzeitig erkannte, dass mein Job auf dem Spiel stand. Und das Geld wird nicht ewig reichen.
»Zucker?«, frage ich, um sie vom Thema abzulenken.
»Ich bin süß genug.«
»Darüber kann man streiten.«
Darauf lässt sie sich nicht ein. »Also, machst du’s?«
»Was?«
»Dir eine richtige Kaffeemaschine kaufen.«
Ich verschränke die Arme und drehe mich zu ihr um. »Für das eine Mal im Monat, wenn du herkommst?«
Wieder zwinkert sie. »Weißt du, wenn du mal anfangen würdest, mich anständig zu behandeln, bestünde vielleicht die Chance, dass sich aus uns was entwickelt.«
Ich erwidere das Zwinkern und klopfe mit dem Löffel an den Becher. »Dann also Instant.«
Meinen ersten prophetischen Traum hatte ich mit gerade mal sieben Jahren, als ich mit meinem Cousin Luke so eng befreundet war, wie man nur sein kann. Unsere Geburtstage lagen nur drei Tage auseinander, und wir verbrachten jede freie Minute zusammen. Computerspiele, Fahrradfahrten, mit den Hunden durch die Gegend ziehen.
Eines Nachts träumte ich, dass Luke, als er die übliche Abkürzung über den Spielplatz zur Schule nahm, aus dem Nichts von einem schwarzen Hund angegriffen wurde. Ich wachte um drei Uhr auf, gerade als der Hund sein Gebiss um Lukes Gesicht klammerte. Wie eine Migräne pochte in meinem Kopf das Datum, an dem es passieren sollte.
Mir blieben nur Stunden, um es aufzuhalten.
Bei einem nicht angerührten Frühstück erzählte ich meiner Mutter alles, flehte sie an, Dads Schwester anzurufen, Lukes Mutter. Sie weigerte sich ganz ruhig, versicherte mir, es sei nur ein böser Traum gewesen. Versprach mir, dass Luke vor der Schule auf mich warten würde, gesund und munter.
Aber Luke wartete nicht gesund und munter vor der Schule. Also rannte ich zu ihm nach Hause, so schnell, dass ich Blut in der Kehle schmeckte. Ein Mann, den ich nicht kannte, öffnete die Tür. Er ist im Krankenhaus, teilte er mir schroff mit. Wurde heute Morgen auf dem Spielplatz von einem Hund gebissen.
Am Abend rief meine Mutter meine Tante an und erfuhr von ihr alle Einzelheiten. Ein schwarzer Hund hatte Luke auf dem Weg zur Schule angefallen. Er brauchte plastische Chirurgie am Gesicht, linkem Arm und Hals. Er hatte Glück, noch am Leben zu sein.
Nachdem sie aufgelegt hatte, setzte meine Mutter sich mit mir im Wohnzimmer aufs Sofa. Dad war noch nicht zu Hause. Ich kann mich noch an den Duft der Hühnersuppe erinnern, die sie mir gekocht hatte. Das seltsam tröstliche Geräusch meiner oben streitenden Geschwister.
»Das war nur ein Zufall, Joel«, sagte Mum immer wieder. (Heute frage ich mich, ob sie sich selbst zu überzeugen versuchte.) »Verstehst du? So was kommt vor.«
Damals arbeitete meine Mutter in Dads Buchhaltungsfirma. Sie verdiente ihr Geld wie er, mit logischem Denken, Überprüfung von Fakten. Und Fakt war, Menschen konnten nicht hellsehen.
»Aber ich wusste, dass es passiert«, schluchzte ich verzweifelt. »Ich hätte es aufhalten können.«
»Ich weiß, dass es für dich so scheint, Joel«, flüsterte sie. »Aber es war nur ein Zufall. Das darfst du nicht vergessen.«
Wir erzählten es niemandem. Dad hätte es als Wahnvorstellung abgetan, und meine Geschwister waren noch zu klein, um zu verstehen oder sich auch nur darum zu kümmern. Das bleibt einfach unter uns, sagte Mum. Und so war es dann.
Selbst heute noch kennt der Rest meiner Familie die Wahrheit nicht. Sie glauben, ich wäre überängstlich und paranoid. Dass meine wirren Warnungen und manischen Einmischungen unbewältigter Trauer um Mum entspringen. Doug findet, ich sollte Pillen dagegen nehmen, weil Doug glaubt, es gäbe für alles Pillen. (Spoiler: Gibt es nicht.)
Ahnt meine Schwester Tamsin, dass mehr dahintersteckt? Möglich. Aber ich bleibe absichtlich vage, und sie fragt nicht nach.
Ich kann nicht behaupten, dass ich noch nie versucht gewesen wäre, ihnen alles zu erzählen. Aber wenn ich den Drang dazu verspüre, muss ich nur an das eine Mal zurückdenken, als ich so naiv war, mich an einen Fachmann zu wenden. Der Hohn in seinem Blick und der spöttisch verzogene Mund reichten, um mir zu schwören, mich nie wieder jemandem anzuvertrauen.
An einem Freitagabend Mitte September bekomme ich einen typisch frustrierenden Anruf von meinem Hausverwalter.
»Leider schlechte Nachrichten, Miss Cooper.«
Ich runzle die Stirn, erinnere Ian daran, dass er mich gern Callie nennen darf – im Laufe der Jahre hatten wir genug miteinander zu tun.
Langsam wiederholt er meinen Vornamen, als schriebe er ihn zum allerersten Mal auf. »Na gut. Also, Mr. Wright hat uns gerade mitgeteilt, dass er seine Immobilie verkauft.«
»Welche Immobilie? Was?«
»Ihre Wohnung. Zweiundneunzig B. Nein, Moment, C.«
»Schon gut, ich kenne meine Adresse. Sie wollen mich wirklich rausschmeißen?«
»Sagen wir lieber, wir kündigen Ihnen das Mietverhältnis. Sie haben einen Monat.«
»Aber warum? Warum verkaufen?«
»Nicht mehr rentabel.«
»Ich bin ein Mensch. Ich bin rentabel. Ich zahle Miete.«
»Regen Sie sich bitte nicht auf.«
»Glauben Sie, der Käufer will auch vermieten? Vielleicht freut er sich, wenn er sich nicht extra neue Mieter suchen muss?«
»Oh nein. Er will die Wohnung definitiv leer. Er muss sie aufhübschen.«
»Gut zu wissen. Nur dass ich nicht weiß, wohin.«
»Sie leben doch nicht von Sozialhilfe, oder?«
»Nein, aber …«
»Momentan gibt es reichlich Angebote. Ich maile Ihnen ein paar.«
Die Wohnung gekündigt zu bekommen, stelle ich fest, ist unfassbar deprimierend. »Toller Start ins Wochenende, Ian.« Ich frage mich, ob er all seine Kündigungstelefonate freitagabends führt.
»Ja? Kein Problem.«
»Nein, das war … Bitte«, sage ich verzweifelt, »könnten Sie mir was mit einem richtigen Garten suchen?« Meine Wohnung liegt im obersten Stock, deshalb habe ich zu unserem Garten keinen Zugang, aber selbst wenn, wäre es, wie sich auf einen Schrottplatz zu setzen. Er ist fast vollständig asphaltiert und steht voll mit Müll – rostige Sonnenliegen, eine kaputte Wäschespinne, eine Sammlung von vergammelten Küchenstühlen und drei nicht mehr benutzte Schubkarren. Ungepflegt stört mich nicht, ein Hauch von Chaos ist so viel besser als ein steriler Musterhausgarten, aber dieser hier ist ein ständiges Tetanusrisiko.
Ian gluckst. »Budget immer noch das gleiche?«
»Wenn überhaupt, dann niedriger.«
»Witzig. Ach, und, Callie, ich gehe mal davon aus, dass Sie das mit den Bienen geregelt haben?«
»Bienen?«, frage ich unschuldig.
Ian zögert. Ich höre ihn hektisch mit dem Zeigefinger klopfen. »Na ja, da war doch so was. Die sind unter dem Sims neben Ihrem Wohnzimmerfenster ein- und ausgeflogen.«
Das stimmt. Ich glaube, das Paar von nebenan hat das gemeldet. Als Ian mich deshalb anrief, habe ich ihn damit abgewimmelt, dass ich einen Freund hätte, der mir helfen könne. Es überrascht mich gar nicht, dass er jetzt erst auf die Idee kommt, nachzufragen, Monate später.
Ich wollte so gern das fröhliche kleine Heim beschützen, das die Bienen sich dort bauten. Sie richteten keinen Schaden an – im Gegensatz zu ihren Denunzianten, die wenige Tage nach dem Einzug schon ihren Garten zugepflastert und sämtliches Gras durch Kunstrasen ersetzt hatten.
»Klar doch«, sage ich munter. »Alles wieder im Lot.«
»Wunderbar. Wir wollen ja nicht, dass sie dort Winterschlaf halten.«
Ich grinse. Das Nest ist mit Sicherheit jetzt leer, die Bienen längst weg. »Um genau zu sein, halten Bienen keinen …«
»Wie bitte?«
»Ach nichts.«
Als ich aufgelegt habe, haue ich mit dem Kopf an die Sofalehne. Im Alter von vierunddreißig obdachlos. Na, wenn das mal keine Ausrede für einen Litereimer Eis ist.
Im Nachbargarten wuchs ein Weißdorn, bevor die Nachbarn ihn ausrissen, um Platz für diesen Pseudoparkplatz zu machen. Er stand zu dem Zeitpunkt in voller Blüte. Die durch die Luft fliegenden Dolden, als sie den Baum in den gemieteten Container warfen, riefen mir windige Frühlingstage aus meiner Kindheit ins Gedächtnis, an denen ich ausgelassen durch das Konfetti der Natur rannte, angefeuert von meinem Vater.
Sie erinnerten mich außerdem an den Weißdorn, den ich von meinem Schreibtisch bei dem Dosenhersteller sehen konnte, bei dem ich früher arbeitete. Ich liebte ihn, dieses einsame Zeichen von Leben auf der Betonfläche des Gewerbegebiets. Vielleicht hatte ihn ein Vogel gepflanzt oder jemand, dem so verzweifelt zumute war wie mir damals. Jahrelang beobachtete ich ihn im Verlauf der Jahreszeiten, bestaunte die Blütenknospen im Frühling, das üppig grüne Laub im Sommer und die rote Pracht des Herbstes. Ich liebte ihn sogar im Winter, empfand die Geometrie seiner kahlen Äste als genauso schön wie eine Skulptur in einer Galerie.
In jeder Mittagspause ging ich hin, manchmal nur, um die Rinde zu berühren oder in die Krone hinaufzusehen. An wärmeren Tagen aß ich mein Sandwich darunter, auf der Kante der Begrenzung hockend. In meinem dritten Sommer dort hatte jemand offenbar Mitleid mit mir bekommen und eine alte Holzbank dort abgestellt.
Doch zu Beginn meines sechsten Sommers bei der Firma wurde der Baum gefällt und stattdessen ein Raucherunterstand gebaut. Es fiel mir schwer, zu erklären, warum es mir so wehtat, dort, wo vorher Blätter und Zweige gewesen waren, einen Haufen grauer Gesichter zu sehen, die unter dieser Plexiglaskuppel ausdruckslos ins Leere starrten.
Jetzt sehe ich aus dem Fenster auf die Stelle, an der früher der Weißdorn stand. Wahrscheinlich sollte ich mich an den Computer setzen und mit der Suche nach einer neuen Bleibe beginnen. Komisch, wie leicht es für einen Menschen ist, einen anderen Menschen zu entwurzeln, wenn er am wenigsten damit rechnet.
Ich bin unten am Fluss und denke darüber nach, was vorhin passiert ist. Oder nicht passiert ist. Schwer zu sagen.
Es war seltsam, als Callie mir im Café meinen doppelten Espresso brachte. Unsere Blicke trafen sich, mir strich eine Hitze über die Haut, und ich hatte Mühe, die Augen von ihr zu lösen.
Iris mit braunen Pünktchen darin, wie Sonnenlicht auf Sand. Lange, unkomplizierte Haare in der Farbe von Kastanien. Ein Teint wie blasseste Vanille. Und ein hinreißendes Lächeln, das unmöglich mir gelten konnte.
Aber offenbar mir galt.
Callie deutete mit dem Kopf auf Murphy, der an meinem Knie lehnte und sich genüsslich am Kopf kraulen ließ. »Ich hoffe, er nervt dich nicht.«
Während meiner inzwischen fast täglichen Besuche im Café im Laufe der letzten Woche habe ich ein ziemlich enges Verhältnis zu ihrem Hund aufgebaut. »Der hier? Aber nein. Wir haben eine Abmachung.«
»Nämlich?«
»Er leistet mir Gesellschaft, und ich werfe ihm Kuchenkrümel hin, wenn du nicht aufpasst.«
»Möchtest du welchen?« Ein freundliches Lächeln. »Wir haben gerade ein frisches Blech Traumkuchen reingekriegt.«
»Was bitte?«
»Den Drømmekage. Das ist Dänisch für ›Traumkuchen‹.«
Ich fand den Namen grauenhaft. Aber seien wir mal ehrlich, dieser Kuchen ist das kulinarische Äquivalent zu Crack. »Ja, gern, danke.«
Sie kam fast sofort zurück und stellte einen Teller mit einem überdimensionierten Stück vor mir ab. »Guten Appetit.«
Wieder trafen sich unsere Blicke. Wieder konnte ich mich nicht abwenden. »Danke.«
Sie blieb noch stehen. Nestelte an ihrer Kette. Sie war rotgold und zart, eine Schwalbe im Flug. »Und, viel zu tun? Bist du auf dem Weg zur Arbeit?«
Zum ersten Mal seit Langem störte es mich, das nicht mit Ja beantworten zu können. Absolut nichts Interessantes über mich zu erzählen zu haben. Ich weiß nicht mal genau, warum ich das wollte. Sie hatte einfach so etwas an sich. Wie sie sich bewegte, das Leuchten ihres Lächelns. Dieses Lachen, voll und süß wie der Duft des Frühlings.
Reiß dich zusammen, Joel.
»Ich hab da so eine Theorie über dich«, sagte sie daraufhin.
Kurz dachte ich an Melissa, die schon genug Theorien über mich entwickelt hat, um eine zentnerschwere, inhaltlose Doktorarbeit zu schreiben.
»Ich glaube, du bist Schriftsteller.« Callie zeigte auf mein Notizbuch.
Wieder hatte ich das Bedürfnis, sie zu beeindrucken. Sie irgendwie zu faszinieren, etwas Gewinnendes zu sagen. Wenig überraschend versagte ich. »Nur unzusammenhängendes Gefasel, fürchte ich.«
Sie wirkte nicht allzu enttäuscht. »Und was machst du …«
Plötzlich rief hinter uns ein Gast nach ihr. Als ich mich umdrehte, flitzte Dot von Tisch zu Tisch und lächelte entschuldigend.
Callie lächelte. Legte den Kopf schief Richtung Theke. »Tja, ich muss wohl mal wieder.«
Er war seltsam, der Drang, die Hand nach ihr auszustrecken, als sie ging. Sie sanft zu mir zurückzuziehen, mich wieder von ihrer Gegenwart wärmen zu lassen.
Vor langer Zeit habe ich mir antrainiert, mich nicht mit flüchtiger Anziehung aufzuhalten. Aber das hier ging viel tiefer, ein Gefühl, das ich seit Jahren nicht hatte. Als hätte sie einen Teil von mir zum Leben erweckt, den ich dachte ein für alle Mal begraben zu haben.
Bald danach ging ich. Widerstand dem Reflex, mich auf dem Weg nach draußen zu ihr umzusehen.
»Joel! Hey, Joel!«
Ich bin noch damit beschäftigt, die Begegnung mit Callie aus meinem Kopf zu verdrängen, als ich merke, dass ich gerufen werde. Normalerweise ist das nicht die beste Art, meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich erkenne die Stimme. Es ist Steve, und er verfolgt mich.
Seit ich ihm letzte Woche die Reifen zerstochen habe, gehe ich ihm aus dem Weg. Jetzt allerdings holen mich meine Schandtaten offenbar buchstäblich ein.
Ich hätte gute Lust, zum See zu sprinten und mit meinem kleinen Hunderudel eine Flucht per Tretboot zu versuchen. Dann fällt mir allerdings ein, dass Steve definitiv schneller ist als ich und mich zu Boden ringen könnte, und zwar innerhalb von ungefähr zehn Sekunden.
Steve ist Personal Trainer, er veranstaltet widerwärtige Outdoor-Sportkurse für Menschen mit masochistischen Neigungen. Er muss gerade einen abgehalten haben, denn er trinkt schwitzend einen riesigen Protein-Shake. In Jogginghose, Turnschuhen und einem Shirt, das aussieht wie auf seinen Körper gesprüht, trabt er hinter mir her.
»Hallo, Meute«, sagte er zu meinen drei Hunden.
Er wirkt entspannt. Das könnten natürlich auch noch die Endorphine sein. Ich gehe zielstrebig weiter, bleibe auf der Hut. Wenn er mich auf seine Reifen anspricht, werde ich alles abstreiten.
»Wie läuft’s, Kumpel?«
Oder ich sage einfach gar nichts.
Steve kommt direkt auf den Punkt, denn so ist er. »Joel, ich weiß, dass du das mit meinen Reifen letzte Woche warst.« Seine Stimme ist leise, aber fest, als wäre ich ein Kind, das er beim Zigarettenklauen erwischt hat. »Ich hab rumgefragt, Rodney hat für mich die Aufnahmen seiner Überwachungskamera überprüft. Ist alles drauf.«
Aha, Rodney. Die Augen unserer Straße. Eine Ein-Mann-Bürgerwehr. Ich hätte wissen müssen, dass er mein Untergang sein wird. Die Hinweise häufen sich seit Monaten, seit er sich einen Breitbandanschluss besorgt hat, um der Polizei seine Videos schicken zu können.
Selbstvorwürfe plagen mich. Ich möchte etwas sagen, weiß aber nicht, was. Also stecke ich nur meine Hände noch tiefer in die Taschen und laufe weiter.
»Weißt du«, sagte Steve, »hinterher hast du den Kopf an den Radkasten gelehnt. Du hattest ein schlechtes Gewissen, stimmt’s?«
Natürlich hatte ich das, alle guten Gründe mal beiseite. Denn seit so vielen Jahren jetzt ist Steve für mich mehr wie ein Bruder als ein Freund.
»Ich weiß, dass du das eigentlich nicht wolltest. Also sag mir einfach, warum.«
Schon der bloße Gedanke an dieses Gespräch fühlt sich an, wie an einer Felskante zu stehen. Rasender Herzschlag, kribbelnde Haut, Worte, die in meinem Mund zu Sägespänen vertrocknen.
»Ich musste es Hayley erzählen«, sagt Steve, als ich ihn nicht aufkläre.
Das überrascht mich nicht: Die beiden funktionieren als Paar. Erzählen sich alles, verheimlichen nichts.
»Sie ist nicht begeistert. Besser gesagt ist sie stinksauer. Sie versteht einfach nicht, was zum Henker du dir dabei gedacht hast. Ich meine, ich hatte Poppy dabei …«
»Die Reifen waren total platt. Du hättest unmöglich wegfahren können, selbst wenn du es probiert hättest.«
Jetzt fasst Steve mich am Arm und bleibt stehen. Der Griff ist so kräftig, dass er mich ziemlich hilflos macht: Ich bin gezwungen, ihm in die Augen zu sehen.
»Poppy ist dein Patenkind, Joel. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, mir zu sagen, warum.«
»Es war nicht … Ich verspreche dir, dass ich einen guten Grund hatte.«
Er wartet darauf, ihn zu hören.
»Tut mir leid, ich kann es nicht erklären. Aber es war nicht böswillig.«
Seufzend lässt er mich los. »Hör mal, Joel, das Ganze bestätigt irgendwie, worüber Hayley und ich schon seit einer Weile nachdenken. Jetzt mit Poppy brauchen wir sowieso mehr Platz, deshalb sollte ich dir sagen: Wir tun es. Wir ziehen aus.«
Ein Seufzen des Bedauerns. »Schade.« Er muss das unbedingt wissen. »Das finde ich ehrlich schade.«
»Wahrscheinlich verkaufen wir nicht. Zumindest nicht sofort, wir vermieten erst mal. Der Kredit ist fast abgezahlt, also …« Er stockt, sieht mich an, als hätte er etwas wirklich Anstößiges gesagt. »Das habe ich gerade in meinem Hinterkopf gehört. Was für ein Mittelschichtsarschloch.«