Buch
Madeleine »Max« Maxwell freut sich auf ein friedvolles Leben an der Seite ihres geliebten Leon. Leider hält der Frieden nicht mal bis zum Mittagessen … Die Zeitpolizei taucht auf, um Max für ein Verbrechen zu verhaften, das sie nicht begangen hat – zumindest nicht in diesem Universum. Max und Leon bleibt nur die Flucht durch die Zeit, ein abenteuerlicher Trip ins Alte Ägypten, bis sie schließlich getrennt werden und Max sich allein den Schergen der Zeitpolizei stellen muss. Doch erst im St. Mary’s-Institut für historische Forschung, wo alles begann, wird die wilde Jagd durch die Zeit enden …
Autorin
Jodi Taylor war die Verwaltungschefin der Bibliotheken von North Yorkshire County und so für eine explosive Mischung aus Gebäuden, Fahrzeugen und Mitarbeitern verantwortlich. Dennoch fand sie die Zeit, ihren ersten Roman »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« zu schreiben und als E-Book selbst zu veröffentlichen. Nachdem das Buch über 60 000 Leser begeisterte, erkannte endlich ein britischer Verlag ihr Potenzial und machte Jodi Taylor ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte. Ihre Hobbys sind Zeichnen und Malerei, und es fällt ihr wirklich schwer zu sagen, in welchem von beiden sie schlechter ist.
Die chaotischen Abenteuer der zeitreisenden Madeleine »Max« Maxwell bei Blanvalet:
1. Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv
2. Doktor Maxwells chaotischer Zeitkompass
3. Doktor Maxwells skurriles Zeitexperiment
4. Doktor Maxwells wunderliches Zeitversteck
Weitere Titel in Vorbereitung
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Roman
Deutsch von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »A Trail Through Time (The Chronicles of St. Mary’s Book 4)« bei Accent Press, Cardiff Bay.
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Copyright der Originalausgabe © 2015 by Jodi Taylor
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com (Michal Sanca; VectorPixelStar)
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26651-6
V001
www.blanvalet.de
Dieses Buch ist allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – gegenwärtigen und früheren – des North-Yorkshire-Bibliotheksdienstes gewidmet.
Danke für eure Geduld und eure Freundschaft in all diesen langen, dunklen Jahren voller Angst und Mühsal.
Und wieder einmal rannte ich.
Ich rannte, verflucht noch mal, ständig.
Im Laufe der Jahre war ich vor Jack the Ripper weggelaufen, vor blutrünstigen Dinosauriern, einem Mob aufgebrachter Bürger von Cambridge, die ganz versessen darauf gewesen waren, mich wegen des Diebstahls eines Spiegels und Hexerei anzuklagen – und vor assyrischen Soldaten. Was immer einem einfällt, ich bin davor abgehauen. Mit unterschiedlich viel Erfolg.
Was ich hier eigentlich sagen will: Ich hatte bisher immer gewusst, wovor ich wegrannte. Nur selten hatte ich eine Ahnung, wohin ich flüchtete – ich bin Historikerin, und wir planen nicht immer so weit im Voraus. Aber wovor ich floh, wusste ich in der Regel schon.
In diesem Fall bedauerlicherweise nicht. In diesem Fall rannte ich um mein Leben und hatte keinen verdammten Schimmer, warum.
Was jetzt folgt, ist schwer zu erklären. Wir müssen uns alle konzentrieren, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich das selbst verstehe.
Ich bin Madeleine Maxwell, eine Historikerin. Ich arbeite für das St. Mary’s-Institut für Historische Studien. Wir untersuchen größere geschichtliche Ereignisse in zeitgenössischer Umgebung. Okay, wir unternehmen Zeitreisen. Dafür benutzen wir kleine, dem Anschein nach aus Stein gebaute Hütten, auch als Pods bekannt, und wir springen in jede beliebige Zeit, für die uns ein Auftrag erteilt wird, beobachten, dokumentieren, zeichnen auf, tun unser Bestes, uns aus Ärger herauszuhalten, und kehren erfolgreich ins St. Mary’s zurück. Unsere Pods sind klein, vollgestopft, häufig ein bisschen verwahrlost, und das Klo funktioniert nie anständig. Aus irgendeinem Grund riecht es in ihnen immer nach Kohl, aber es sind halt unsere Pods, und wir lieben sie.
Nach dem Tod von Leon Farrell hatte ich den Posten der stellvertretenden Direktorin im St. Mary’s übernommen und war zu meinem letzten Sprung aufgebrochen. Aus sentimentalen Gründen hatte ich mich für Frankreich entschieden, 1415, die Schlacht von Azincourt. Wie üblich strapazierten wir – mein Kollege Peterson und ich – unser Glück, aber diesmal trieben wir es zu weit.
Peterson wurde beim Angriff auf den Tross schwer verletzt. Beim Versuch, unsere Verfolger wegzulocken, schlug ich ihm mit einem glatten Stein auf den Kopf (eine ungewöhnliche Vorgehensweise, das stimmt, aber ich war zu diesem Zeitpunkt bemüht, ihm das Leben zu retten), rollte den Bewusstlosen unter einen Busch, wo ihn die Rettungsmannschaft auf jeden Fall finden würde, und rannte wie verrückt in die entgegengesetzte Richtung. So weit weg und so schnell, wie ich nur konnte, bis mir jemand mit einem Schwert das Herz durchbohrte. Eine tödliche Wunde.
Ohne allzu großes Bedauern fügte ich mich in mein Schicksal und empfahl meine Seele dem Gott der Historiker, der, wie gewöhnlich, nicht besonders auf Zack war. Ich fiel nämlich nach vorn, landete aber nicht, wie erwartet, in der Vergessenheit, sondern stattdessen auf einem harten, fransigen Axminster-Teppich.
Kann mir noch jeder folgen?
Mrs. Partridge, persönliche Assistentin des Direktors vom St. Mary’s-Institut und in ihrer Freizeit die Muse der Geschichte, riss mich aus meiner Welt und lud mich – durcheinander, wie ich war, und unter großen Schmerzen leidend – in einer anderen ab. In dieser Welt. Sie blieb eben noch lange genug, um mich darüber zu informieren, dass ich einen Job zu erledigen hätte und mich an die Arbeit machen sollte, und schon war sie wieder weg. Denn Gott bewahre, dass sie die Dinge jemals einfach für mich machen würde. Ich dachte, ich sei gerettet worden. Und ja, das war ich auch, aber nur so, wie man Truthähne bis Weihnachten verschont.
In dieser neuen Welt war ich es gewesen, die gestorben war, und Leon war derjenige, der überlebt hatte. Er hatte meinen Tod nicht sehr gut verkraftet. Und so war ich davon ausgegangen, dass mich Mrs. Partridge seinetwegen hierhergebracht hatte, damit ich ihn rettete. Ihn tröstete. Aber da hatte ich wohl etwas falsch verstanden.
Leon und ich hatten ein schmerzhaftes und irritierendes Zusammentreffen, bei dem ich ihn mit einer blauen Plastikmüllschippe vermöbelte. Lange Geschichte.
Egal, das Gute daran war, dass ich mich jetzt hier befand und in dieser neuen Welt lebte, die meiner eigenen in weiten Teilen ähnelte. Allerdings nicht in allen, wie ich bald schon feststellen sollte.
Leon und ich waren einander fremd geworden und hatten eine Heidenangst, unsere zweite Chance zu vermasseln, weshalb wir übereingekommen waren, es langsam angehen zu lassen. Wir hatten vor, gemeinsam ein neues Leben in Rushford zu beginnen, außerhalb des St. Mary’s-Instituts, und abzuwarten, was passieren würde.
Was passierte, war noch mehr Schmerz, noch mehr Verwirrung und viel Davonlaufen.
Nun, da ich es aufgeschrieben habe, bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich mir das alles selber abnehme.
Der springende Punkt ist allerdings, dass ich geglaubt hatte, ich wäre in Sicherheit. Dass ich endlich zur Ruhe kommen würde. Die Redensart Und sie lebte glücklich bis ans Ende ihrer Tage hatte sich unwillkürlich aufgedrängt. In meinem Fall allerdings war das Und sie lebte der entscheidende Teil. Der Part danach, bis ans Ende ihrer Tage, war mir wie ein netter Zusatz erschienen. Mein Plan hatte darin bestanden, dass ich ein ruhiges Leben mit Leon führen wollte. Ich würde malen, er würde Dinge erfinden, und wir würden endlich ein friedliches Beisammensein genießen.
Einen Tag lang taten wir das. Aber keineswegs einen ganzen. Wir schafften es nicht mal bis zum Mittagessen.
Der erste Morgen meines neuen Lebens.
Ich hatte eine Nacht lang tief und fest geschlafen, ein ausgedehntes heißes Bad genommen und mehrere Becher Tee getrunken. So gerüstet und in der ganzen Pracht meines gelb-weiß gepunkteten Schlafanzugs, fühlte ich mich wieder ein bisschen mehr obenauf und bereit, das neue Leben in Angriff zu nehmen.
Zwischen uns herrschte eine leichte Befangenheit, da wir beide nicht wussten, wo wir anfangen sollten. Um diese zu überbrücken, wuselte Leon in der Küche herum und bereitete Tee und Toast für mich zu, da ich das Frühstück verpasst hatte. Ich war am Küchentisch beschäftigt.
»Was machst du da?«, fragte er und stellte knallend einen Becher mit dampfendem Tee auf den Tisch vor mir.
»Ich schreibe meinen Nachruf.«
»Warum denn das um alles in der Welt?«
»Na, du kannst das schlecht tun, oder? Vor dem gestrigen Tag kannten wir uns noch gar nicht.«
»Meine Überraschung bezog sich weniger auf die Tatsache, dass wir uns kaum kannten, als vielmehr darauf, dass du genau betrachtet gar nicht tot bist.«
»Nein, aber ich war es. Vielleicht bin ich ein Zombie. Menschenhirne … Ich brauche Gehirne …«
»Bedaure, keine Gehirne, nur Marmite«, sagte er und stellte ein kleines bauchiges Glas auf den Tisch.
»Eine sehr akzeptable Alternative.«
Es gab eine kleine Pause. Ich fragte mich, ob Leons Max diese vegetarische Würzpaste vielleicht nicht gemocht hatte. Würde es von jetzt ab immer so sein, dass wir beide im Stillen diese neue Version von uns mit der alten verglichen? Ich mochte Marmite – seine Max vielleicht nicht. Ich mochte keine Milch – vielleicht hatte seine Max in dem Zeug gebadet. Dieser Leon trug schwarze Socken – das hatte mein Leon nicht getan. Mein Leon war Dynamit im Bett. Wir waren gut zusammen. Und nur mal angenommen, dass es jetzt nicht mehr so wäre …
Gedankenversunken legte ich meine Hände um den Becher. Es war so schwer, sich vorzustellen, wie das alles funktionieren sollte. Schon in der ersten Runde waren die Dinge nicht so gut für uns gelaufen, und dann war er gestorben, und dann ich … Nun ja, wäre ich jedenfalls, wenn Mrs. Partridge mich nicht hierhergeschafft hätte. Wir beide hatten eine so lange Geschichte … Falls irgendetwas schiefgehen würde – und das würde es –, dann war ich mir nicht sicher, ob ich es noch einmal überleben könnte, ihn zu verlieren. Doch dann dachte ich an den wunderbaren, herzzerreißenden, die Seele erhebenden Augenblick in seiner Werkstatt, als ich ihn wiedersah und wusste, dass zwischen uns beiden nichts und alles möglich wäre.
Ich schaute hoch, sah, dass er mich beobachtete. Er hatte jeden meiner Gedanken mitverfolgt. Das jedenfalls hatte sich nicht geändert.
»Das wird kein Problem werden«, sagte er leise. »Wir müssen nichts überstürzen. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns, und wir werden jeden Tag so nehmen, wie er kommt. Ganz oben auf der Liste steht, dass du wieder fit und gesund wirst. Ich mag es nicht, wenn Frauen mit großen Löchern in der Brust in der Wohnung herumlaufen. Dann sieht gleich der ganze Ort irgendwie schlampig aus.«
»Alles schon wieder zu«, sagte ich. »Ab und an zwackt es ein bisschen.«
Eigentlich tat es sogar ziemlich weh. Mrs. Partridge hatte schon gewusst, was sie da tat. Ich hatte keine andere Wahl, als hierzubleiben und alles etwas gemächlicher anzugehen. Mindestens noch eine Woche lang.
Eine ganze Menge konnte in einer Woche geschehen.
Und das würde es auch.
Das Telefon klingelte.
Leon war gerade damit beschäftigt, Toast zu buttern; deshalb ignorierte er das Läuten, und der Anrufbeantworter schaltete sich ein.
Ich hörte seine Stimme. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Pause.
Ein Piepton.
Dann Dr. Bairstow, dessen Stimme heiser und drängend war, als er sagte: »Leon. Verschwinde. Sie sind hier. Lauf!«
Dann war die Leitung tot.
Das Buttermesser fiel Leon aus der Hand. Ich sah, wie es eine schmierige Spur auf dem Fußboden hinterließ. Er würdigte sie keines Blickes.
»Du hast dreißig Sekunden. Schnapp dir alles, was dir was bedeutet. Los!«
Ich machte mir nicht die Mühe, Fragen zu stellen. Er hätte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu beantworten. Stattdessen war ich mit einem Satz im Wohnzimmer und griff mir das Trojanische Pferd, das er früher mal für mich geschnitzt hatte. Ich sah mich kurz um und nahm dann auch noch mein kleines Buch über Azincourt – das einzige Überbleibsel aus meiner Kindheit – und mein eines Foto von Leon und mir mit. Ich wickelte mir meine rote Schlange um den Hals, die ich im Krankenhaus gehäkelt hatte, als ich mich von Jack the Ripper erholte – die ich auf gar keinen Fall zurücklassen würde –, und fand mich einige Sekunden vor Ablauf der Zeit an der Hintertür ein.
Leon beäugte die Schlange. »Eines Tages müssen wir uns mal die Zeit nehmen und uns über deine merkwürdigen Prioritäten unterhalten.« Er schob mich durch die Hintertür nach draußen, die Treppe hinunter und in den Garten.
Auf der anderen Seite der Grundstücksmauer konnte ich Geräusche hören. »Willst du denn nicht abschließen?«
»Würde nicht das Geringste nützen. In den Pod. Schnell.«
Sein Pod schmiegte sich in eine Ecke seines winzigen Gartens und war getarnt als unauffälliger Schuppen. Ich rief nach der Tür, die sich öffnete, während Leon die Wäscheleine wegriss und die Regentonne mit dem Fuß zur Seite schob.
Mir blieb gerade noch genug Zeit, den vertrauten Pod-Geruch einzuatmen: überhitzte Elektronik, menschliche Ausdünstungen, feuchter Teppich und Kohl. Dann drängte sich Leon hinter mir herein und schlug auf den Türschalter.
»Keine Sorge«, sagte er ruhig. »Hier drinnen sind wir ziemlich sicher. Ich aktiviere das Tarnsystem. Wir warten einfach still und leise ab. Mit ein bisschen Glück werden sie uns nicht finden und wieder verschwinden.«
Ich hätte fragen sollen – wer sind denn die? Warum sollten wir nicht in Sicherheit sein? Und die allumfassende Frage: Was zum Teufel ist hier eigentlich los?
Aber das tat ich nicht. Vor allem deshalb nicht, weil Leons ganze Aufmerksamkeit auf den Bildschirm gerichtet war, wo er nach irgendwelchen Bewegungen Ausschau hielt. Wahrscheinlich hätte er mich auch gar nicht gehört. Ich stand da, beladen mit Buch, Bild und Schlange, und spürte, wie meine Brust heftig puckerte. Und ich hatte noch nicht mal mein Frühstück verputzt.
»Hier.« Er drehte den zweiten Sitz in meine Richtung, und ich war froh, mich hineinsinken zu lassen. Vielleicht war ich doch noch nicht annähernd so fit, wie ich geglaubt hatte.
Schweigend warteten wir ab. Es dauerte nicht lange.
Sie kamen geradewegs durch das Gartentor, und sie hielten sich nicht damit auf, es vorher zu öffnen. Krachend brach es aus den Angeln und wirbelte sich mehrfach überschlagend davon. Männer strömten in den kleinen Garten und verteilten sich. Es waren ungefähr sechs Leute, soweit ich das sehen konnte, aber vermutlich standen noch zwei oder mehr draußen und sicherten den Eingang.
Sie waren beängstigend schnell, leise und professionell.
Zwei stürmten die Stufen hoch, traten die Hintertür auf und verschwanden in der Wohnung.
Der Rest machte sich ohne Umschweife auf den Weg zu uns. In den Garten. Unmittelbar auf den Pod zu.
Sie konnten uns unmöglich sehen. Es gab nichts zu entdecken. Wir waren getarnt. Vor dem Hintergrund einer einfachen Steinmauer waren wir unsichtbar.
Trotzdem spürte ich einen Anflug von Sorge. Sie wussten, dass wir da waren. Sie mochten vielleicht nicht in der Lage sein, uns zu sehen – wer auch immer sie waren –, aber sie wussten, dass wir irgendwo stecken mussten.
Mein erster Eindruck war, dass sie zum Militär gehörten. Volle Kampfmontur! Helme mit schwarzen Visieren verliehen ihnen ein unheilvolles Aussehen, und sie hatten einige schwere Waffen dabei. Keine Gewehre, aber in der Form von Karabinern, mit irgendeiner Art von Unterbau. Die Männer bewegten sich geschmeidig, sehr effizient und abgestimmt aufeinander. Wir steckten auf jeden Fall tief in der Scheiße.
Leon fluchte leise.
Die Eindringlinge ließen sich auf den Boden fallen, und mit ihren Waffen deckten sie jeden Zentimeter des kleinen Gartens ab. Wie konnten sie wissen, dass wir hier waren? Was ging hier vor sich?
Der Soldat ganz hinten hob jetzt, da jeder Winkel im Blick behalten wurde, etwas in die Luft, das für mein nichttechnisches Auge wie ein Föhn aussah.
War das ein EMI-Gerät? Ein elektromagnetischer Impuls würde den Pod und uns ausschalten!
Jetzt fluchte Leon so richtig, schubste mich von meinem Sitz aus auf den Boden und schrie im gleichen Moment: »Computer! Sprung initialisieren.«
»Sprung initialisiert.«
Und die Welt wurde weiß.
Wir landeten ohne die geringste Erschütterung. Leon warf einen raschen Blick auf die Konsole, legte mehrere Schalter um und fuhr Systeme runter. Seine Hände tanzten in einer mir sehr vertrauten Art und Weise über die Kontrollregler. Da er beschäftigt war, blieb ich still auf dem Boden liegen, wohin er mich befördert hatte, starrte hoch an die Decke und dachte nach.
Ganz offensichtlich hatten die Männer entweder nach ihm oder nach mir gesucht. Und da Leon sich inzwischen schon seit einiger Zeit in Rushford aufgehalten und vermutlich ein unbescholtenes Leben geführt hatte, wohingegen ich vor Kurzem als fremder Eindringling in seiner Welt aufgetaucht war, schien es naheliegend, dass ich diejenige war, die sie finden wollten.
Dass sie in irgendeiner Weise mit dem St. Mary’s-Institut in Verbindung standen, bezweifelte ich nicht. Sie hatten ein paar wirklich coole Spielereien dabeigehabt. Und dann war da ja auch noch der warnende Anruf von Dr. Bairstow. Sie hatten also beinahe gleichzeitig im St. Mary’s und in Rushford zugegriffen. Irgendetwas Schlimmes war vorgefallen, und beinahe mit Sicherheit ging es dabei um mich. Wie hatten sie mich so schnell ausfindig machen können? Und wenn sie mich geschnappt hätten – was hätten sie dann mit mir gemacht?
Als ob ich darauf nicht die Antwort wüsste.
Vielen Dank auch, Mrs. Partridge. Sie war es gewesen, die mich aus meiner eigenen Welt gerissen und mich in dieser abgeladen hatte. Vom Regen in die Traufe, wie man so schön sagt. Ohne Vorwarnung. Ohne Frühstück. Und jetzt war irgendetwas hinter mir her. Etwas Ernstzunehmendes. Was war denn jetzt mit mir und dem ruhigen Leben?
Leon setzte sich neben mir auf den Boden. »Danke, dass du mich nicht mit Fragen bombardiert hast.«
»Nur eine kurze Atempause. Genieß sie.«
»Habe ich dir wehgetan?«
»Im Gegenteil. Ich bin noch nie mit so viel Stil zu Boden befördert worden. Neun Komma fünf Punkte dafür.«
»Dann hoch mit dir.«
Ich ließ mich auf den Sitz sinken und starrte auf den Schirm und die vertrauten Koordinaten. Ich wusste, wo wir waren.
Mein Leon und ich hatten einen ganz speziellen Ort zu einer ganz bestimmten Zeit gehabt. Eine kleine Insel im östlichen Mittelmeer, Tausende von Jahren in der Vergangenheit, bevor dort zum ersten Mal Menschen aufgetaucht waren. Das St. Mary’s-Institut war mir lieb und teuer, aber manchmal will man einfach allein sein. Dann kamen wir hierher, an diesen besonderen Ort, um eine kleine Auszeit miteinander zu verbringen. Das Beste daran war, dass absolut niemand davon wusste. Manchmal taucht dieser Platz auf uralten Karten als die Insel von Skaxos (nicht Skagos, oder?) auf, aber meistens ist sie zu klein, um auf Karten eingezeichnet zu sein, ganz zu schweigen davon, mit Namen versehen zu werden. Hier dürften wir also ziemlich sicher sein.
Leon beendete seine Arbeit an der Konsole. »Es ist immer noch dunkel draußen. Sollen wir mal kurz durchschnaufen?«
»Gute Idee. Und dann kannst du mir erzählen, worum es hier eigentlich geht.«
Er stand auf und machte den Wasserkocher an. Die traditionelle Methode, wie man in St. Mary’s mit Krisen umgeht.
Wie ich schon berichtet habe, ist mein Name Madeleine Maxwell. Leitende Missionschefin im St. Mary’s-Institut für Historische Studien. Besser gesagt: Ich war das. Da ich nie als stellvertretende Direktorin bestätigt worden war, fühlte ich mich im Unklaren darüber, was ich jetzt war. Abgesehen von klein, rothaarig und etwas konfus, natürlich, aber da das im Grunde meine Werkseinstellung ist, sollte man das nicht weiter beachten.
Vor einer Woche war ich in der Kreidezeit gewesen, wo ich einen hungrigen Deinonychus-Saurier mit einem Feuerlöscher und harten Worten abgefertigt hatte. Gestern um diese Zeit war ich in Azincourt gewesen und hatte auf das Schwert in meiner Brust gestarrt, kurz bevor ich in eine neue Welt geschubst worden war. Ich hatte eben noch Zeit genug gehabt, ein Bad zu nehmen, und jetzt war ich hier und wurde auf der Zeitlinie herumgeschleudert – im Schlafanzug. Irgendjemand schuldete mir eine Erklärung. Und Frühstück.
Leon legte mir meinen Morgenmantel um die Schultern.
»Danke«, sagte ich überrascht.
»Nun, einige von uns waren etwas fokussierter, als es darum ging, sich wichtige Dinge zu schnappen, die uns durch die augenblickliche Krise bringen würden.«
Traurig lächelte ich meinen kleinen Haufen Besitztümer an. »Das ist alles, was ich auf der Welt habe. Du kannst mir keinen Vorwurf machen.«
»Ich sage es dir immer wieder – die Hälfte von allem gehört dir. Du hast mir alles in deinem Testament hinterlassen.«
Wir machen alle unser Testament. Bei unserem Lebenswandel ist das unerlässlich. Sämtliche diesbezüglichen Schriftstücke liegen bei Dr. Bairstow. In meiner Welt hatte ich alles Leon vermacht und dann, als er gestorben war, zwischen engen Freunden aufgeteilt: Markham, Peterson und Kal. Zusätzlich hatte ich gewisse Vorkehrungen getroffen, indem ich ein bisschen was hinter der Theke deponiert hatte. Zweifellos veranstalteten sie daheim in meinem St. Mary’s just in diesem Moment ein erstklassiges Besäufnis. Es ist immer gut zu wissen, dass man auch nach seinem Tod noch die Dinge aufmischen kann. Ein posthumer Stachel im Fleisch des Managements.
»Also, was sind das für Leute, Leon? Und was wollen sie?«
»Das ist die Zeitpolizei.«
Das sagte mir überhaupt nichts. Ich muss entsprechend verblüfft ausgesehen haben.
»Die gibt es in deiner Welt nicht?«
»Nein.«
»Tja, hoffen wir, dass es so bleibt.«
Schweigen. Er bereitete den Tee zu.
»Also gut. Pass auf. Vor langer Zeit erzählte ich meiner Max, dass Dr. Bairstow und ich aus der Zukunft kommen.«
Ich nickte. »Du hast mir berichtet, dass ihr zurückgeschickt worden seid, um das St. Mary’s-Institut zu beschützen. Dass wir bedroht wurden … werden würden.«
»Nun, es sieht so aus, als wäre die Zeit jetzt gekommen.«
»Warte mal. War das nicht dieser Clive Ronan?«
»Ja, auf seine eigene Weise. Aber die wirkliche Bedrohung für das hiesige St. Mary’s ist die Zeitpolizei. Irgendwann in der Zukunft – und das hat, Gott sei Dank, nichts mit St. Mary’s zu tun – entdecken mehrere Länder beinahe gleichzeitig, wie man durch die Zeit reisen kann. Plötzlich will das jeder, weil alle denken, sie könnten dann die eigene Vergangenheit ändern, und dabei will jeder der Erste sein. Es wird der Versuch unternommen, ein internationales Abkommen zu schließen, das beschränkte und streng kontrollierte Zeitreisen erlaubt, während die Zeitlinie weiterhin geschützt bleibt. Eine Weile lang geht auch alles gut. Eine sehr kurze Weile – aber die Versuchung, zurückzukehren und alte Kriege neu auszufechten, dieses Mal mit dem späteren Wissen, ist einfach zu groß.«
Er sah mich an. »Kannst du dir das vorstellen?«
Ich nickte. Das konnte ich in der Tat.
Ich hatte noch nie eine sonderlich hohe Meinung von der menschlichen Rasse gehabt, und bislang hatte ich in dem Punkt nicht unrecht. Man muss uns doch nur anschauen. Wir haben dieses Geschenk bekommen, dieses wunderbare Geschenk. Als einzige Spezies auf dem Planeten sind wir in der Lage, unsere eigene Vergangenheit zu betrachten. Auf unseren Triumphen aufzubauen. Aus unseren Fehlern zu lernen. Aus erster Hand zu erfahren, wie genau wir dorthin gekommen sind, wo wir uns heute befinden. Und anstatt das als die wunderbare Gabe zu betrachten, die es ist, haben wir versucht, sie für nichts Besseres zu nutzen, als alte Konflikte aufzuwärmen.
Ich persönlich denke, dass wir Menschen so weit gekommen sind, wie wir kommen können. Wir zerstören den Planeten. Wir sind nie um eine Ausrede verlegen, wenn es darum geht, einander auszulöschen. Falscher Gott. Falsche Rasse. Falsche Hautfarbe. Falsches Geschlecht. Tatsächlich bin ich ziemlich erstaunt darüber, dass nicht längst die wirklich angepisste Geschichte ein flammendes Schwert geschwungen hat, woraufhin wir alle wieder in Höhlen im Schnee hausen und auf halb garem Mammutfleisch herumkauen. Und selbst das wäre eigentlich schon mehr, als wir verdienen.
Kein Wunder, dass wir es noch nicht bis zum Mars geschafft haben. Ich vermute, dass das Universum verdammt genau darauf achtet, dass wir nicht die Chance bekommen, auch andere Planeten mit unserer Dummheit zu ruinieren. Es sorgt dafür, dass wir auf diesem hier bleiben, auf dem wir nichts anderes zerstören können als uns gegenseitig.
Leon nahm einen Schluck Tee und fuhr fort: »Stell dir vor, was passieren könnte, Max. Nationen würden kurz aufflackern und wieder verschwinden. Menschen würden leben, dann sterben, dann wieder leben. Ereignisse würden sich zutragen. Dann hätte es sie plötzlich nie gegeben. Und dann würden sie noch einmal geschehen, aber dieses Mal anders. Vielleicht würde es irgendwelche entscheidenden Ereignisse nie geben. Die Geschichte könnte so viele Male verändert und neu geschrieben werden, dass sie völlig überfordert wäre. Es könnte das Ende von allem bedeuten.«
Selbst im warmen Sonnenschein spürte ich, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Aber – das ist nie geschehen? Oder doch?«
»Nein, es ist nicht geschehen. Als alles zusammenzubrechen drohte, wurde die Zeitpolizei gegründet. Um alles wieder auf die Reihe zu kriegen. Sie setzt sich aus dem Militär, der Polizei und einigen Mitgliedern aus dem St. Mary’s-Institut zusammen. Ihr Aufgabengebiet ist weit gefasst. Einige würden sagen: zu weit gefasst. Sie haben nur ein einziges Ziel: was auch immer zu tun nötig ist, um die Zeitlinie zu schützen, egal, mit welchen Mitteln. Und das tun sie. Sie machen einen ausgezeichneten Job. Aber wenn ich sage, sie tun, was auch immer erforderlich ist, um den Job zu Ende zu bringen, dann verstehst du sicherlich, was ich meine, oder?«
Ich verstand. Ihr Job war es, alles auszulöschen, was die Zeitlinie bedrohen könnte. Und ich war, wenn vielleicht auch keine Bedrohung, so doch mindestens eine Anomalie. Und sie wussten, dass ich hier war. Und sie würden nicht eher ruhen, bis sie mich gefunden hatten.
Er fuhr fort. »Nationen werden dazu … genötigt, Zeitreisen aufzugeben. Ohnehin will das eigentlich niemand mehr. Mittlerweile haben alle herausgefunden, dass Zeitreisen nichts anderes als eine Schlange in der Hand sind. Früher oder später wird sie sich immer in deiner Faust herumwinden und zubeißen. Und sie haben alle herausgefunden, dass sie nicht einfach in der Vergangenheit plündern können. Also hat man zwar einen Haufen Ausgaben, aber man kriegt nichts dafür. Außerdem sind allen die möglichen Konsequenzen ihrer Taten ganz unmissverständlich klargemacht worden. Natürlich will keiner der Erste sein, der die Zeitreisen einstellt, aber die Zeitpolizei sorgt für internationale Übereinkünfte, und nach einer Menge Hin und Her fügt sich alles wieder. Wie ich schon sagte, findet all das in der Zukunft statt. Im St. Mary’s-Institut hat man in der ganzen Zeit versucht, die Füße stillzuhalten und nicht aufzufallen, und so wurde es uns erlaubt, weiter zu existieren, allerdings unter strenger Kontrolle. Die Zeitpolizei bewegt sich die Zeitlinie rauf und runter und überwacht alle Inkarnationen des Instituts, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Jeder Sprung muss genehmigt werden. Wir müssen tonnenweise Papierkram einreichen, Risikobewertungen, erwartete Gewinne, angewandte Methoden, beteiligtes Personal, Ziele und Hindernisse – dieses ganze Zeug eben. Wir müssen eine Genehmigung für jeden Sprung haben, und es werden nicht sehr viele erteilt.«
»Wer ist für die Genehmigungen zuständig?«
»Der Erstantrag geht an unseren Arbeitgeber – die Thirsk-Universität. Und dann leitet Thirsk den Antrag weiter an die Zeitpolizei, zusammen mit einer eigenen Empfehlung.«
Wieder machte er eine Pause, um seinen Tee zu trinken, und ich dachte derweil nach.
»Und was ist dann schiefgelaufen?«
»Von der Überwachung ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Kontrolle. Und das ist es, was sie von Anfang an wollten. Die vollständige Kontrolle über alle Inkarnationen von St. Mary’s. Und im Großen und Ganzen hatten sie auch Erfolg. Kannst du dir vorstellen, was ihnen das für eine Macht verleiht? Es existieren nur noch ein paar vereinzelte unabhängige Zellen. Unser St. Mary’s gehört dazu.«
»Und deshalb sind sie hinter uns her?«
»Nein. Ich glaube, sie sind durch deine Anwesenheit aufgescheucht worden. Im besten Falle wollen sie dich nur befragen. Im schlimmsten allerdings …«
Wir schwiegen beide und starrten in unsere leeren Becher.
»Los, komm«, sagte Leon entschlossen und zog mich auf die Beine. »Es wird hell. Wir überprüfen unsere Vorräte, und dann gehen wir nach draußen und schlagen unser Lager auf.«
Wir verließen den Pod, gerade als sich die erste Morgensonne über die Landschaft ergoss und Leben und Farbe in die Welt zurückbrachte. Einen Moment stand ich da und ließ einfach nur den Frieden auf mich einwirken. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal war kurz vor Troja gewesen. Nach Troja sprachen mein Leon und ich nicht mehr miteinander, ganz zu schweigen davon, dass wir in romantischen Augenblicken schwelgten. Alles war noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte, und doch war ich noch nie hier gewesen. Dies war nicht meine Welt.
Eine große Welle der Trauer kam aus dem Nichts. Trauer um mein St. Mary’s-Institut, das ich nie wiedersehen würde. Um Tim, der verletzt und niedergeschlagen dalag. Um Kalinda, meine Freundin. Um Markham und Guthrie. Um den Boss. Selbst um Mrs. Partridge. Ich erinnerte mich an den Frühstücksgeruch am Morgen, das Trappeln der Füße auf den uralten Holzböden, den Klang von wütenden Streitigkeiten zwischen Dr. Dowson und Professor Rapson – oder gelehrte Debatten, wie die beiden es beharrlich zu nennen pflegten. Ich erinnerte mich an das Klackern des Gehstocks vom Boss auf den Steinböden. All das war fort. Für immer.
Dann ebbte die Trauer ab und machte der Angst Platz. Ich war allein in einer vertrauten, aber seltsamen Welt, und jetzt sah es auch noch so aus, als wäre ich auf der Flucht. Ohne einen weiteren Gedanken zu riskieren, war ich in diesen Pod gesprungen, und es dämmerte mir jetzt (natürlich viel zu spät), dass das möglicherweise nicht der klügste Schachzug gewesen war.
Auf der anderen Seite bin ich Historikerin. Ich arbeite für das St. Mary’s-Institut. Ich würde einen schlauen Schachzug nicht einmal dann erkennen, wenn er eine rote Fahne schwenkte.
Leon unterbrach diese völlig nutzlosen Gedanken.
»Wollen wir uns hinsetzen?«
Er breitete eine Decke aus, und wir lehnten uns in der Sonne an einen großen Stein. Genau so, wie ich es immer mit meinem Leon getan hatte.
Ich schloss die Augen und rutschte noch ein bisschen hin und her.
»Hast du Schmerzen? Tut dir deine Brust weh?«
Was sollte ich sagen? Wie sollte ich diese plötzlichen, beinahe überwältigenden Gefühle von Panik, Isolation und Furcht vermitteln?
Vorsichtshalber hielt ich die Augen noch für eine Weile geschlossen. Er sagte nichts, was ich zu schätzen wusste.
Schließlich begann ich: »Es tut mir leid. Das war nur so ein Moment. Jetzt ist alles wieder okay.«
»Was wünschst du dir von mir? Was soll ich tun? Soll ich dich ein bisschen allein lassen? Über was anderes sprechen? Dir einen ordentlichen Becher frischen Tee bringen?«
Ich holte tief Luft. »Eigentlich will ich … Was ich wirklich, wirklich will … ist, einen Augenblick lang einfach nur hier sitzen.«
Er machte Anstalten aufzustehen, aber ich zog ihn wieder zu mir. »Nein, das ist gut so. Bitte bleib. Vielleicht ist jetzt der Moment, um … um …«
Er setzte sich wieder, griff nach einem Stock und begann, damit Muster in den Boden zu kratzen, während die beiden Menschen auf diesem Planeten, die am schlechtesten über Emotionen reden können, um ihre Gefühle herumschlichen.
Dann begann ich: »Das muss auch für dich schwer sein.«
Er zögerte. »Das ist es, aber ich denke, ich bin bei alldem der Gewinner. Ich habe nichts verloren, ich habe nur gewonnen. Habe dich wiedergewonnen. Aber du hast alles verloren, und alles, was du gewonnen hast, bin ich. Und ich bin nicht der richtige Leon.«
Er verstand alles. Ich hätte mehr Vertrauen haben sollen.
Und so lächelte ich. »Ich betrachte mich keineswegs als Verliererin. Und lass uns doch den Tatsachen ins Gesicht sehen: Im Augenblick haben wir beide nichts außer den anderen. Und unseren Flüchtlingsstatus natürlich.«
»Ja, das ging schnell, oder? In einem Moment bin ich noch respektabler Besitzer eines kleinen Unternehmens in einer der beschaulichsten Marktstädte in ganz England, und dann tauchst du auf und setzt die Mächte der Dunkelheit frei. Und jetzt verstecken wir uns auf einer kleinen Insel, fünftausend Jahre vor unserer Zeit.«
»Ohne Frühstück«, fügte ich hinzu, um ihn auf das Wesentliche hinzuweisen. »Ich wette, du hast nicht daran gedacht, mir meinen Toast mitzubringen, oder?«
Er seufzte. »Nichts als Klagen.«
»Hätte es dich umgebracht, dir auf dem Weg nach draußen noch schnell eine Scheibe zu schnappen? Ich könnte schwören, dass diese Zeitpolizei sich gerade jetzt, wo wir darüber sprechen, über mein Frühstück hermacht.«
Eine Weile saßen wir da, während die Welt leuchtender und wärmer wurde.
Dann veränderte Leon seine Sitzposition. »Ich wollte dich das fragen, aber du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst: Wie bist du hierhergekommen?«
»Du meinst hierher, in diese Welt?«
»Ja. Was ist in Azincourt geschehen?«
Ich begann langsam. »Es war mein letzter Sprung. Tim Peterson und ich. Weißt du, ich sollte stellvertretende Direktorin werden.«
»Ich kann nur annehmen, dass Dr. Bairstow kurzzeitig geistig umnachtet war. Und du hast es geschafft, dich in der Schlacht von einem Schwert durchbohren zu lassen? Wart ihr zu nahe dran?«
»Tja, na klar waren wir viel zu nahe. Wir waren oben bei den Bogenschützen. Aber nein, es geschah, als wir uns den Tross hinter der Front ansehen wollten.«
Wieder schloss ich die Lider, und vor meinem geistigen Auge erwachte alles wieder zum Leben.
»Der Versorgungszug war hinter den Schlachtreihen. Genauso wie Hunderte von französischen Gefangenen. Wir wollten prüfen, ob Heinrichs Befehl, sie zu töten, gerechtfertigt war. Und ob er überhaupt ausgeführt wurde. Gerade als wir eintrafen, tauchte aus heiterem Himmel ein Haufen französischer Bauern auf. Sie kämpften nicht in der Schlacht, sie waren da, um zu plündern, die Gefallenen und Verwundeten auszurauben, die Pferde zu stehlen – all diese Dinge.
Ich weiß, was du sagen wirst, aber wir waren eigentlich schon auf dem Rückzug. Wir waren auf dem Weg zurück zum Pod. Überall um uns herum wurde gekämpft. Diese Bastarde töteten die Verletzten, die Priester, die kleinen Jungen, jeden, der ihnen in die Hände fiel. Einer kam aus dem Nichts und trennte Peterson beinahe einen Arm ab.«
Ich brach ab und schluckte, als ich diesen Moment noch einmal durchlebte.
»Er war … so tapfer. Ich habe ihn weggeschleppt und seine Wunde verbunden. Er war bei Bewusstsein, konnte aber kaum noch sprechen. Der Pod war nicht mehr weit entfernt, es war aber klar, dass er das nicht mehr schaffen würde. Leon, ich hatte bereits dich verloren. Ich konnte nicht auch noch ihn verlieren.«
Ich hielt inne.
»Was hast du getan?«
»Ich habe ihn in eine Senke geschoben, ihm einen Stein über die Rübe gezogen, ihn unter Blättern vergraben und ihn zurückgelassen.«
»Ein Glück, dass er ein Freund von dir war. Was machst du mit Leuten, die du nicht leiden kannst?«
Ich presste ein Lachen hervor.
Leon streichelte mir über den Arm. »So ist es schon besser. Und was dann?«
»Dann bin ich weggelaufen. Ich bin immer weitergerannt. Durch den nassen Wald. Ich habe so viel Lärm gemacht, wie ich konnte. Sie sind mir gefolgt. Einer war vor mir. Ich bin einfach gegen ihn geprallt. Während ich mit ihm beschäftigt war, hat mich jemand anders mit seinem Schwert durchbohrt. Ich habe nichts davon mitbekommen.«
Wieder geriet ich ins Stocken. Leon ritzte noch immer Dreiecke in den Erdboden. Ich holte tief Luft und ging alles noch einmal durch. »Es wurde sehr still und unbewegt ringsum. Als ich hochsah, waren da schwarze Äste und der weiße Himmel. Nichts rührte sich.«
Jetzt sprach ich mit mir selbst.
»Ich spürte nicht den Drang zu atmen. Alles war zum Ende gekommen. Alles war vorbei. Ich spürte kein Bedauern. Ich hatte Tim eine Überlebenschance verschafft. Dann fiel ich nach vorn. Auf deinen Teppich. Den ich überall vollgeblutet habe. Wahrscheinlich verlierst du deine Kaution. Tut mir wirklich leid.«
»Und das ist alles, was passiert ist?«
Ich nickte. Was ich ihm erzählt hatte, war die Wahrheit. Nur eben nicht die ganze. Ich hatte Mrs. Partridge und ihren Anteil an der ganzen Sache nicht erwähnt. Ich meine, was sollte ich schon sagen? Oh, ich bin im 15. Jahrhundert gestorben, und dann hat mich die Muse der Geschichte aus meiner Welt gepflückt und mich in deine fallen lassen – damit ich eine Aufgabe erledige, über die sie mir nichts verraten wollte.
Ich weiß nicht, warum ich Mrs. Partridge nicht erwähnen wollte. Es ist ja nicht so, als ob ihre Rolle die ganze Geschichte noch schräger gemacht hätte oder unglaubwürdiger oder noch unwahrscheinlicher. Das war schließlich gar nicht möglich. Die ganze Angelegenheit ist vollkommen schräg, unglaubwürdig und unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite reise ich berufsmäßig durch die Zeit, also sollte man mir besser nichts von schräg, unglaubwürdig und unwahrscheinlich erzählen. Wirklich, ich schätze, anstatt mich zurück- und wieder vorwärtszubewegen, war ich einfach – seitwärtsgesprungen.
Man wiederhole diese Theorie bitte nie in Gegenwart eines angesehenen Physikers. Ich will nicht, dass man mich auf der Straße anspuckt.
Ich überließ es Leon, das Lager aufzuschlagen, und schlenderte langsam zwischen den Bäumen, um einen ersten Blick auf das glitzernde türkisfarbene Meer zu werfen, den Vögeln zu lauschen, die den neuen Tag begrüßten, und in der Ferne das Brechen der Wellen in der Brandung zu hören und den Klang des Windes, der durch die Pinien strich. Das war immer ein ganz besonderer Moment für mich. Ich saß auf einem Stein und ließ freudige Erinnerungen in mir aufsteigen.
Die Bäume reichten bis ans Ufer hinunter, und ihre giftgrünen Nadeln bildeten einen starken Kontrast zur rostroten Erde und den Steinen. Alle Farben waren strahlend und frisch. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen tiefblauen Himmel. Später würde es richtig heiß werden. Alles war still und friedlich. Dies war schon immer ein kleines Stück vom Paradies gewesen. Hier war noch nie etwas Schlimmes passiert.
Nicht dass ich das lange genießen durfte. Wie üblich, so war ich auch jetzt die verantwortliche Holzsammlerin und Wasserholerin. Ich wäre auch zur hauptamtlichen Schlepperin schwerer Lasten bestimmt worden, aber glücklicherweise hatte ich eine tödliche Wunde in der Brust, von der ich mich erholen musste, und so durfte ich mich nicht überanstrengen. Auch nicht kochen. Tatsächlich war ich nicht nur von Kochpflichten befreit, sondern es war mir sogar streng verboten, auch nur in die Nähe von irgendeinem Bereich zu kommen, in dem Speisen zubereitet wurden. Was keine so harte Strafe war, wie es vielleicht aussehen mochte.
Leon war damit beschäftigt, das Feuer anzuzünden, und ich brach auf zur endlosen Suche nach Feuerholz. Ich schlüpfte aus meinen Latschen, schüttelte den Morgenmantel ab und wanderte vertraute Wege entlang. Unter meinen Fußsohlen spürte ich den Teppich aus weichen Nadeln, ich sog den Geruch von Pinien und Meer ein und lauschte den Seevögeln, die kreischend über dem felsigen Ufer ihre Runden drehten.
Nichts hatte sich verändert. Jahreszeiten kamen und gingen, aber nichts veränderte sich hier jemals. Es würden noch Tausende von Jahren vergehen, ehe zum ersten Mal Menschen auf dieser kleinen Insel landen würden.
Es lag viel Holz herum, und ich spazierte gemächlich zwischen den Bäumen und bückte mich unter Schmerzen, um kleinere Stücke aufzusammeln.
Und dann stieß plötzlich irgendwo hinter mir ein Vogel einen schrillen Schrei aus, der wie eine Warnung klang, und schoss hinauf in die Luft. Die Flügel flatterten hektisch, als er versuchte, an Höhe zu gewinnen.
Sofort setzte bei mir der Instinkt ein. Ich zog mich hinter einen Baumstamm zurück und blieb stocksteif stehen. Abwartend.
Ich bemerkte die Bewegung, einige Sekunden bevor ich begriff, was ich da sah. Und dort. Und da drüben ja auch.
Eine Reihe von mittlerweile hinreichend bekannten schwarz gekleideten Soldaten bewegte sich langsam den Hügel hoch. Die Männer griffen nicht an, bewegten sich lediglich in langsamer, geduckter Haltung. Sie blieben dabei in strikter Formation. Das war keine Attacke – sie pirschten sich an. Stellten sicher, dass nichts an ihnen vorbeigelangen konnte.
Scheiße! Wie konnten die uns gefunden haben?
Aber jetzt war keine Zeit für irgendwelche Tricks. Sie würden mich sehen, sobald ich mich bewegte. Es gab keine Umgebung auf der Welt, in der ein gelb-weiß gepunkteter Pyjama mühelos mit der Umgebung verschmelzen konnte.
Ich ließ das Holz fallen, schrie Leon eine Warnung zu und setzte mich in Bewegung. Rannte hügelaufwärts, so schnell, wie ich nur konnte, und meine Brust schmerzte unter der Belastung. Mein Tod war einfach noch nicht lange genug her für solche Anstrengungen.
Hinter mir brüllte jemand einen Befehl. Sie hatten mich also gesehen.
Halb erwartete ich einen Kugelhagel, aber der kam nicht. Vielleicht war die Sicht auf mich durch die Bäume hindurch nicht klar genug für Beschuss.
Leon warf unser Zeug zurück in den Pod.
Ich riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass zwei von ihnen wieder mit ihrem Föhn-Ding zielten.
Wenn das EMIs waren, dann mussten die Typen gar nicht auf uns schießen. Sie konnten einfach den Pod außer Gefecht setzen und uns dann in aller Seelenruhe einsammeln. Dies hier war eine kleine Insel. Wir würden ihnen nicht lange aus dem Weg gehen können.
Mühsam kämpfte ich mich weiter den Hügel hoch. Meine Brust stach, und ich bekam kaum Luft. Gestern um diese Zeit war ich noch tot. Was erwarteten die Leute eigentlich von mir?
Ich schrie Leon zu: »Verschwinde! Weg mit dir!«
Er ignorierte mich. Stattdessen kam er mir entgegengerannt, packte mich am Arm und schleifte mich buchstäblich in den Pod. Als wir durch die Tür stürzten, brüllte er bereits: »Computer, Notrückholung. Jetzt.«
Ich machte mich bereit, denn ich wusste, dass das wehtun würde.
Und das tat es auch.
Die Welt wurde schwarz.