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Buch

Jetzt kommt Cleo Roths Stunde! Nach der Trennung von Jugendliebe und Ehemann Christian will die Neununddreißigjährige ihr Leben neu anpacken, und da kommt ihr das Haussitting-Angebot der exzentrischen Pianistin Florentine von Breitling gerade recht. Mit Sack, Pack und Töchterchen Lotta zieht Cleo in ein lauschiges kleines Häuschen mitten in der Lüneburger Heide – muss aber bald feststellen, dass auch hier keine Ruhe einkehren wird: Der verschlossen wirkende Nachbar Kurt hält sie ebenso auf Trab wie Florentines Neffe, der ihr Avancen macht. Bald muss sich Cleo fragen, ob sie überhaupt bereit für einen Neuanfang ist – und wie es um ihre Gefühle für Nochehemann Christian bestellt ist. Gibt es zwischen ihnen wirklich nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt?

Autorin

Silvia Konnerth, geboren 1980 in Frechen bei Köln, war als Disponentin und später im Import tätig. Sie lebt mit ihrer Familie am nördlichen Rand der Lüneburger Heide und schreibt Wohlfühlromane, von denen sie bereits mehrere sehr erfolgreich als Selfpublisherin veröffentlicht hat. Nach »Heideblütenküsse« und »Heidesommerträume« ist »Heidelandliebe« ihr dritter Roman bei Blanvalet.

Weitere Informationen unter:
https://www.silviakonnerth.de/; www.facebook.com/silviakonnerthautorin/

Von Silvia Konnerth bereits erschienen
Heideblütenküsse
Heidesommerträume

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Silvia Konnerth

Heidelandliebe

Roman

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Originalausgabe 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2021 by Silvia Konnerth
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (nevodka; Anna Kubczak; Matveev Aleksandr; Dewin ID; Charles Brutlag; SATIT THONGDONHUB LEK; SUPIDA KHEMAWAN)
DN · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-26668-4
V001

www.blanvalet.de

Große Veränderungen in unserem Leben können eine zweite Chance sein.

Harrison Ford

Für Sarah

Prolog

Sommer 1989

Manchmal entsteht Liebe aus einem Blick. Einem Lächeln, einer Berührung. Vielleicht aus einem Wort. Oder, so wie in Cleos und Christians Fall, mit einem Fußball, der gegen Guido Schmiderskis Stirn prallte. Blicke und Gesten geraten womöglich mit der Zeit in Vergessenheit, die Erinnerung an diesen Tag jedoch wird niemals verblassen …

Es war der erste Sommerferientag, an dem Cleo auf der großen Wiese hinter dem Spielplatz Radschlag üben und Blumen pflücken wollte. Weil die Mittagssonne am wolkenlosen Himmel glühte, band sie sich die blonden Haare zum Zopf und schnappte sich den Roller, den sie von ihren Eltern zum neunten Geburtstag bekommen hatte. Während sie ihn durch den Rosenweg steuerte, an dessen Ende sich der Spielplatz befand, hoffte Cleo, dass Guido Schmiderski diesmal nicht dort sein würde. Sie hatte ihn noch nie leiden können, da es ihm einen Heidenspaß bereitete, seine Mitschüler zu schikanieren und sich über ihre Schwächen lustig zu machen. Cleos Sommersprossen eigneten sich hervorragend dafür. Früher hatte sie sich darüber nie Gedanken gemacht – sie waren eben da. Aber nachdem Guido angefangen hatte, sie deswegen zu ärgern, war sie eines Morgens mit roten Flecken im Gesicht in der Schule erschienen. Die hässlichen Sprenkel auf Nase und Wangen ließen sich einfach nicht wegrubbeln. Immer wieder hoffte sie, Guido würde von ihr ablassen, sich zum Beispiel Annekathrin mit ihrer festen Zahnspange vorknöpfen oder Tobias, der ständig Hochwasserhosen trug – auch wenn dieser Wunsch gemein war. Doch inzwischen hatte er sie erst recht auf dem Kieker. Cleo bemühte sich redlich, ihm aus dem Weg zu gehen, was kaum möglich war, weil er in der Parallelstraße wohnte, sodass sie sich jeden Morgen begegneten. An jedem verdammten Schultag.

Cleo spürte, wie die Sonne auf ihren Schultern brannte. Sie stieß sich mit dem Fuß vom flirrenden Asphalt ab. Bitte lass Guido nicht da sein, flehte sie das Schicksal stumm an und fragte sich, ob es jemals einen Tag in ihrem Leben geben würde, an dem sie keine Angst mehr vor ihm hätte. Natürlich war alles Hoffen sinnlos, denn Guido lungerte quasi pausenlos auf dem Spielplatz herum, oder er spielte Fußball mit einem seiner Kumpel. Diesen Sommer hatte Cleo ihn häufig mit Christian aus der 4c gesehen, den sie aus dem Kindergarten kannte und der ihr damals schon unheimlich gewesen war. Mit seinem hellbraunen Augenpflaster gegen ein schielendes Auge, der Brille und den zerzausten blonden Haaren hatte er auf sie stets wie ein Pirat gewirkt, und die waren ja bekanntlich keine liebenswerten Zeitgenossen. Mittlerweile konnte er zwar prima gucken, und die Brille war er auch los; lächeln konnte Christian jedoch immer noch nicht. Wenigstens hatte er sich nie an Guidos Attacken beteiligt.

»Hey, Schimmelpilzgesicht!«, dröhnte eine wohlbekannte Stimme hinter der Ligusterhecke, an der Cleo gerade vorbeifuhr.

Mist, sie hatte nicht aufgepasst. Guido sprang aus der Hecke, um ihr den Weg abzuschneiden, doch Cleo wich ihm geschickt aus, den Blick stur geradeaus gerichtet.

»Los, hinterher!«, rief Guido jemandem zu, der sich offensichtlich noch hinter der Hecke befand.

Von hier aus blieb ihr nur noch, auf den Spielplatz zuzurollern, der sich am Ende der Sackgasse befand, denn umkehren war keine Option. Warum war sie bloß ohne ihre Freundin Toni hergekommen, die kein Problem damit hatte, sich mit Jungs zu prügeln, und in deren Gegenwart sogar Ekel-Guido weich wie Toastbrot war? Cleo hörte die schnellen Jungsschritte hinter sich. Vor Angst hätte sie am liebsten geweint, aber sie beherrschte sich, um nicht noch mehr Hohn auf sich zu ziehen. In Augenblicken wie diesen konnte sie Guido nicht bloß nicht ausstehen, sie hasste ihn sogar. So, so sehr. Ihm reichte es nicht, andere mit Worten zu attackieren, sondern er hob bei den Mädchen auch zu gern die Röcke hoch. Und da Cleo heute Shorts trug, war ja klar, dass er sie auf andere Weise ärgern würde.

Sie erreichte das Ziel als Erste, sprang von ihrem Roller, ließ ihn gegen den Holzzaun kippen und betrat den Spielplatz. Zum x-ten Mal nahm sie sich vor, sich nicht von Guido einschüchtern zu lassen, ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich um. Guido grinste, während Christian Abstand hielt und Cleo mit diesem merkwürdigen Blick anstarrte. Ganz so, als sähe er durch sie hindurch.

Cleo stemmte die Hände in die Hüften, obwohl sie sich viel lieber unsichtbar gemacht hätte.

»Lass mich endlich in Ruhe!«, forderte sie, doch ihr Gegenüber entblößte nur einen abgebrochenen Zahn und zeigte mit dem Finger auf sie.

»Dumme Gans.«

Sie streckte Guido die Zunge heraus und lief an der Wippe und am Sandkasten vorbei zur Spielwiese. Sie wusste selbst, wie wenig eindrucksvoll ihre Reaktion gewesen war, aber sie hatte sich immerhin nicht einschüchtern lassen. Nicht offensichtlich zumindest.

»Ich habe da noch ein paar Spinnen für deine Haare!«, rief ihr Guido hämisch nach. »Los, Chris, fangen wir sie.«

»Nee«, hörte sie Christian sagen, und Cleo wunderte sich, dass er überhaupt sprechen konnte. Bisher hatte sie seine Stimme noch nie gehört. Sie klang irgendwie … weich wie Schokoladenkuchen und warm wie Kakao. Richtig nett, obwohl er ja nur ein Dreibuchstabenwort gesagt hatte. Und er in Wahrheit total doof war.

»Hey, wir wollen doch Fußball spielen, und zwar ohne die.«

Um ihre Angst zu überspielen, schlug Cleo konzentriert mehrere kunstvolle Räder und malte sich dabei aus, wie sie sich an Guido rächen würde. Und zwar so, dass er sich genauso schlecht fühlte wie die, denen er wehgetan hat. Sie fragte sich, was die anderen Jungs an ihm fanden. Christian zum Beispiel – warum hing er bloß ständig mit dem blöden Guido rum?

»Buh!«, machte der plötzlich und versperrte Cleo den Weg. Diesmal hatte sie keine Möglichkeit zu reagieren. Sie verlor prompt das Gleichgewicht und kippte um. Unter ihren Handflächen spürte sie das von der Hitze getrocknete Gras und fühlte sich klein wie eine Ameise, vor allem als Guido sich über sie beugte. Flink rollte sie sich zur Seite und rappelte sich auf.

»Schimmelgesicht, mach ’ne Fliege, wir wollen Fußball spielen, und das ist ’ne Sache zwischen Männern. Stimmt’s, Chris?«

Christian antwortete nicht. Er guckte nur. Die Hände in die Taschen seiner Bermudas gesteckt, wirkte er völlig unbeteiligt. Als Guido ihn zu sich winkte, rührte er sich immer noch nicht.

»Pass auf, Schimmelgesicht«, sagte Guido nun wieder an Cleo gerichtet. Er grinste dabei, wie Blödis nun mal grinsten. »Ich zähle bis zehn, und du verziehst dich.« Tatsächlich legte er eine Hand über die Augen. »Los, troll dich!«

Cleo wich einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeizulaufen. Sicher sein konnte sie sich zwar nicht, dass er sein Angebot ernst meinte, trotzdem erschien es ihr klug, die Flucht zu riskieren. Ein letztes Mal musterte sie Guido, der soeben den Mittelfinger seiner freien Hand hob. Blödmann!

Plötzlich, wie aus dem Nichts, zischte etwas an Cleo vorbei. Etwas Schwarz-Weißes, Rundes. Der Fußball prallte mit voller Wucht gegen Guidos Stirn, der aufheulte, taumelte und auf dem Hintern im Gras landete. Ungläubig sah Cleo von ihm zu Christian, der nach wie vor schwieg und sie anguckte. Und sie guckte zurück. Auf einmal rauschte es in ihren Ohren, und Guidos Gejammer wurde ganz leise. Ihr Herz machte einen merkwürdigen Hüpfer, mehr noch als vor drei Wochen bei ihrer allerersten Eins in Mathe. Während sie sich ansahen, verstrichen die Sekunden, wurden zu Stunden, aus Tag wurde Nacht und umgekehrt. Es war verrückt. Schließlich zuckte Christian die Achseln und wandte sich zum Gehen.

»Boah, was soll das? Mensch, tut das weh!«, winselte Guido, der mittlerweile auf dem Rücken lag. Cleo hatte kurzzeitig ein schlechtes Gewissen, weil man Leuten, die in Not waren, doch helfen musste. Nicht sehr nett von Christian, seinen Freund abzuschießen und dann zu verschwinden. Aber obercool und megamutig! Sie rannte los und erreichte ihn auf Höhe der Wippe. Ohne ein Wort zu sagen, marschierten sie zuerst nebeneinanderher, während Cleo fieberhaft nach dem ersten Satz suchte. Was sagte man jemandem, der den größten Feind ausgeknockt hatte? Und dessen Haut ganz warm war, was Cleo merkte, als sich ihre Arme berührten.

»Prima Schuss«, war das Erstbeste, was ihr einfiel. Sie erreichten den Zaun, an dem Cleos Roller lehnte. »Jedenfalls … danke. Ich wusste gar nicht, dass du so gut schießen kannst. Eigentlich habe ich noch nie jemanden gesehen, der so gut ist. Nicht mal Jürgen Klinsmann.«

Während Cleo plapperte wie ein Wasserfall, stoppte Christian abrupt und betrachtete sie. Braun. Seine Augen waren braun. Normalerweise achtete Cleo nicht auf solche Details wie Augen. Bei Hunden schon, aber nicht bei Jungs. Und eigentlich … wirkte Christians Blick aus der Nähe gar nicht mehr so finster.

»Warum hast du das gemacht?«, wollte sie wissen.

»Vielleicht gefallen sie ja … anderen«, waren seine allerersten Worte an Cleo.

»Hä?« Verwirrt verzog sie das Gesicht.

»Deine Sommersprossen. Die mein ich«, sagte Christian.

Die dummen Dinger. Cleo berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Die fühlte sich ziemlich warm an.

Christian hatte während ihres kurzen Wortwechsels kein einziges Mal weggesehen, nicht wie sonst. Eine Haarsträhne fiel in seine Stirn. Sie war schön. Die Strähne. Und die Stirn.

»Willst du mit mir … Eis essen gehen?«, fragte er unvermittelt und mit hoffnungsvollem Blick. »Ich habe noch drei Mark fünfzig. Das reicht für sieben Kugeln, du kannst eine mehr haben.«

»Oh!« war alles, was Cleo einfiel. Sie liebte Eis. Doch nicht nur der Gedanke an Eis machte sie in diesem Moment glücklich. »Okay«, stimmte sie zu, da es das Einzige war, was ihr logisch erschien. Und mit ihren fünfzig Pfennig, die sie heute Morgen eingesteckt hatte, hätten sie beide gleich viele Kugeln. »Ich mag am liebsten Erdbeere. Und du?«

»Egal«, entgegnete Christian in gleichgültigem Tonfall, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben. »Solange du dabei bist.« Dann lächelte er.

Kapitel 1

30 Jahre später

»Zieh dich endlich an«, drängte Cleo ihre Tochter Lotta an diesem regnerischen Herbstnachmittag, an dem ihr die Fünfjährige mit ihrer Trödelei mal wieder den letzten Nerv raubte. Sie betrachtete sich im bodentiefen Spiegel, auf den Lotta vergangene Woche mit abwaschbaren Kreidestiften ein krakeliges Haus und Bäume gemalt hatte, und zupfte ihre hellblaue Hemdbluse zurecht, die um die Taille spannte. Schließlich wandte sie sich zu ihrem kleinen Trotzkopf um, der unschlüssig vor dem Schuhregal stand, über dem die Garderobe angebracht war. »Du kommst zu spät zu Lea-Maries Geburtstag. Und ich zur Arbeit.«

»Ich will die Strickjacke anziehen«, gab Lotta zurück, ohne sich einen Millimeter zu rühren.

Cleo linste auf die Armbanduhr, die ihr Christian vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und atmete tief ein und aus. Mit etwas Glück würden sie noch halbwegs pünktlich zur Party kommen, zum Kiosk würde Cleo es jedoch nicht mehr rechtzeitig schaffen. »Es regnet. Keine Strickjacke.«

»Doch!«

»Regenjacke.«

Trotzig verschränkte Lotta die Arme. Cleo fiel auf, dass der blonde Bob ihrer Tochter ungekämmt und struppig war, aber wenn sie die Haarbürste ins Spiel brächte, würden sie am Abend immer noch unverrichteter Dinge im Hausflur stehen.

»Will ich nicht«, beharrte Lotta. »Regnet ja auch gar nicht.«

Mit schnellen Schritten erreichte Cleo die Haustür, riss sie auf und zeigte nach draußen in den winzigen Vorgarten. Die Beweise für das schlechte Wetter waren erdrückend. Die Beete waren matschig, vor der Treppenstufe hatte sich eine Pfütze gebildet, in die dicke Regentropfen platschten. Die gelben Chrysanthemen in den Minibeeten ließen die Köpfe hängen. Aus der Regenrinne des Gartenhauses schräg gegenüber schwappte Wasser. Nur die flachen pastellfarbenen Meersteine, die Cleo und Lotta diesen Sommer von der Nordsee mitgebracht, denen sie Gesichter aufgemalt und die sie zwischen den Blumen verteilt hatten, sprenkelten das Herbstgrau mit Farbklecksen.

»Bitte zieh dich an«, startete Cleo einen weiteren Überredungsversuch, dem sie ein eindringliches »Jetzt!« hinterherschickte. Sie nahm die Regenjacke vom Garderobenhaken und reichte sie ihrer Tochter.

»Ich zieh die Strickjacke an«, gab die zurück und holte die Riemchensandalen aus dem Schuhregal. Fünfjährige – unergründliche Wesen.

»Stopp!«, rief Cleo. »Wo sind denn deine Gummistiefel? Ich habe sie doch vorhin neben das Regal gestellt.«

Ungerührt ließ Lotta die Sandalen auf den mit Kinderschuhabdrücken übersäten Fliesenfußboden fallen, während Cleo abwog, ob sie zugunsten ihres ohnehin schon dünnen Nervenkostüms entweder mit den Schuhen oder im Jackenkonflikt nachgeben sollte. »Sie sind hässlich, Mama. Das Rot ist doof.«

»Wo sind denn die Stiefel?«

»Ich hab sie weggeworfen.« Lotta zuckte die Achseln, als wäre es völlig normal, neue, unverhältnismäßig teure Schuhe im Abfall zu entsorgen. Mit ihren großen braunen Augen sah sie Cleo an, die sich sehnlichst das unschuldige Mädchen zurückwünschte, das ihre Tochter erst letzte Woche noch gewesen war – ehe einer dieser schrecklichen »Entwicklungsschübe« alles durcheinandergebracht hatte. Kein Mensch konnte vorhersehen, wann genau sie begannen, wie lange sie dauerten und wann das motzige kleine Etwas endlich wieder umgänglich sein würde.

»Wir machen es so«, schlug Cleo vor. »Ich hole die Gummistiefel aus dem Müll, und du ziehst sie an, okay? Vielleicht geht ihr ja nachher raus, dann bist du froh, sie zu haben.«

»Aber ich kann sie nicht anziehen, Mama. Lea-Marie hat die auch.«

Zack!, und Cleos Geduldsfaden riss endgültig. »Ich weiß, dass Lea-Marie die auch hat«, zischte sie. »Himmeldonnerwetter noch mal, wir können gleich zu Hause bleiben, weil du so ein Theater wegen ein paar dummen Gummistiefeln machst!« Schwungvoll stieß Cleo die Haustür zu, die mit einem kräftigen Rums! ins Schloss fiel.

»Mach ich gar nicht!«

Ein weiteres Mal atmete Cleo durch. Okay, jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Sie hatte sich geschworen, ihren eigenen Frust auf keinen Fall an Lotta auszulassen. Es war eine anstrengende Phase für ihre Tochter. Und es war normal, dass sie versuchte, ihren Willen durchzusetzen, jetzt womöglich besonders vehement, bei allem, was ihr kleines Herz derzeit durchmachte. Cleo durfte nicht vergessen, dass Lotta mit ihren fünf Jahren noch nicht verstand, warum ihre Eltern sich trennten, auch wenn sie bei dem Gespräch, dass Cleo und Christian mit ihr geführt hatten, ehe er ins Gästezimmer gezogen war, recht nüchtern reagiert hatte. Lotta hatte lediglich wissen wollen, ob sie weiter in dem Haus wohnen würde. Trotzdem befürchtete Cleo, dass noch eine sehr, sehr schwere Zeit vor ihnen lag. Es war ja nicht so, dass Christian und sie die Entscheidung leichtfertig getroffen hätten. Nächtelange Gespräche hatten sie geführt, Tränen vergossen, sich in den Armen gelegen und sich angeschrien, um immer wieder an den einen Punkt zu gelangen: Es war aus. Allerdings konnten sie ihrer Tochter deswegen nicht alles durchgehen lassen.

In der Zwischenzeit hatte Lotta Cleos Unachtsamkeit ausgenutzt, um in die Sandalen zu schlüpfen. »Guck mal, Mama, die glitzern. Die will ich anziehen.«

Resigniert stöhnte Cleo auf. »Häschen, zieh dich bitte einfach an, damit wir endlich fahren können, ja?«

»Sandalen und Strickjacke.«

»Meinetwegen.«

Siegessicher klatschte Lotta in die Hände, doch Cleo ahnte, dass sie ihre Sturheit bald bereuen würde. Wer nicht hören will, muss fühlen, hatte ihre Tante immer gesagt. Cleo hasste diesen Spruch. Auch wenn er angesichts des Regens stimmte.

»Können wir morgen andere Gummistiefel kaufen, Mama?«, fragte Lotta, die sich in Windeseile angezogen hatte. Sie schnappte sich ihren Einhornregenschirm, dann öffnete sie die Haustür und hüpfte hinaus in den Regen. Einem Geistesblitz folgend, hetzte Cleo in den Hauswirtschaftsraum neben der Küche und riss wahllos eine Kinderstrumpfhose von der Wäscheleine, die sie in ihre Tasche stopfte. Im Flur fischte sie den Autoschlüssel aus der selbst getöpferten Schale, die ein übergroßes Ahornblatt hatte werden sollen, jedoch viel mehr nach Eisbergsalat aussah. Anschließend zog sie den gefütterten Friesennerz über, ebenfalls ein Mitbringsel aus dem letzten Urlaub, und schlüpfte in die Gummistiefeletten. Schnell pflückte sie Lottas Regenjacke vom Haken und wandte sich dem Mädchen zu, das, vom Blitz der Erkenntnis getroffen, in der Pfütze vor dem Haus stand und sich nicht rührte. Während schwere Regentropfen auf den Einhornschirm niederprasselten, füllten sich Lottas Augen mit Tränen, die Cleo jedes Mal so sehr berührten, dass sie mitweinen könnte. Plötzlich hatte sich ihre Gereiztheit in Luft aufgelöst, genauso wie der Vorsatz, ihren Willen durchzusetzen. Denn jetzt schwamm im Blick ihrer Tochter die Erleuchtung, dass etwas gehörig schiefgelaufen war. Ach, Lotta, dachte Cleo. Und wenn sie ihre Schuhe noch so oft in den Müll packte – sie liebte ihr Häschen über alles und verzieh ihr sowieso.

Da sie ohnehin zu spät zum Geburtstag kommen würden und die Arbeit im Kiosk auch nicht weglief, zog sie ihre Kapuze über und hockte sich vor Lotta. Mitfühlend streichelte sie ihren Arm.

»Guck mal, was ich hier habe.« Sie zauberte die Strumpfhose hervor und hielt sie der Kleinen hin. »Komm schnell rein, ich helfe dir beim Umziehen.«

»Okay«, schluchzte Lotta und watete in schmatzenden Sandalen ins Haus.

Vielleicht war es nicht nur ihre Fehleinschätzung in Sachen Sandalen, die sie traurig gemacht hatte. Konnte gut sein, dass ihr in dem Moment wieder eingefallen war, dass ihr Vater bald nicht mehr bei ihnen wohnen würde. Neuerdings führte Lotta hin und wieder Selbstgespräche. Einmal hatte Cleo mitbekommen, dass sie ihrem Kuschelhasen nach einem Streit zwischen Lotta und ihr wutentbrannt ihr Leid geklagt hatte, und allein beim Gedanken an ihren kleinen Lauschangriff überkam sie erneut das schlechte Gewissen. Und dann redete sie sich wie immer ein, dass sich Mütter in besonderen Fällen bestimmt dem Datenschutz widersetzen durften.

Cleo seufzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne Christian aussehen würde. Sie waren doch einmal so glücklich miteinander gewesen. Während andere Frauen sich über Geschäftsreisen des Partners freuten, hatten Christian und Cleo jeden Abend, den sie nicht gemeinsam verbrachten, miteinander telefoniert – selbst wenn sie sich am Tag darauf schon wiedersahen. Wann hatte Cleo begonnen, sich ebenfalls nach Freiheit zu sehnen? Sie erinnerte sich nicht. Sie wusste nur, dass der Wunsch nach Selbstverwirklichung und eigenen Hobbys um Lottas dritten Geburtstag herum stärker geworden war. Immer hatte sie sich wie abgestellt gefühlt, hatte beruflich zurückgesteckt, damit Christian sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Zuerst war ihr das leichtgefallen, doch mit der Zeit hatte sie sich nicht mehr als Christians Frau, sondern nur noch als Lottas Mutter und Hausfrau gefühlt. Das reichte ihr nicht. Sie wollte wieder Cleo sein. Christian hatte ihr dieses Gefühl nicht geben können, und sie hatten sich immer weiter voneinander entfernt. Als Freunde aber wollten sie keine Ehe führen. Doch war es das wert, ihr altes Leben zu verlieren?

Nicht selten fragte Cleo sich, ob sie zu früh aufgegeben hatte. Christian war ihr immer noch wichtig – natürlich! Sie hatten viel miteinander durchgemacht – den Tod von Cleos Mutter, dann Christians Arbeitslosigkeit, wegen der er kurz vor einer Depression gewesen war. Eine Paartherapie hatten sie während der ersten Beziehungsschwierigkeiten ebenfalls durchgestanden. Danach hatte es anfangs so ausgesehen, als könnte ihre Liebe in Zukunft nichts mehr erschüttern. Was war passiert? Sie wusste es nicht. Nur gut, dass sie respektvoll miteinander umgingen. Denn noch wohnte Christian bei ihnen. Sie aßen gemeinsam Abendbrot, unternahmen am Wochenende Spaziergänge. Bloß das Bett teilten sie nicht länger, Christian schlief jetzt im Gästezimmer. Wie würde sich Lotta verändern, wenn ihre Eltern nicht mehr in einem Haus lebten? Möglicherweise war es an der Zeit für klare Verhältnisse, dachte Cleo. Denn sie war sich sicher: Lange würde der Frieden nicht anhalten.

Cleo schluckte schwer, wischte sich mit dem Daumen eine Träne aus dem Augenwinkel und atmete tief durch. Vielleicht war es das wert, vielleicht auch nicht. Sie würde es wohl oder übel herausfinden und durfte nicht all die Streitigkeiten und die Tatsache aus den Augen verlieren, dass Christian und sie nicht mehr denselben Weg verfolgten. Deswegen hatte sich die Trennung letztlich richtig angefühlt. Meistens.

Cleo bückte sich nach ihrer Handtasche, die neben der Haustür lag, schloss ab und trat erneut in den Regen. Heute Abend würde sie mit Christian darüber sprechen, wie sie den nächsten Schritt der Trennung angehen sollten. Denn eines stand fest: Diese Situation war ungesund. Für die ganze Familie.

Der Kiosk von Özcan, in dem Cleo seit über einem Jahr stundenweise arbeitete, befand sich nur unweit ihres Zuhauses und unmittelbar neben einem Schulzentrum, weswegen um die Mittagszeit und bei Schulschluss der Kundenansturm am höchsten war. Im Kiosk roch es nach gedrucktem Papier, nach Tabak, Kaffee und Süßigkeiten. Eine eigenartige Mischung, an die sich Cleo mittlerweile gewöhnt hatte. Angenommen hatte sie die Stelle nur aus dem Pflichtgefühl heraus, einen Beitrag zur Haushaltskasse zu leisten, denn ihr Traumjob war das definitiv nicht. Zwar genoss sie den Umgang mit den unterschiedlichen Menschen, die ihr tagtäglich begegneten. Das stete Ein und Aus, die Geschichten, die sie mitbekam … Manche hörte sie zufällig mit, aber hin und wieder schüttete ihr ein Wildfremder ungefragt sein Herz aus. Das war Cleos Ding, anderen zuzuhören, da zu sein, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Tatsächlich würde sie gern im sozialen Bereich arbeiten – abseits von schrumpeligen Bockwürstchen im Brötchen, Zeitungen und Lottoscheinen. Als psychologische Beraterin zum Beispiel. Oder als Sozialpädagogin. Eigentlich hatte sie Betriebswirtschaft studiert, doch nach der Elternzeit hatte sie sich dazu entschieden, ihre Anstellung als Unternehmensberaterin an den Nagel zu hängen und einen Halbtagsjob in einer Schreinerei anzunehmen. Im Büro. Telefondienst. Rechnungen. Termine koordinieren. Bis die Firma pleitegegangen war. Danach hatte sie einfach keine vergleichbare Arbeit mehr gefunden. Wie sollte sie sich wertvoll fühlen, wenn niemand sie einstellen wollte? »Zu Hause wird dir sicher nicht langweilig«, war das Erste gewesen, was Christian dazu eingefallen war. Wie ein Schlag ins Gesicht hatte sich das angefühlt, obwohl Cleo sich immer wieder sagte, dass sie seine Bemerkung falsch aufgefasst hatte. Trotzdem saß die Verletzung tief.

Nun musste sie eine einträglichere Arbeit finden, und zwar dringend, denn der mickrige Stundenlohn von Özcan würde nie reichen, um zu überleben.

Da sie ihre Schicht zu spät angetreten hatte, war die Schülerflut bereits verebbt, und Cleo machte sich daran, die Zeitungen zu sortieren – dankbar, dass Özcan ein Auge zugedrückt hatte und ein paar Minuten länger im Kiosk geblieben war. Dabei blätterte sie in der aktuellen Bravo und reiste gedanklich in die Zeit, in der Starschnitte und Dr. Sommer total in gewesen waren. Letzteres war vor allem deswegen interessant gewesen, als sie mit vierzehn gespürt hatte, wie sich zwischen Christian und ihr etwas veränderte. Es hatte geknistert. Darauf war der erste richtige Kuss gefolgt, der sich merkwürdig angefühlt hatte. Allerdings nicht merkwürdig genug, um keinen zweiten zu wagen. Eine schöne Zeit war das gewesen. Aufregend.

Als das Türglöckchen klingelte, steckte sie rasch die Zeitschrift in irgendein Fach und sprang auf.

Ein Mann in marineblauem Anzug und Krawatte trat ein, sah sich um und musterte Cleo abschätzig.

»Guten Tag«, sagte sie und lächelte den Neuankömmling freundlich an, der den Mund zu einer Grimasse verzog, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihm nicht der Sinn nach einem Small Talk mit einer Kioskverkäuferin stand. Zum Beweis fasste er an sein Handgelenk oder vielmehr an die protzige goldene Uhr und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Was für ein Typ, dachte Cleo und ärgerte sich, weil sie sich in seiner Gegenwart unwillkürlich klein und wertlos fühlte. Dabei hatte sie es wohl kaum nötig, sich mit so einem Lackaffen zu vergleichen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie so zuvorkommend wie möglich.

»Ich brauche eine Kleinigkeit für meine …« Er brach ab, und Cleo vervollständigte in Gedanken seinen Satz. Geliebte. Keine Ahnung, warum sie ihm unterstellte, dass er der Affärentyp war. »Haben Sie Pralinen und Wein?«

Cleo zwang sich, sich von dem herablassenden Blick des Mannes nicht beeindrucken zu lassen. Wenn sie eines während ihrer Zeit hier gelernt hatte, dann, negative Gefühle bei sich zu behalten und unbeteiligt zu wirken. Zumindest außerhalb der Familie schaffte sie das ganz gut.

»Nun«, sagte sie zuckersüß. »Ich denke schon. Wir sind ein Kiosk. Es gibt von allem ein bisschen.«

»Ich nehme an, der Wein ist vom Discounter?«

»Wie gesagt, wir sind ein Kiosk.«

»Dann geben Sie mir einfach eine Flasche. Und Pralinen.«

Cleo blitzte ihn an. »Weiß, rot, rosé? Trocken, halbtrocken, lieblich? Und die Pralinen – mit Alkohol oder ohne? Schokolade oder Cremefüllung? Deluxe oder Discounter?«

»Du meine Güte. Irgendwas. Ist mir egal.«

»Sehr gerne.« Cleo strahlte ihn an und verschwand zwischen zwei Regalen, in denen es unter anderem Wein, Schnäpse, Schulhefte, Stifte und Kondome gab. Özcan hatte ein merkwürdiges Ordnungssystem, aber Cleo hatte sich daran gewöhnt. Auch daran, dass er es nicht lustig fand, wenn jemand die heilige Ordnung durcheinanderbrachte. Sie nahm die erstbeste Flasche Wein aus dem Regal, einen Portugieser Weißherbst, und bückte sich, um eine Schachtel belgische Pralinen aus dem Fach neben den »Gefühlsechten« zu ziehen.

»Dauert es noch lange?«, fragte der Mann, als Cleo auftauchte und mit ihrer Beute zur Kasse ging. Sie hätte nicht übel Lust, den dreifachen Betrag zu kassieren. Nur so, weil sie den Typen nicht mochte.

Cleo tippte die Preise ein. Bei der Neun musste sie beherzter drücken, da die Taste weitgehend berührungsresistent war. Der Mann trat näher, zückte seine Geldbörse und reichte Cleo die American Express.

»Tut mir leid«, sagte sie aus einem Impuls heraus. »Nur Barzahlung.«

»Was? Aber an der Tür steht …«

»Ja«, unterbrach sie ihn in mildem Tonfall. »Allerdings nicht unter zehn Euro.«

»Dann nehme ich eben noch etwas dazu. Hier, die Kaugummis.« Er griff nach einer Packung aus dem Kaugummi- und Bonbonregal, das auf dem Tresen stand. »Jetzt kommen wir über zehn Euro.«

»Mag sein, doch leider ist das Kartenlesegerät kaputt.« Cleo schenkte ihm ein unschuldiges Lächeln. Hoffentlich gab es nicht so etwas wie Karma. Ihr Punktekonto sah in letzter Zeit nicht sonderlich rosig aus.

Der Mann funkelte sie wutentbrannt an, und Cleo hoffte, dass er einfach verschwinden würde. Wie der guckte!

»Gut«, presste er hervor, legte die Kaugummis zurück und reichte Cleo einen Zehneuroschein. Kurz fixierte er sie und schob ein arrogantes »Stimmt so« hinterher. Dann nahm er den Wein und die Pralinen, wandte sich ab und marschierte zur Tür.

»Schönen Tag noch!«, rief Cleo ihm nach, doch er verließ den Kiosk, ohne zu antworten. Sie atmete durch. Der Duft seines schweren Parfüms waberte durch den Raum, und sie fand, dass er zumindest das Gutriechen beherrschte.

In diesem Moment klingelte das Telefon, das neben der Kasse lag und dessen Display seit einigen Wochen ein Riss zierte, weswegen keine Nummern mehr angezeigt wurden.

»Kiosk Özcan U…«

»Cleo, ich bin’s!«, rief ihre Freundin Bille vom anderen Ende der Leitung. »Auf deinem Handy habe ich schon ein paarmal angerufen, aber du antwortest ja nicht.«

»Oh Mist!«, entfuhr es Cleo. »Ich habe ganz vergessen, den Ton anzustellen.« Mit dem Hörer am Ohr lief sie in den schuhkartongroßen Aufenthaltsraum hinter dem Verkaufstresen. Dort fischte sie besagtes Handy aus der Tasche und schaltete den Ton ein.

»Wie geht’s dir, Bille?«

»Wie geht es dir, mein Schatz? Kommst du klar?«

Cleo hatte Bille im vergangenen Jahr bei Lottas Schwimmkurs kennengelernt. Bille arbeitete vormittags als Kindergärtnerin, einmal in der Woche leitete sie die Seepferdchengruppe, und abends jobbte sie hin und wieder in der Bar einer Event- und Kultureinrichtung. Sie brauchte die Abwechslung, sagte sie. Bille nahm, was das Leben ihr bot, vor allem, was Männer anging. Ihre Romanzen waren meist nicht von Dauer, der Liebeskummer am Ende einer Beziehungskiste, wie sie es nannte, allerdings auch nicht. Bille achtete darauf, sich nie zu sehr in einen Mann zu verlieben. Behauptete sie jedenfalls. Cleo bezweifelte allerdings, dass man das steuern konnte. Aber wer weiß – möglicherweise irrte sie sich ja. Lotta jedenfalls hatte ihre Schwimmlehrerin von Anfang an geliebt, genau wie den Unterricht bei ihr. Cleo hingegen war zunächst skeptisch gewesen, da ihr Billes Offenheit und ihre quirlige Art zu viel gewesen waren. Doch bereits nach der zweiten Schwimmstunde hatte auch sie dem Charme der Vierzigjährigen nicht widerstehen können, als sie gesehen hatte, wie glücklich die Kinder waren. Bille musste man einfach mögen – und genau deswegen war sie ihre neue beste Freundin geworden.

»Mir geht’s prima«, schwindelte Cleo, dann lachte sie. »Ich weiß, dir kann ich nichts vormachen. Aber ich würde jetzt lieber über den Gitarristen sprechen, den du gestern aufgegabelt hast. Du hast ihn doch nicht mit nach Hause genommen, oder?«

»Um Himmels willen, nein!«, rief Bille betont aufgebracht. »Ich nehme doch nicht jeden mit heim.« Sie kicherte. »Wir waren bei ihm. Aber ich bin gegangen, bevor es brenzlig wurde. Ich denke, mit der Gitarre kann er besser umgehen als mit Frauen. Hat nur über Musik geredet. Und geküsst hat er wie eine Eidechse. Zuerst dachte ich noch, dass diese Technik für andere Körperbereiche hilfreich sein könnte, aber …«

»Oh Gott, bitte nicht, Bille. Das will ich mir nicht vorstellen!«

»Sei nicht so verklemmt, Cleo. Magst du es etwa nicht, wenn …«

»Ich bin auf der Arbeit«, unterbrach Cleo sie hastig. Sie hatte keine Ahnung, ob die Überwachungskamera den Ton mit aufnahm. Und derart delikate Gesprächsthemen gingen Cleos Chef nun wirklich nichts an. Sie linste zu einer der drei Kameras und konnte sich gut vorstellen, dass Özcan mehr mitbekam, als ihr lieb war.

»Apropos Chef. Du suchst doch immer noch einen Job, oder? Ich hätte da was für dich.«

»Du?«, hakte Cleo skeptisch nach. »Ich bin nicht sicher, ob du für meine Bedürfnisse die richtigen Angebote hast. Ich will keine Stripteasetänzerin sein, und ich will auch keine Cocktails hinter einer schummrigen Disco-Theke schütteln.«

»Ich geb ja zu, meine bisherigen Vermittlungsversuche waren nicht auf deine Person abgestimmt«, räumte Bille ein. »Doch jetzt … jetzt habe ich genau das Richtige für dich, wirst sehen!«

»Na gut. Schieß los.« Mit den Ellenbogen stützte sich Cleo auf dem Verkaufstresen ab und klemmte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr. Sie betrachtete ihre Nägel, die dringend einer Pflege bedurften. Früher wäre sie so nie vor die Tür gegangen.

»Gesucht wird jemand mit Verantwortungsgefühl und Sinn für Häuslichkeit. Der Bewerber sollte ordentlich und sauber sein. Vertrauenswürdig und verschwiegen«, zählte Bille auf. »Kennst du dich mit Gartenpflege aus?«

»Gartenpflege … ja, schon ein bisschen, aber … Ach, Bille. Du bist doch kein Vermittlungsbüro«, erinnerte Cleo sie.

Bille seufzte. »Schade, oder? Ich wäre echt gut darin.«

»Wenn wir schon darüber reden – wer ist dein Pseudoklient?«

»Darf ich nicht sagen.«

»Du willst mir einen Job bei ihm andrehen.«

»Erst musst du Interesse haben, dann erzähle ich mehr.«

Cleo verdrehte die Augen. »Wo triffst du eigentlich immer diese Leute, die solche merkwürdigen Stellen zu vergeben haben?«

»Ach, hier und da«, entgegnete Bille betont gleichmütig. »Kennst mich ja, ich bin sehr kontaktfreudig.« Oh ja, das war sie. Manchmal bewunderte Cleo die Freundin dafür, aber meistens fand sie sie ziemlich leichtsinnig. »Es würde sich auch finanziell für dich lohnen – könnte ich mir zumindest vorstellen. Zufällig weiß ich, dass meine Bekanntschaft schon ziemlich lange sucht, was natürlich deine Verhandlungsposition stärkt.«

»Oh Bille«, stöhnte Cleo. »Ist es wieder so eine Putzstelle mit gewissen Diensten? Hast du gestern noch irgendwelche steinreichen Freunde deines Gitarristen kennengelernt, oder was ist passiert? Ich werde jedenfalls in keine Schickimickibude ziehen und dort als Mädchen für alles fungieren.«

»Können wir bitte endlich vergessen, dass ich dich aus Versehen als Sexsklavin vermitteln wollte? Konnte ja keiner ahnen.« Bille räusperte sich. »Und was den Gitarristen angeht – von dem erwarte ich wirklich keine Kontakte, mit denen man sich länger unterhalten kann. Also pass auf, ich verrate es dir. Du wirst mir so dankbar sein!« Bille gluckste vergnügt, doch Cleo blieb weiterhin misstrauisch. Ihre Freundin hatte bereits einige skurrile Gestalten während ihrer Dienste in der Bar getroffen, zum Beispiel einen Poeten, in dessen Gedichten kein A vorkam. Oder eine Malerin, die nur in Schwarz malte. Ein Comiczeichner hatte Billes Körper als Leinwand benutzen wollen … Es ergab also durchaus Sinn, auf der Hut zu sein. »Im Moment probt das Musikensemble Ellie Rose für eine kleine Konzertreihe bei uns. Und die Pianistin sucht einen Haussitter für ihr Sommerhaus in der Heide. Da habe ich gleich an dich gedacht.«

»Ellie Rose, nie gehört«, stieß Cleo aus, überfordert mit so vielen Informationen. »Wie kommst du denn darauf, dass ich so etwas tun würde? Ich habe ein Kind, das in den Kindergarten muss. Da kann ich nicht einfach weg, um auf ein Haus aufzupassen.« Sie seufzte. »Wirklich lieb von dir, dass du mir helfen willst, aber …«

»Lotta darf natürlich mit. Den Kindergarten kannst du getrost ein paar Wochen auslassen. Das machen viele Eltern«, argumentierte Bille. »Das Haus soll sehr schnuckelig sein. Mit viel Holz und Blumen drum herum. Im Wald. Und ich glaube, dass Florentine von Breitling, so heißt die Pianistin, extrem daran hängt. Zugegeben, sie wirkt etwas kauzig, aber ich schätze, du hättest sowieso nichts mit ihr zu tun. Und, wie sieht’s aus – hast du Interesse?«

»Also wirklich, Bille. Nun hör schon auf.«

»Wieso gibst du der Sache keine Chance? Wäre doch perfekt, um ein bisschen Abstand und einen klaren Kopf zu kriegen. Manchmal hilft ein kleiner Tapetenwechsel, um zu erkennen, dass man schon alles hat, was man zum Glücklichsein braucht.«

»Ich bin nicht glücklich.«

»Im Moment nicht, Cleo. Aber wenn du erst mal erkannt hast, dass das Glück nur eine kleine Pause gemacht hat, dann …«

»Schluss damit«, sagte Cleo mit Nachdruck. »Ich weiß, du meinst es nur gut, aber ich muss jetzt auf eigenen Beinen stehen und möchte mir selbst einen Job suchen. Einen, bei dem ich auf lange Sicht ein festes Einkommen habe.«

»Na gut«, gab Bille zähneknirschend auf. »Aber denk wenigstens darüber nach, ja? Du müsstest einfach nur da sein und Haus und Garten pflegen. Stell dir doch mal vor, wie toll das für Lotta wäre. Sie könnte frei herumlaufen und klettern und Frösche jagen und …«

Cleo lächelte beim Gedanken daran, dass Lotta sich nicht mehr mit dem Minigarten zufriedengeben müsste, in dem gerade Platz genug für eine Sandmuschel und ein paar Blumen war.

»Tolle Vorstellung«, räumte sie ein und richtete sich auf. Uff. Sie fasste sich ins Kreuz. Die Position war für ihren Rücken nicht von Vorteil gewesen, es zwickte ganz schön im Lendenwirbelbereich. »Ich muss mal weitermachen. Bleibt es bei unserer Verabredung morgen Abend?«

»Aber hallo!«, rief Bille. »Ich freu mich auf dich. Holst du mich ab? Meine Schicht endet um sieben. Ich habe uns einen Tisch im Laternchen reserviert. Ist nett da. Hübsche Kellner.« Sie kicherte, und Cleo gab einen resignierten Laut von sich. Bille war eben unverbesserlich. Und so war sie genau richtig.

Die Freundinnen verabschiedeten sich, und Bille bat Cleo, noch mal über ihren Vorschlag nachzudenken. Doch das würde sie garantiert nicht tun. Ganz ehrlich, sie hatte andere Sorgen. In einer Stunde zum Beispiel musste sie Lotta vom Kindergeburtstag abholen. Und am Abend sollte sie mit Christian über seinen Auszug sprechen. Seufzend legte sie den Telefonhörer auf die Station. Für einen klitzekleinen Moment kam ihr die Vorstellung, einige Zeit von zu Hause weg zu sein, ziemlich verlockend vor. Doch dann besann sie sich auf das, was vor ihr lag. Und Weglaufen gehörte nicht dazu.