Zum Buch
Die ruhigen Tage scheinen gezählt in der kleinen Baptistengemeinde »Five Ends« im Süden Brooklyns. An einem warmen Septembertag im Jahr 1969 tritt der alte Diakon Cuffy Lampkin, genannt »Diakon King Kong«, mit einer Waffe auf den zentralen Platz seines Sozialbauviertels, hält sie vor aller Augen dem hiesigen Drogendealer ins Gesicht – und drückt ab. Ausgerechnet der Diakon, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Wie konnte es dazu kommen? Schnell zeigt sich, dass sich die Schicksale aller Gemeindemitglieder – der Afroamerikaner wie der Latinos, der abgehalfterten Mafiosi wie der korrupten Cops – in dieser unvorstellbaren Tat überkreuzen. Und dass himmlische Gerechtigkeit und Strafe manchmal eine ziemlich irdische Angelegenheit sind …
Zum Autor
JAMES MCBRIDE – Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist – wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman »Die Farbe von Wasser«. Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times Bestsellerliste. McBrides Debüt »Das Wunder von St. Anna« wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für »Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford« erhielt McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde James McBride von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
James McBride
Der heilige King Kong
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Werner Löcher-Lawrence
Für Gottes Kinder –
für jedes einzelne von ihnen
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»Deacon King Kong« bei Riverhead Books, New York.
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Copyright © 2020 by James McBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by btb Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München,
nach einem Entwurf von Jaya Miceli unter Verwendung
eines Motivs von © Jaya Miceli
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-26675-2
V001
www.btb-verlag.de
www.facebookcom/btbverlag
1. Jesus’ Käse
2. Ein toter Mann
3. Jet
4. Wegrennen
5. Der Governor
6. Bunch
7. Der Marsch der Ameisen
8. Rumsuchen
9. Schmutz
10. Soup
11. Kermesbeeren
12. Mojo
13. Das Mädchen vom Land
14. Ratte
15. Du hast keine Ahnung, was kommt
16. Möge Gott dich halten
17. Harold
18. Ermittlung
19. Aufs Kreuz gelegt
20. Der Pflanzenmann
21. Neuer Schmutz
22. 281 Delphi
23. Letzte Oktober
24. Schwester Paul
25. Tun
26. So schön
Dank
An einem verhangenen Septembernachmittag des Jahres 1969 wurde Diakon Cuffy Lambkin von der Five Ends Baptist Church zu einem lebenden Toten. An dem Tag ging der alte Mann, der von seinen Freunden »Sportcoat« genannt wurde, hinaus auf die Plaza, den zentralen Platz des Causeway Housing Projects, eines Sozialwohnungskomplexes in Süd-Brooklyn, hielt einem neunzehnjährigen Drogendealer namens Deems Clemens einen alten .38er Colt vors Gesicht und drückte ab.
Es gab jede Menge Theorien unter den Leuten, warum der alte Sportcoat, ein drahtiger, gut gelaunter, dunkelhäutiger Mann, der sich den Großteil seiner einundsiebzig Jahre durchs Cause gehustet, geschnauft, gelacht und getrunken hatte, den rücksichtslosesten Drogendealer, den es je in der Siedlung gegeben hatte, erschießen wollte. Sportcoat hatte keine Feinde, trainierte seit vierzehn Jahren die Baseballmannschaft des Cause Projects, und seine verstorbene Frau Hettie war die Kassenführerin des Christmas Clubs seiner Gemeinde gewesen. Er war ein friedlicher Mensch, den alle mochten. Was also war da passiert?
Am Morgen nach dem Schuss trafen sich die örtlichen Penner, pensionierten städtischen Angestellten, gelangweilten Hausfrauen und Ex-Knackis wie jeden Tag bei der Parkbank nicht weit von der Fahnenstange in der Mitte des Projects, um ihren Gratiskaffee zu trinken und Old Glory zu salutieren, die auch heute wieder gehisst wurde, und sie hatten alle möglichen Erklärungen dafür, warum der alte Sportcoat so ausgerastet war.
»Sportcoat hat rheumatisches Fieber«, erklärte Schwester Veronica Gee, die Präsidentin der Mietervereinigung des Cause und Frau des Pfarrers der Five Ends Baptist Church, der Sportcoat bereits fünfzehn Jahre diente. Sie erklärte den Versammelten, Sportcoat plane, beim kommenden Five-Ends-Gemeindetag für Mitglieder und Freunde seine allererste Predigt zu halten, und zwar zum Thema: »Ohne Beichte hast du beim Kuchen nichts zu suchen.« Und dann schob sie noch nach, dass die Club-Kasse verschwunden sei, »aber wenn Sportcoat sie genommen hat, lag das an seim Fieber«, sagte sie.
Schwester T. J. Billings, liebevoll »Bum-Bum« genannt, die oberste Kirchendienerin von Five Ends, deren Mann als Einziger in der ruhmreichen Kirchengeschichte seine Frau für einen Mann verlassen hatte und es auch noch offen zugab (er zog dann nach Alaska), hatte ihre eigene Theorie. Sie sagte, Sportcoat hätte auf Deems geschossen, weil die geheimnisvollen Ameisen ins Haus 9 zurückgekehrt seien. »Sportcoat«, sagte sie düster, »steht unter eim bösen Zauber. Hat mit eim Fluch zu tun.«
Miss Izi Cordero, Vizepräsidentin der puerto-ricanischen Souveränitäts-Gesellschaft des Projects, die tatsächlich keine zehn Meter entfernt gestanden hatte, als Sportcoat seine alte Erbsenpistole auf Deems Schädel gerichtet und abgedrückt hatte, sagte, der ganze Rabatz ging los, weil Sportcoat von einem gewissen »üblen spanischen Gangster« bedroht worden sei, und sie wisse genau, wer dieser Gangster sei und werde den Cops alles über ihn erzählen. Natürlich wussten alle, dass sie von ihrem dominikanischen Ex-Mann Joaquin redete, dem einzigen ehrlichen Lotterieverkäufer des Projects. Bis aufs Blut hassten sich die beiden, sie und Joaquin, und versuchten sich seit zwanzig Jahren gegenseitig hinter Gitter zu kriegen. Jetzt also so.
Hot Sausage, der Hausmeister der Cause-Häuser und Sportcoats bester Freund, der jeden Morgen die Flagge hisste und für das siedlungseigene Seniorenzentrum den Gratiskaffee ausgab, erklärte den Versammelten, dass Sportcoat wegen des jährlichen Baseballspiels zwischen den Cause- und den benachbarten Watch-Häusern auf Deems geschossen habe, das zwei Jahre zuvor abgesagt worden war. »Sportcoat«, sagte er stolz, »iss der einzige Schiedsrichter, mit dem beide Mannschaften zufrieden warn«.
Aber es war die haitianische Kochsensation Dominic Lefleur aus Sportcoats Haus, der die Gefühle aller am besten zusammenfasste. Dominic war gerade von einem neuntägigen Besuch bei seiner Mutter in Port-au-Prince zurückgekehrt, wo er sich wie üblich das Dritte-Welt-Virus eingefangen hatte, mit dem er sein halbes Haus niederstreckte – alle schissen und kotzten und gingen ihm tagelang aus dem Weg, wobei das Virus ihm selbst nie was anzuhaben schien. Dominic hatte die ganze alberne Geschichte beim Rasieren durchs Badezimmerfenster verfolgt, ging anschließend in die Küche, aß mit seiner zitternden, fiebrigen – 39,4 – Teenager-Tochter zu Mittag und sagte: »Ich hab immer gewusst, dass der alte Sportcoat einmal im Leben was Großes tun würde.«
Tatsache ist, niemand in der Siedlung wusste wirklich, warum Sportcoat auf Deems geschossen hatte, nicht mal Sportcoat selbst. Der alte Diakon konnte es ebenso wenig sagen, wie er hätte erklären können, warum der Mond wie aus Käse gemacht aussah, Fruchtfliegen kamen und gingen oder wie die Stadt es schaffte, dass sich das Wasser im nahen Hafen von Causeway jeden St. Paddy’s Day grün färbte. In der Nacht zuvor hatte er von seiner Frau Hettie geträumt, die im großen Schneesturm von 1967 verschollen war. Sportcoat liebte es, die Geschichte seinen Freunden zu erzählen.
»Es war ’n schöner Tag«, sagte er. »Der Schnee fiel wie Asche vom Himmel. Es war ’ne einzige große weiße Decke. Die Häuser lagen so friedlich und sauber da. Ich und Hettie, wir hatten an dem Abend Krabben gegessen, standen am Fenster und kuckten zur Freiheitsstatue im Hafen rüber. Dann gingen wir schlafen.
Mitten in der Nacht hat sie mich wach gerüttelt. Ich mach die Augen auf und seh ein Licht durchs Zimmer gleiten. Wie von ’ner kleinen Kerze. Eine Runde nach der anderen hat es gedreht und ist dann zur Tür raus. Hettie sagte: ›Das iss das Licht Gottes. Ich geh und pflücke draußen am Hafen ein paar Mondblumen.‹ Sie zog ihren Mantel an und lief dem Licht hinterher.«
Wenn er gefragt wurde, warum er ihr nicht zum nahen Hafen von Causeway gefolgt war, sah Sportcoat einen ungläubig an. »Sie iss hinter Gottes Licht her«, sagte er. »Außerdem war der Elefant da draußen.«
Da war natürlich ein Argument. Tommy Elefante, der Elefant, war ein massiger, grüblerischer Italiener, der schlecht sitzende Anzüge mochte und sein Bau- und Speditionsunternehmen aus einem alten Güterwaggon an der Hafenmauer betrieb, zwei Straßen von den Causeway-Häusern und gerade mal eine von Sportcoats Kirche entfernt. Der Elefant und seine stummen, finsteren Italiener, die tief in der Nacht weiß Gott was aus dem Waggon heraus und in ihn hinein schafften, waren allen ein Rätsel. Alle hatten fürchterlich Schiss vor ihnen. Nicht mal Deems, so übel er war, trickste mit ihnen rum.
So wartete Sportcoat denn bis zum nächsten Morgen, bevor er nach Hettie suchte. Es war ein Sonntag. Er stand früh auf. Die Cause-Bewohner schliefen noch, und der Schnee war weitgehend unberührt. Er folgte Hetties Spur zum Pier, wo sie am Ufer endete. Sportcoat starrte aufs Wasser hinaus und sah hoch oben einen Raben fliegen. »Er war wunderschön«, sagte er seinen Freunden. »Er drehte ’n paar Runden, stieg höher rauf und verschwand.« Sportcoat sah dem Vogel hinterher, bis er außer Sicht war, und trottete durch den Schnee zurück zu der kleinen Betonsteinkirche der Five-Ends-Baptisten, deren Gemeinde sich zum Achtuhrgottesdienst versammelte. Als er hereinkam, stand Reverend Gee an seinem Pult vor der einzigen Wärmequelle der Kirche, einem alten Holzofen, und machte sich daran, die Liste der Kranken und Bettlägerigen zu verlesen, für die sie beten wollten.
Sportcoat setzte sich zu ein paar schläfrigen Kirchgängern, nahm eins der winzigen Blätter mit dem Kirchenprogramm, kritzelte mit zitternder Hand »Hettie« darauf und gab es der ganz in Weiß gekleideten Kirchendienerin, Schwester Gee. Die ging zu ihrem Mann und reichte es ihm, als Pastor Gee gerade zu lesen begann. Die Liste war lang, und für gewöhnlich waren es immer dieselben Namen: Der eine lag krank in Dallas, der andere starb irgendwo in Queens, und dann natürlich Schwester Paul, eine der Gründerinnen von Five Ends. Sie war hundertzwei Jahre alt und lebte schon so lange in einem Altenheim weit draußen in Bensonhurst, dass sich nur noch zwei Gemeindemitglieder an sie erinnern konnten. Tatsächlich fragten sich einige, ob sie überhaupt noch lebte, und so war der Gedanke aufgekommen, dass jemand, vielleicht der Pastor, hinfahren und nach ihr sehen sollte. »Ich würde ja«, sagte Pastor Gee, »aber ich mag meine Zähne.« Alle wussten, dass die Weißen draußen in Bensonhurst nicht viel für Neger übrighatten. Im Übrigen, bemerkte der Pastor wohlgelaunt, komme Schwester Pauls Kirchengeld in Höhe von vier Dollar dreizehn verlässlich jeden Monat per Post, und das sei ein gutes Zeichen.
Als Pastor Gee jetzt grummelnd die Liste der Kranken und Bettlägerigen verlas, nahm er ohne zu zögern den Zettel mit Hetties Namen, las auch ihren Namen vor, lächelte und witzelte: »Leg deine ganze Seele rein, Bruder. Eine arbeitende Frau ist was fürs Leben!« Es war eine gut gemeinte Stichelei, hatte Sportcoat doch seit Jahren keinen festen Job, während Hettie regelmäßig arbeitete und ihr einziges Kind großzog. Reverend Gee war ein gut aussehender, herzlicher Mann, der gerne einen Spaß machte, wobei er selbst gerade erst seinen Skandal hatte: Er war in Silky’s Bar in der Van Marl Street gesehen worden, wie er einen weiblichen Subway-Schaffner mit Möpsen groß wie Milwaukee hatte bekehren wollen. So wandelte er im Moment in der Gemeinde auf dünnem Eis, und als niemand lachte, machte er ein ernstes Gesicht, las Hetties Namen noch mal vor und sang Somebody’s Calling My Name. Die Gemeinde stimmte mit ein, sie alle sangen und beteten, und Sportcoat fühlte sich besser. Genau wie Reverend Gee.
Hettie kam auch bis zum Abend nicht wieder nach Hause. Zwei Tage später sahen die Männer des Elefanten sie in Ufernähe beim Pier im Wasser treiben, das Gesicht sanft von dem Schal umhüllt, mit dem sie ihre Wohnung verlassen hatte. Sie zogen sie aus der Bucht, wickelten sie in eine Wolldecke, legten sie auf ein großes weißes Schneekissen nahe beim Güterwaggon und schickten nach Sportcoat. Als er kam, gaben sie ihm wortlos einen Schluck Scotch, riefen die Cops und verschwanden. Der Elefant wollte keine Missverständnisse. Er hatte mit Hettie nichts zu tun. Sportcoat verstand das.
Hetties Beerdigung war das übliche Five-Ends-Baptist-Spektakel. Pastor Gee kam eine Stunde zu spät, weil seine Füße von der Gicht so schlimm geschwollen waren, dass er nicht in seine Kirchenschuhe kam. Der Bestattungsunternehmer, der alte, weißhaarige Morris Hurly, den alle hinter seinem Rücken nur Hurly Girly nannten, weil, nun … alle wussten, Morris war … also er war billig, talentiert und kam immer zwei Stunden zu spät mit der Leiche, aber klar war auch, dass Hettie riesig aussehen würde, und das tat sie. Die Verzögerung gab Pastor Gee die Möglichkeit, einem Durcheinander zwischen den Kirchendienerinnen vorzusitzen, was die Blumenarrangements anging. Niemand wusste, wohin damit. Hettie war immer die gewesen, die sie verteilt hatte – die Geranien in die Ecke dort, die Rosen neben die Bank da drüben und die Azaleen vor das Buntglasfenster, um dieser oder jener Familie Trost zu spenden. Aber heute war Hettie der Ehrengast, und so standen die Blumen herum, wo die Lieferanten sie abgestellt hatten, und Schwester Gee musste wie gewöhnlich einspringen, um Ordnung zu schaffen. Währenddessen kam Schwester Bibb herein, die wollüstige Kirchenorganistin, die mit ihren fünfundfünfzig Jahren üppig, weich und braun wie ein Schokoriegel war. Sie befand sich in einem fürchterlichen Zustand, da sie direkt von ihrer jährlichen, die Nacht zum Tag machenden Sause kam, einer sündhaft versoffenen, Körperöffnungen genüsslich leer leckenden Liebesaffäre schweißnass aufeinanderklatschender Körper mit ihrem zeitweisen Freund Hot Sausage. Am Ende hatte sich Sausage von der Festivität zurückgezogen, weil ihm die Kraft ausgegangen war. »Schwester Bibb«, hatte er Sportcoat einmal geklagt, »liebt es zu malträtieren, und ich mein jetzt nich die Orgel.« Sie kam mit hämmernden Kopfschmerzen und einer schmerzenden Schulter, die sie sich bei irgendeiner lustvollen Verrenkung geholt hatte. Benommen setzte sie sich an ihre Orgel und legte den Kopf auf die Tasten, während die Gemeinde hereinkam. Ein paar Minuten später verließ sie den Altarraum wieder und strebte in der Hoffnung, diese frei vorzufinden, auf die Damentoilette im Keller zu. Auf der Treppe kam sie ins Stolpern und knickte böse um, was sie ohne Fluchen oder Klagen wegsteckte. Sie spuckte das nächtliche Gelage in die Kloschüssel der leeren Damentoilette, frischte ihren Lippenstift auf, sah nach ihrer Frisur und kehrte in den Altarraum zurück, wo sie den gesamten Gottesdienst durchspielte, mit einem Fuß dick wie eine Melone. Hinterher humpelte sie zurück zur Wohnung, so zornig wie reumütig, und giftete unterwegs Hot Sausage an, der nach dem nächtlichen Absturz wieder zum Leben erwacht war und mehr wollte. Wie ein Hündchen folgte er ihr nach Hause, immer einen halben Block zurück und hinter die Maulbeerbüsche entlang der Gehwege geduckt. Wenn sich Schwester Bibb umdrehte und Hot Sausages bratpfannenplatten Porkpie-Hut über die Zweige lugen sah, platzte es aus ihr heraus.
»Verschwinde, du Nichtsnutz!«, rief sie. »Ich bin fertig mit dir!«
Sportcoat dagegen kam in bester Verfassung in die Kirche, nachdem er abends zuvor mit seinem Kumpel Rufus Harley Hetties Leben gefeiert hatte. Rufus stammte aus seiner Heimatstadt und war nach Hot Sausage sein zweitbester Freund in Brooklyn. Er war Hausmeister im nahen Watch-Project, nur ein paar Straßen weiter, und wenn er und Hot Sausage sich auch nicht verstanden – Rufus kam aus South Carolina, Sausage aus Alabama –, brannte Rufus doch einen speziellen Schnaps, den sie King Kong nannten und den alle, auch Hot Sausage, mochten.
Sportcoat gefiel der Name von Rufus’ Spezialität nicht, und so hatte er über die Jahre verschiedene Alternativen vorgeschlagen. »Du könntes das Zeug wie sonst was verkaufen, wenn’s nich nach eim Gorilla benannt wäre«, sagte er. »Warum sags du nicht ›Nellies Schlaftrunk‹ oder ›Gideons Soße‹?« Aber Rufus hatte für solche Vorschläge nur Spott übrig. »Früher hab ich’s Sonny Liston genannt«, sagte er und bezog sich damit auf den gefürchteten schwarzen Schwergewichts-Champ, der seine Gegner mit Fäusten wie Vorschlaghämmer zu Boden streckte, »aber dann kam Muhammad Ali.« Sportcoat musste zugeben, den Namen mal außer Acht gelassen, dass Rufus’ Schwarzgebrannter der beste in Brooklyn war.
Der Abend war lang und lustig gewesen, voller Geschichten über Possum Point, ihre Heimatstadt, und am nächsten Morgen fühlte Sportcoat sich bestens, vorne in der ersten Reihe der Five Ends Baptist. Er lächelte, während ihn die weiß gekleideten Ladys bedauerten und bemutterten und sich die beiden besten Sängerinnen wegen des einzigen Mikrofons der Kirche in die Haare kriegten. Normalerweise sind Kirchenstreitereien eine gedämpfte, gezischte Angelegenheit, hinterhältig, leise, intrigant, ein geflüstertes Sich-das-Maul-Zerreißen über diesen oder jenen. Aber das jetzt fand öffentlich statt, besser ging es nicht. Die zwei Chormitglieder Nanette und Sweet Corn, bekannt als die Cousinen, waren beide dreiunddreißig, wahre Schönheiten und wundervolle Sängerinnen. Sie waren wie Schwestern großgezogen worden, lebten immer noch zusammen und hatten sich kürzlich erst fürchterlich wegen eines nichtsnutzigen jungen Mannes namens Pudding gestritten, der ebenfalls im Project wohnte. Das Ergebnis war fantastisch. Die beiden trugen ihre Wut aufeinander in die Musik und versuchten sich singend gegenseitig auszustechen. Mit glorreicher Wildheit schmetterten sie die Kunde von der Erlösung durch unseren Herrn, den Allmächtigen, Jesus von Nazareth.
Inspiriert durch den Anblick der hübschen Brüste der Cousinen, die unter ihren Gewändern anschwollen, folgte Reverend Gee ihnen mit einer donnernden Grabrede, um seinen Witz über Hettie wiedergutzumachen, die da bereits tot im Hafen schwamm. Und so wurde aus dem Ganzen der beste Beerdigungsgottesdienst der Five Ends Baptist seit Jahren.
Sportcoat verfolgte das alles voller Ehrfurcht, genoss das Spektakel und bestaunte die weiß gekleideten Sozialarbeiter der Willing Workers mit ihren schicken Hüten, die ihn und seinen neben ihm sitzenden Sohn Pudgy Fingers betuttelten. Pudgy Fingers, sechsundzwanzig, blind und wie es hieß bei der Verteilung von Hirn etwas zu kurz gekommen, hatte seinen Babyspeck abgelegt und war zu einem hübschen, schlanken Erwachsenen geworden, der seine klaren, schokoladenfarbigen Züge hinter einer teuren dunklen Brille verbarg, die er vor langer Zeit von einem ebenso lange vergessenen Sozialarbeiter geschenkt bekommen hatte. Wie gewohnt blieb er völlig unbeteiligt, aß aber auch hinterher beim Totenmahl in der Kirche nichts, was ungewöhnlich für ihn war. Sportcoat dagegen war rundum begeistert. »Es war wundervoll«, erzählte er seinen Freunden später. »Hettie hätte’s toll gefunden.«
In dieser Nacht träumte er von ihr, und wie er es so oft abends getan hatte, als sie noch lebte, erzählte er ihr, welche Überschriften er den Predigten geben würde, die er eines Tages halten wollte, was sie für gewöhnlich amüsierte, da er immer nur Überschriften hatte, aber keinen Inhalt: »Gott segne die Kuh«, »Ich danke Ihm für das Korn«, oder: »Buuh!, sagte das Huhn.« Aber an diesem Abend saß sie in ihrem lila Kleid im Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, und schien gereizt, und so berichtete er ihr von den schönen Dingen ihrer Beerdigung, erzählte, wie wunderbar der Gottesdienst gewesen sei, erzählte von den Blumen, dem Essen und der Musik, und wie glücklich er sei, dass sie ihre Flügel bekommen habe und sich jetzt ihren verdienten Lohn abhole, wobei sie ihm ruhig noch einen kleinen Rat dazu hätte geben können, wie er an ihre Sozialversicherung kam. Wusste sie nicht, wie sehr es nervte, im Sozialamt den ganzen Tag drauf warten zu müssen, bis man drankam? Und was war mit dem Geld vom Christmas Club, das sie jede Woche von den Five-Ends-Mitgliedern eingesammelt hatte, damit sie ihren Kindern zu Weihnachten Geschenke kaufen konnte? Hettie war die Kassenwärterin, aber sie hatte ihm nie gesagt, wo sie das Geld versteckte.
»Alle fragen nach ihrm Jackpot«, sagte er. »Hättes mir sagen solln, wo du’s versteckt hass.«
Hettie überhörte die Frage und strich eine knittrige Stelle an ihrem Mieder glatt. »Red nicht zu dem Kind in mir«, sagte sie. »Das hass du einundfünfzig Jahre lang getan.«
»Wo iss das Geld?«
»Sieh in deim Hinterausgang nach, du versoffener Hund!«
»Wir haben auch was drin in der Kasse, weiß du?«
»Wir?«, feixte sie. »Du hass in zwanzig Jahrn kein Dime reingegeben, du spritschluckender, nutzloser fauler Hund!« Sie stand auf, und schon ging’s los, sie stritten wie früher, und aus dem Gezänk wurde das übliche feuerspuckende Gebrüll und Gerangel, das auch noch andauerte, als er längst aufgewacht war – wie immer lief sie ihm hinterher, die Hände in die Hüften gestemmt, und warf ihm alles Mögliche an den Kopf, während er sie abzuhängen und es ihr über die Schulter mit gleicher Münze heimzuzahlen versuchte. Sie stritten den ganzen Tag über und den nächsten, vom Frühstück übers Mittagessen und immer so weiter. Für einen Außenstehenden sah es aus, als redete Sportcoat zu den Wänden, während er seinen üblichen Pflichten nachkam: runter in den Heizungskeller des Projects, um mit Hot Sausage auf die Schnelle einen zu heben, rauf in die Wohnung 4G, um Pudgy Fingers zum Schulbus für blinde Kinder zu bringen, dann zu seinen gewohnten Nebenjobs und wieder nach Hause. Wohin auch immer er lief, die beiden lagen sich in den Haaren. Oder wenigstens Sportcoat, die Nachbarn konnten Hettie ja nicht sehen: Die starrten ihn nur an, wie er da mit jemandem redete, der unsichtbar war. Sportcoat gab nichts darauf, wie sie ihn anstarrten. Mit Hettie zu streiten war für ihn das Natürlichste auf der Welt. Vierzig Jahre machte er das schon.
Er konnte es nicht glauben. Weg war das zarte, scheue, süße kleine Ding, das so gekichert hatte, als sie sich zu Hause in Possum Point ins hohe Korn im Garten ihres Dads geschlichen hatten, er ihr Wein über die Bluse geschüttet und ihre Titten betatscht hatte. Plötzlich war sie ganz New York: frech, laut und pampig und tauchte zu den komischsten Tageszeiten wie aus dem Nichts auf, jedes Mal mit einer neuen verdammten Perücke auf dem Kopf, die sie, wie er annahm, vom Herrn für ihre Mühen im Leben gekriegt hatte. Am Morgen, als er auf Deems schoss, war sie als Rotschopf gekommen, was ihn verblüffte, und schlimmer noch, sie explodierte förmlich, als er sie zum soundsovielten Mal nach dem Geld vom Christmas Club fragte.
»Frau, wo sind die Dollars? Ich muss mit den Mäusen der Leute rausrücken.«
»Sag ich nich.«
»Das iss Diebstahl!«
»Du hass gut reden! Der Käsedieb!«
Letzteres tat weh. Jahrelang hatte das New Yorker Wohnungsamt, ein aufgeblasenes, megafettes Bürokratiemonster, eine Brutstätte für Betrug und Bestechung, Glücksspieler, Kredithaie, zahlungsunwillige Väter, Erpresser und alte Politbarone, die mit arroganter Ineffizienz über die Causeway-Häuser und weitere fünfundvierzig New Yorker Wohnprojekte herrschten, aus unerklärlichen Gründen eine prachtvolle Gabe für die Cause-Häuser rausgerülpst: Gratiskäse. Wer den Knopf dafür gedrückt hatte, die Formulare ausgefüllt, den Käse auf wunderbare Weise hatte erscheinen lassen – niemand wusste es, auch Bum-Bum nicht, die es sich zu ihrem Daseinsziel gemacht hatte, dem Ursprung des Käses auf die Spur zu kommen. Die Annahme war, dass er vom Wohnungsamt kam, aber niemand war blöd genug, schlafende Hunde zu wecken, bei der Stadt anzurufen und nach den Hintergründen zu fragen. Warum auch? Der Käse war umsonst. Jahrelang kam er pünktlich jeden ersten Samstag im Monat in den frühen Morgenstunden im Heizungskeller von Hot Sausage in Haus 17 an. Zehn Kisten voll mit gut gekühlten Fünfpfundstücken. Und es war kein einfacher Sozialfraß, kein stinkender, angeranzter Rest-Schweizer aus irgendeiner gottverlassenen Bodega, der in einer verdreckten Vitrine Schimmel angesetzt hatte, nächtens von Mäusen angeknabbert worden war und eigentlich an irgendwelche Trottel frisch aus Santo Domingo hätte verkauft werden sollen. Nein, es war frischer, prächtiger, himmlischer, wohlschmeckender, weicher, sahniger, leck mich, dafür müssen Kühe sterben, herrlich herber, muh-muh-guter reifer Weißeleutekäse, Käse, für den man sterben wollte, der dich glücklich machte, Käse, der alles schlug, Käse für den großen Zampano, Käse, der die Welt bedeutete, so gut, dass er jeden ersten Samstag im Monat die Leute dazu brachte, eine lange Reihe zu bilden: Mütter, Töchter, Väter, Großeltern, Behinderte in Rollstühlen, Kinder, Verwandte von außerhalb, Weiße von nebenan in Brooklyn Heights und sogar südamerikanische Arbeiter aus der Müllverarbeitungsanlage an der Concorde Avenue. Allesamt standen sie geduldig in einer Schlange, die sich von Hot Sausages Heizungskeller in Haus 17 raus durch die Tür auf den Bürgersteig, seitlich ums Haus und bis zur Plaza mit der Fahnenstange erstreckte. Die Unglücklichen ganz am Ende hatten ständig nach den Cops Ausschau zu halten – ob nun umsonst oder nicht, bei etwas, das so gut war, musste es einen Haken geben – während denen weiter vorne das Wasser im Mund zusammenlief. Nervös drängten die Hinteren weiter voran und hofften, dass auch für sie noch was da war, wussten sie doch, bis auf Sichtweite heranzukommen und zusehen zu müssen, wie das letzte Stück wegging, das war so wie ein plötzlicher Koitus interruptus.
Natürlich garantierte seine Nähe zum so wichtigen Verteiler des Käses, Hot Sausage, Sportcoat immer ein Stück, wie groß die Nachfrage auch sein mochte, was toll für ihn und Hettie war. Hettie liebte den Käse ganz besonders. Und so machte ihn ihre Bemerkung erst recht wütend.
»Du hass den Käse doch gegessn, oder etwa nich?«, sagt Sportcoat. »Wie ’n Gierschlund biss du jedes Mal drüber hergefallen. Gestohlen oder nich. Du hass ihn gemocht.«
»Er kam von Jesus.«
Das trieb ihn die Wände hoch, und er redete auf sie ein, bis sie verschwand. Ihre Streitereien in den Wochen, bevor er auf Deems schoss, waren so hitzig, dass er anfing, Sätze einzuüben, bevor sie auftauchte. War sie nicht da, trank er Schnaps, um seine Gedanken zu ordnen und die Spinnweben aus dem Kopf zu bekommen, damit er seine Argumentation entwickeln und ihr zeigen konnte, wer der Herr im Haus war – was ihn für die Bewohner des Komplexes noch bizarrer erscheinen ließ, die Sportcoat unten im Eingang stehen sahen, wie er eine Flasche von Rufus’ schwarzgebranntem King Kong in die Luft reckte und ins Nichts hineinrief: »Wer bringt den Käse? Jesus oder ich? Wenn ich mich dafür anstelle … Ich bin der, der den Käse holt. Ich bin der, der ihn bei Regen und Schnee nach Hause holt. Wer bringt den Käse? Jesus oder ich?«
Seine Freunde fanden Entschuldigungen dafür. Die Nachbarn sahen drüber hinweg. Seine Kirchenfamilie von Five Ends zuckte mit den Schultern. Na und? Sport war eben etwas verrückt. Alle im Project hatten gute Gründe, leicht daneben zu sein. Neva Ramos zum Beispiel, die dominikanische Schönheit aus Haus 5, die jedem Mann, der dumm genug war, unter ihrem Fenster stehen zu bleiben, ein Glas Wasser auf den Kopf schüttete. Oder Dub Washington aus Haus 7, der in einer alten Fabrik am Vitali-Pier schlief und jeden Winter dabei erwischt wurde, wie er im selben Lebensmittelladen am Park Slope Sachen klaute. Oder Bum-Bum, die morgens vor dem auf die hintere Mauer von Five Ends gemalten schwarzen Jesus stehen blieb und laut für das Ende ihres Ex-Mannes betete: dass der Herr ihm die Eier in Brand setzen und sie wie zwei winzige platte Kartoffelpuffer in einer Pfanne zerbrutzeln sollte. Es war alles erklärbar. Neva wurde bei der Arbeit von ihrem Boss ungerecht behandelt, Dub Washington wollte in eine warme Zelle, und Schwester Bum-Bums Mann hatte sie wegen eines anderen Mannes verlassen. Also was? Alle im Cause hatten einen Grund, verrückt zu sein. Es gab fast für alles einen guten Grund.
Bis Sportcoat auf Deems schoss. Das war was anderes. Da einen Grund zu suchen war so, als wollte man erklären, wie aus Deems, einer netten Nervensäge und dem absolut besten Baseballspieler, den das Cause je gesehen hatte, so ein schrecklicher, Gift verkaufender, mörderischer Schwachkopf mit der Ausstrahlung eines Zyklopen geworden war. Es war unmöglich.
»Wenn es keine Zeitbegrenzung für Glückskeksvoraussagen gibt, könnte Sportcoat damit durchkommen«, sagt Bum-Bum. »Sons, schätz ich, steht er jetz auf der Liste.« Sie hatte recht. Da waren sich alle einig. Sportcoat war ein toter Mann.
Natürlich sagten die Leute in den Cause-Häusern Sportcoats Tod schon seit Jahren voraus. In jedem Frühjahr, wenn die Bewohner des Projects aus ihren Löchern krochen und wie Murmeltiere zurück auf die Plaza kamen, um frische Luft zu schnappen – oder was es davon im Causeway District noch gab, sie war weitgehend vergiftet von der nahen Kläranlage –, sahen sie Sportcoat, nach einer Saufnacht bei Rufus mit dessen King-Kong-Fusel oder nachdem er sein letztes Geld beim Whist in Silky’s Bar drüben in der Van Marl Street verspielt hatte, nach Hause torkeln und sagten: »Der iss fertig.« Als ihn damals, ’58, die Grippe erwischte, die das halbe Haus 9 niederstreckte und Diakon Erskine vom Mighty Hand Gospel Tabernacle zum Himmel hinaufschickte, erklärte Schwester Bum-Bum: »Jetzt iss er erledigt.« Als ihn ’62 der Krankenwagen nach seinem dritten Schlaganfall holte, murmelte Ginny Rodriguez aus Haus 19: »Der iss am Ende.« Im selben Jahr gewann Miss Izi von der puerto-ricanischen Souveränitäts-Gesellschaft bei einer Tombola Karten für ein Spiel der New York Mets im Polostadion. Sie sagte voraus, dass die Mets, die in dem Jahr hundertzwanzig Spiele verloren hatten, gewinnen würden, und das taten sie, was Miss Izi zwei Wochen später dazu ermutigte, Sportcoats Tod vorauszusagen. Dominic Lefleur, die haitianische Sensation, war gerade aus Port-au-Prince zurück, nach dem Besuch bei seiner Mutter, und Miss Izi sah, wie Sportcoat direkt vor seiner Wohnung im vierten Stock zusammenbrach, nachdem ihn Dominics merkwürdiges Virus erwischt hatte. »Flatsch-platsch lag er da!«, rief sie. Der war fertig. Weg. Abgemeldet. Und dann kam abends auch noch der schwarze Wagen von der städtischen Leichenhalle, um einen Toten aus dem Haus zu holen, was ihr Beweis genug war und sie es gleich am nächsten Morgen weiterverbreitete, nur dass sich rausstellte, es war der Bruder der haitianischen Sensation gewesen, El Haji, der zum Islam konvertiert war, damit seiner Mutter das Herz gebrochen hatte und am ersten Tag als Fahrer eines City-Busses mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen war. Am ersten Tag, nachdem er drei Jahre versucht hatte, beim New York Transit reinzukommen. Stell sich das einer vor.
Trotzdem, Sportcoat schien todgeweiht. Selbst die gut gelaunten Seelen von der Five Ends Baptist – wo Sportcoat Diakon und Präsident des Five-Ends-Verbands der Grand-Brotherhood-of-the-Brooklyn-Elks-Loge Nr. 47 war, dem für die erkleckliche Summe von sechzehn Dollar fünfundsiebzig (jährlich zu zahlen, bitte nur per Anweisung) von den obersten Bossen der Five Ends Baptist garantiert wurde, »sämtliche Logenmitglieder der Brooklyn Elks, die ein letztes Gebet brauchen, unter die Erde zu bringen, zum Selbstkostenpreis natürlich«, mit Sportcoat als Ehren-Sargträger – selbst diese gut gelaunten Seelen sagten seinen Tod voraus. »Sportcoat«, meinte Schwester Veronica Gee von den Five Ends nüchtern, »ist ein kranker Mann.«
Sie hatte recht. Mit seinen einundsiebzig litt Sportcoat unter so gut wie allen dem Menschen bekannten Krankheiten. Er hatte Gicht. Er litt unter Hämorrhoiden und rheumatischer Arthritis, die ihn an bedeckten Tagen wie einen Buckligen dahinhumpeln ließ, so sehr schmerzte sein Rücken. An seinem linken Arm hatte er eine zitronengroße Zyste, und ein Bruch bescherte ihm eine orangengroße Schwellung in der Leiste. Als sie grapefruitgroß wurde, empfahlen die Ärzte eine Operation. Sportcoat hörte nicht auf sie, und ein freundlicher Sozialarbeiter im örtlichen Gesundheitszentrum schickte ihn zu jeder erdenklichen alternativen Therapie. Sie versuchten es mit Akupunktur, Magnettherapie, Ganzheitsmedizin, Kräutermedizin, einer Analyse seines Gangs, Blutegeln und genetisch unterschiedlichen pflanzlichen Mitteln. Nichts von allem half.
Mit jedem neuen Fehlschlag verschlechterte sich sein Zustand, die Todesvoraussagen häuften sich und wurden immer unheilvoller, bewahrheiteten sich jedoch nicht. Tatsächlich war, was die Bewohner der Cause-Häuser nicht wussten, Cuffy Jasper Lambkin, wie Sportcoat wirklich hieß, schon lange, bevor er nach Causeway gekommen war, der Tod vorausgesagt worden. Als er vor einundsiebzig Jahren in Possum Point, South Carolina, ins Leben geworfen wurde, musste die Hebamme entsetzt zusehen, wie ein Vogel durchs offene Fenster geflogen kam, über den Kopf des Babys flatterte und wieder nach draußen verschwand. Ein böses Omen. Sie verkündete: »Das wird ein Irrer«, gab ihn seiner Mutter, lief hinaus und zog nach Washington, D. C., wo sie einen Klempner heiratete und kein einziges Baby mehr auf die Welt brachte.
Der kleine Cuffy schien vom Pech verfolgt, wohin auch immer er kam. Er litt unter Koliken, bekam Typhus, Masern, Mumps und Scharlach. Mit zwei Jahren verschluckte er, was er in die Finger bekam, Murmeln, Steine, Dreck und Löffel, und einmal steckte er sich eine Suppenkelle ins Ohr, die von einem Arzt im Universitätskrankenhaus von Columbia wieder entfernt werden musste. Mit drei, als ein junger örtlicher Pastor kam, um den Kleinen zu segnen, spuckte ihm Cuffy eine giftgrüne Substanz über das weiße Hemd. Der Pastor verkündete: »Der Junge steht mit dem Teufel im Bund«, und verschwand nach Chicago, wo er das Evangelium hinter sich ließ, zum Bluessänger Tampa Red wurde und den Monsterhit Bund mit dem Teufel aufnahm, bevor er allein und völlig verarmt starb, aber in die Geschichte einging – unsterblich gemacht durch die Musikwissenschaft und Rock-’n’-Roll-Kurse an Colleges überall in der Welt, in den Himmel gehoben von weißen Schriftstellern und Musikintellektuellen für seinen zum Bluesklassiker avancierten Hit, der den Grundstein für das Vierzig-Millionen-Dollar-Gospel-Stam-Music-Platten-Imperium bildete, von dem weder er noch Sportcoat je einen Dime bekamen.
Mit fünf Jahren kroch der kleine Sportcoat zu einem Spiegel und spuckte sein Ebenbild an, was ein Ruf nach dem Teufel ist, mit dem Ergebnis, dass er erst mit neun die ersten Backenzähne bekam. Seine Mutter tat alles, um deren Wuchs anzuregen. Sie grub einen Maulwurf aus, schnitt ihm die Füße ab und machte ihrem Sohn daraus ein Halsband. Rieb ihm frisches Karnickelhirn aufs Zahnfleisch, steckte ihm Schlangenenden, Schweineschwänze und schließlich sogar Krokodilzähne in die Taschen, aber es half nichts. Sie ließ einen Hund über ihn laufen, eigentlich ein sicheres Mittel, aber der Hund biss ihn und rannte weg. Am Ende rief sie eine alte Medizinfrau von den Sea Islands, die einen frischen grünen Zweig von einem Busch schnitt, ihm Cuffys Namen nannte und den Zweig in einem Beutel kopfüber in die Ecke des Zimmers hängte. Bevor sie ging, sagte sie: »Sprecht seinen Namen acht Monate nicht mehr aus.« Die Mutter fügte sich und nannte ihn »Sportcoat«. Das Wort hatte sie beim Baumwollpflücken auf der Farm von J. C. Yancy in Barnwell County gehört, wo sie zeitweise arbeitete, einer ihrer weißen Bosse hatte es benutzt und damit seine glänzende neue grünweiß karierte Jacke gemeint, die er stolz zur Schau trug, gleich nachdem er sie gekauft hatte. Überwältigend sah er damit aus, oben auf seinem Pferd unter der sengenden südlichen Sonne, sein Gewehr auf dem Schoß und bald schon halb wegdösend am Rand des Feldes, während die farbigen Arbeiter leise lachten und auch die anderen Aufseher vor sich hin kicherten. Acht Monate später wachte sie auf und sah, dass der Mund des jetzt zehnjährigen Sportcoat voller Backenzähne war. Völlig aufgeregt machte sie die Medizinfrau ausfindig, die kam, Cuffys Mund untersuchte und sagte: »Der wird mal mehr Zähne als ein Alligator haben«, worauf die Mutter dem Jungen glücklich den Kopf tätschelte, sich zu einem Schläfchen hinlegte und verschied.
Cuffy erholte sich nie vom Tod seiner Mutter. Der Schmerz in seinem Herzen wurde groß wie eine Wassermelone. Aber die Medizinfrau hatte recht. Er bekam Zähne für zwei. Sie sprossen hervor wie Wildblumen. Vordere und hintere Backenzähne, lange und dicke, fette Beißer, vorne breite, hinten schmale. Aber es waren zu viele, sie drängten sich in seinen Kiefern zusammen und mussten gezogen werden, was nur zu gern von den weißen Zahnmedizinstudenten der University of South Carolina gemacht wurde, die verzweifelt nach Patienten suchten, an denen sie üben konnten, um ihren Abschluss zu bekommen, und sie hielten sich Sportcoat warm, schenkten ihm süße Muffins und kleine Flaschen Whiskey, hatte er doch mittlerweile den Zauber des Alkohols entdeckt, nicht zuletzt, um die Hochzeit seines Vaters mit seiner Stiefmutter zu feiern, die ihm immer wieder empfahl, auf dem zweihundertachtundfünfzig Meilen entfernten Sassafras Mountain spielen zu gehen und nackt vom Gipfel zu springen. Mit vierzehn war er ein Säufer und der Traum aller Zahnmedizinstudenten. Mit fünfzehn entdeckte ihn auch die Allgemeinmedizin für sich, als die ersten von vielen Leiden ihre Kräfte sammelten, um ihn anzugreifen. Mit achtzehn blies eine Blutvergiftung seine Lymphknoten zu Murmelgröße auf, und die Masern meldeten sich zurück, zusammen mit etlichen anderen Krankheiten, die Blut rochen und sich bei dem vermeintlich todgeweihten Loser ein Stelldichein gaben: Scharlach, Blutkrankheiten, Virusinfektionen, eine Lungenembolie. Als er zwanzig war, machte der Lupus einen Versuch und gab auf. Mit neunundzwanzig wurde er von einem Maulesel getreten, der ihm die rechte Augenhöhle brach, worauf er monatelang herumstolperte. Mit einunddreißig sägte er sich mit einem Fuchsschwanz den linken Daumen ab. Die entzückten Studenten an der Universität nähten ihn mit vierundsiebzig Stichen wieder an, warfen zusammen und kauften ihm eine Kettensäge, die er dazu benutzte, sich den rechten großen Zeh abzusägen. Den nähten sie mit siebenunddreißig Stichen wieder an, was zwei der Studenten wichtige große Praktika an Kliniken im Nordosten einbrachte, und sie schickten ihm genug Geld, um sich ein weiteres Maultier und ein Jagdmesser zu kaufen, mit dem er sich beim Kaninchenhäuten aus Versehen in die Aorta stach. Er verlor das Bewusstsein und wäre tatsächlich beinahe gestorben, wurde jedoch eiligst ins Krankenhaus geschafft, wo er drei Minuten tot auf dem Operationstisch lag, aber wieder zu sich kam, als ein Chirurgiepraktikant ihm eine Sonde in den großen Zeh rammte, worauf er schimpfend und fluchend in die Höhe fuhr. Als er siebenundvierzig war, versuchten es die Masern ein letztes Mal und gaben endgültig auf. Darauf ignorierte Cuffy Jasper Lambkin, von seiner Mutter zu »Sportcoat« umgetauft und von allen geliebt, die er in Possum Point kannte, außer von den beiden Menschen, die für sein Wohlergehen auf dieser Welt verantwortlich waren, seinem Vater und seiner Stiefmutter, die Beschwörungen der ihm so dankbaren Studenten des Staates South Carolina und ging nach New York, seiner Frau folgend, Hettie Purvis, seiner Kinderliebe, die dorthin gezogen war und alles hübsch für ihn herrichtete, nachdem sie eine Stelle als Hausmädchen bei einer guten weißen Familie in Brooklyn gefunden hatte.
Er kam 1949 im Cause an, Blut spuckend und grausigen schwarzen Schleim hervorhustend, trank hausgemachten Everclear und wechselte später zu Rufus’ geliebtem King Kong, der ihn bis in seine Sechziger gut in Form hielt, als es mit den Operationen losging. Die Ärzte entfernten ihm ein Teil nach dem anderen. Erst einen Lungenflügel. Dann einen Zeh, dann noch einen, gefolgt von den üblichen Mandeln, Gallenblase, Milz und zwei Nierenoperationen. Währenddessen trank er, bis ihm die Eier zu platzen drohten, und schuftete wie ein Sklave, denn Sportcoat war ein Alleskönner. Er brachte in Ordnung, was in Ordnung zu bringen war, ob es nun lief, sich sonst wie bewegte oder wuchs. Es gab keinen Ofen, keinen Fernseher, kein Fenster oder Auto, das er nicht reparieren konnte. Darüber hinaus hatte Sportcoat, das Kind vom Land, den grünsten Daumen von allen im Project. Alles, was wuchs, war sein Freund, ob es Tomaten waren, Kräuter, Limabohnen, Löwenzahn, Kletten, wilder Sporn, Farnkraut oder Geranien. Es gab keine Pflanze, die er nicht aus ihrem Versteck hervorzuschmeicheln, keinen Samen, den er nicht in die Sonne zu locken, kein Tier, das er nicht zu was auch immer zu bringen vermochte, alles mit einem Lächeln und einem freundlich festen Griff. Sportcoat war ein wandelndes Genie, eine menschliche Katastrophe, ein Arschloch, ein medizinisches Wunder und der beste Baseballschiedsrichter, den das Project je hatte, dazu noch Trainer und Gründer des All Cause Boys Baseball Teams. Er war ein bewundernswerter Helfer für alle, war der, den du riefst, wenn deine Katze einen Schiss tat und ihr dabei was quer im Hintern stecken blieb, weil Sportcoat ein alter Landbewohner war, den nichts davon abbringen konnte, dass Gott alles richtig und gut gemacht und gemeint hatte. Und wenn ein Gastprediger Diabetes hatte, zweihundert Kilo wog, sich beim Kirchenessen mit zu viel Speck und Hühnerbeinen vollgestopft hatte, und deine Gemeinde jemanden brauchte, der stark genug war, den traktorgroßen, massigen Körper vom Klo in den Bus und zurück in die Bronx zu schaffen, damit die Kirche endlich abgeschlossen werden und alle nach Hause konnten – nun, Sportcoat war derjenige welcher. Es gab keinen Job, der zu klein, kein Wunder, das zu wundersam, keinen Gestank, der zu widerlich war. Und so murmelten die Leute, wenn er wie jeden Nachmittag über die Plaza wankte: »Der Kerl ist ein Wunder«, während sie sich im Stillen sagten: »Die Welt ist in Ordnung.«
Aber all das, da stimmten alle überein, änderte sich an dem Tag, an dem er auf Deems Clemens schoss.
Deems war für das Project ein Farbiger ganz neuen Schlags, kein armer Junge aus dem Süden, Puerto Rico oder Barbados, der mit nichts als leeren Taschen, einer Bibel und einem Traum nach New York gekommen war. Er war kein Gedemütigter von den Baumwollfeldern North Carolinas oder den Zuckerrohrplantagen in San Juan. Er kam aus keinem armen Dorf, wo die Kinder barfuß herumliefen, Hühnerknochen und Schildkrötensuppe aßen und mit einem Dime im Beutel nach New York gehumpelt kamen, außer sich vor Freude über die Aussicht, Häuser putzen, Kloschüsseln säubern oder Müll einsammeln zu können – die vielleicht sogar auf einen behaglichen Job bei der Stadt hofften oder eine Ausbildung bei guten Weißen. Deems gingen die Weißen am Arsch vorbei, genau wie eine Ausbildung, wie Zuckerrohr, Baumwolle und sogar Baseball, bei dem er mal absolute Spitze gewesen war. Die alten Sitten interessierten ihn nicht die Bohne. Er war ein Kind des Projects, jung, intelligent, und scheffelte Geld mit dem Verkauf von Drogen, und zwar auf einem Level, wie es das hier noch nie gegeben hatte. Er hatte mächtige Freunde und beste Verbindungen von East New York bis raus nach Far Rockaway, Queens, und wer immer im Cause blöd genug war, was gegen ihn zu sagen, wurde übel zusammengeschlagen oder endete irgendwo in einer Urne.
Sportcoat, da waren sich alle einig, hatte das Glück endgültig verlassen. Er war, ernsthaft, ein toter Mann.