Über dieses Buch
Tan-Dom basiert auf dem schamanische Heilwissen der mongolischen Nomaden. Tan bedeutet Arznei, Dom Behandlung – in der Kombination bedeutet es Heilung. Ojuna Altangerel-Wodnar integriert diese alte Weisheit in die moderne Schulmedizin und verbindet dadurch die Seelenebene mit der Körperebene.
Wie eine Brücke zwischen diesen beiden Welten zeigt sie einen ganz neuen Weg im Umgang mit Krankheiten auf: Jede Krankheit hat in diesem Heilverständnis ihren Sinn. Sie ist keine Strafe, kein Zufall und kein Pech, sondern eine Art Wegweiser. Denn sie macht uns auf Dinge aufmerksam, die wir ohne sie nicht bemerkt hätten.
»Ich schaue hinter die Generationen. Ich sehe, wo Krankheit entstanden ist, warum sie ausgerechnet jetzt und bei diesem Patienten ausbricht, und ich weiß, wie er sich davon befreien oder wenigstens gut damit leben kann.« Ojuna Altangerel-Wodnar
Über die Autorin:
Ojuna Altangerel-Wodnar ist approbierte Ärztin und Schamanin. Sie stammt aus dem Stamm der Burjaten, einem Nomadenvolk am Baikalsee. Die erste einer Reihe großer schamanischer Lehrer war ihre Großmutter, ebenfalls Schamanin, bei der die Autorin ihre Kindheit und Jugend in der Steppe verbrachte. Medizin studierte sie an der Universität in Halle an der Saale. Auf Basis ihrer nomadischen Wurzeln und ihrer wissenschaftlichen Ausbildung verbindet Ojuna Altangerel-Wodnar in ihrer Arbeit Elemente der schamanischen Mystik mit Erkenntnissen der westlichen Schulmedizin.
Lange Jahre betrieb sie eine sehr erfolgreiche Praxis in Tübingen, wo sie auch vier Kinder aufzog. Mit ihrem heutigen Mann, dem Österreicher Michael Wodnar, lebt und arbeitet sie nun in der Schweiz und pendelt zwischen ihren zwei Praxen am Bodensee und in Wien. Eine andere Art von Nomadenleben.
https://www.tan-dom.com/
Ojuna Altangerel-Wodnar
––––– Tan-Dom-Medizin –––––
Wie die Seele
durch den Körper
spricht
Ein neuer Blick auf Krankheit und Heilung
von einer mongolischen Schamanin und Ärztin
Aufgeschrieben von
Andrea Fehringer und Thomas Köpf
Haftungsausschluss
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Copyright © 2021 by Integral Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten. Redaktion: Ralf Lay, Mönchengladbach
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München
unter Verwendung eines Fotos von Michael Wodnar
Projektleitung: Michael Wodnar
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-27008-7
V002
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www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata
Bis zu diesem Buch durfte ich nicht über mein Wissen reden. Es ist eine Kraft, die nicht gefährdet werden darf. Heute habe ich die Erlaubnis, dieses Wissen weiterzugeben. An jeden, der bereit ist, über die Grenzen des Sichtbaren hinauszudenken und eine größere Ordnung hinter den Dingen anzuerkennen.
Dieses Buch ist ein Appell an die Mütter.
Ich widme es meinen drei geliebten Brüdern Altangerel Orgilgerel (1956–2005), Altangerel Odgerel (1957–1999) und Altangerel Chuluunbat (1961–1984). Sie stehen hinter mir gemäß den Bedeutungen ihrer Namen: Orgilgerel wie der Gipfel des höchsten Berges in der Mongolei, Odgerel wie das Licht des leuchtenden Sterns und Chuluunbat fest und sicher wie ein Stein. In Liebe stehen sie mir bei und begleiten mich auf allen meinen Wegen.
Inhalt
Teil 1
Meine Welt
Meine Anfänge
Meine Ausbildung
Mein Wissen
Mein Wollen
Mein Können
Teil 2
Meine Erkenntnisse
Meine Therapie
Meine Basis
Geburt, Leben, Tod
Meine Fälle
Angst und ihre Folgen
Plötzliche Depression
Rheuma, Ausdruck von Kummer und Gram
Diabetes, Symptom der Heimatlosigkeit
Notkaiserschnitt: Geburt ist Frauensache
Weisheitszähne, Symbol für den Biss im Leben
Drogensucht, Sehnsucht nach der Vaterliebe
Waisenschicksal, ein Wiederholungsmuster
Impfungen, Für und Wider
Morbus Parkinson, eine schicksalhafte Krankheit
Krebs, Bumerang für die nächste Generation
Psychose, Seelentreffen im Gehirn
Meine Arbeit mit der Pandemie
Ein Weltverbesserer namens Corona
Mein Dank
Meine Vita
Bildnachweis
Teil 1
Meine Welt
Tan-Dom. Ich vermute, Sie haben noch nie davon gehört. Die Worte sind aus dem Mongolischen, und über das, was sie bedeuten, ist hier in Westeuropa kaum etwas bekannt. Wie in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) geht es um jahrtausendealtes Wissen, teilweise sogar mit denselben Mitteln oder Methoden. Auch wir kennen die Puls- und Zungendiagnose, auch wir helfen mit Kräutern und Pflanzenstoffen.
Es hat auch bei der TCM lange gedauert, bis man sich bei der Akupunktur ohne mulmiges Gefühl Nadeln in den Körper stechen ließ und sich nicht mehr vorkam wie ein Igel, wenn man damit zwanzig Minuten lang, ohne sich zu bewegen, auf einer Liege lag. Das alte chinesische Wissen hat sich im Westen nun durchgesetzt und ist als Alternativmedizin anerkannt. Über das alte Wissen der Mongolen hingegen hört man im Westen nichts. Nichts über ihre Kultur, ihre Lehren, ihre Geheimnisse. Irgendwo weit hinten galoppiert vielleicht noch der Name Dschingis Khan durchs Gedächtnis, und das war’s dann.
Gut, Tan-Dom also.
Das Prinzip ist fast so alt wie der Ayurveda, der mit seinen Wurzeln bis ins sechste Jahrtausend vor Christus als die älteste aller überlieferten Heilkünste gilt. So gesehen ist die Schulmedizin ein junges Gemüse gegen die ayurvedische, tibetische, koreanische, chinesische, mongolische und auch die griechische Medizin, obwohl auch schon die Kelten über die Kräuterheilkunde Bescheid wussten. Hier im Westen mussten diese Heilmethoden zurücktreten, damit sich die moderne Medizin entwickeln konnte. Nun kann das Wissen aus allen Richtungen wieder zusammenkommen. Globalisierung auf Medizinisch sozusagen. Vielleicht gelingt es mit diesem Buch, einen Beitrag dazu zu leisten.
Tan-Dom. Zwei Worte, hinter denen sich eine ganz neue Welt auftut. Die Welt der Traditionellen Mongolischen Medizin, wenn Sie so wollen, obwohl es diesen Begriff offiziell nicht gibt. Die Welt, die sich hier öffnet, ist meine Welt. Ich darf mich vorstellen: Mein Name ist Ojuna Altangerel-Wodnar, ich bin approbierte Ärztin mit jahrzehntelanger Praxiserfahrung und Schamanin mit mongolischen Wurzeln.
Mit diesem Buch möchte ich die Wissenslücke schließen. Ich möchte mit einer Art des Heilens bekannt machen, die die Schulmedizin nicht ausschließt oder ersetzt, sondern bereichert.
Es ist also ein heilsames Buch.
Tan-Dom ist eine Nomadenmedizin. Als Mongolin habe ich über meine Ahnen und in meinen Genen ein ganz bestimmtes Wissen mitgebracht. Dieses Wissen integriere ich in die westliche Medizin. Es ist also nichts Besseres, es ist nur eine andere Dimension, findet auf einer anderen Ebene statt.
Der Begriff Tan-Dom kommt von Arznei, dem Tan, und Behandlung, dem Dom. In der Kombination bedeutet es Heilung. Die Worte stammen aus dem Mongolischen, wie ich. Ich wende diese Heilkunst in Kombination mit der Schulmedizin an, die eine Tan-Medizin ist, eine Behandlungsmedizin. Als Ärztin arbeite ich auf Körperebene, mit meinem Wissen aus den schamanischen Traditionen auf Seelenebene. Ich bin sozusagen die Brücke zwischen diesen beiden Welten und zeige einen gänzlich neuen Weg im Umgang mit Krankheiten auf.
Allem voran: Krankheit ist nichts Böses.
Jeder, der schon einmal Schmerzen gelitten, vielleicht sogar um sein Leben gefürchtet hat, wird mir vermutlich nicht auf Anhieb recht geben. Aber so eindimensional wortwörtlich meine ich das auch nicht. Natürlich empfindet man Krankheit nicht als Wohltat, wenn der Körper schmerzt und nicht mehr so funktioniert, wie er sollte. Selbstverständlich ist Freude nicht das aufdringlichste Gefühl, wenn die Psyche verletzt und durcheinander ist.
Trotzdem hat jede Krankheit ihren Sinn. Sie ist kein Zufall, sie ist kein Pech und schon gar keine Strafe. Sie ist eine Art Wegweiser. Sie macht auf Dinge aufmerksam, die man ohne sie nicht bemerkt hätte.
Deshalb gibt es nicht nur den einen Umgang mit ihr: sie auszutreiben, wegzupeitschen und loszuwerden, schnell, brachial und mit allen Mitteln. Das ist nicht mehr, als den Körper zu reparieren. Heilen ist etwas Umfassendes. Heilen, um es kurz zu machen, geht anders.
Heilen ist nicht Sache der Ärzte, sondern der Patienten. Die beiden helfen zusammen. Die Ärzte erledigen, was mit den Wundern der Technik und des Fortschritts möglich ist, aber ohne die eigene Heilkraft des Menschen sind sie letztlich machtlos. Diese Heilkraft zu wecken, hat die Schulmedizin noch nicht wirklich geschafft. Sie weiß, dass die Psyche mithilft, wenn der Körper angegriffen ist, aber von der Seele versteht sie noch wenig. Viele Schulmediziner lassen nicht gelten, dass es überhaupt eine gibt; immer mehr von ihnen beginnen allerdings zu zweifeln; und einige sind schon dabei, die Wissenschaft mit dem Unsichtbaren bekannt zu machen.
Meine Erfahrung ist: Um geheilt zu werden, muss man auf die Krankheit zugehen. Ihr die Hand reichen: Guten Tag, du bist mein Rückenleiden, was möchtest du mir denn sagen?
Die Antwort kann einen überraschen. Denn es geht sehr oft nicht um einen selbst. Eigentlich nie.
Das liegt daran, dass in meiner Welt niemand allein ist, niemand ist eine Insel. Und auch hier meine ich nicht unbedingt das, was in der Esoterikszene damit gemeint ist: Jeder ist mit jedem verbunden. In gesundheitlicher Hinsicht muss die Verbindung innerhalb des familiären Gebäudes intakt und niemand darf ausgeschlossen sein. Und dieses Gebäude ist riesengroß.
Stellen wir uns das einmal vor wie eine klassische Familienvilla gigantischen Ausmaßes. Ein Haus der Generationen, und zwar so vieler, wie es eben gibt. Sämtliche Ahnen dieser jahrhundertelangen Reihe haben noch Zimmer in diesem Haus, alle Seelen leben unter einem gemeinsamen Dach. Wenn jetzt keiner aus den späteren Generationen weiß, wer im Mansardenkämmerchen 1294 oben fast unterm Dach wohnt und warum er nie daheim ist, tut das der Gesundheit nicht gut. Man fühlt sich nicht vollständig, es fehlt einem was. Vielleicht hat man auch jemanden unten im dritten Kellergeschoss vergessen und aus der Gemeinschaft ausgesperrt, das tut auch weh.
Es mag ein einfaches Bild sein, aber es ist das, worauf es ankommt. Die Ahnenreihe muss vollständig und in Ordnung sein. Und Ordnung ist dabei das entscheidende Wort. Es ist eine höhere Ordnung, es ist die Ordnung, der ich diene.
Tan-Dom ist kein Hokuspokus einer selbst ernannten Therapeutin, es ist kein Herumrühren in der Esoterik, und es hat auch keinen spirituellen Hintergrund. Meine Arbeit fußt auf Empirie und damit auf den Grundlagen der Wissenschaft.
Ich gebe Einblicke in die Traditionen eines uralten Volkes und in die Arbeit einer modernen Frau, die sie heute anwendet. Ich habe in Halle an der Saale Medizin studiert. Und ich wurde von Schamanen in der mongolischen Heilkunst ausgebildet. Ich bin das Bindeglied von der schamanischen Mystik zur westlichen Schulmedizin. Ich beherrsche die Skills aus beiden Welten und wende sie beide in der Praxis an. Tan-Dom ist meine Art, hinter die Krankheiten zu schauen und Menschen zu helfen, sich selbst zu heilen.
Tan, die Arznei, und Dom, die Behandlung. Klingt wie das, was unsere praktischen Ärzte nebenan auch machen. Und doch ist es vollkommen anders. Tan-Dom ist nachhaltige Gesundheit und passt damit genau in unsere Zeit. Minimalistisch leben, möglichst wenig tun, nicht über Gebühr in die Natur eingreifen, auch in der Medizin.
Tan-Dom ist individuelle Medizin, eine Handwerksmedizin, maßgeschneidert auf jeden Patienten. Ich arbeite am Leib und an der Seele der Patienten. Und ich arbeite mit Leib und Seele. Meine Hände sind meine Körperscanner. Puls-, Zungen-, Iris-, Handlinien- und Gesichtsdiagnose sind meine Werkzeuge, die Seele ist mein Stethoskop.
Tan-Dom befolgt keine vorgegebenen Leitsätze, es diagnostiziert nicht nach Laborwerten, eigentlich diagnostiziere ich gar nicht. Denn Diagnose und Krankheit sind zweierlei. Zwischen diesen beiden Worten liegt der Weg in eine gesunde Zukunft. Die Diagnose hilft nicht aus der Krankheit, es ist die Krankheit, die zur Gesundheit führt.
Die Diagnose ist nur ein Name. Aber es ist egal, wie die Krankheit heißt.
Um zu verstehen, was Tan-Dom wirklich ist, was es tatsächlich bewirkt, lasse ich mir über die Schulter schauen. Genau das mache auch ich bei meinen Patienten, ich schaue ihnen über die Schulter auf die Krankheit, auf deren seelischen Ursprung. Ich schaue hinter die Generationen, entlang der Ahnenreihe. Ich sehe, wo Krankheit entstanden ist, ich kann erkennen, warum sie ausgerechnet jetzt und bei diesem Patienten ausbricht, und ich weiß, wie er sich davon befreien oder wenigstens gut damit leben kann. Das ist es, was ich den Menschen beibringen will.
Im Westen sprechen wir manchmal von Krankheit als Chance. Nach schamanischem Verständnis ist Krankheit sogar ein Geschenk. Sie ist eine Energie, die sich umwandeln lässt, um die Dinge von der Wurzel an zum Besseren zu wenden.
Das Rezept dafür heißt: dahinterschauen und annehmen.
Was man dahinter sieht, ist faszinierend. Kinder nehmen Krankheiten stellvertretend für ihre Eltern auf sich. Familiengeheimnisse sind Grund für Leiden, sie nicht zu lüften macht noch Generationen später krank. Es geht um Entscheidungen, zu denen man stehen, um Fehler, die man verantworten muss. Es geht um Tote, die keinen Frieden finden, und Ahnen, die keinen Platz in den Herzen ihrer Nachfahren haben. Es geht darum, vergessene Seelen ins Herz zu nehmen und sich mit allen zu versöhnen, ungeachtet ihrer Schuld und ihrer Schwächen. Versäumt man das, erinnert eine Krankheit an diese höhere Ordnung.
Dass sie so oft Kinder trifft, liegt nicht daran, dass die Familienordnung gemein und ungerecht ist, sondern daran, dass Krankheiten an Kindern am meisten auffallen. In so jungen Jahren muss ein Mensch an nichts leiden außer an den Kinderkrankheiten. Aus ihnen lernt er das, was er braucht. Erkranken Kinder an etwas anderem, hat das nichts mit ihnen zu tun, sondern immer mit jemandem aus der Familienvilla.
Dahinterschauen und annehmen, das ist die wahre Prophylaxe.
Aus westlichem Blickwinkel ist mein Ansatz revolutionär, ja, so möchte ich es in aller Bescheidenheit nennen. Um ihn ganz zu begreifen, muss man sich einer unbekannten Kultur und einer neuen Sichtweise öffnen. Die Brillengläser dafür gibt es nicht im Handel. Es ist der Blick, den mich die Steppe der Mongolei gelehrt hat, das Nomadenleben, das ich in den ersten acht Jahren meines Lebens und in vielen Sommermonaten meiner Kindheit und Jugend im Stamm der Burjaten am Baikalsee, dem meine Familie entstammt, geführt habe. Meine Großmutter brachte mir das alte Wissen bei. Sie war Heilerin, die erste einer langen Kette von Lehrern. Als sie mich einmal dabei ertappte, wie ich mit ein paar zusammengeklaubten Utensilien Arzt spielte, sagte sie: »Arzt spielt man nicht, zum Arzt wird man geboren.«
Heilerin zu sein ist ganz einfach, erklärte sie mir: »Du gehst den Weg für deine Patienten vor und schaust, ob von rechts oder links ein Tiger kommt oder eine Schlange vor dir rennt. Wenn nicht, gehst du weiter und schaust, ob ein Wolf lauert. Wenn nicht, kannst du diesen Weg empfehlen. Es hilft nichts, wenn du einen Menschen an den Füßen reißt, wenn sein Kopf im Tigermund steckt. So muss ein Schamane sein, du musst den Weg vorher erst selbst gehen. Ich würde dir das gern ersparen, aber das geht nicht. Auch du musst durch schwere Krankheit hindurch.«
Pest, Cholera, Typhus, Syphilis oder Tuberkulose (Tbc) sind der Menschheit schicksalhaft gegeben. Sie sind vielfach Ursprünge der vielen Krankheiten und Diagnosen, mit denen wir es heutzutage zu tun haben. Krebs tritt, um ein Beispiel zu nennen, oft in Tbc-vorbelasteten Familien auf. Auf diese Ursprünge müssen wir schauen. Es ist wie eine tiefer gehende Anamnese bis zurück in die Eingeweide der Ahnen und deren Ahnen und deren … Sofort mit dem »Gesundmachen« loszulegen ist nicht Heilung. Der Arzt muss lernen, sich zurückzuziehen und vorerst nur die Angst vor der Krankheit zu behandeln. Die Angst darf er eliminieren, die Krankheit nicht.
Die Krankheit kommt nicht zum Arzt, sondern zu den Patienten. Sie sollten sie nicht nur begrüßen, vor ihr müssen sie sich verneigen. Darum geht es. Und damit ist schon alles gesagt. Eigentlich brauchte das Buch nicht mehr als zehn Seiten.
Als Arzt diene man den Menschen in Demut, sagte meine Oma, man diene mutig, man sei niemals geizig in der Hingabe und niemals gierig beim Heilen.
Sätze wie diese haben mich zu der Ärztin gemacht, die ich heute bin. Die Schulmedizin engstirnig zu sehen ist dabei nicht meine Sache. Ist eine Chemotherapie nötig, rate ich dazu. Ist eine Operation unumgänglich, überweise ich an die Kollegen in der Chirurgie. Ist ein Antibiotikum ratsam, verschreibe ich es. Ist eine Impfung hilfreich, empfehle ich sie.
Seit drei Jahrzehnten praktiziere ich nach der Tan-Dom-Methode. Ich habe Tausende Patienten behandelt, viele davon haben sich von ihren Krankheiten befreit, viele davon leben besser mit ihnen. Nun möchte ich mein Wissen seitenweise weitergeben. Schwarz auf weiß zeigen, wie man seine innersten Heilkräfte entdeckt. Es sind körpereigene Kräfte, die man aktiviert, aber es ist die Seele, die heilt.
Mit diesem Buch ist es wie mit Tan-Dom. Die Leser schauen hinter die Dinge. Durch meine Augen. In eine neue Welt.
Meine Anfänge
Es trennen uns nur ein paar Tage, mich und die erste Frau, die ins All flog. Bei mir war es der 28. Mai, bei ihr der 16. Juni 1963, als wir beide in eine ungewisse Zukunft aufbrachen. Sie vom Raketenstartplatz Baikonur im Süden von Kasachstan aus in eine Karriere als Kosmonautin, ich in einem Kreißsaal des zweiten Geburtshauses in Ulaanbaatar in mein Leben als Ärztin und schamanische Heilerin.
Abgesehen von diesem besonderen Junitag ließ sich zwischen Walentina Tereschkowa und mir wenig Gemeinsames ausmachen. Während man der Möwe, wie ihr Funkname lautete, auf den Fotos, die rund um den Erdball gingen, weltweit ansah, dass sie stolz war auf ihre achtundvierzig Erdumkreisungen, die sie, ohne männliche Begleitung völlig auf sich allein gestellt, absolviert hatte, war an mir nichts Außergewöhnliches zu erkennen. In der Zeit, in der die Kosmonautin an Bord des Raumschiffes Wostik 6 fast drei Tage lang ihre Kreise um uns Erdenbewohner zog, lag ich mit zerknautschtem Gesicht und verbeultem Köpfchen in meinem Kinderbett, erschöpft von meinem Weg aus dem Schutz einer wohligen Blase im Körper meiner Mutter hinaus in die raue Wirklichkeit des mongolischen Alltags. Bis die Möwe in der Nähe von Nowosibirsk landete, hatte ich nicht einmal einen Vornamen.
Das ist an sich nichts Ungewöhnliches in der Mongolei. Bevor das Kind geboren ist, gibt es keinen Namen, keine Babysachen, keine Wiege. Es galt als schlechtes Omen, bei uns heißt das: einen metallenen Sarg bereiten. Dafür ist die Namensgebung dann, wie vieles andere bei uns, ein schönes Ritual. Die Eltern dachten sich nicht über Monate der Schwangerschaft hinweg aus, wie ihr Kind heißen sollte, sie schlugen nicht in Registern nach und ließen sich auch nicht vom Moment inspirieren. In der Mongolei haben Namen eine Bedeutung. Früher war es wie eine Art Patenschaft, der Vater, die Mutter, eine Tante, ein Onkel suchte den Namen aus. In modernerer Zeit helfen alle mit. Die Verwandten schreiben ihre Wunschnamen auf viele kleine Zettel, die man in eine Schale mit Reis wirft. Man schüttelt alles ein bisschen, dreht die Schale um, kippt den Inhalt auf den Tisch, und dann entscheidet das, was man leichthin »Zufall« nennt. Irgendjemand zieht einen Zettel, und so heißt das Kind dann.
Bei mir kam es nicht dazu. Ich weiß nicht, warum, vielleicht fehlte einfach die Gelegenheit für das Schalenritual. Ich war das sechste von sieben Kindern, da kann die Zeit schon einmal knapp werden. So, wie man es mir erzählte, fiel es eigentlich niemandem so recht auf, dass ich die ersten Tage meines Lebens namenlos vor mich hin krähte. Meine Oma löste schließlich das Problem.
»Du bist lange genug ohne Namen gewesen«, sagte sie. »Jetzt gebe ich dir einen: Du bist Ojuntschimeg.«
Ojun bedeutet auf Mongolisch Geist oder Wissen, Tschimeg heißt Schmuck, genauer gesagt: Schmücke dich.
Meine Oma rief mir die Bedeutung dieses Namens immer wieder in Erinnerung. »Vergiss nicht, was dein Name heißt«, sagte sie.
Und ich musste antworten: »Ich weiß, Oma, schmücke dich mit Wissen, nicht mit Schmuckstücken.«
»Ja, ja«, sagte sie und nickte. »Schmuck ist nicht wichtig für eine Frau, sich mit dem Geist im Kopf zu schmücken, das ist wichtig.« Dabei klopfte sie sich mit den Fingern an die Stirn.
Ich betete mein Sprüchlein immer brav herunter, aber still für mich war ich nicht ganz ihrer Meinung. Nichts gegen den Geist, aber ich fand immer, Schmuck zu tragen sei doch etwas Schönes für eine Frau. Meiner Ansicht nach schloss das eine das andere nicht aus, man konnte beides, zur selben Zeit. Meine Oma sah das anders, und für eine Frau, die nur zwei Kleider und überhaupt keinen Schmuck besaß, kam mir ihr Blickwinkel durchaus logisch vor.
Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als sie mir beichtete, dass sie mich fast Walentina genannt hätte. Die erste Frau im Kosmos, die da ausgerechnet um meinen Geburtstag herum startete, war eine Parallele, über die sie tagelang nachgegrübelt hatte. Eine Frau, die so hoch hinauswollte und das tatsächlich schaffte, erschien ihr als ein gutes Omen für ihre Enkelin. Aber dann hatte sie die Eingebung mit Ojuntschimeg, und ich war noch einmal davongekommen.
»Zum Glück!«, rief ich, als sie mir das gestand.
Die Zeit, in die ich in diesem Frühsommer 1963 hineingeboren wurde, war turbulent. Die USA und die Sowjetunion lagen sich in den Haaren, der Kalte Krieg war in seiner heißesten Phase. Man war mit der Kubakrise knapp an einem dritten Weltkrieg vorbeigeschrammt, an weiteren Gelegenheiten in dieser Richtung fehlte es nicht. Die beiden Supermächte richteten einen heißen Draht ein, eine direkte Fernschreiberleitung zwischen Washington und Moskau. Der amerikanische Präsident verkündete vor dem Schöneberger Rathaus: »Ich bin ein Berliner.« Ein paar Monate später war John F. Kennedy tot, erschossen bei einer Wahlkampfreise in Dallas. Eine Stunde danach übertrugen die USA via Satelliten erstmals eine TV-Meldung nach Japan. Fortschritt und Zerstörung liegen oft nah beisammen.
Mein Geburtsjahr war voller Gefahren, aber auch voller Hoffnung. Die UNO entschied sich einstimmig gegen die Stationierung von Atomwaffen im All. Martin Luther King hielt beim Marsch auf Washington für Freiheit und Arbeit vorm Lincoln Memorial seine Rede »I have a dream«. In Oslo wiederum ging der Nobelpreis für Chemie an zwei Wissenschaftler – für die Herstellung von Kunststoffen. An diesem großen Ehrentag, den man heute mit unseren plastikverseuchten Ozeanen in einem anderen Licht sehen kann, war ich knapp fünf Monate alt.
Natürlich bekam ich von alldem nichts mit. Was nicht ausschließlich an meinem Alter lag. In der Mongolei wusste man von der Welt, was der Kommunismus zu wissen erlaubte. Von Freiheitsmärschen oder Träumen von der Gleichheit der Menschen war hier nicht die Rede. Die wahre Freiheit bot einzig und allein der Kommunismus, mit dem die Gleichheit praktisch mitgeliefert wurde. Daran glaubte das so oft zwischen China und Russland eingezwickte Land. Die 1924 proklamierte Mongolische Volksrepublik war der zweite sozialistische Staat in der Geschichte überhaupt. Nach dem Zweiten Weltkrieg näherte man sich zuerst noch einmal an China an, zu Beginn der Sechzigerjahre versuchte man es einmal mehr mit den Russen. Ich erlebte mein Heimatland als Satellitenstaat der Sowjetunion, mit der das kommunistische Regime um 1990 herum auch in der Mongolei zusammenbrach. Heute haben wir eine sogenannte Demokratie.
Meine Familie ist mit dieser mongolischen Geschichte nicht nur verwoben, sie ist fast eine Art Spiegel, in dem man politische, ethnische und religiöse Zusammenhänge erkennen kann. Wenn ich jetzt so draufschaue, ist das eine wilde Mischung aus Tradition und Aufbruch, Intellekt und Mystik, moderner Welt und schamanischem Wissen. Da prallen buddhistische Mönche auf eingefleischte Kommunisten, es kuscheln uralte Bräuche mit Wissenschaft und Fortschritt. Das alles wohnt entlang einer gemeinsamen Ahnenlinie. Und mittendrin ich, als Verbindungsglied zwischen den Welten.
Ich bin ein Kind der ersten Intellektuellen des Landes. Meine Mutter war Agraringenieurin und Professorin an der Universität von Ulaanbaatar. Sie hatte sich mit der Erhaltung der Trinkwasserversorgung beschäftigt und die Lösung in der Schilfbepflanzung gefunden. Über dieses Thema hatte sie ihre Doktorarbeit geschrieben, und sie setzte sich sehr dafür ein, dass in den Steppen- und Wüstengebieten der Mongolei Bäume gepflanzt werden sollten. Mein Vater hatte Handelsökonomie studiert, er leitete das erste Kaufhaus der Stadt. Gegründet hatte es mein Großvater, er war der Pionier unter den Händlern. In seinen Anfängen war er noch mit dem Viehwagen zwischen China und Russland unterwegs gewesen, das waren die ersten Geschäfte in der Mongolei, mobile kleine Läden. Die Regierung gab ihm dann den Auftrag für das Kaufhaus.
Die Wohnung meiner Eltern lag gleich gegenüber vom Kaufhaus. Es war eine der ersten Adressen in der Stadt, direkt im Zentrum, das Viertel der Minister und Ärzte, Schriftsteller und Akademiker, die bessere Gesellschaft, wenn man so will. In vielen Häusern hatte man Köche und fuhr dicke Wagen mit Chauffeur. Personal hatten meine Eltern nie, dafür umso mehr Kinder.
Ich habe dieses Zuhause erst erlebt, kurz bevor ich, wie in der Mongolei üblich als Achtjährige, in die Schule kam. Acht Jahre lang hatte ich all das nicht gekannt. Ich wuchs bei meiner Großmutter auf. »Auf dem Land«, würde man in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich sagen. So kann man es schon nennen, es war unendlich viel Land. Ich bin in der Steppe groß geworden, als Nomadenkind.
Diese Verbindung in die Vergangenheit war keine Seltenheit in Akademikerkreisen. Die meisten Intellektuellen kamen wie meine Eltern aus Nomadenfamilien. Die Mutter meines Vaters war Krankenschwester und Dolmetscherin, sein Großvater ein berühmter Schamane. Mein Vater war ein Spross aus dem Stamm der Burjaten vom Baikalsee im Norden des Landes. Von dieser Region ist das große schamanische Wissen ausgegangen. Russische Forscher haben Energiequellen am Himalaja, am Baikal und in der Südgobi geortet, das ist etwa die Gegend, in der meine Großmutter mütterlicherseits lebte, bei der ich meine ersten Lebensjahre als Nomadin verbrachte. Damit bin ich von zwei Seiten vorbelastet.
Ich bin die fünfte Generation dieser Linie von buddhistischen Mönchen und Schamanen, und dafür kann ich sehr dankbar sein. Lamas, Mönche und vor allem Schamanen waren im Lauf der Geschichte regelmäßig verfolgt worden. Meine väterliche Familie wurde nahezu ausgerottet, aber sie hat überlebt. Vor allem Stalin hat unter den Burjaten gewütet. Er hatte keine Angst vor Hitler, aber die Schamanen fürchtete er. Erst in den vergangenen Jahren wurde öffentlich bekannt, dass man damals im Auftrag des KGB in der Mongolei mindestens dreißigtausend Intellektuelle, Künstler, Politiker, Schamanen oder Mönche umgebracht hat. Man begnügte sich dabei nicht mit ordinären Erschießungen, man schlug ihnen die Köpfe ab, weil man glaubte, damit eine Wiedergeburt verhindern zu können. Die gefürchteten Schamanen ließ Stalin zur Sicherheit auch noch zerteilen und ihre Gebeine verstreuen. Unter jedem Balken der transsibirischen Eisenbahn, sagt man, liegt mindestens ein Schamane.
Meine Vorfahren versuchten, dem Morden über die Mandschurei nach Amerika und Kanada zu entkommen, manchen gelang es. Den Hiergebliebenen kam das Wort Schamanismus nicht über die Lippen, sie verschwiegen, was sie waren. Selbst mein Vater sprach nie darüber, obwohl ich ihn natürlich ausfragte. Ich war das Warum-Mädchen in der Familie und löcherte jeden über alles. Unsere Herkunft hat mich besonders gereizt, vor allem dieser geheimnisvolle Großvater. Von meinem Vater bekam ich nur einen Satz darüber zu hören:
»Wir stammen von diesem Volk von Nomaden ab«, sagte er, »und wir müssen sie sehr hoch achten.«
Der Satz begeisterte mich, und ich fragte weiter und weiter. Woher stammen wir? Wer sind unsere Vorfahren? Warum darfst du mir das nicht erzählen? Ich wusste nur, dass man das Wort Schamane in der Mongolei ebenso wenig aussprach wie in Russland den Namen Rasputin.
»Mein Kind, das den Namen Warum trägt«, sagte mein Vater. Er sah mich an, und seine Augen waren sehr traurig und voller Angst, dann küsste er meine Stirn. »Manche Warums sind gefährlich.«
»Warum?«
»Wenn ich dir das erzählen würde, könnte ich nicht mehr ruhig schlafen.«
»Warum?«
»Ich würde mein und dein Leben gefährden.«
»Warum?«
Aber ich bekam keine Antwort mehr.
Die Mutter meines Vaters, die mit dem Tod in der Familie hatte leben müssen, war seltsamerweise weniger ängstlich. Dabei hatte sie im Gegensatz zu jüngeren Generationen die Verfolgung der Schamanen durch den KGB tatsächlich erlebt. Sie war wegen ihrer Abstammung von buddhistischen Mönchen von zwei Seiten her gefährdet. Jeder Einzelne, der mit Buddhismus oder Schamanismus zu tun hatte, wurde gejagt, rund um sie herum waren ihre Angehörigen umgebracht worden. Das saß ihr tief in den Knochen, aber sie blieb furchtlos.
Meine Oma mütterlicherseits war gläubig, aber nicht im Sinne einer Religion. Ich erinnere mich, wie sie mir die Vermischung von Buddhismus und Schamanismus und gleichzeitig den Unterschied zwischen Partei und Gott erklärte. Es war, als ich sie nach einem Onkel ausfragte, einem Mönch, der sich mit Astrologie beschäftigte. Er hieß Bandgai, und sie nahm mich öfter zu ihm mit, heimlich natürlich.
»Er dient Gott«, sagte sie.
»Was ist Gott?«, fragte ich.
»Die Kraft, die über uns wacht«, sagte sie und strich mir über die Haare, »besonders über so wilde Wesen wie dich.«
»Du glaubst an Mönche?«, wollte ich wissen.
»Es gibt solche und solche«, sagte sie. »Für den einen ist Gott Gott, für den anderen ist Gott die Partei.«
Sie konnte mir die Dinge immer sehr einfach erklären.
»Schau«, sagte sie, breitete die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. Es war die Geste alle Politiker von Lenin bis Stalin. »Wenn jemand so mit den Händen redet, lügt er.«
Die Kontraste in meiner Familie haben mich immer fasziniert. Die buddhistische Seite, aus der auch meine Mutter kommt, waren die Optimisten, für sie war alles recht und gut. Mein Vater mit seinem schamanischen Hintergrund war tief im Pessimismus daheim, alles war schlimm. Und dann gab es noch meinen Stiefopa, der die Gegensätze auf ganz eigene Art in sich vereinte. Er war Mönchssohn und begeisterter Kommunist. Eine absurde Kombination, immerhin brachten die Kommunisten die Mönche um.
So gesehen bin ich ohne Zweifel ein Kind dieser Familie. Auch ich trage versöhnend zwei Welten in mir. Heute vergleiche ich das oft mit einem waghalsigen Bild. Es ist, als würde ich gleichzeitig auf zwei Pferden reiten, das eine groß wie ein Wallach, das andere klein wie die mongolischen Pferde. Das große trägt mich auf der Erde, mit dem kleinen fliege ich durch die Lüfte. Mit dem einen mache ich sozusagen meine Hausbesuche als Ärztin, mit dem anderen bewege ich mich als Schamanin in einer anderen Dimension. Das Gleichzeitige an diesem Bild ist wichtig, denn beides gehört zusammen.
Aber so weit sind wir noch nicht in meiner Geschichte, ich bin ja gerade erst zur Welt gekommen.
Was eigentlich ein Wunder war. Wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, hätte meine Geburt nämlich gar nicht stattgefunden. Mit einem knappen halben Dutzend Kindern wusste sie, was es bedeutete, noch eins zu bekommen. Sie hatte einen anspruchsvollen Beruf, sie hatte eine große Familie, ihr Leben war vollgefüllt mit Pflichten. Sie empfand es nicht als freudige Nachricht, als sie entdeckte, dass sie wieder schwanger war. Verhütung gab es keine, also entschloss sie sich zur Abtreibung, und es wäre nicht ihre erste gewesen. Ich habe viele ungeborene Geschwister, vor mir und nach mir.
Mein Vater war strikt gegen Abtreibung. Er und Mamas Mutter waren der Überzeugung: Was kommen will, soll kommen. Aber mein Vater war auf Dienstreise, ich glaube, in Moskau. Das nutzte meine Mutter aus und organsierte sich einen Abbruchstermin in der Klinik. Leicht war das nicht, weil der Chef der Gynäkologie ein ähnlich strenger Abtreibungsgegner war wie mein Vater. Seine Gründe dürften sehr persönlich gewesen sein. Während eine Schwangere nach der anderen bei ihm ihr Baby loswerden wollte, konnte seine eigene Frau keine Kinder bekommen. Es war nicht einfach, bei ihm einen Termin herauszuschinden.
Meine Mutter schaffte es über einen Onkel in unserer weitläufigen Verwandtschaft. Er stand in der Hierarchie über dem Professor, er war Chefarzt der Klinik. Sie bekam ihren Termin, und sie wusste, was sie erwartete. In sozialistischen Ländern mussten sich die Frauen ihrer Sache schon sehr sicher sein. Der Staat war daran interessiert, dass sie nach Kräften gebären sollten, der Kommunismus brauchte seine Kinder. Wer sein Baby nicht wollte, musste einiges auf sich nehmen und den Abort ohne Narkose, ohne das geringste Schmerzmittel ertragen.
Trotz all dieser Schwierigkeiten erschien meiner Mutter der Aufenthalt in der Klinik wie ein kleiner Urlaub. Bei ihrem Tagespensum im Haushalt und an der Uni war so ein Tag im Krankenhaus regelrecht Erholung. Sie hatte Zeit zu lesen, sie fühlte sich sicher. Was sie nicht wusste, war eine Verschiebung im Dienstplan meines Vaters. Er kehrte zwei Tage früher von seiner Reise zurück.
»Wo ist denn Mama?«, fragte er meine Geschwister, als er daheim eintraf.
»Mama hat Bauchweh«, sagte eines der älteren Kinder.
Mehr brauchte er gar nicht zu hören, er ahnte, was passiert war, machte auf dem Absatz kehrt, fuhr mit dem Chauffeur quasi mit Blaulicht durch die Stadt und stürmte das Krankenhaus. Meine Mutter hörte ihn vom Weitem durch die Gänge poltern, laut und außer sich. Sie betete, dass sie sich irrte und es nicht die Stimme ihres Mannes war, die da näher dröhnte, aber sie irrte sich nicht. Sie hörte, wie er den Klinikchef zusammenputzte, der nicht nur ein entfernter Onkel, sondern auch ein guter Freund von ihm war, dem er den Posten verschafft hatte.
»Wenn du über den Kopf meines Kindes entscheidest«, brüllte er, »dann entscheide ich über deinen Beruf! Du wirst entlassen! Ich sorge dafür, dass du morgen keinen Job mehr hast!«
Die Schreierei musste bis in die Pathologie zu hören gewesen sein. So hatte meine Mutter ihren Mann noch nie erlebt. Dann stand er vor ihrem Bett. Er griff in seine Tasche und zog ein Buttermesser heraus, rund und stumpf, aber das hinderte ihn nicht, meiner Mutter damit zu drohen.
»Wenn du dieses Kind umbringst, musst du vorher jedes einzelne unserer anderen Kinder umbringen«, sagte er und hielt ihr das Messer vor die Nase.
Meine Mutter dachte, er sei verrückt geworden, so aus dem Häuschen war er, fassungslos, aufgebracht und voller Zorn. Sie war nicht sicher, wozu er imstande war, und entschloss sich zu fliehen. Sie rannte auf den Parkplatz zum Auto. Dort wartete ihre Mutter. Oma holte aus und scheuerte ihr eine. Das war nicht oft vorgekommen in ihrem Leben.
»Wegen dir habe ich im Erwachsenenalter noch eine geknallt bekommen«, erzählte mir Mama später. »Dein Leben hat wirklich extrem begonnen. Du kannst deinem Vater danken, er hat dafür gesorgt, dass es dich gibt.«
»Nein«, sagte mein Vater, »es ist deine Mama, der du danken musst, ich war es nicht, der dich neun Monate lang in sich getragen hat, das war sie.«
Ich schaute abwechselnd zwischen den beiden hin und her und dachte: So viel ist mein Leben wert, ich muss diesen beiden Menschen immer dankbar sein. Und so habe ich gelebt; bis heute lebe ich so.
Fünfundvierzig Tage lang stillte mich meine Mutter, dann musste sie wieder arbeiten. So war das im Kommunismus, das Gesetz schrieb es so vor. Als ich fünf Monate alt war, übergab sie mich der Obhut meiner Großmutter. Ich verließ mit ihr die Stadt und übersiedelte in eine Jurte. Ich wurde ein Nomadenkind.
Wie gesagt lebte ich meine ersten acht Jahre bei meiner Großmutter, sie brachte mir das Nomadenleben bei. Ich lebte in der Steppe, in einer unüberschaubaren Weite, endlos und leer. Man kann sich das kaum vorstellen hier in Mitteleuropa. Eine ruhige Gegend ist in dichter besiedelten Gebieten etwas, was man kaum kennt, wonach man sich sehnt, was man sucht, aber nie findet. Egal, wo man hingeht, überall begegnen einem Menschen.
Ich habe das als Kind genau umgekehrt erlebt. Die Jurten von einer oder zwei Familien waren schon eine Großstadt in der Steppe, die überdies nie am selben Ort blieb. Ich lebte als Einzelkind, als Spielgefährten hatte ich meinen Braunen, sozusagen das Pendant zum weißen Rössel, bei uns sind die Schimmel braun. Die anderen Pferde waren so wild, dass niemand sie fangen konnte. Der Braune war ein braves und treues mongolischen Pferd, das nur eine Schwäche hatte: Es konnte nicht sprechen. Wann immer ich in der Ferne etwas sah, was sich bewegte, betete ich, es möge ein gleichaltriges Kind mit Oma oder Opa sein, mit dem ich spielen konnte. Für mich war die Steppe das Langweiligste, was es gibt. So sah ich es damals.
Heute erscheint mir das Leben meiner Kindheit wunderbar. Frei, wild, grenzenlos, Pippi Langstrumpf in der Mongolei. Du konntest tun, was du wolltest. Es gab keine Beschränkungen, außer denen der Natur. Die Wetterverhältnisse in der Mongolei zählen zu den extremsten auf der Erde. Das kontinentale Klima ist an sich schon streng, aber wir haben Temperaturschwankungen von minus vierzig Grad im Winter bis plus vierzig im Sommer, das ist das Zwei- bis Dreifache dessen, was man in Westeuropa kennt.
Die Winter waren unerbittlich, die Sommer kurz, aber mächtig. Das Bild der Blumenwiesen habe ich immer noch vor Augen, das Grün der Steppe, die aussah, als hätte ihr jemand eine Stoppelglatze geschoren, weit hinten Berge und über allem drüber ein Himmel, an dem die Wolken vor dem Wind flohen, bis er sie erwischte und zu einem Kunstwerk auftürmte. Das war mein Kino und der Alltag mein Abenteuer.
Ungeborene Kinder haben eine außergewöhnliche Bedeutung im Schamanismus. Werden sie vergessen und ignoriert statt ins Herz genommen und geachtet, können sie zur Ursache von Krankheiten werden.
Meine Familie ist reich an Kindern, die nie geboren wurden. Hätte meine Mutter alle zur Welt gebracht, mit denen sie schwanger war, wären wir fünfzehn gewesen statt sieben. Allerdings bekamen wir unverhofft auch eine Schwester dazu, ich werde das noch genauer erzählen. Ich war die Sechste in der Reihe, bis ein Kind auftauchte, das mein Vater verschwiegen hatte. Meine Mutter behandelte sie wie ihre eigene Tochter.
»Deine Mama ist ein ganz besonderer Mensch«, sagte diese Stiefschwester einmal zu mir. »Du hast etwas von ihr, aber lange nicht so viel wie sie.«
Bis zu meiner Schulzeit blieb ich noch bei meiner Oma. Mit acht Jahren wurde ich zum Stadtkind. Ich lebte mit meinen Eltern und Geschwistern in der Wohnung gegenüber vom Kaufhaus und schaffte den Sprung aus der Steppe in die Hauptstadt. Auf einmal hatte ich Spielgefährten, auf einmal war ich von Gleichaltrigen umgeben.
Allerdings nicht immer. Manchmal war ich allein im Zimmer mit meiner Puppe. Auch das war neu für mich, in der Jurte hatte es keine Puppen gegeben, und wenn, hätte mich meine Großmutter nicht damit spielen lassen. Im Nomadentun und im Sozialismus war Materielles eine Rarität, mehr zu haben als das Nötige war etwas pompös Kapitalistisches. Ich war ganz versunken mit meiner Puppe, als ein Gefühl mich aufschreckte.
Jemand war im Zimmer, das spürte ich. Ich ließ mein Spielzeug los, es fiel zu Boden. Ich war allein, vertieft in mein Spiel, ich weiß nicht, wann er hereingekommen war, er stand auf einmal einfach hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um. Obwohl es hell war im Raum, sah ich nicht mehr als eine Gestalt. Eher weniger, eine Silhouette, einen Schattenriss. Trotzdem war ich sicher, dass es ein Mann war. Ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, aber sie griff ins Leere. Der Schatten war durchlässig.
»Hab keine Angst«, sagte er. Seine Stimme war dunkel und fest, es klang, als würden seine Stimmbänder donnern. Ich hatte recht gehabt, es war ein Mann.
Keine Angst war leicht gesagt, es gelang mir nicht, ich begann zu weinen.
»Du musst keine Angst haben«, sagte er noch einmal, »du redest nur mit mir.«
Die Angst blieb, aber sie ließ die Neugier durch. »Wer bist du?«, fragte ich durch die Tränen. »Warum soll ich mit dir reden?«
»Du redest mit mir, aber du sagst es niemandem.«
»Warum?«
»Nicht einmal deinen Eltern.«
»Warum?«
»Es ist unser Geheimnis.«
»Warum?«
»Warum«, wiederholte er. In seiner Stimme lag ein Lächeln. »Immer warum.«
»Aber ich muss es doch wissen«, sagte ich.
»Ja«, sagte er, »du musst noch vieles wissen. Deshalb redest du mit mir.«
»Aber warum darf ich es niemandem sagen?«, fragte ich.
»Weil du sonst in der Psychiatrie landest.«
Das Wort hatte den Klang von Gefahr, es kam wie aus ihm herausgeschossen.
»Psychiatrie?«, fragte ich. »Was ist das?«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte er mich, »ich bin da und halte dich fest.«
Ich schwieg.
»Ich komme, wenn du Hilfe brauchst«, sagte er, »du kannst mich jederzeit rufen.«
»Warum dürfen meine Eltern nichts davon wissen?«, fragte ich.
»Weil sie nicht mit deiner Kraft verbunden sind«, sagte er. »Sie würden dich als krank abstempeln, und du würdest in der Psychiatrie landen.«
Ich zuckte zusammen, wieder dieses Wort. »Was ist denn das, Psychiatrie?«, fragte ich wieder.
»Es ist unser Geheimnis.«
Wie kann etwas unser Geheimnis sein, wenn nur er weiß, was es ist?, dachte ich.
»Ich komme, wenn du Hilfe brauchst, und ich gebe dir Anweisungen«, sagte er.
Anweisungen, dachte ich. »Welche Anweisungen?«
»Um zu lernen«, sagte er. »Du fühlst anders als die anderen, du hörst anders, und du siehst anders. Das darfst du nicht verlieren, deshalb darfst du über diese Dinge auch nicht reden. Und du musst aufpassen.«
»Aufpassen? Was meinst du? Worauf muss ich aufpassen?«
»Auf dich«, sagte er. »Du darfst nicht zu viele Medikamente nehmen.«
Ich dachte an Mama, an ihre Vitamine, und an das Medikament, das wir immer bekamen, wenn wir krank waren. Neulich auch wieder. Es war nicht schlimm, ich war etwas erkältet gewesen. Diesmal hatte ich sie gefragt, wie das Medikament hieß. Mama musste mir das Wort vorsagen, bis ich es auswendig konnte. Pe-ni-cil-lin. Die Vitamine habe ich genommen, aber das Antibiotikum spuckte ich unters Bett, ich weiß auch nicht, wieso.
»Und keine Spritzen«, sagte er.
»Warum soll ich das alles tun?«, fragte ich.
»Weil du lernen musst«, sagte er. »Du musst die Arbeit weiterführen.«
»Und wenn ich es nicht mache? Wenn ich nicht mit dir reden will?«
»Du wirst sehen, was passiert.«
»Sag es mir.«
»Dein Bruder«, sagte er, »er wird sehr früh sterben.«
Ich bückte mich und hob mein Spielzeug auf.