Das Buch
Anoush, Schriftstellerin und Filmemacherin, steht an einem alles entscheidenden Wendepunkt. Ihre Seit-Geburt-Freundin Anouk hat sich das Leben genommen. Zu Eltern und Geschwistern hat sie ohnehin seit Jahren keinen Kontakt. Ihr Mann hat sie betrogen und belogen, ausgerechnet mit Anouk, mit der sie in Teheran aufgewachsen und später nach New York gezogen war. Alles, was Anoush jetzt noch bleibt, sind ein Abschiedsbrief der Toten, Fotos und Erinnerungen. Sie zieht sich in ihr kleines Haus in den italienischen Marken zurück, um endlich ihren Roman zu schreiben. Doch auch dort gelingt es ihr nicht, sich der Vergangenheit zu stellen und Fragen zu beantworten, die sie daran hindern, das Leben in den Griff zu bekommen. Nur der Berg, die Natur und der Hund geben ihr Trost, bis ein Unfall sie endgültig aus der Bahn wirft. Da taucht eine mysteriöse Frau auf. Sie hat ihr Gedächtnis verloren, nennt sich wie ihre tote Freundin Anouk und macht es Anoush auf geheimnisvolle Weise leicht, ihr zu vertrauen und sie in ihr Haus und ihr Leben zu holen.
Wie sind wir geworden, wie wir heute sind? Wie kann man die Verluste, die man im Leben erleidet, verkraften? Und wie kann das Erzählen uns dabei helfen, am Ende sogar gestärkt aus diesen Krisen hervorzugehen? Ein eindringlicher Roman über die Kraft des Geschichtenerzählens.
Die Autorin
Siba Shakib wurde im Iran geboren, wuchs in Teheran auf und besuchte dort die Deutsche Schule. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Autorin und Filmemacherin. Ihr erstes Buch Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen war ein internationaler Bestseller. Weitere ebenfalls erfolgreichen Romane folgten, Samira und Samir (2003) und Eskandar (2009). Sie lebt abwechselnd in New York, Dubai und Italien.
SIBA SHAKIB
Der
Kirschbaum,
den sie ihrer
Mutter
nie schenkte
ROMAN
C. BERTELSMANN
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© 2021 C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-27115-2
V002
www.cbertelsmann.de
Von ganzem Herzen für Tarek und Julian,
Arian und Omid
Und erst recht auch für Mutter und Vater
AUFBRUCH
New York City, 2021. Alles wird anders
Als habe ihr Körper Wurzeln geschlagen, die sich in den Beton des kalten Leichenschauhauses in Downtown Manhattan fressen, steht Anoush da und starrt in das leblose Gesicht ihrer Freundin Anouk, das aussieht, als sei es aus Wachs.
Anoush und Anouk kommen mit wenigen Minuten Abstand im damals einzigen Krankenhaus des Iran auf die Welt und sehen sich so ähnlich, dass Krankenschwestern und Hebamme fürchten, sie miteinander vertauscht zu haben. Ihre Mütter finden es lustig, und mit ihren Babys an der Brust geben sie ihnen zum Verwechseln ähnliche Namen.
Die blutjungen Mütter, eine aus Berlin, die andere aus München, fühlen sich fremd im exotischen Iran, sprechen die Sprache der neuen Heimat nicht, kennen außer der Familie ihrer Ehemänner niemanden und werden Freundinnen. Sie gehören zu jenen Frauen, die aus dem tristen Nachkriegsdeutschland geflohen und iranischen Studenten nach Teheran gefolgt sind, geheiratet und die iranische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ihre Töchter spielen miteinander, tragen die gleichen Kleider, haben beide langes, dunkles Haar mit Mittelscheitel, die gleiche Art zu gehen und zu sprechen, und es kommt vor, dass sogar ihre Eltern sie miteinander verwechseln.
Allerdings unterscheiden sich die Mädchen vom Wesen her. Anoush überfordert sich und ihre Umgebung bereits als kleines Kind, ist nie zufrieden mit sich und ihrem Können, ist sprunghaft, scheut keine Gefahr. Sie schlüpft von einer Rolle in die andere, später wechselt sie von einem Beruf in den anderen. »Sie ist wie ein Baum, der seine Wurzeln überallhin ausbreitet, seine Äste in den Himmel und in alle Richtungen streckt, und Wind und Wetter trotzt. Und mit ihrem Dickschädel geht sie durch noch so dicke Wände«, sagt Anoushs Mutter und bringt alle zum Lachen. Dass ihre Tochter auch eine weiche und zerbrechliche Seite hat, die sie hinter verletzender Härte verbirgt, will die Mutter nicht sehen.
Das Kind glaubt ihr, denkt, es genüge nicht, und wird noch trotziger. Die Kleine hat den Anspruch, alles richtig zu machen, überfordert sich, ist rechthaberisch und eckt noch mehr an. Mutter wird immer hilfloser, und manchmal ist sie sogar angewidert von ihrem Kind.
»Kein Wunder, dass niemand mit dir auskommt. Deine Stacheln bohren sich in die Haut und bleiben im Fleisch der Menschen stecken. Nimm dir ein Beispiel an Anouk«, sagt Mutter, sieht ihre Tochter mit Tränen in den Augen an. »Ich komme nicht an dich heran, du bist wie ein Fels mit scharfen Kanten, die mich verletzen. Krieg und Hunger habe ich überlebt. Gegen dich aber komme ich nicht an. Du brauchst mich nicht. Du bist stark, kannst dich durchsetzen.«
»Ich komme allein zurecht«, übernimmt Anoush die Worte der Mutter und träumt davon, wie Anouk zu sein. Liebenswürdig und sanft. Anouk muss nicht kämpfen, erobert mit Leichtigkeit die Herzen der Menschen, die es glücklich macht, ihr Zuneigung schenken zu dürfen.
Doch nun ist alles vorbei!
Vor vier Tagen und vier Stunden hat Anouk eine Mischung aus Reinigungsmitteln und Rattengift getrunken und sich das Leben genommen.
»Unsere Freundschaft wird niemals vorbei sein«, hört Anoush im Geiste Anouks Stimme. »Du und ich sind eins. Ich bin gestorben, damit du dein Leben findest!«
Anoush schließt die Augen. Ihre Kehle und der Magen brennen, ihre Zunge ist pelzig vom Rotwein, von dem sie am Abend zuvor zu viel getrunken hat. Als habe sie geahnt, dass ein Unheil auf sie zukäme, war sie seit Tagen unruhig und hatte das Bedürfnis, ihre Sinne zu betäuben. Jetzt versteht sie, warum sie nicht aufhören konnte an Anouk zu denken. An sie und Jacob, ihren Ex-Mann, der sie mit ihrer Seit-Geburt-Freundin betrogen hat und Anoush in eine Lethargie stürzte, aus der sie keinen Weg herausfindet.
Wenn ich so weitermache, werde ich fett und träge werden, denkt sie, zuckt zusammen, denn eine zweite Stimme meldet sich. Sag mal, geht’s noch? Spinnst du? Eine Tote liegt vor dir. Nicht irgendeine, sie ist seit eurer Geburt deine beste Freundin gewesen. Und du denkst an Wein und Essen und dass du dick bist?
Es ist nur ihre tote Hülle, ihr lebloser Körper, verteidigt Anoush sich, und ihr fallen Dinge ein, die sie noch erledigen muss. Wohnung putzen, Wäsche in die Reinigung bringen, ihr Haar färben, am Roman schreiben. Der Roman! Vor langen acht Jahren hat sie ihn begonnen. Wann hat sie das letzte Mal etwas Vernünftiges geschrieben? Einen Film gemacht? Ein Hilfsprojekt gestartet? Wann war sie das letzte Mal mit sich und ihrem Leben zufrieden? Und jetzt das. Ihre Freundin lässt sie allein in dieser chaotischen Welt mit ihren Kriegen, Pandemien und Klimakatastrophen. Nicht Anouk, sie, Anoush, sollte dort liegen, sie, die Versagerin, sie, deren Stacheln sich in die Haut bohren, sie, an deren scharfen Kanten man sich verletzt.
»Wieder bist du mir zuvorgekommen«, flüstert Anoush, und eine Sehnsucht, die sich vom Tod der Freundin nährt, bekommt Leben eingehaucht. Die Sehnsucht, dass alles vorbei und sie frei von der Last dieses verdammten Lebens sein könnte.
»Das ist ekelerregend«, flüstert Anoush, zählt die groben Stiche auf den Schlüsselbeinen, mit denen der obduzierte Körper zugenäht ist. Zwölf auf jeder Seite.
Sie will die Tote nicht mehr ansehen, doch ihr Blick ist an das bewegungslose Gesicht geheftet. Diesen letzten Anblick wird sie nie wieder loswerden. Die geschlossenen Lider mit den langen Wimpern, die Nase, die Lippen, das schwarze Haar. Sogar jetzt sind sie sich zum Verwechseln ähnlich. Anoush sieht sich selbst als Tote aufgebahrt. Ein beruhigendes Gefühl von Frieden überkommt sie, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ist sie wirklich wach und ohne Angst, und sie muss daran denken, was Anouk früher immer sagte. »Ich will du sein, und du willst ich sein. Du willst mein Leben, und ich will deins, und so werden wir nur im Tod Erlösung finden.« Anouk muss nun nicht mehr darum kämpfen, die Bessere und Klügere zu sein, die ihr Leben im Griff hat.
»Alles in Ordnung?«, fragt die Polizeibeamtin, die eine Weile unbemerkt neben Anoush gestanden hat und ihren Arm berührt. »Der Tod ist keine schöne Sache.«
»Er ist mir vertraut«, sagt Anoush, sieht sich als kleines Mädchen auf dem Balkon ihres Elternhauses durch einen Schlitz des Vorhangs ins Zimmer blicken. Ihre tote Großmutter liegt auf dem Bett. Anoushs Mutter hat ihr das braune Ausgehkleid aus glänzender Seide mit weißem Spitzenkragen, das sie für sie genäht hat, angezogen und sagt, Großmutter schlafe.
Doch die kleine Anoush weiß, es ist eine Lüge. Niemals würde Großmutter das Ausgehkleid anziehen, sich mit Schuhen an den Füßen aufs Bett legen und schlafen.
Der Gedanke an ihre Großmutter weckt die Erinnerung an weitere Tote. Ihre beiden Urgroßmütter, Großväter, Cousins, ihr Hund, der vom Auto überfahren wurde, eine Frau, die aus dem Fenster sprang, ein Betrunkener, der auf dem Bahnhofsvorplatz einschlief und erfror, ein anderer Cousin, der in Teheran von der herabstürzenden Last eines Kranes erschlagen wurde, afghanische Kämpfer und Kinder, denen in den Kopf, das Herz und sonst wohin geschossen oder die von Bomben und Minen zerfetzt wurden, und die Toten vom 11. September.
»Es ist kein schöner Anblick, trotzdem müssen Sie richtig hinsehen«, bittet die Polizistin. »Da sie offenbar keine Angehörigen hat, sind Sie die Einzige, die sie identifizieren kann.«
Der Geruch von Desinfektionsmittel, vermischt mit dem von faulig Erbrochenem, brennt in Anoushs Nase und nistet sich zusammen mit dem wächsernen Gesicht und den wülstigen Narben der Stiche in ihrem Innern ein, um für immer dort zu bleiben.
»Es sind das Rattengift und das Putzmittel, die ihr Körper ausdünstet«, erklärt die Beamtin, bietet ihr einen Mundschutz an, der nach Minze duftet, doch Anoush lehnt ab.
»Es sind schlimme Zeiten. Hier liegen viele, die mit den Folgen der Pandemie nicht zurechtgekommen sind und sich das Leben genommen haben. Ich kann Sie beruhigen, Ihre Freundin hat Schlaftabletten genommen, bevor sie das Gift geschluckt hat, das hat den Schmerz gelindert«, sagt die Frau, begleitet Anoush hinaus, lässt sie Formulare unterschreiben, übergibt ihr ein Paket mit der in Folie eingeschweißten Kleidung der Toten und einen zerknitterten Briefumschlag.
An der frischen Luft ist Anoushs erster Gedanke, den Tod ihrer Freundin als Weckruf zu sehen und endlich ihr Leben in den Griff zu bekommen. Versunken in ihren Überlegungen, nimmt sie die Subway in die falsche Richtung, steigt am Union Square aus, rennt die Stufen hinauf zum Broadway und geht südwärts. Als sie in die Clinton Street kommt, sitzt in einem Hauseingang neben dem One-Dollar-Laden eine junge Frau auf den Stufen. Weggetreten, unter dem Einfluss von Drogen schwankt ihr Körper in Zeitlupe vor und zurück. Aus dem Mund läuft Erbrochenes zwischen ihre Stoffschuhe auf die Stufen und den Bürgersteig. Es riecht scharf, brennt in der Nase wie das Gift, das Anouk ausgedünstet hat. Anoush kann nicht weitergehen, sieht die Frau an. So muss es Anouk in den letzten Minuten ihres Lebens ergangen sein. In der Hand hält Anoush noch immer ihren Brief, hält sich daran fest, wie Anouk es im Moment des Todes getan haben muss. Sie sieht das wächserne Gesicht ihrer Freundin, stellt sich vor, auf den Stufen säße nicht das Mädchen, sondern ihre Anouk. Und im nächsten Moment ist es, als sitze sie selber dort, fühle sich elend und warte auf den Tod.
Als der Krankenwagen mit der jungen Frau abgefahren ist, kippt ein Mann eimerweise Wasser auf die Stufen und den Bürgersteig, schüttelt dabei unaufhörlich den Kopf, sagt immer wieder: »Was ist nur aus unserer Welt geworden?«
Benommen erreicht Anoush das Amalgamated Dwellings in der Lower Eastside, das 1929 für Näherinnen und ihre Familien gebaut wurde und mit dem großen Innenhof und den alten Bäumen, dem Wasserbecken und einer Fontäne zu den versteckten Sehenswürdigkeiten Manhattans gehört.
»Der Karton ist für dich abgegeben worden«, sagt die Concierge, zupft an ihrem weißen Uniformhemd, das sich eng über ihren vollen Busen und dicken Bauch spannt. »Du siehst nicht gut aus. Ist alles in Ordnung?«
»Ich komme gerade von der Gerichtsmedizin.«
Die Concierge schnappt regelrecht nach Luft. »Wirklich? Du bist die Erste, die ich kenne, die in der Gerichtsmedizin gewesen ist. Sonst sehe ich so was nur im Fernsehen.«
»Ja«, antwortet Anoush mit fester Stimme. »Mir kommt es auch unwirklich vor. Als hätte ich es erfunden.«
»Warum musstest du dorthin?«, fragt sie mit Betonung auf du, was ihre Frage abschätzig klingen lässt.
»Meine beste Freundin, das heißt, wir waren beste Freundinnen, wir sind zusammen aufgewachsen … Ich habe sie lange nicht mehr gesehen … Gib mir bitte den Karton, ich muss in meine Wohnung«, sagt Anoush, ärgert sich, weil sie sich rechtfertigt, als seien ihr Besuch in der Gerichtsmedizin und der Tod ihrer Freundin tatsächlich erfunden.
»Hat das Virus sie erwischt?«, fragt die Concierge.
»Wie bitte? Nein! Sie hat sich das Leben genommen.«
Die Wachfrau macht erschrocken einen Schritt zurück, überlegt, wie sie ihre nächste Frage stellen soll, doch Anoush nimmt ihr den Karton aus der Hand.
Im Fahrstuhl fährt sie mit dem Finger über die Schrift darauf, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich ist: Für Madame Anoush! Niemand anderer, nur Anouk nannte sie so. Oben in der kleinen Wohnung fröstelt es sie, die beiden Zimmer kommen ihr leer vor, als fehlten Gegenstände und Möbel, als lebte niemand hier.
Das Paket mit Anouks eingeschweißten Kleidern und den abgegebenen Karton stellt sie mitten ins Zimmer auf den Holzfußboden, den Briefumschlag legt sie neben ihren Computer auf den Tisch am Fenster.
»Madame Anouk. Wir haben es nicht geschafft, nach Paris zu ziehen. Und auch all die anderen Dinge, die wir gemeinsam unternehmen wollten, werden wir nun endgültig nicht mehr hinbekommen. Wieder hast du es kaputt gemacht.«
Anoush setzt sich auf die breite Fensterbank, sieht zum Fine Fare gegenüber, wo seit dem frühen Morgen Bauarbeiter auf dem Flachdach des Supermarkts weiße Platten verlegen, Teermatten ausrollen, sie flämmen und verschweißen. Eine Platte, eine Matte nach der anderen, schön der Reihe nach. Der alte, marode Belag verschwindet Stück für Stück unter dem neuen, sauberen, als hätte es ihn nie gegeben. Alles ist aufgeräumt, geschieht nach Plan, hat seine Ordnung, und das ist gut so!
»Shekare Ahoo«, Jagd nach Rehen Jasmin Tabatabai
Anoush und Anouk werden in Teheran in die Deutsche Schule eingeschult, sitzen nebeneinander in der Klasse, machen gemeinsam Hausaufgaben, Anoushs Mutter näht identische Kleider für die Mädchen, sie tragen die gleichen Schuhe, feiern ihre Geburtstage zusammen, sogar ihre Periode bekommen sie in derselben Stunde. Anoush kümmert sich um Anouk, verteidigt und beschützt sie, und die lässt es geschehen. Nach dem Abitur ziehen sie von Teheran nach Deutschland, besuchen die Universität und ziehen weiter nach New York. Sie werden für Schwestern, sogar für Zwillinge gehalten. Zusammen fühlen sie sich stark, und ihre Freundschaft ist voller kindlicher, jugendlicher, erwachsener Liebe. Anouk trinkt zu viel, beginnt, mit Drogen zu experimentieren, vernachlässigt sich, das Leben und die Freundschaft. Anoush verliebt sich in Jacob, zieht mit ihm zusammen. Aber auch ihr Glück ist nicht von Dauer. Als sie von einer Reise aus Afghanistan zurückkommt, wo sie einen Dokumentarfilm dreht, erklärt Jacob, er habe sich in eine andere verliebt, habe seit Monaten ein Verhältnis und werde Anoush verlassen. Dass die andere ihre beste Freundin ist, verschweigt er, und Anouk spielt sein Spiel mit, lügt und betrügt ihre Seit-Geburt-Freundin. Als Anoush es herausfindet, sagt Jacob, seine und Anouks Beziehung sei besiegelt, und Anoush kann nicht begreifen, wie die zwei Menschen, die ihr so nahe sind, dass es sich anfühlt, als seien sie ein Teil von ihr, sie hintergehen und verletzen können. Doch sie stellt keine Fragen, denn keine Erklärung könnte ihr über den Schmerz hinweghelfen. Ihre Welt gerät aus den Fugen, sie ist drauf und dran, ihre Mutter anzurufen, zu der sie zwanzig Jahre zuvor den Kontakt abgebrochen hat. Weil sie den Hass, die Wut und die Abscheu ihren Eltern gegenüber nicht mehr ertrug und nichts gegen ihre Gefühle ausrichten konnte.
»Es ist mir nicht gelungen, mein Leben so zu leben, dass es sich den Bedürfnissen der Liebe unterordnet«, murmelt sie einen Satz, den sie sich gemerkt hat.
»Hat es dir etwas gebracht, uns zu verstoßen?«, fragt die Mutter, die vor ihrem inneren Auge auftaucht. Sie hat den Kopf zur Seite geneigt, als wollte sie sich versöhnlich zeigen.
Überrumpelt merkt Anoush, dass sie sich diese Frage nie gestellt und keine Antwort darauf hat. »Ich werde einen Menschen in mein Leben holen, der den Mut hat, mit mir das Wagnis einzugehen, die anfängliche Neugierde und Leidenschaft in wahre Liebe zu wandeln«, antwortet sie stattdessen.
Mutter zieht den Kopf zwischen die Schultern, wiegt ihn hin und her, wie jemand, die keine Hoffnung hat. »Das klingt poetisch.« Und bevor sie wieder verschwindet, sagt sie, was sie früher immer sagte. »Jemanden, der mit dir auskommt, gibt es nicht, der muss erst erfunden werden.«
Nicht einmal in meiner Vorstellung hat sie tröstende Worte oder eine liebevolle Geste für mich, denkt Anoush, findet Gefallen an der Traurigkeit, will das wehmütige Gefühl erhalten und hört das persische Lied ›Shekare Ahoo‹, Jagd nach Rehen, das Jasmin Tabatabai, eine iranische Freundin von Anouk und ihr, gesungen hat.
Anoush schreckt auf. Es ist Nacht, das Licht brennt, das Lied läuft auf Endlosschleife. In der Hand hält sie den Umschlag ihrer toten Freundin. Sie ist eingenickt und klammert sich daran, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Finger passen in den verknitterten Abdruck auf dem Papier. Wahrscheinlich hat Anouk, als sie bereits krampfte, ihre letzten Atemzüge machte, den Umschlag genau so mit aller Kraft festgehalten, damit er ihr nicht aus der Hand glitt.
Anoush schiebt das alte versilberte Obstmesser, das sie als Brieföffner benutzt, in die Öffnung in der Ecke des Umschlags, zieht es entlang des Randes, sieht, wie es ihn aufschlitzt.
Meine liebe Seit-Geburt-Freundin Anoush,
dies ist mein Abschied aus dem Leben. Du bist der einzige Mensch, der mir geblieben ist. Du, die ich verraten, betrogen und verletzt habe. Ich hasse mich dafür. Ich schäme mich und würde alles geben, könnte ich es rückgängig machen. Ich ertrug Deine Erfolge, Dein Glück und Deine Zweisamkeit mit Jacob nicht, während ich allein war und mein Leben an Drogen verlor. Und am Ende hat Jacob auch mich verlassen.
Vergib mir. Nicht meinetwegen bitte ich Dich, sondern Deiner selbst wegen. Damit Du Deine berechtigte Wut ablegen und wieder vertrauen kannst.
Du und ich kommen aus einer anderen Welt, brauchen viel Kraft, um in der neuen zurechtzukommen. Wie für unsere Mütter ist auch für uns die Fremde nicht Heimat geworden, allenfalls haben wir uns mit dem neuen Leben angefreundet. Wie ein Schiff, das hoffnungsvoll in See sticht, sind wir losgezogen, um unsere Träume in der westlichen Welt zu leben. Mein Schiff ist in zu viele Stürme geraten und an den Felsen zerschellt, und meine Träume sind an den harten Kanten der Realität zerbrochen.
Weißt Du noch, wie wir sagten, am letzten Tag auf Erden wirst Du dem Menschen begegnen, der Du hättest sein können? Heute, am letzten Tag meines Lebens in dieser Welt, betrachte ich mich und erkenne: Der Mensch, der ich gern geworden wäre, bist Du.
Mach es besser als ich. Betrachte Dein Leben und Deinen Schmerz, verstehe ihn, lass ihn ziehen, und sieh Dich nicht mehr nach ihm um. Kein letzter Blick! Du hast vergessen, wie stark Du bist. Finde Dich und Deine Kraft wieder. Geh weg von New York, geh in die Natur, in Dein Häuschen in den Bergen der Marken, und fang wieder an zu schreiben.
In diesen letzten Stunden will ich prophetisch sein. Du wirst einer Person begegnen, die Dir helfen wird. Betrachte Dich mit ihren Augen, erzähl ihr Dein Leben, und nimm es wieder in die Hand.
Und bitte reiß Dir den Eltern-Schmerz aus dem Herzen. Lass sie nicht Euren Zwist und Schmerz mit ins Grab nehmen.
Noch etwas: Hör auf, Dich für alles und jeden verantwortlich zu fühlen. Auch mich hast Du beschützt. Ich habe es zugelassen, aber es hat mich träge gemacht, und ich habe gar nicht erst versucht, für mich selbst Verantwortung zu übernehmen, weil ich wusste, Du würdest mich retten.
Ich will nicht mehr gerettet werden. Weder von mir selbst noch von Dir. Ich bin froh, diese Welt verlassen zu können.
Sollte es Dir nicht gelingen, mir zu vergeben und Deinen Frieden zu finden, vergiss mich. Mich und alles, was ich Dir angetan habe. Wie früher, als wir spielten, alles vergessen zu haben und nicht mehr zu wissen, wer wir sind. Mach es wie damals: Erfinde Dich neu.
Ich bin angekommen! Am Ende von allem, am Ende meines Lebens.
Deine Anouk
»Miststück!«, platzt es aus Anoush heraus, zusammen mit Tränen, die über ihr Gesicht laufen und guttun. »Selbst in deinen letzten Stunden kritisierst du mich und weißt alles besser.« Sie zerknüllt den Brief und wirft ihn in die Ecke, wissend, sie wird ihn wieder aufheben, glätten und aufbewahren.
In der Nacht wacht Anoush auf, ärgert sich, dass sie Anouks Anweisungen befolgt, bucht aber, bevor sie es sich anders überlegen könnte, einen Flug von New York nach Köln, wo sie Jacob treffen will, um den Schlüssel zum gemeinsamen Häuschen in den italienischen Bergen zu bekommen.
Als sie ihre Tagebücher einpackt, findet sie die erste Aufnahme, die je von ihr gemacht wurde. Auf die Rückseite des Schwarz-Weiß-Fotos mit gezacktem Rand hat ihre Mutter an ihre Eltern in Berlin geschrieben. Ein Mädchen. 5. April. Widder. Schon jetzt widerspenstig. Wollte nicht raus, musste mit der Zange geholt werden. Sie ist ein Brocken. 3600 Gramm, 56 cm. Wir haben ihr einen altpersischen Namen gegeben. Anoush. Die Unsterbliche. Hoffentlich könnt Ihr uns besuchen kommen.
Vornübergebeugt sitzt die junge Mutter am roten Formica-Tisch in der spärlich eingerichteten großen Wohnung in Teheran, beschreibt die Rückseite des Fotos, wartet, bis die Tinte trocken ist, steckt das Foto in den Umschlag. Kottbusser Straße 7, 1 Berlin 36, Alman, Deutschland.
Der am Vortag abgegebene Karton steht noch in der Wohnung auf dem Boden, als sei er schon immer dort gewesen. Vorsichtig löst Anoush die Klebebänder, ein Wölkchen Comme des Garçons, ein Parfüm, das Anouk und sie benutzen, steigt auf. Fassungslos sitzt sie vor den Dingen, die zum Vorschein kommen. Ein Tagebuch, Anouks Pass, Fotos, Briefe, ihr Lieblingshemd, ein Ring, ein kleiner Buddha aus Ton. Dinge, die sie beide hin und her getauscht hatten. Soll sie sich darüber freuen, traurig oder wütend sein? Ist es ein Geschenk oder eine weitere Gemeinheit, mit der Anouk sich über ihren Tod hinaus in ihr Leben drängen und einmischen will?
»Von der Hoffnung genarrt, dem Tode …«
Im A-Train zum Flughafen findet Anoush im Ringheftchen, das ihr Vater ihr schenkte, als sie Teheran verließ, um in Deutschland zu studieren, ein Zitat von Arthur Schopenhauer.
Daher werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein zu sehen, dass das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.
Erstaunt beobachtet sie, mit welcher Gelassenheit sie es hinnimmt, sich nicht zu erinnern, wann sie das Zitat notiert hat.
Auf dem Flug trinkt Anoush Rotwein, stöbert in ihren Fotos und liest immer wieder Anouks Brief.
»Entschuldigen Sie«, spricht ihr Sitznachbar sie an. »Ist das nicht Italien?«
»Ja«, sagt Anoush, geht aber nicht weiter auf ihn ein, und er lässt sie in Ruhe. Als sie aber Fotos betrachtet, die sie bei ihren Durchreisen nach Afghanistan in Dubai gemacht hat, wird ihr Sitznachbar wieder neugierig.
»Das ist der Burj Khalifa, als er noch eine Baustelle war.«
»Ja, ich durfte mit den Leuten vom Bau in die oberste Etage.« Anoush zeigt ihm ein Foto mit einem Schild, auf dem zu lesen steht, dass dies das höchste Gebäude der Welt ist. »Der Wind dort oben war so heftig, dass ich beinah hinuntergefegt wurde.«
»Ich beneide Sie um diese Erfahrung. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, der in derartiger Höhe quasi im Freien gestanden und Fotos von der Stadt gemacht hat.«
»So habe ich das noch nicht gesehen.«
»Manchmal ist es gut, sich selbst und die Welt mit dem Blick anderer zu sehen«, sagt er lächelnd und erinnert Anoush an den Brief ihrer toten Freundin, in dem sie schreibt, sie werde einer Person begegnen, die ihr helfen werde, und Anoush solle sich mit ihren Augen betrachten, ihr Leben erzählen und es wieder in die eigene Hand nehmen.
»Ich sehe, Sie waren auch am alten Hafen und haben diese schönen Schiffe fotografiert, die aussehen wie Requisiten eines alten Seeräuberfilmes. Ich habe dort immer wieder beruflich zu tun. Einmal habe ich einen Kapitän gesehen, der die Beine verloren hatte und im Rollstuhl saß, trotzdem lenkte er sein Schiff und fuhr Waren in den Iran«, sagt ihr Sitznachbar und streckt ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Massimo, bin Italiener und lebe in Dubai. Ein guter Ort, um Urlaub zu machen.«
»Habe ich bereits gemacht. Zusammen mit meinem Mann und meiner besten Freundin.«
»Ah, Sie sind verheiratet?«
»Wir sind getrennt, und meine Freundin lebt leider nicht mehr«, rutscht es Anoush heraus.
»Oh! Das tut mir leid«, sagt er und spricht sie erst wieder bei der Landung in Köln an. Er will ihr seine E-Mail-Adresse geben, doch Anoush verabschiedet sich rasch, sie hat es eilig, Jacob zu treffen, der draußen mit dem Schlüssel zum gemeinsamen Häuschen in Italien auf sie wartet.
»Ich werde meinen Roman schreiben«, sagt sie bei der Begrüßung. Anouks Selbstmord erwähnt sie nicht.
»Wann geht dein Flug?«
»Ich habe ein Auto gemietet und werde fahren, so wie du und ich es früher gemacht haben.«
»Meine neue Beziehung ist besiegelt«, sagt er trocken.
Besiegelt. Schon wieder dieses Wort.
»Ich habe dir lang genug eine Schonfrist gegeben. Es ist Zeit, den gemeinsamen Besitz zu trennen«, sagt er entschlossen.
»Tu mir das nicht an«, sagt Anoush, ärgert sich, weil ihren eigenen Worten jede Kraft fehlt.
»Seit über einem Jahr warst du nicht mehr dort.«
»Das lag an Corona und an gesperrten Grenzen. Und du weißt genau, seit ich den Iran verloren habe, ist das Haus …«
»Komm nicht mit der alten Leier, wie du unter dem Verlust der Heimat leidest. Ich will dir nichts wegnehmen. Das Häuschen gehört uns beiden, trotzdem lasse ich dir den Vortritt. Kauf mir meine Hälfte ab, dann gehört es dir.«
»Momentan habe ich das Geld nicht.«
»Dann zahle ich dich aus, und du fängst dein Leben von vorne an. Das ist ohnehin das Beste für dich.«
»Ausgerechnet du willst wissen, was gut für mich ist?!« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, sieht sie ihm fest in die Augen. »Ich hänge am Häuschen und dem Berg.«
»Mein Leben ist weitergegangen. Ich brauche klare Verhältnisse«, sagt er, gewährt ihr vier Monate.
Anoush bittet ein letztes Mal. Sie einigen sich auf ein halbes Jahr.
»Respekt«, sagt der Mann von der Autovermietung am Flughafen. »Allein und in der Nacht die weite Strecke nach Italien zu fahren, trauen sich nicht viele zu.«
Anoush lächelt, sagt, was Jacob früher sagte. »Nachts ist es weniger gefährlich als bei Tage.« Ihre Stimme und die Art, wie sie spricht, erinnern sie an die Zeit, als sie im deutschen Fernsehen Jugend- und Musiksendungen moderierte. »Nachts gibt es keinen Berufsverkehr, und die Scheinwerfer kündigen sich bereits von Weitem an, man muss nicht auf der Hut sein und immerzu im Rückspiegel prüfen, ob von hinten ein Auto überraschend angeschossen kommt.«
Dreizehn Stunden liegen vor ihr.
»Mutige Anoush«, sagt sie im gleichen Ton wie der Autovermieter und muss daran denken, wie ihre Mutter damit prahlte, dass ihre kleine Tochter keine Angst habe. Doch Anoush durchschaute sie. Nicht auf ihre Tochter, sondern auf sich selbst war sie stolz. Schließlich war es ihr Verdienst, dass ihr Kind allein zurechtkam und keine Angst hatte.
»Und wie ich Angst hatte«, sagt Anoush, spricht aber nicht weiter, schaltet im Handy einen Podcast an, in dem es ausgerechnet um Selbstmörder geht. Sie überlegt, die Folge zu überspringen, tut es nicht. Eine Frau erzählt, sie sei einsam gewesen, Familie und Freunde hätten sie im Stich gelassen, weshalb sie von der Golden Gate Bridge in San Francisco gesprungen sei, um zu sterben, habe aber lediglich beide Beine verloren. Anoush stutzt. Schon wieder ein Mensch, der beide Beine verloren hat. »Wie der Schiffskapitän in Dubai«, murmelt sie und muss an den Geschäftspartner ihres iranischen Großvaters denken, der ebenfalls beide Beine verloren hatte.
Im Podcast erzählt als Nächstes ein Mädchen aus Europa, sie habe sich nach Syrien und in den Irak durchgeschlagen, um sich islamischen Terroristen anzuschließen. Sie sei in den Krieg gezogen, um endlich etwas Wichtiges zu tun. Ihr eigener, hoffentlich baldiger Tod komme ihr vor wie eine Befreiung von einem Leben, das bis dahin keine Bedeutung hatte. Zumindest werde sie nach dem Tod die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl bekommen, die ihr zu Lebzeiten verwehrt waren.
Anoush stoppt den Podcast, drückt auf Aufnahme. »Selbstmörder in meinem Leben: Anouk, meine Seit-Geburt-Freundin. Zwei Schulfreunde aus Teheran, einer gibt sich den goldenen Schuss, der zweite stützt den Kopf auf das Jagdgewehr seines Vaters, drückt ab. Als Cousin B. sich das Leben nimmt, bin ich wütend, dass er mich allein ließ. Seit er fünfzehn war, erzählte er, er werde sich nach dem Vorbild des iranischen Schriftstellers Sadeq Hedayat das Leben nehmen, bevor er fünfunddreißig wird. Keiner nahm ihn ernst. Er probierte so viele Drogen aus, bis es für sein Herz zu viel wurde und es aufhörte zu schlagen. Der erste Selbstmörder der Familie ist Großonkel H., der Bruder von OmaTeheran. Er säuft sich mit Hundeschnaps zu Tode«, sagt Anoush leise, als schliefe jemand auf dem Beifahrersitz, den sie nicht aufwecken will.
Sie genießt die Fahrt auf der leeren, dunklen Autobahn. »Selbstmord ist rücksichtslos«, sagt sie. »Menschen, die man zurücklässt, müssen mit Schuldgefühlen, dem Schmerz und Verlust zurechtkommen. Sterben ist einfach. Es ist das Leben, das mich zu Tode erschreckt«, diktiert sie in ihr Handy, spürt Wut in sich aufsteigen. Immer hat Anouk die Unschuldige und das Opfer gespielt, sich beschützen und bedienen lassen, dann hat sie Anoush betrogen und ihre Freundschaft zerstört, und zum Schluss nimmt sie sich das Leben und macht es unmöglich, die Dinge zwischen ihnen zu klären und in Ordnung zu bringen. Dabei hatten sie sich das Versprechen gegeben, die andere niemals allein zu lassen, schon gar nicht, indem eine sich selbst das Leben nimmt. Anoush sieht sie beide, als sie noch kleine Kinder sind, mit ernsten Mienen stehen sie sich gegenüber und zählen an den Fingern Arten auf, wie man sich umbringen könnte. Ins Meer gehen und hinausschwimmen, solange die Kraft reicht, Pulsadern aufschneiden, Tabletten schlucken, vom Hochhaus springen. Die kleine Anoush beugt sich über das niedrige Geländer der Dachterrasse ihres dreistöckigen Hauses in Teheran, die Sonne brennt auf ihrem Rücken, sie blickt in die Tiefe, ihre Hände klammern sich ans Geländer, um der Versuchung zu springen nicht nachzugeben. Wie ein Vogel will sie den Körper anspannen, die Arme ausbreiten, einen Satz machen und in die Luft emporsteigen, und sie wird dabei lachen. Doch sie weiß, sollte es nicht klappen, wird sie nach dem Sprung ihre Entscheidung nicht rückgängig machen können, sie wird in die Tiefe stürzen, der Asphalt wird näher kommen, sie wird aufprallen, mit einem Klatsch.
Anoush hat nicht vor, sich umzubringen, sie stellt sich nur vor, wie es ist, aus eigener Kraft zu fliegen. Anouk aber will, dass sie damit aufhört, gräbt ihre Finger in Anoushs Kleid und ihren Rücken und zerrt an ihrer Freundin. Nachher erzählt sie alles den Eltern, und Anoush erhält eine Tracht Prügel.
Viele Jahre später, sie leben in New York, Anoush macht inzwischen Filme und berichtet über den Anschlag auf das World Trade Center und ist im Schneideraum Bildern ausgesetzt, wie Hitze und Flammen Menschen zwingen, sich in die schier unendliche Tiefe zu stürzen. Männer mit nackten Oberkörpern hängen in den Fenstern, winken mit weißen Bürohemden, hoffen auf Hilfe, bis die Flammen zu nah kommen und sie die Hitze nicht mehr aushalten. Wie in Zeitlupe fliegen sie an der Fassade entlang. Zwei halten sich an Händen, einer fliegt unten, der andere oben. Eine Frau auf der Straße zieht den Kopf ein, schlägt die Hand vor den Mund, als wieder jemand mit lautem Krachen auf dem Pflaster aufprallt. Nach drei Tagen und Nächten auf Sendung geht Anoush nach Hause, um zu duschen. Bevor sie ins Studio zurückgeht, bemerkt sie den feinen Staub auf ihrem Tisch, wischt darüber und fragt sich, ob sie Asche der Toten an der Hand hat, und weiß nicht, wohin damit.
Anoush erinnert sich an einen Artikel über eine Frau, die im World Trade Center arbeitete und seit dem 11. September vermisst wurde. Allerdings war sie nicht tot, sondern wollte nur nicht mehr zurück in ihr altes Leben und ihre marode Beziehung, tauchte unter und dachte, jederzeit zurückzukönnen und zu behaupten, sie habe unter Schock gestanden und nicht gewusst, wer sie sei und wo sie wohne. Nach ein paar Wochen aber hatte sie immer noch nicht das Bedürfnis zurückzukehren, sie fühlte sich frei und gut und entschied sich, von vorn zu beginnen und sich neu zu erfinden.
Anoush fragt sich, nachdem der Fall nun publik war, wie viele Menschen wohl denken mögen, diese Frau sei vielleicht ihre Schwester, Tochter, Mutter, die sie am 11. September verloren hatten.
»Wie macht man das?«, flüstert sie in die Dunkelheit der Autobahn. Man kann sich doch nicht einfach ein neues Leben nehmen. Man muss irgendwo leben, braucht einen Ausweis und Zeugnisse, um Arbeit zu finden.
»Heutzutage könnte man sich als Flüchtling ausgeben«, hört sie Jacob sagen, als säße er neben ihr auf dem Beifahrersitz.
»Als welchen Menschen würdest du dich ausgeben, wenn du als jemand anderer dein Leben neu beginnen könntest?«
Jacob schüttelt den Kopf. »Glück hängt nicht davon ab, welcher Mensch man ist. Vielmehr kommt es darauf an, wie man sein Leben lebt.« Um seinen Worten Bedeutung zu geben, hält er inne und wirft Anoush vor, das ihre zu verplempern und ihre Talente nicht wertzuschätzen. »So vieles hast du begonnen und es nicht zu Ende gebracht. Deine Skulpturen und Tische aus Eisen, deine Filme, deine Moderationen im Fernsehen und Radio, du hast in Afghanistan die NATO in politischen Fragen beraten, mit allem hattest du Erfolg, hast es aber nicht weiterverfolgt und ausgebaut. Nichts hast du zu Ende gebracht.«
»Ich bin müde«, murmelt Anoush, streckt erst den einen, dann den anderen Arm.
»Wann hat deine Müdigkeit begonnen?«, fragt er scheinheilig. Als sei nicht er es gewesen, der ihr Schmerz zugefügt hatte, als wisse er nicht, dass Anoush ihre Schöpferkraft verlor, nicht mehr schreiben und keine Filme und Hilfsprojekte machen konnte, als er sie mit ihrer besten Freundin betrog.
»Dabei hat das Feuer in mir für Worte und Bilder nie aufgehört zu brennen«, sagt sie und findet das Bild schön.
»Du bist müde, weil du dich nie wirklich auf jemanden einlassen und mit ihm verbunden sein kannst«, sagt Jacob in einem Ton, als lese er die Bedienungsanleitung eines Staubsaugers. »Einsamkeit kann müde machen.«
»Ihre Müdigkeit kam, als ihr Körper begann, der einer Frau zu werden«, hört Anoush die Stimme ihrer Mutter. »Kaum hatte sie Brüste, da wurde sie zu Freiwild für Männer. Sie grapschten nach ihr, geiferten hinter ihr her.«
»Du hast gewusst, dass der Körper deiner Tochter zur Bedrohung für sie wurde, und hast nichts getan, um sie zu beschützen?«, fragt Anoush und wundert sich darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie Selbstgespräche führt.
Doch statt eine Antwort von ihrer Mutter zu bekommen, taucht die tote Anouk vor ihr auf: »Denn wir sind nur Mädchen.«
Anoush vertreibt die Stimmen aus ihrem Kopf, konzentriert sich auf die leere Autobahn, mag es, dass um sie herum alles in Finsternis getaucht ist, Farben, Häuser, die Landschaft verschwunden sind und es keine Ablenkung gibt. Wie damals, als Jacob und sie die Strecke fuhren, zwei Stunden er, zwei sie. Ihre besten Gespräche führten sie auf diesen langen Fahrten. Doch in den letzten Monaten ihrer Beziehung war alles anders. Schlaf fiel in regelrechten Attacken über sie her, sogar am Lenkrad nickte sie für Sekunden ein. Die Schultern brannten, ihr Bauch schmerzte, als habe sich ein fremdes Wesen darin eingenistet, und sie fühlte sich wie früher, als sie statt in die Schule zu gehen zu Hause bei ihrer Mutter bleiben wollte.
Die Ärztin konnte nichts feststellen, Anoush stand bereits an der Tür der Praxis, erwähnte ihre Müdigkeit, da bat die Ärztin sie, sich wieder zu setzen. »Sie haben eine Depression!«, sagte sie schließlich. Anoush hörte das Wort zum ersten Mal, konnte sich nur vage vorstellen, was es bedeutet, trotzdem war es, als knipse jemand einen Schalter in ihrem Kopf an. Ein magischer, ein glücklicher Moment. Das Konturlose vor ihren Augen wich gestochen scharfer Klarheit. Alles hatte eindeutige Kanten, einen Anfang, ein Ende. Leiseste Töne konnte sie hören. Auf ihrer Haut spürte sie die Luft im Raum. Sie war hellwach, wirklich hell und wach. Ihr Atem ging mühelos, sie fühlte sich leicht. Wie Perlen einer Kette zeigte sich ihr jeder Gedanke gestochen scharf. Kein Sammelsurium mehr von Illusion und Träumen, wirren Ideen und Eindrücken. Doch der Moment verging, und sie tauchte wieder ab in die dunkle Wattestimmung. Die Ärztin, Anoushs Hände im Schoß, der Teppich, alles verschwamm, wurde zu unklarem Brei aus Farben und Formen, ohne Konturen, ohne Anfang und Ende. Sie machte eine Therapie, lernte mehr über diese Krankheit.
»Anouk hat Recht«, murmelt Anoush. »Ich muss mein Leben betrachten und es wieder in die Hand nehmen.«
Konzentriert auf die Dunkelheit der Autobahn und die Lichtkegel ihres Mietautos, die wie zwei freundliche Gefährten den Weg weisen, legt Anoush sich die Hand aufs Herz. Das monotone Fahren, die Ruhe tun gut, ein Muskel nach dem anderen entspannt sich. Autobahnfahren ist eindeutig. Es geht immer geradeaus. Deutschland, Schweiz, Italien. Ohne schlechtes Gewissen, weil sie nicht schreibt, nichts erledigt. 1300 Kilometer klare Verhältnisse und Frieden.