Buch
Bell liebt ihr Leben in Stockholm und ihren Job als Nanny bei der Familie Mogert. Vor allem aber liebt sie den schwedischen Sommer, den sie alle zusammen auf einer kleinen Schäreninsel verbringen. Doch in diesem Jahr ist alles anders: Seit einem verwirrenden Anruf ein paar Wochen zuvor ist die Stimmung angespannt, und Bell ahnt, dass die Mogerts ihr etwas verheimlichen. An Midsommar findet sie Trost und Geborgenheit in den starken Armen von Emil, dem schönsten Mann, der ihr je begegnet ist. Aber auch Emil hat seine Geheimnisse …
Weitere Informationen zu Karen Swan sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Karen Swan
Sommerträume
am Meer
Roman
Aus dem Englischen
von Gertrud Wittich
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Hidden Beach« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2021
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
LS · Herstellung: ik
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-27164-0
V002
www.goldmann-verlag.de
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In liebevollem Gedenken an Sophie Lowry
»Mir träumte, ich wäre wach, dann erwachte ich und stellte fest, dass ich schlief.«
Stan Laurel
Stockholm, März 2012
Es war ihr Gesicht, das ihm in den letzten Momenten seines Lebens vor Augen stand. Bilder wirbelten ihm durch den Sinn, ihr helles Haar im Sonnenschein, der lachend zurückgeworfene Kopf, der entblößte schlanke Hals, die Augen ekstatisch zu Schlitzen verengt. Alles an ihr war Schönheit und Grazie, als wäre sie etwas Ätherisches, eine Engelsgestalt, Fleisch gewordener Sternenstaub, vom Himmel herabgefallen und zur Vollkommenheit zusammengefügt …
All das sah er, doch entging ihm dabei vieles andere – die spätwinterlichen Regenpfützen, dunkel und tückisch glitzernd; das leise Rattern der Straßenbahn, die sich von hinten näherte; der laute Aufschrei, der den Himmel über der Stadt zerriss. Nichts davon bekam er mit.
Für ihn gab es nur Licht.
Und dann vollkommene Schwärze.
Stockholm, Dezember 2018
Bell schoss in den Pedalen stehend über die Kreuzung. Sie keuchte noch vom letzten Anstieg, ihre Socken hatte sie über die Hosensäume gestülpt. Sie gehörte zu den wenigen Radfahrern, die tatsächlich noch selbst in die Pedale traten; die meisten anderen waren mit E-Bikes oder elektrischen Vespas im morgendlichen Berufsverkehr unterwegs. Sie wirkten weit weniger verschwitzt als sie – und weit weniger gehetzt. Sie war wieder einmal zu spät dran. Immerhin machte sich der scharfe Ostwind, der ihr vor zehn Minuten beim Verlassen der Wohnung ins Gesicht gefahren war, jetzt kaum mehr bemerkbar. Im Gegenteil, ihre Wangen waren warm und rosig von der Anstrengung.
Sie bog scharf rechts in eine schmale Straße ein und begann, hart am Lenker ziehend, den kurzen, aber sehr steilen Anstieg über den letzten Hügel, den sie wenig später wieder hinuntermusste, um ihr Ziel zu erreichen. Rechts und links parkten glänzende schwarze Karossen, in einigen davon saßen bereits Chauffeure. Dies war Embassy Land, das Revier der ausländischen Botschaften, und die schmucken Häuser waren in Lodengrün, Umbra und pigmentierten Terracottatönen gehalten.
Mit einem letzten keuchenden Atemzug erreichte Bell den Gipfel und ließ sich erleichtert in den Sattel sinken, denn der Rest des Weges erledigte sich von selbst. Der Verkehrslärm von der Hauptstraße blieb hinter ihr zurück, das Surren ihrer Räder und das Zwitschern der Vögel gewannen an Volumen. Vor ihr fächerten sich die Straßen auf, wurden breiter und prächtiger. Volvos, Audis und Jaguars standen vor eindrucksvollen Häusern, die ebenso typisch für diese Wohngegend waren wie der kleine Spielplatz, den man auf einer eigenartigen Ansammlung von Felsbrocken errichtet hatte, die das Zentrum des Platzes beanspruchten. Sie waren ein Relikt aus der Vorzeit, ehe die Stadt errichtet worden war, das keine Maschine hatte zerstören oder wegschaffen können. Daher hatte man eben darum herumgebaut. Bell liebte diese aus der Zeit gefallene Kuriosität, die wie etwas Urtümliches, Unbeherrschbares die glatte Fassade der Stadt durchbrach. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum sich hier vorzugsweise Familien angesiedelt hatten. Es gab kein Kind in Stockholm, das es nicht liebte, auf diesen Felsen herumzuklettern. Teenager rauchten hier verstohlen die erste Zigarette oder wagten einen ersten Kuss …
Sie umradelte den Felsen und erblickte das Anwesen, das dieser Tage ihr zweites Zuhause war. Es stand an einer Ecke des Platzes und war unübersehbar: ein quadratisches, vierstöckiges Gebäude mit einer von dicken Doppelglasfenstern flankierten Mittelsäule, dazu verwitterte rote Ziegelwände, die mit dem kupfernen Walmdach und den kupfernen Regenrinnen harmonierten. Das Anwesen war von einer hohen Gartenmauer umgeben, hinter der sich ein erstaunlich grüner und attraktiver Innenhof verbarg. Oddjob, der getigerte Kater der Familie, saß auf einem der Torpfosten und überblickte sein Königreich. Soeben wurde ein Torflügel aufgestoßen. Dann war sie also nicht die Einzige, die spät dran war? Ein E-Scooter wurde hinausgeschoben, gefolgt von einem bebrillten Mann in einem marineblauen Kurzmantel, der ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Ergänzt wurde sein Look von einem gestreiften Missoni-Schal, einer gerippten Wollmütze auf dem schon graumelierten Haar und einer braunen Riementasche, die er quer über die Schultern trug.
»Hi, Max«, keuchte Bell und schwang das linke Bein über den Sattel. Ihre Bremsen quietschten, als sie vor ihm zum Stehen kam.
»Guten Morgen, Bell.« Er hielt ihr das Tor auf, und sie duckte sich geschickt unter seinem Arm hindurch, als ob sie einen Tanz einstudiert hätten.
»Wie läuft es drinnen?«, erkundigte sie sich und lehnte ihr Rad an die Gartenmauer. Sie zupfte sich die Bommelmütze vom Kopf, und sofort standen ihre langen dunklen Haare wie elektrisiert in die Höhe.
Er verdrehte kopfschüttelnd die Augen. »Ein Tollhaus. Ich musste flüchten, sonst hätte ich den Verstand verloren.«
Sie lachte. »Das muss der Grund sein, warum ich mich bei euch so wohlfühle: Meinen Verstand hab ich schon vor Jahren abgegeben.« Schmunzelnd lief sie die hinteren Stufen zum Hochparterre hinauf und öffnete die Glastür.
»Guten Morgen, allerseits!« Munter betrat sie die Küche und band sich dabei das Haar mit dem Gummiband hoch, das sie immer am Handgelenk trug. Automatisch überflog ihr Blick das morgendliche Chaos in der Küche: Der Orangensaft stand offen auf der Anrichte, wo er warm wurde. Rasch stellte sie ihn zurück in den Kühlschrank.
»Ah, Bell, Gott sei Dank, da bist du ja. Ich muss sausen. Ein Patient hat kurzfristig um einen Termin gebeten, ein Notfall, man erwartet mich.« In Hannas Ton lag Dringlichkeit, die sich jedoch nicht in ihren bedachten Bewegungen niederschlug. Sie schlüpfte in einen beerenroten Mantel, der sensationell gut zu ihrem hellblonden Haar passte, und warf einen abschließenden Blick in den Spiegel. Ihr Make-up war wie immer diskret, aber perfekt aufgetragen. Bell war jetzt seit drei Jahren bei den Mogerts, und in dieser Zeit hatte sie Hanna nie anders als makellos erlebt. Ihre Küche dagegen …
Bell spürte ein Zupfen am Fußgelenk und blickte nach unten. Elise, die um neun Minuten ältere der beiden Zwillinge, zog mit missbilligend geschürztem Mündchen die Jeanssäume ihres Kindermädchens aus den Socken. Bereits im Alter von knapp vier Jahren besaß die Kleine den modischen Instinkt ihrer Mutter.
Bell schmunzelte. »Danke, Elise, dass du mir die Arbeit abnimmst. Und, hast du dir schon das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt?«
Elise nickte.
Bell ging in die Hocke und wischte mit dem Finger einen Klecks Marmelade von der pummeligen Wange des kleinen Mädchens. Sie hielt ihn ihr vors Gesicht und sah sie perplex an. »Wirklich?«
Elise schnappte nach Luft, sie konnte kaum glauben, dass ihr kleiner Schwindel aufgeflogen war, und rannte rasch nach oben.
»Sie kann ein richtiges Schlitzohr sein«, meinte Hanna mit einem gutmütigen Lachen und nahm ihre schlanke lederne Aktenmappe vom Küchenhocker. »Du denkst daran, dass Max heute nicht zum Abendessen da sein wird?«
»Ja. Ich wollte sowieso Köttbullar machen, die lassen sich einfrieren, wenn was übrig bleibt.« Bell warf einen Blick in den Kühlschrank, um sich davon zu überzeugen, dass sämtliche Zutaten vorhanden waren. Es sah aus, als ob die Preiselbeeren nicht mehr reichen würden.
»Wunderbar. Ach ja, ich wollte eigentlich heute Abend zur Elternsprechstunde von Linus, weiß aber nicht, ob ich das schaffen werde. Ich sage dir noch Bescheid, ja? Könntest du im Notfall für mich hingehen?«
»Oh …« Sie wollte sich heute Abend eigentlich mit Ivan treffen. Es war ihr drittes Date und sollte eigentlich die Nacht werden. Bell warf einen Blick auf den Neunjährigen, der am Küchentisch saß und sie beobachtete. Er hatte das Gesicht eines Engels – weich gelockte dunkelblonde Haare und große graugrüne Augen, dazu ein paar vereinzelte Sommersprossen auf der Nase. Er war ein sanftes Kind, mit einer großen Liebe zu Tieren und zur Natur, besaß dabei aber einen hintergründigen Humor, der sich in einem Funkeln in den Augen manifestierte. Die ersten Vorboten der Pubertät machten sich bereits bemerkbar: Seit Neuestem wünschte er sich ein Skateboard, coolere Turnschuhe, einen Snapchat-Account …
Bell zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Klar, mache ich.«
Hanna trat zu ihm und gab ihm einen geräuschvollen Schmatz auf die Wange, woraufhin er, halb erfreut, halb angeekelt, das Gesicht verzog. »Hab dich lieb, mein Liney … und vielen Dank, Bell, du bist echt ein Goldschatz!« Hanna winkte ihrem Kindermädchen, warf Linus noch einen abschließenden Handkuss zu und schlüpfte anmutig zur Küchentür hinaus.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, aber nicht bevor Blofeld, die andere Familienkatze, hereingeschossen kam und nun auf leisen Sohlen über den Küchenfußboden huschte. Bell sah zu Linus hinüber und bemerkte, dass er seiner Mutter nachschaute, bis sie außer Sicht war. Wenn Hanna einen Raum verließ, dann schien er sich durch ihre Abwesenheit immer zu verändern, als geriete das Stickstoff-Sauerstoff-Gemisch für kurze Zeit aus dem Gleichgewicht. Sie war auf fast zauberhafte Weise alles zugleich: elegant und chaotisch; sanft, aber mit einer natürlichen Autorität.
»Okay, Kumpel, bist du bereit für die Schule? Eine von uns hat heute früh den Wecker überhört, und ihr werdet ja heute in Mathe abgefragt. Da dürfen wir nicht zu spät kommen.« Sie machte sich daran, die Teller abzuräumen und im Spülbecken zu stapeln, damit sie sie für den Moment nicht sehen musste. Darum würde sie sich später kümmern.
»Ich will nicht in die Schule.« Linus sah zu, wie Bell mit Küchenkrepp einen Klecks Honig von der Anrichte wischte.
»Klar willst du.« Jeden Mittwoch war es das Gleiche – Mathe gehörte nicht zu Linus’ Stärken. »Was ist vier mal acht?«
»Zweiunddreißig.« Er hatte nur unmerklich gezögert. Sie hatten diese Woche jeden Morgen, wenn sie ihn zur Schule brachte, und jeden Nachmittag, wenn sie ihn wieder abholte, das Achter-Einmaleins gepaukt.
»Neun mal acht.« Sie blickte auf, während sie die Milch in den Kühlschrank zurückstellte, ebenso Marmelade, Käse und Gürkchen.
»Zweiundsiebzig.«
Bell nickte beeindruckt. Die höheren Zahlen mochte er gar nicht. »Elf mal acht.«
»Viel zu leicht!«, rügte er. »Das ist geschummelt.«
Sie zuckte die Achseln. »Na, wenn du dieser Meinung bist, dann bist du bereit. Du wirst sie fertigmachen, wirst sehen. Und am Ende gewinnst du den Goldstern.«
»Nils wird mich schlagen. Das tut er immer.«
»Aber nicht diesmal. Du kannst das. Er hat das Vierer-, das Siebener- und das Dreier-Einmaleins gewonnen. Du dagegen das Fünfer, das Sechser und das Neuner. Und jetzt auch noch das Achter. Bestimmt!«
Er starrte sie gebannt an. Im Ernst? Könnte er seinen alten Erzfeind tatsächlich schlagen? Sie nickte ihm aufmunternd zu, und er sprang vom Stuhl.
»So ist’s brav! Und jetzt zieh dir die Schuhe an. Und sag deinen Schwestern, dass sie heute auf jeden Fall Mützen aufsetzen müssen. Keine Widerrede! Es ist eiskalt draußen.«
Er schoss aus der Küche und rief am Fuß der Treppe laut nach seinen Schwestern. Bell wischte inzwischen die Milchdüse der Kaffeemaschine sauber, damit sich keine zähe Milchschaumkruste bildete, die man später kaum mehr abbekam. Zwanzig Sekunden später kamen kleine Füße die Treppe hinabgepoltert.
»Lasst mal sehen.« Die Zwillinge kamen ruckartig vor Bell zum Stehen und blickten mit zuvorkommend gefletschten Milchzähnen zu ihrer Nanny auf, um zu beweisen, dass die Zähne geputzt worden waren. »Sehr gut.« Schmunzelnd wischte sie eine Spur Zahnpasta von Tildes Mundwinkel und nahm ihr die Haarbürste aus der Hand. »Also, wer will heute Zöpfe haben?«
»Ich!« Elises Hand schoss als erste hoch.
Hanna und Max hatten nichts dagegen, wenn sich die Mädchen identisch anzogen – was sie oft taten –, aber ihr Haar sollten sie doch unterschiedlich tragen. Der Sinn war der, ihnen begreiflich zu machen, dass sie trotz allem zwei eigenständige Individuen waren. Aber es half auch der Außenwelt, sie voneinander zu unterscheiden, denn die beiden sahen absolut identisch aus. Bell hatte selbst mehrere Wochen gebraucht, ehe sie es schaffte, die beiden zuverlässig auseinanderzuhalten. Inzwischen waren die Unterschiede für sie jedoch unübersehbar. Beide hatten, was Max seine »hervorquellenden« blauen Augen nannte, und dazu seine langen Gliedmaßen, doch während Elise das rätselhafte Mona-Lisa-Lächeln der Mutter besaß und auch ihr natürliches Selbstvertrauen, hatte Tilde beim Lächeln immer eine winzige Falte im linken Mundwinkel und links einen ganz leichten Sichelfuß.
Bell bürstete, ohne auf Elises dramatisches Quieken zu achten, mit wenigen kräftigen Strichen das weißblonde Haar aus, dann flocht sie es zu zwei Zöpfen. Tilde band sie mit einer karierten Schleife den Pony zurück. »Okay, sehr hübsch. Und jetzt bitte Winterstiefel anziehen. Und Mützen aufsetzen. Und Handschuhe anziehen, hopphopp!«
Linus kam in die Küche. Er hatte Anorak und Schuhe bereits an und trug seinen Schulranzen auf dem Rücken. Seine Lippen bewegten sich lautlos, offenbar sagte er sich noch einmal das Achter-Einmaleins vor.
»Fünf mal acht?« Bell schlang den Mädchen Schals um den Hals.
»Achtundvierzig.«
Sie zog unmerklich die Augenbraue hoch, während sie den Mädchen Wollmützen über die Ohren zog.
»Vierzig! Fünf mal acht ist vierzig!«, korrigierte er sich, und in seinen Augen schimmerte Panik auf.
»Sehr gut! Keine Angst, das war nur ein Ausrutscher. Und vergiss das Atmen nicht.«
Er bedachte sie mit einem gekränkten Blick. Er war neun! Derartige Ratschläge waren überflüssig.
»Haben wir alles?« Sie musterte ihre Schützlinge. Alle sauber und warm eingepackt. »Okay, dann mal los. Wir müssen schnell gehen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.«
»Hast du wieder verschlafen, Bell?«, meldete sich Elise keck zu Wort.
Bell warf ihr einen belustigten Blick zu. »Ganz schön frech … aber es stimmt leider.«
»Ich könnte ja mit dem Skateboard vorausfahren«, schlug Linus betont hilfsbereit vor.
Bell richtete ihren Blick jetzt mahnend auf ihn. Er wusste ganz genau, was seine Mutter von solchen Alleingängen hielt – angesichts der vielen steilen Hügel, die es in Stockholm gab.
»Schon klar«, brummelte er, trottete zur Hintertür und hielt sie für die Zwillinge auf, die ihm folgten. Ein kleiner Kavalier, wenn auch widerwillig.
»Zwölf mal acht.« Bell schloss die Tür ab, während die Mädchen noch kurz zum Gartentisch liefen, um zu sehen, ob die Vögel das Vogelfutter gefunden hatten, das sie gestern Abend dort ausgestreut hatten. Es herrschte strenger Frost, und sie alle vier waren am Boden zerstört gewesen, als gestern Morgen ein toter Spatz im Garten gelegen hatte.
Bell zog gerade den Schlüssel aus dem Schloss, als drinnen das Telefon zu läuten begann. Sie zögerte und warf einen Blick durch die Glasscheibe auf die oberflächlich aufgeräumte Küche – das schmutzige Geschirr stand außer Sicht im Spülbecken, die Krümel auf dem Tisch waren zu klein, um sie von hier aus erkennen zu können. Aber die Spuren eines überbordenden, kaum in den Griff zu bekommenden Familienlebens waren dennoch überall sichtbar: Dort stand ein Korb Wäsche, die gebügelt werden musste; über einem Stuhl hing ein Regenmantel, der bei den gestrigen Regengüssen nass geworden war und jetzt sicher Wasserflecken auf dem Leinenstoff des Sitzpolsters hinterlassen hatte, da man ihn nicht an den Garderobenhaken in der Diele gehängt hatte, wo er eigentlich hingehörte. Die Zeitung vom Wochenende hatte es zwar vom Wohnzimmer in die Küche geschafft, aber nicht mehr den restlichen Weg bis zur Altpapiertonne. Und die Lilien in der Glasvase hatten überhaupt kein Wasser mehr, wie sie bemerkte, das musste schnellstens nachgefüllt werden …
Hin- und hergerissen lauschte sie dem Klingeln. Wenn sie jetzt ranginge, würden sie sich erst recht verspäten, aber das Klingeln eines Telefons hatte immer etwas Dringliches, ja Zwingendes. Deshalb hatte sie den Klingelton auf ihrem Handy auf »Lerche« eingestellt, das war … nervenschonender. Aber wenn es Hanna oder Max war? Wenn einer von ihnen etwas vergessen hatte? Hanna war für ihre Verhältnisse sehr in Eile gewesen, wegen dieses Notfalls …
»Vierundneunzig.«
Was? Sie warf einen Blick zum Gartentisch. Die Mädchen knieten auf den Stühlen und versuchten die Sonnenblumenkerne, die in den Ritzen feststeckten, mit ihren kleinen Fingern herauszupulen. Sie nahm sich vor, sie daran zu erinnern, sich die Hände zu waschen, wenn sie im Kindergarten mit den Küken gespielt hatten, die vor zwei Wochen geschlüpft und jetzt groß genug waren, dass die Kinder sie streicheln durften.
»Zwölf mal acht ist vierundneunzig … ach nein, Moment …« Linus runzelte die Stirn.
»Ich geh da nur schnell ran«, sagte sie und steckte mit einem gereizten Seufzer den Schlüssel wieder ins Schloss. Es würde sie noch eine weitere Minute kosten, aber es wäre doch zu dumm, wenn Hanna etwas bräuchte und deswegen extra noch mal zurückkehren müsste. »Vielleicht ist es eure Mama.«
Sie schloss auf und rannte ins Haus, den Blick starr auf den blinkenden blauen Monitor des Festnetztelefons gerichtet. Jeden Moment würde der Anrufbeantworter anspringen …
»Hallo?«, keuchte sie. Ah, gerade noch rechtzeitig.
»Hanna? Hanna Mogert?«
Sie ließ die Schultern hängen. »Nein, tut mir leid, sie ist nicht hier. Mit wem spreche ich, bitte?«, sagte Bell ungehalten auf Schwedisch.
»Hier spricht Dr. Sorensen von der Larna-Klinik.« Eine klare, autoritäre Frauenstimme. Als Psychotherapeutin arbeitete Hanna mit vielen unterschiedlichen Institutionen und Pflegeeinrichtungen zusammen, aber von dieser hier hatte Bell bisher noch nicht gehört. »Ich habe gerade versucht, Hanna auf dem Handy zu erreichen, aber es ist niemand rangegangen.«
»Ja, sie ist unterwegs zur Arbeit und hat es sehr eilig. Wahrscheinlich steckt es in ihrer Aktenmappe, und sie hat das Klingeln nicht gehört. Kann ich etwas ausrichten?« Bell versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Sie warf einen Blick zurück und sah Linus auf den Stufen vor der Tür stehen. Auf seinem hübschen Gesicht breitete sich ein Ausdruck von Panik aus. Er ging noch einmal rasch das Achter-Einmaleins durch, und seine Lippen bewegten sich lautlos. »Sechsundneunzig«, formte sie mit dem Mund.
»Ich würde lieber mit ihr selbst reden. Es ist sehr wichtig.«
Bell unterdrückte einen Seufzer. »Sie können’s gern noch mal auf dem Handy versuchen. Aber sie hat es heute selbst mit einem Notfall zu tun, ich weiß also nicht, ob sie heute Vormittag überhaupt erreichbar sein wird.«
Am anderen Ende der Leitung war es kurz still. Offenbar überlegte die Ärztin, was sie jetzt tun sollte. »Und mit wem spreche ich?«, fragte sie.
»Ich bin das Kindermädchen.«
»Schon länger?«
Bell runzelte die Stirn. Das war ja das reinste Verhör! »Seit drei Jahren.«
»Verstehe.« Offenbar hatte sie den Test bestanden, denn die Ärztin sagte: »Gut, wenn Sie ihr dann bitte etwas ausrichten würden.«
»Gern. Sie sind Dr. Sorensen, sagten Sie …« Bell tastete nach einem Kugelschreiber, der neben einem halb ausgefüllten Kreuzworträtsel liegen geblieben war, und kritzelte den Namen direkt auf die Zeitung. »Von … welcher Klinik noch mal?«
»Der Larna-Klinik. Aber die Nummer hat sie.«
»Okay.«
»Es ist wirklich sehr, sehr dringend. Wenn Sie ihr bitte ausrichten würden, dass …«
Linus tat einen Schritt über die Schwelle. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schien gleich in Tränen auszubrechen. »Bell, ich hab alles vergessen! Es ist wie weggewischt.«
»… deshalb wäre es gut, wenn sie so bald wie möglich vorbeikommen könnte.«
Wie bitte? Bell blinzelte Linus verwirrt an. Beide Aussagen, die des Kindes und die der Ärztin, dröhnten in ihrem Kopf und rangen dort um ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte sich von dem Jungen ab. Nein, das konnte nicht sein. Sie musste sich verhört haben.
»Entschuldigen Sie, aber das ist doch Unsinn. Sie müssen sich verwählt haben …« Bell runzelte die Stirn, noch während sie es sagte. Die Ärztin hatte eindeutig Hanna Mogert verlangt. »Hallo? … Dr. Sorensen? … Sind Sie noch da?«
Der Tag schleppte sich wie auf Bleisohlen dahin. Irgendwie schaffte sie es, die Kinder mit nur wenigen Minuten Verspätung zur Schule und in den Kindergarten zu bringen; irgendwie schaffte sie es, in der Küche Ordnung zu machen, Preiselbeeren zu besorgen, das Abendessen vorzubereiten, die Bügelwäsche zu erledigen und dann die Kleinen wieder aus dem Kindergarten abzuholen, ihnen einen Imbiss vorzusetzen, etwas vorzusingen und vorzulesen und – am erstaunlichsten überhaupt – sie dazu zu überreden, ihr Zimmer aufzuräumen. Was ihr jedoch nicht gelang, war, Hanna zu erreichen.
Ihre Sekretärin, Ninny, vertraute ihr an, dass Hanna es mit einem Patienten zu tun hatte, der unter einer akuten Psychose litt und einen Zusammenbruch gehabt hatte – aber wenn es um die Kinder gehe, könne sie versuchen, sie an den Apparat zu holen. Bell hatte das Angebot schweren Herzens abgelehnt. Es ging ja nicht um die Kinder, und sie glaubte nicht, dass ihre Nachricht – so unglaublich und unwahrscheinlich sie auch sein mochte – mit den Bedürfnissen eines solchen in akuten Nöten befindlichen Patienten konkurrieren konnte. Außerdem würde sich das Ganze wahrscheinlich sowieso als Irrtum herausstellen. Vielleicht hatte Dr. Sorensen ja eine andere Hanna Mogert gemeint, eine, die mit so einer Nachricht auch etwas anfangen konnte.
Max hatte vor einem Weilchen angerufen, um noch mit den Kindern zu reden, ehe er sich auf den Weg zu seinem Geschäftsessen machte. Und obwohl Bell die Nachricht auf der Zunge lag, obwohl sie sie zu gerne losgeworden wäre und mit ihm darüber gelacht hätte, nachdem der Sachverhalt aufgeklärt worden war, schwieg sie. Womöglich war er der Letzte, der es erfahren durfte.
Eine Kaffeetasse umklammernd, an der sie sich die kalten Hände wärmte, warf sie zum hundertsten Mal einen ängstlichen Blick zur Küchenuhr. Aber sie konnte noch so oft hinsehen, die Zeiger bewegten sich kein bisschen schneller. Siebzehn Uhr fünfundzwanzig. Linus war unten im Spielzimmer und schaute sich traurig einen Film an. Er hatte den Einmaleins-Wettbewerb verloren – allerdings nicht an Nils, sondern diesmal an die stille kleine Brigitte Carlsson.
In gut einer halben Stunde mussten sie zur Elternsprechstunde, und noch immer kein Wort von Hanna. Bell hatte sich bereits damit abgefunden, ihre privaten Pläne über den Haufen werfen zu müssen. Sie hatte Ivan eine Textnachricht geschickt und ihn auf ein andermal vertröstet. Die Zwillinge würde sie wohl oder übel zur Sprechstunde mitnehmen müssen, das würde kein Spaß werden. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, um die beiden bei Laune zu halten – und still. Elise war notorisch zappelig, und Tilde wurde nach dem Abendessen leicht quengelig vor Müdigkeit.
Die Hand am graugrünen Geländer, lief Bell leichtfüßig ins Souterrain, vorbei an der Galerie von gerahmten Familienfotos, von denen immer das eine oder andere schief zu hängen schien. Sie blieb stehen und rückte eine der Schwarzweißaufnahmen gerade, auf der Hanna den kleinen Linus auf dem Schoß hielt. Mutter und Kind saßen Wange an Wange an einem Sandstrand, während der Wind ihnen das identische hellblonde Haar zerzauste und sie lachend in die Sonne blinzelten. Ein fröhliches Foto – so wie alle an dieser Wand. Alle erzählten dieselbe Geschichte: Hier lebt eine glückliche Familie.
Aber stimmte das?
Stirnrunzelnd ging sie weiter die Treppe hinab. Aus der Wäschekammer drang das leise Surren der Waschmaschine. In der Trommel wurden die Sachen der Zwillinge, die sie sich gestern beim Spielen im Park schlammig gemacht hatten, gespült, gewalkt und geschleudert. Die Tür zum kleinen WC stand ein Stück offen, und man konnte die glasierten marokkanischen Kacheln erkennen, in die sich Hanna bei einem Marrakeschurlaub mit Max verliebt hatte.
Sie spähte ins Spielzimmer. Es hatte hoch angesetzte Fenster, die den Raum zwar nicht gerade mit Licht überfluteten, aber doch genügend natürliche Helligkeit hereinließen. Hinzu kamen weiß gestrichene Wände und ein heller Lärchenholzboden. Zu ihrer großen Erleichterung herrschte noch keine Unordnung. Wie viel Lebenszeit sie bereits investiert hatte, um allein in diesem Raum das Chaos im Zaum zu halten, hätte sie nicht sagen können, aber zumindest für den Moment steckten Pinsel und Buntstifte in ihren Bechern, die wiederum säuberlich aufgereiht auf dem limettengrünen Ikea-Werktischchen standen. Puzzles und Bücher harrten aufgeräumt im deckenhohen Regal der Dinge, und es schienen sich auch keine Plastikfigürchen in den dicken Schlingen des Teppichs verfangen zu haben, um dort auf nackte Füße zu warten.
Linus lümmelte in dem dicken roten Sitzsack, auf seinem Bauch lag eine offene Tüte saurer Pommes, und sein lockiges Haar war auf dem Sitzkissen ausgebreitet. Neben dem Sack lagen Legos – offenbar hatte er versucht, sich einen Formel-1-Rennwagen zu basteln, und war am Fehlen eines entscheidenden Teils gescheitert. Aber Unordnung konnte man das noch nicht nennen.
Er schaute sich eine Folge von Doctor Who im englischen Original an. Die Kinder sprachen fließend und praktisch akzentfrei Englisch. Das war auch einer der wichtigsten Gründe, warum man Bell eingestellt hatte, obwohl sie zuvor noch nie als Kindermädchen tätig gewesen war. Hanna und Max wollten, dass sie mit den Kindern ausschließlich Englisch sprach, obwohl sie auch fließend Schwedisch konnte. Bells Großmutter stammte aus Göteborg, und bis zu ihrem Tod – da war Bell zwölf gewesen – hatte sie immer Schwedisch mit ihrer Enkelin gesprochen.
»Hey.«
Er verdrehte den Körper und sah sie verkehrt herum an; seine Augen wirkten in dieser Stellung größer denn je.
»Bist du bereit? Wir müssen in ein paar Minuten los.«
»Ach … na gut.« Er wandte sich ab, aber man merkte ihm die erlittene Niederlage noch an einer gewissen Steifheit an. Linus war ein Perfektionist, er machte sich ständig über irgendetwas Sorgen und schien überhaupt immer viel zu viel von sich zu erwarten.
Bell setzte sich so behutsam wie möglich zu ihm auf den Sack, der aber dennoch unter ihm hochging wie ein Soufflé. »Es wird schon gut gehen«, versuchte sie ihn zu trösten und wickelte sich eine seiner Locken um den Zeigefinger. »Vergiss den Test heute. Du bist trotzdem einer der Besten in deiner Klasse. Miss Olson mag dich sehr. Diese Elternsprechstunde wird ein Klacks – nein, sie wird ein Vergnügen. Wie ein Besuch im Streichelzoo.« Linus bedachte sie mit einem skeptischen Seitenblick. »Deine unartige kleine Schwester dagegen …«
Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit gewonnen. »Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?«, erkundigte er sich interessiert. Um welche Schwester es sich handelte, brauchte er gar nicht erst zu fragen.
»Versprichst du mir, dass du’s für dich behältst?« Bell hatte manchmal das Gefühl, dass Linus sich aufgrund des Altersunterschieds von fünf Jahren und der sehr engen Bindung der Zwillinge untereinander ausgeschlossen fühlte wie das fünfte Rad am Wagen. Für viele ihrer Spiele war er einfach zu groß und zu stark, andere langweilten ihn, und außerdem war er ein Junge und kein Mädchen. Deshalb vertraute sie ihm gelegentlich diese kleinen Geschichten an, um ihm zu zeigen, dass er »der Große« war und ein bisschen schon zu den Erwachsenen gehörte.
»Ich versprech’s«, versicherte er eifrig.
Sie senkte verschwörerisch die Stimme. »Du weißt doch, dass die Küken inzwischen geschlüpft sind?«
Er nickte. Wie hätte er es nicht wissen sollen? Es war seit zwei Wochen das bevorzugte Tischgespräch der Familie.
»Als ich die Mädchen heute Mittag abgeholt habe, hat man mich zur Seite genommen und mir mitgeteilt, dass Elise sich ein Küken in die Tasche gesteckt und rausgeschmuggelt hat …«
Er riss verblüfft den Mund auf, aber da er noch nicht wusste, was aus dem armen Tierchen geworden war, wagte er nicht zu lachen.
»Sie hat es grün angemalt …«
Er riss den Mund noch weiter auf.
»… und mit Glitter bestäubt.«
Er überlegte kurz, ob das Küken diese Prozedur überlebt haben könnte, kam zu einem positiven Ergebnis, und jetzt begannen seine Augen vergnügt zu funkeln. »Hat sie nicht!« Er lachte.
»Oh doch! Sie war offenbar der Meinung, dass es lieber ein Meerjungfrau-Küken sein will.«
Er musste noch mehr lachen, und Bell, die sich sehr darüber freute, schmunzelte. »Das wird eine sehr interessante Elternsprechstunde werden, wenn sie mal zur Schule geht. Aber bei dir?« Sie zuckte die Achseln. »Ein Klacks.«
»Die spinnt doch!«
»Na, langweilig wird es einem mit ihr jedenfalls nicht.« Sie kitzelte Linus am Bauch, und er wand sich lachend. »Und jetzt komm, Kumpel. Wollen doch mal hören, wie toll du bist.« Sie stemmte sich mit einem übertriebenen Ächzen hoch. »Ich trommle die Zwillinge zusammen, und du räumst noch rasch die Legos weg, ja?«
Sie lief nach oben und rückte auf dem Weg ein weiteres Foto gerade, diesmal eins von Linus und den Zwillingen in der Badewanne: Alle drei schauten mit rosigen Gesichtern über den Wannenrand.
»Elise! Tilde!«, rief sie und spähte durch das Rund der Wendeltreppe in die oberen Stockwerke. Die Zimmer der Mädchen befanden sich im zweiten Stock, da wollte sie jetzt nicht hinauflaufen müssen. »Kommt, wir müssen …« Sie riss erstaunt die Augen auf. »Hanna! Ich wusste gar nicht, dass du wieder da bist.«
Hanna blickte übers Geländer im ersten Stock. Ihr weißblondes Haar hing schlaff herab wie von einer Flachsspindel. »Bin gerade erst reingekommen.«
»Ich … ich hab dich gar nicht gehört.«
»Weil du wohl unten im Souterrain warst. Ich hatte gehofft, wenigstens fünf Minuten verschnaufen zu können, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Ist ja egal. Ich übernehme jetzt jedenfalls. Dein Tag war sowieso schon überlang.«
Ihrer offenbar auch. Bell starrte zu ihrer Arbeitgeberin hinauf und bemerkte die Erschöpfung auf Hannas Gesicht. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es wohl war, mit jemandem zu arbeiten, der unter einer akuten Psychose litt. Was alles dazugehörte: Wahnvorstellungen, Um-sich-Schlagen, Gewalttätigkeit, Blut und Messerklingen … Diese Elternsprechstunde kam wirklich sehr ungelegen.
»Noch mal danke, Bell. Bis morgen dann.« Hanna wandte sich ab und verschwand wieder im Schlafzimmer.
»Moment, Hanna!« Bell lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Sie spähte schüchtern ins Elternschlafzimmer. Es war ein großer Raum mit einer ausgesprochen maskulinen Note, wie Bell fand. Die Wände waren auberginefarben gestrichen und mit einer Art samtigen Lackschicht überzogen. Auf dem Holzfußboden, der sich in jedem Stockwerk fand, lag ein großer dunkelgrauer Schaffellteppich. Hanna stand am Fußende des Bettes – ein prächtiges, breites schwarzes Himmelbett mit schweren ungebleichten Leinenvorhängen – und streifte mit einem Fuß die Schuhe ab, dann zog sie die Bluse aus dem Hosenbund. Aus der richtigen Perspektive (nicht kopfüber) sah die Hausherrin sogar noch erschöpfter aus.
»Ich hab den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen.«
»Ach, tut mir leid«, sagte Hanna mit vor Erschöpfung schwerer Zunge. »Ich hatte das Handy ausgeschaltet.« Sie hob jäh den Kopf und fragte ängstlich: »Es ist doch nichts mit …?«
»Nein, nein, den Kindern geht’s gut«, versicherte Bell und tat rasch einen Schritt ins Zimmer. Es war besser, wenn die Kinder das nicht mithörten. »Aber heute Morgen kam ein dringender Anruf für dich, kurz nachdem du weg warst.«
Hanna entspannte sich wieder. »Ach ja?« Sie knöpfte ihre Hose auf und stieg heraus, ging dann zum Kleiderschrank und hängte sie auf einen Bügel. Dann zog sie eine Jeans an.
Bell hatte sich längst an die etwas freizügigere Körperkultur der Schweden gewöhnt. Hanna und Max liefen – zumindest in den oberen Stockwerken – ständig in der Unterwäsche herum, und im Sommer, wenn sie in ihrem Sommerhäuschen waren, wurde grundsätzlich nackt im Meer gebadet (obwohl sich Bell meist mit einer Ausrede drückte und meinte, sie müsste dringend Milch besorgen. Oder Brot. Oder Haselnüsse).
»Ja, äh … eine Dr. Sorensen hat für dich angerufen«, sagte Bell leise und achtete darauf, wie Hanna auf den Namen reagierte.
»Ach ja?« Das klang verunsichert. »Und was wollte sie?«
Aha, der Name war offenbar bekannt. Dann konnte es kein Versehen sein. Aber wahr konnte es doch auch nicht sein, oder?
Bell machte den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. Diese unglaubliche Nachricht wollte ihr nicht über die Lippen. Sie war ja auch völlig widersinnig!
Hanna wandte ihr jetzt das Gesicht zu. Trotz ihrer Erschöpfung wirkte sie auf einmal wie elektrisiert. Mit brennenden Augen, zusammengepressten Lippen und hervortretenden Halsmuskeln starrte sie Bell an. »Bell? Was wollte Dr. Sorensen?«
»Sie wollte ausrichten, dass …« Abermals versagte ihr die Stimme. Sie konnte so einen Unsinn doch nicht laut aussprechen!
Aber Hanna stand jetzt auf einmal dicht vor ihr. Sie war größer als Bell, mindestens zehn Zentimeter, und sie nahm Bell bei den Armen – als ob sie Trost und Halt bräuchte. »Spuck’s aus. Was wollte sie mir mitteilen?«
Bell blickte zu ihr auf. Sie spürte eine Art unterirdisches Beben, eine tektonische Verschiebung. »Dein Ehemann ist aus dem Koma erwacht.«
Als sie nach Hause kam, stand Kris wie gewöhnlich am Herd. Seine mit lachsfarbenen Langusten bedruckte Schürze wollte nicht zu dem ausgebleichten, ausgeleierten alten Metallica-T-Shirt passen, das er trug. In der kleinen Wohnung roch es himmlisch nach Chorizos, Krabben und Paprika. »Hallo! Du kommst aber spät!«
Bell wuchtete ihr Fahrrad auf die Aufhängung an der Haustür, schüttelte ihre Winterstiefel ab und zupfte sich die Mütze vom Kopf. »Ja.« Sie schälte sich lethargisch aus ihrem Wintermantel und schlurfte ins Wohnzimmer. »Oh, hi!«
Tove lag ausgestreckt auf dem Sofa und winkte Bell fröhlich zu. In den Fingern hielt sie eine Selbstgedrehte, von der eine dünne Rauchsäule zur Decke stieg. »Hi, Babe. Ich bin nicht hier. Du hast mich nicht gesehen.«
Leichter gesagt als getan. Mit ihren eins neunundsiebzig und Beinen, die Bell bis zu den Achselhöhlen reichten, war Tove nicht leicht zu übersehen. Aber Bell kannte das bereits und nickte nur. Ihre lange, schlaksige, temperamentvolle Freundin arbeitete als Kellnerin in der Star Bar, unten im Erdgeschoss des Hauses, und entfloh des Öfteren während ihrer kurzen Pausen zu ihnen nach oben. Leider wurden es dann unweigerlich mehr als die zugebilligten zwanzig Minuten.
Kris beobachtete stirnrunzelnd, wie Bell sich ins Zimmer schleppte. »Du siehst schrecklich aus. Einen schlechten Tag gehabt, was?«, erkundigte er sich mitfühlend. Er zerhackte eine Peperoni und kratzte die Scheibchen vom Brett in den Wok. Es zischte, und er schwenkte den Pfanneninhalt geschickt, wobei sich sein Bizeps verlockend im grellen Schein der Leuchtstoffröhre wölbte, die unter dem Oberschrank angebracht war.
»Kann man wohl sagen«, antwortete sie mit ein paar Sekunden Verspätung und fläzte sich auf das rissige schwarze Ledersofa gegenüber von Tove. Sie sank zurück und ließ ihre Füße über die Lehne baumeln, dann schloss sie die Augen, als könne das ihre wirbelnden Gedanken zur Ruhe bringen.
»Da.«
Sie schlug die Augen auf. Kris stand über ihr und hielt ihr ein kaltes Bier hin. Sie seufzte selig und nahm es. »Du bist ein Schatz«, sagte sie dankbar.
Er hatte sein dunkelblondes Haar wie immer zu einem Man Bun hochgebunden und wirkte für die Jahreszeit unverschämt gebräunt, da er kürzlich für einen Surfer-Werbespot in Sydney vor der Fotolinse gestanden hatte. Mit seinen Modelling-Jobs konnte er sich die Miete spielend leisten, aber seine wahre Leidenschaft galt dem Kochen. Er wollte genug ansparen, um eine Bar zu eröffnen, in der er sich auf Craft Beer und die hawaiianische Küche konzentrieren wollte.
Sie setzte sich mühsam auf und verkreuzte die Beine zum Schneidersitz. Im Gegensatz zu Elise verspürte sie keinerlei Bedürfnis, sich die Säume ihrer schwarzen Hose aus den lila Socken zu ziehen.
»Ich dachte, du wolltest dich heute mit Ivan treffen?«
»Wollte ich auch. Aber es gab einen Notfall in der Praxis, und Hanna hat mich gebeten, ein bisschen länger zu bleiben.«
»Schon wieder?« Tove nahm lebhaften Anteil an Bells Liebesleben, das sie als »Sahelzone« bezeichnete. »Wie oft hast du ihn jetzt eigentlich schon versetzt?«
»Weiß nicht.«
»Öfter, als ihr euch bisher getroffen habt, so viel ist sicher.«
»Na ja, es ließ sich diesmal aber wirklich nicht ändern.«
»Und wieso konnte sich Max nicht darum kümmern?«
»Weil er kurz vor einem großen Abschluss mit einem Kunden steht und ein Geschäftsessen geplant hatte.«
Tove schnalzte missbilligend. »Aber was hat das mit dir zu tun? Wieso musst du immer einspringen? Jetzt mal ehrlich, wie willst du dein Leben wieder auf die Reihe kriegen, wenn es für dich immer an zweiter Stelle kommt?«
Bell nahm einen Schluck Bier und wechselte dabei einen Blick mit Kris. Tove meinte es gut, das wussten sie. Aber sie war diplomatisch wie eine Dampfwalze.
»Also was war heute los, das dich so fertiggemacht hat?«, rettete Kris sie aus der Klemme und wuselte wieder in der kleinen Küchenzeile umher.
Das Herzstück der Wohnung war ein großer Wohnraum, in den an einer Seite eine kleine Küche integriert war, mit hellen Kiefernholzschränken aus den Achtzigerjahren, dazu eine Theke mit marmoriertem Laminat, die als Raumteiler diente und den Küchenbereich vom Wohnbereich abtrennte.
»Versprecht ihr, es für euch zu behalten?«
Diese Aufforderung war hauptsächlich an die Freundin gerichtet, denn Kris hatte kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Er war dem zu oft selbst ausgesetzt, als dass er Geschmack daran gefunden hätte. Er zuckte also nur nachlässig mit den Schultern. Tove dagegen machte ein Kreuz über dem Herzen und küsste ihre Fingerspitzen.
Bell legte die Ellbogen auf den Knien ab, als würde ihr die Lotusstellung helfen, sich zu sammeln. Ihr Haarknoten hing schlaff zur Seite, aber das nahm sie nur am Rande wahr. »Heute Morgen kam ein Anruf, und ich bin ans Telefon gegangen …«
Tove klatschte in die Hände und strampelte vergnügt mit den Beinen. »Ha! Wusste ich’s doch, dass du’s kannst! Was hab ich euch gesagt?«
Kris schwenkte kopfschüttelnd die Pfanne, ein müdes Grinsen auf den Lippen.
Bell zeigte ihrer Freundin den Mittelfinger. »Es war eine Ärztin, und sie wollte Hanna sprechen. Es sei sehr dringend, sagte sie, ob ich was ausrichten könnte … Aber was sie dann sagte, das war einfach unglaublich. Vollkommen verrückt, versteht ihr?«
Tove nickte ungeduldig und machte eine Rührbewegung mit der Hand, als wolle sie sagen: »Komm zur Sache«. Dabei paffte sie Rauch zur Deckenlampe hinauf.
»Aber Hanna war einfach unerreichbar – wie gesagt, sie hatte es selbst mit einem Notfall zu tun. Ich hab mir dann nicht weiter Gedanken darüber gemacht, weil ich davon ausging, dass es ein Irrtum gewesen sein muss, verwählt oder so was. Dass es sich um eine andere Hanna handelt, denn echt, diese Nachricht ergab einfach null Sinn.« Bell trank einen Schluck Bier. »Aber als Hanna dann abends nach Hause kam …«
Kris, der den Pfanneninhalt noch einmal schwenkte, damit die Peperoni von allen Seiten gebräunt wurden, hielt inne und blickte sie erwartungsvoll an. Er begriff wohl, dass sie das Ganze der Reihe nach durchgehen musste, damit sie sicher sein konnte, keinen Fehler gemacht zu haben …
Sie blickte ihn offen an. »Sie war, wie’s scheint, vor Max mit einem anderen Mann verheiratet.«
Kris runzelte die Stirn. »War das bekannt?«
»Nö, ist nie erwähnt worden. Kein einziges Foto von dem Typen. Nirgends.«
»Uuuuh, ein heimlicher Ehemann – cool!« Tove streckte ihre Endlosbeine in die Luft. Bell witzelte immer, dass sie Beine habe wie Schnüre mit Knoten drin, aber sie wussten beide, dass sie bloß neidisch war. Ja, Tove war lang und schlaksig – und konnte, wenn sie mal nicht das ungebärdige Fohlen spielte, sogar anmutig sein. Bell dagegen hatte eine Figur wie ein Cello und war – in Toves Worten – »zum Anbeißen«. Mit ihren eins vierundsechzig besaß sie dort Rundungen, wo Tove kantig war.
»Es gibt einen Grund, warum er so was wie ein Geheimnis war. Der arme Kerl lag offenbar seit sieben Jahren im Koma.«
Kris blieb wie erstarrt am Herd stehen. Tove ließ die Beine sinken und einen Arm kraftlos über die Lehne hängen. »Was?«, stammelten beide.
Bell nickte befriedigt. Ihr war’s genauso gegangen. »Ihr habt richtig gehört. Und heute ist er offenbar aus dem Koma erwacht.«
»Ach du grüne Neune!« Kris stellte die Pfanne auf dem Herd ab, als sei sie plötzlich zu schwer. Er starrte Bell an. »Wie das?«
»Was meinst du mit wie?« Tove setzte sich empört auf. Dabei rutschte ihr kurzer Rock hoch, und man konnte ihren Slip sehen – was niemanden interessierte, am allerwenigsten sie selbst. Bell war froh, dass sie überhaupt Unterwäsche trug. »Ihr Mann lag im Koma, und jetzt ist er eben aufgewacht! Er ist wach geworden und hat die Augen aufgeschlagen!«
»Wenn das so einfach wäre, dann hätte er doch schon früher erwachen können, oder nicht?«, rief Kris aufgebracht aus.
»Hm.« Dagegen konnte Tove nichts einwenden.
»Ich weiß auch nicht genau, wie es dazu kam«, warf Bell ein. »Eine Mischung aus verschiedenen Dingen, glaube ich. Hanna hat was von der Stimulierung des Vagusnervs erwähnt …? Das ist so eine neue Behandlungsmethode. Aber die Ärzte waren sich nicht sicher, ob es funktionieren würde.«
»Scheiße«, stieß Tove leise hervor. »Der Vagusnerv.«
Es war offensichtlich, dass keiner von ihnen je davon gehört hatte.
»Und wie hat Hanna die Nachricht aufgenommen?«
»Sie bekam einen Schock. Ist umgekippt.« Bell musste daran denken, wie bleich Hanna geworden war und wie plötzlich ihre Knie nachgegeben hatten. Sie waren dann beide bis zum Eintreffen von Max auf dem Teppich sitzen geblieben.
»Mist«, murmelte Tove, als würde dies beweisen, wie ernst die Situation war. Sie hatte Hanna erst einmal getroffen und danach kaum aufgehört zu schwärmen, von ihrer makellosen Haut, dem dicken Aquamarin am Finger und ihren tollen Schuhen. »Wie erwachsen sie ist!«, hatte Tove geflötet. Bell hatte sich verkniffen zu erwähnen, dass Tove selbst nur drei Jahre jünger war als Hanna – und sie, Bell, nur sechs Jahre jünger als ihre Chefin.
»Wie ist das überhaupt passiert? Warum hat er im Koma gelegen?«
»Ein Verkehrsunfall, glaube ich. Ehrlich, Hanna hat danach nicht mehr viel gesagt, und das, was sie sagte, war ziemlich konfus. Ich wollte nicht in sie dringen, sie stand ganz offensichtlich unter Schock – so hab ich sie noch nie erlebt. Hanna verliert sonst nie die Kontrolle, sie hat immer alles im Griff.« Bell nahm noch einen Schluck Bier.
»Ist sie zu ihm gefahren?«
»Ging nicht mehr, dafür war es für heute zu spät. Er liegt in einer Klinik in Uppsala, und dort muss man sich streng nach Besuchszeiten richten. Sie und Max wollen morgen hinfahren.«
Kris legte das Messer beiseite. »Wow, das muss man erst mal verdauen! Plötzlich taucht der erste Ehemann wieder auf der Bildfläche auf!«
»Genau genommen ist er ihr einziger Ehemann. Hanna und Max sind nicht verheiratet.«
Er zögerte. »Aber er wusste von dem anderen, oder?«
»Scheint so. Er war noch auf diesem Geschäftsessen, aber ich konnte Hanna in dem Zustand einfach nicht allein lassen, also habe ich ihn angerufen, und er hat sofort alles stehen und liegen gelassen und ist gekommen.«
»Und die Kinder?«, wollte Tove wissen.
»Die wissen noch nichts.«
Kris schüttelte müde den Kopf. »Hell, Bell.« Das war sein Lieblingsausdruck, aber diesmal stand kein fröhliches Funkeln in seinen Augen. »Das ist ja eine schöne Scheiße.«
»Kannst du laut sagen.« Bell ließ sich ins Sofa zurücksinken, als hätte sie das Erzählen erschöpft. Sie starrte versunken die Wand an, an der in leuchtend roter Neonschrift das Wort »Love« hing, die einzige Beleuchtung in diesem Bereich. Aber dafür hatte Bell jetzt keinen Sinn. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es für Hanna gewesen sein musste, als sie die Nachricht erhielt, ihr Mann sei zwar noch am Leben, aber doch so gut wie tot. Hanna hatte erzählt, die Ärzte hätten ihr wenig Hoffnung gemacht, dass ihr Mann je wieder aus dem Koma erwachen könnte.
Bell wollte noch einen Schluck Bier trinken und musste feststellen, dass die Flasche leer war.
»Ich hole dir noch eins.« Tove stemmte sich seufzend hoch und ging zum Kühlschrank. »Muss sowieso wieder runter.« Sie warf einen Blick zur Wanduhr und fuhr entsetzt zusammen. »Ach, Kacke, nicht schon wieder!«
Bell warf ebenfalls einen Blick zur Uhr. Sie kannte Toves Arbeitszeiten und wusste, dass sie schon vor dreiundzwanzig Minuten wieder hätte unten sein sollen. Sie schnalzte missbilligend, nahm das frische Bier aber mit einem dankbaren Lächeln entgegen. »Danke, Süße.«