DAS BUCH
Als Ryland Grace erwacht, muss er feststellen, dass er ganz allein ist. Er ist anscheinend der einzige Überlebende einer Raumfahrtmission, Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, auf einem Flug ins Tau-Ceti-Sternsystem. Aber was erwartet ihn dort? Und warum sind alle anderen Besatzungsmitglieder tot? Nach und nach dämmert es Grace, dass von seinem Überleben nicht nur die Mission, sondern die Zukunft der gesamten Erdbevölkerung abhängt.
Von Andy Weir sind im Heyne Verlag erschienen:
Der Marsianer
Artemis
Der Astronaut
DER AUTOR
Andy Weir war bereits im Alter von fünfzehn Jahren als Programmierer und später als Softwareentwickler für diverse Computerfirmen tätig, bevor er mit seinem Roman Der Marsianer einen internationalen Megabestseller landete. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben und beschäftigt sich in seiner Freizeit mit Physik, Mechanik und der Geschichte der bemannten Raumfahrt – Themen, die sich auch immer wieder in seinen Romanen finden. Sein Debüt Der Marsianer wurde von Starregisseur Ridley Scott brillant verfilmt.
Mehr zu Andy Weir und seinen Werken finden Sie auf:
ANDY WEIR
DER ASTRONAUT
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Jürgen Langowski
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel PROJECT HAIL MARY bei Ballantine Books, New York
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Redaktion: Ralf-Oliver Dürr
Copyright © 2021 by Andy Weir
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Innenillustrationen: David Lindroth
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung
eines Motivs von grandeduc/iStockphoto
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-27283-8
V006
diezukunft.de
Für John, Paul, George und Ringo
»Was ist zwei plus zwei?«
Aus irgendeinem Grund ärgert mich die Frage. Ich bin müde. Beinahe schlafe ich wieder ein.
Ein paar Minuten vergehen, dann höre ich sie wieder.
»Was ist zwei plus zwei?«
Der leisen Frauenstimme fehlt jedes Gefühl, und der Tonfall ist genau derselbe wie beim letzten Mal. Es ist ein Computer. Ein Computer, der mich nervt. Meine Verärgerung wächst.
»Lsmchnr«, sage ich und staune. Eigentlich wollte ich sagen: »Lass mich in Ruhe«, was meiner Ansicht nach eine absolut verständliche Reaktion ist. Aus irgendeinem Grund kann ich nicht richtig sprechen.
»Nicht korrekt«, entgegnet der Computer. »Was ist zwei plus zwei?«
Zeit für ein Experiment. Ich will versuchen, »Hallo« zu sagen.
»Harch?«
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Was ist hier eigentlich los? Das wüsste ich wirklich gern, aber ich habe nicht viele Anhaltspunkte. Außer dem Computer kann ich nichts anderes hören. Ich kann nicht einmal etwas fühlen. Nein, das stimmt nicht. Ich spüre etwas. Ich liege auf etwas Weichem. Auf einem Bett.
Ich glaube, meine Augen sind geschlossen. Das ist gar nicht so schlecht. Ich muss sie nur öffnen. Ich versuche es, aber nichts passiert.
Warum bekomme ich die Augen nicht auf?
Öffnen.
Uuuuuund … öffnen!
Verdammt noch mal, geht auf!
Oh! Gerade hat etwas gezuckt. Die Augenlider haben sich bewegt. Das konnte ich fühlen.
GEHT AUF!
Ganz langsam gehorchen die Augenlider, gleißendes Licht fällt auf die Netzhäute.
»Nampf«, sage ich und halte mit größter Willenskraft die Augen offen. Alles ist grellweiß und tut weh.
»Augenbewegung entdeckt«, sagt meine Peinigerin. »Was ist zwei plus zwei?«
Das grelle Weiß schwächt sich ab. Meine Augen passen sich an die Helligkeit an. Ich erkenne Umrisse, die mir aber noch nichts sagen. Mal sehen … kann ich die Hände bewegen? Nein.
Die Füße? Ebenfalls nein.
Aber ich kann den Mund bewegen, oder? Ich habe etwas gesagt. Nichts Verständliches, aber immerhin.
»Vrrmp.«
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Allmählich schälen sich Umrisse heraus. Ich liege in einem Bett. Es ist … oval geformt.
Über mir strahlen LED-Lampen. Kameras in der Decke überwachen jede Bewegung. So unheimlich das auch auf mich wirkt, die Roboterarme machen mir noch viel größere Sorgen.
An der Decke hängen zwei Edelstahlausleger. Beide sind mit beunruhigenden, nach Penetration aussehenden Geräten bestückt, wo die Hände sein sollten. Ich kann nicht behaupten, dass mir der Anblick gefällt.
»Virch… ie… rrr«, stöhne ich. Ob das reicht?
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Verdammt. Ich raffe meine ganze Willenskraft und meine innere Stärke zusammen. Außerdem gerate ich allmählich in Panik. Na gut, auch das kann ich nutzen.
»Vvvvviiiierrr«, sage ich endlich.
»Korrekt.«
Gott sei Dank. Ich kann sprechen. Irgendwie.
Erleichtert atme ich aus. Moment mal – ich habe gerade meine Atmung kontrolliert. Ich hole noch einmal Luft. Absichtlich. Mein Mund brennt, die Kehle ist wie ausgedörrt. Aber es ist mein Brennen. Ich habe die Kontrolle.
Ich trage eine Atemmaske. Sie sitzt fest auf meinem Gesicht und ist mit einem Schlauch verbunden, der über meinem Kopf verschwindet.
Kann ich aufstehen?
Nein. Aber ich kann den Kopf ein wenig bewegen. Ich betrachte meinen Körper. Ich bin nackt und mit mehr Schläuchen verbunden, als ich zählen kann. Je einer steckt in den Armen und Beinen, einer in meiner Herrenausstattung, zwei führen unter dem Oberschenkel entlang. Vermutlich sitzt einer davon da, wo niemals die Sonne scheint.
Das verheißt nichts Gutes.
Außerdem bin ich mit Elektroden zugepflastert. Die Sensoren ähneln denen eines EKG-Geräts, aber sie sind überall. Na ja, wenigstens kleben sie auf der Haut und sind nicht in mich hineingebohrt.
»Wa…«, keuche ich. Ich versuche es noch einmal. »Wo bin ich?«
»Was ist die Kubikwurzel von acht?«, fragt der Computer.
»Wo bin ich?«, frage ich noch einmal. Es geht schon besser.
»Nicht korrekt. Was ist die Kubikwurzel von acht?«
Ich hole tief Luft und spreche betont langsam. »Zwei mal e hoch zwei-i-pi.«
»Nicht korrekt. Was ist die Kubikwurzel von acht?«
Meine Antwort war aber gar nicht falsch. Ich wollte nur sehen, wie schlau der Computer ist. Nicht besonders, wie mir scheint.
»Zwei«, antworte ich.
»Korrekt.«
Ich warte auf weitere Fragen, aber der Computer scheint zufrieden zu sein. Ich bin müde, und langsam dämmere ich weg.
Ich wache auf. Wie lange habe ich geschlafen? Anscheinend ziemlich lange, denn ich fühle mich ausgeruht. Ohne Schwierigkeiten öffne ich die Augen. Das ist ein Fortschritt.
Als Nächstes versuche ich, die Finger zu bewegen. Sie wackeln wie gewünscht. Alles klar. Das wird schon wieder.
»Handbewegung entdeckt«, stellt der Computer fest. »Bleiben Sie ruhig liegen.«
»Was? Warum …«
Die Roboterarme nähern sich. Sie sind sehr schnell. Im Handumdrehen haben sie mir die meisten Schläuche aus dem Körper gezogen. Ich habe überhaupt nichts gespürt. Meine Haut ist irgendwie taub.
Nur drei Schläuche sind noch da: eine Infusion im Arm, der Schlauch im Hintern und ein Katheter. Die letzten beiden wäre ich zwar gern so schnell wie möglich losgeworden, aber seiʼs drum.
Ich hebe den rechten Arm und lasse ihn wieder auf das Bett sinken. Dann noch einmal das Gleiche mit dem linken Arm. Sie fühlen sich ungeheuer schwer an. Ich wiederhole die Übung einige Male. Meine Arme sind kräftig. Das kann doch nicht sein. Es sieht ganz danach aus, als hätte ich ein größeres gesundheitliches Problem gehabt und eine Weile in diesem Bett verbracht, sonst hätten sie mich ja wohl kaum an dieses ganze Zeug angeschlossen. Aber hätten dabei nicht meine Muskeln schrumpfen müssen?
Sollten hier nicht auch Ärzte sein? Oder wenigstens die Geräusche, die man in einem Krankenhaus erwartet? Und was ist mit dem Bett los? Es ist nicht rechteckig, sondern oval, und ich glaube, es ist in der Wand verschraubt, statt auf dem Boden zu stehen.
»Nimm …« Ich muss noch einmal ansetzen, ich bin immer noch müde. »Nimm die Schläuche raus.«
Der Computer reagiert nicht.
Ich hebe noch einige Male die Arme und wackle mit den Zehen. Ja, es wird allmählich besser.
Dann bewege ich die Füße. Sie gehorchen. Als Nächstes ziehe ich die Knie an. Auch meine Beine sind muskulös. Nicht so muskulös wie bei einem Bodybuilder, aber immer noch viel zu kräftig für jemanden, der offensichtlich dem Tode nahe war. Andererseits kann ich nicht genau sagen, wie dick sie eigentlich sein sollten.
Ich stemme die Hände flach auf das Bett und drücke mich hoch. Mein Oberkörper hebt sich. Ich kann mich tatsächlich aufrichten! Es erfordert meine ganze Kraft, aber ich lasse nicht locker. Sobald ich den Kopf weit genug gehoben habe, sehe ich, dass das Kopf- und das Fußende des ovalen Betts an stabilen Verankerungen in der Wand hängen. Es ist eine Art starre Hängematte. Eigenartig.
Kurz danach sitze ich auf dem Schlauch in meinem Hintern. Kein sehr angenehmes Gefühl, aber wann wäre so ein Schlauch schon einmal angenehm gewesen?
Jetzt kann ich mehr erkennen. Es ist kein gewöhnliches Krankenzimmer. Die Wände sehen aus, als wären sie aus Plastik, und der Raum ist rund. Aus den LED-Leuchten in der Decke strahlt grelles Licht.
An den Wänden sind noch zwei weitere Hängemattenbetten verankert, in denen Patienten liegen. Wir sind in einem Dreieck angeordnet, und die Folterarme sind zwischen uns an der Decke angebracht. Ich nehme an, sie kümmern sich um uns drei Patienten. Von meinen Leidensgenossen kann ich nicht viel erkennen, sie sind so tief im Bett versunken, wie ich es war.
Eine Tür gibt es nicht. Nur eine Leiter, die zu einer … ist das eine Luke? Sie ist rund und hat in der Mitte ein Handrad. Ja, es muss eine Art Luke sein. Wie auf einem U-Boot. Ob wir drei eine ansteckende Krankheit haben? Vielleicht ist dies ein Quarantänezimmer? Hier und da entdecke ich kleine Lüftungsgitter in den Wänden, und ich spüre einen leichten Luftstrom. Es könnte eine kontrollierte Umgebung sein.
Ich schiebe ein Bein über die Bettkante, worauf die Liege wackelt. Die Roboterarme rasen auf mich zu. Ich zucke zusammen, doch sie halten kurz vor mir inne und schweben in der Luft – bereit, mich aufzufangen, falls ich stürze.
»Vollständige Körperbewegung entdeckt«, sagt der Computer. »Wie heißen Sie?«
»Ist das dein Ernst?«, frage ich.
»Nicht korrekt. Zweiter Versuch: Wie heißen Sie?«
Ich öffne den Mund und will antworten.
»Äh …«
»Nicht korrekt. Dritter Versuch: Wie heißen Sie?«
So langsam dämmert es mir. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich erinnere mich an rein gar nichts.
»Ähm«, mache ich.
»Nicht korrekt.«
Schlagartig werde ich müde. Es ist sogar ganz angenehm. Anscheinend hat mich der Computer über die Infusion betäubt.
»… haaaalt …«, murmle ich noch.
Die Roboterarme legen mich sachte auf das Bett.
Wieder wache ich auf. Einer der Roboterarme berührt mein Gesicht. Was macht er da?
Ich schaudere, eher erschrocken als alles andere. Der Arm zieht sich auf seine Warteposition unter der Decke zurück. Ich taste mein Gesicht nach Verletzungen ab. Auf einer Seite sind Stoppeln, die andere ist glatt.
»Hast du mich rasiert?«
»Bewusstsein entdeckt«, sagt der Computer. »Wie heißen Sie?«
»Das weiß ich immer noch nicht.«
»Nicht korrekt. Zweiter Versuch: Wie heißen Sie?«
Ich bin weiß, männlich und spreche Englisch. Also lassen wir es mal darauf ankommen. »J-John?«
»Nicht korrekt. Dritter Versuch: Wie heißen Sie?«
Ich ziehe die Infusionsnadel aus dem Arm. »Leck mich doch.«
»Nicht korrekt.« Der Roboterarm greift nach mir.
Ich rolle mich vom Bett herunter. Das ist ein Fehler. Die anderen Schläuche sind noch angeschlossen. Der Schlauch im Hintern rutscht einfach heraus. Das spüre ich kaum. Dagegen wird der geblockte Katheter extrem unsanft aus meinem Penis gerissen. Das tut furchtbar weh, als hätte ich einen Golfball gepinkelt.
Schreiend winde ich mich auf dem Boden.
»Physisches Leiden«, stellt der Computer fest. Die Roboterarme greifen nach mir. Ich krieche über den Boden, um ihnen zu entkommen, und kann unter einem Bett verschwinden. Die Arme halten kurz davor inne, geben aber nicht auf. Sie warten. Sie werden von einem Computer gesteuert. Ihre Geduld ist unendlich.
Ich lasse den Kopf auf den Boden sinken und schnappe nach Luft. Nach einer Weile ebben die Schmerzen ab, und ich wische mir die Tränen ab.
Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.
»He!«, rufe ich. »Ihr zwei da, wacht auf!«
»Wie heißen Sie?«, fragt der Computer.
»Einer von euch Menschen, wacht doch bitte auf.«
»Nicht korrekt«, sagt der Computer.
Mein Unterleib tut so weh, dass ich lachen muss. Es ist absurd. Außerdem wirkt das Endorphin, und mir wird schwindlig. Ich blicke wieder zum Katheter auf meiner Koje und schüttle verwundert den Kopf. Das Ding hat in meiner Harnröhre gesteckt. O Mann.
Und es hat beim Herausreißen Schaden angerichtet. Auf dem Boden entdecke ich ein wenig Blut. Nur ein schmaler roter Streifen …
Ich schlürfte Kaffee, schob mir das letzte Stück Toast in den Mund und winkte der Kellnerin, um zu bezahlen. Ich hätte mir das Geld sparen und zu Hause frühstücken können, statt jeden Morgen ein Lokal aufzusuchen. Angesichts meines bescheidenen Gehalts wäre das vermutlich sogar eine gute Idee gewesen. Aber ich koche nicht gern, und ich mag Eier mit Speck.
Die Kellnerin nickte und ging zur Kasse, um meine Rechnung auszudrucken. In diesem Augenblick trafen neue Gäste ein, denen sie zuerst noch einen Platz zuweisen musste.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben Uhr. Ich hatte es nicht eilig. Ich musste erst um acht anfangen, war aber meist schon um zwanzig nach sieben im Büro, um mich auf den Tag vorzubereiten.
Ich zückte das Handy und checkte meine E-Mails.
AN: Astronomische Kuriositäten astrocurious@scilists.org
VON: (Dr. Irina Petrowa) ipetrowa@gaoran.ru
BETREFF: Die dünne rote Linie
Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich den Display. Ich dachte, ich hätte mich von dieser Mailingliste abgemeldet. Dieses Leben hatte ich schon vor langer Zeit aufgegeben. Es war nicht viel, was über die Liste hereinkam, aber wenn mich meine Erinnerung nicht trog, waren die wenigen Beiträge meist recht interessant. Nur ein paar Astronomen, Astrophysiker und Experten auf anderen Gebieten, die sich über alles unterhielten, was ihnen seltsam vorkam.
Ich warf einen Blick in Richtung Kellnerin. Die neue Kundschaft hatte viele Fragen zur Speisekarte. Wahrscheinlich wollten sie wissen, ob es in Sallys Diner auch glutenfreie vegane Grashalme gab oder so. Die lieben Leute in San Francisco konnten ziemlich anstrengend sein.
Da ich nichts weiter zu tun hatte, las ich die E-Mail.
Hallo, Kollegen, ich bin Dr. Irina Petrowa, und ich arbeite am Pulkowo-Observatorium in Sankt Petersburg in Russland.
Ich schreibe Ihnen, weil ich Ihre Hilfe brauche.
Seit zwei Jahren arbeite ich an einer Theorie, die mit Infrarot-Emissionen aus Nebeln zu tun hat. In diesem Zusammenhang habe ich detaillierte Beobachtungen zu einigen speziellen Infrarotwellenbändern durchgeführt. Dabei bin ich auf etwas Seltsames gestoßen – aber nicht in einem Nebel, sondern hier, in unserem eigenen Sonnensystem.
Ich habe eine sehr schwache, aber erkennbare Linie entdeckt, die auf einer Wellenlänge von 25,984 Mikrometern infrarotes Licht abstrahlt. Es gibt keine Schwankungen, die Wellenlänge ist anscheinend immer gleich.
Ich sende eine Excel-Tabelle mit den Daten mit. Außerdem habe ich ein paar neuere Darstellungen der Daten in Form eines 3-D-Modells angefertigt.
Sie können dem Modell entnehmen, dass die Linie die Form eines Bogens hat, der am Nordpol der Sonne entspringt und 37 Millionen Kilometer weit gerade aufsteigt. Dann schwenkt sie scharf nach unten ab und entfernt sich in Richtung Venus von der Sonne. Jenseits des Apex erweitert sich die gekrümmte Linie zu einem Trichter. In der Nähe der Venus ist der Querschnitt so groß wie der Planet selbst.
Das infrarote Leuchten ist sehr schwach. Ich konnte es nur entdecken, weil ich auf der Suche nach Infrarotemissionen von Nebeln sehr empfindliche Messgeräte eingesetzt habe.
Um ganz sicherzugehen, habe ich das Atacama-Observatorium in Chile darum gebeten, die Daten zu überprüfen. Meiner Ansicht nach ist es das beste Infrarotobservatorium weltweit. Sie haben meine Erkenntnisse bestätigt.
Es gibt viele Gründe, warum man im interplanetaren Raum Infrarotstrahlung findet. Es könnten Staubwolken oder andere Partikel sein, die das Sonnenlicht reflektieren. Oder es handelt sich um eine Molekülansammlung, die Energie absorbiert und im Infrarotbereich wieder abstrahlt. Dies würde sogar erklären, warum die Wellenlänge immer gleich bleibt.
Besonders interessant ist die Form des Bogens. Zuerst nahm ich an, es handelte sich um eine Ansammlung von Partikeln, die sich an Magnetfeldlinien orientieren. Doch die Venus besitzt kein nennenswertes Magnetfeld. Keine Magnetosphäre, keine Ionosphäre, nichts. Welche Kräfte sollten die Partikel zu ihr ziehen? Und warum sollten sie dabei glühen?
Ich bin dankbar für alle Anregungen und Theorien.
Was, zum Teufel, war das denn?
Die Erinnerung war schlagartig da. Sie ist ohne Vorwarnung in meinem Kopf aufgetaucht.
Über mich selbst habe ich dabei nicht viel herausgefunden: Ich lebe in San Francisco, so viel weiß ich jetzt. Und ich frühstücke gern. Außerdem habe ich mich früher mit Astronomie beschäftigt, was ich aber jetzt anscheinend nicht mehr mache.
Mein Gehirn war wohl der Ansicht, es sei wichtig, mich an die E-Mail zu erinnern und nicht an so triviale Dinge wie meinen Namen.
Mein Unterbewusstsein will mir etwas mitteilen. Die Blutspur auf dem Boden hat mich anscheinend an die »dünne rote Linie« in der E-Mail erinnert. Aber was hat das mit mir zu tun?
Ich rutsche unter dem Bett hervor und lehne mich an die Wand. Die Roboterarme tasten nach mir, erreichen mich aber nicht.
Es ist an der Zeit, einen Blick auf meine Mitpatienten zu werfen. Ich weiß nicht, wer ich bin und warum ich hier bin, aber wenigstens bin ich nicht allein und ... sie sind tot.
Eindeutig. Direkt neben mir liegt eine Frau, glaube ich. Jedenfalls hatte sie lange Haare. Davon abgesehen, ist sie größtenteils mumifiziert. Ausgetrocknete Haut hängt auf den Knochen. Es riecht nicht. Hier verwest nichts. Sie ist offensichtlich schon lange tot.
Der zweite Patient war ein Mann. Er scheint sogar noch länger tot zu sein. Seine Haut ist nicht nur trocken und ledrig, sondern zerkrümelt bereits.
Na gut. Also bin ich hier in der Gesellschaft von zwei Leichen. Ich sollte es widerlich und entsetzlich finden, aber das gelingt mir nicht. Sie sind schon vor so langer Zeit gestorben, dass sie kaum noch wie Menschen aussehen. Eher wie Halloween-Dekorationen. Ich hoffe, ich war nicht mit ihnen befreundet. Falls doch, dann werde ich mich hoffentlich nicht daran erinnern.
Tote Menschen sind eine Sache. Größere Sorgen bereitet mir die Tatsache, dass sie schon so lange hier liegen. Selbst aus einem Quarantänebereich würde man Tote entfernen, oder? Was hier schiefläuft, muss ziemlich übel sein.
Ich stehe auf. Es geht nur langsam und ist ziemlich anstrengend. Ich halte mich an der Bettkante von Frau Mumie fest. Die Liege wackelt, und ich schwanke mit, bleibe aber aufrecht stehen.
Die Roboterarme fischen nach mir, und ich schmiege mich wieder an die Wand.
Ich bin ziemlich sicher, dass ich im Koma gelegen habe. Genau. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird es.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich schon hier bin, aber wenn ich zur gleichen Zeit wie meine Zimmergenossen hier angekommen bin, muss es eine ganze Weile her sein. Ich reibe mir über das halb rasierte Gesicht. Die Roboterarme sind fähig, bewusstlose Patienten längere Zeit zu versorgen. Noch ein Beweis dafür, dass ich im Koma gelegen habe.
Vielleicht kann ich die Luke erreichen?
Ich mache einen Schritt, dann noch einen. Und dann sinke ich zu Boden. Es ist zu anstrengend. Ich muss mich ausruhen.
Warum bin ich trotz meiner gut ausgebildeten Muskeln so schwach? Warum habe ich überhaupt Muskeln, wenn ich im Koma war? Ich sollte ein verwittertes dürres Bündel sein und kein strammer Rettungsschwimmer.
Ich habe keine Ahnung, was hier läuft. Was soll ich jetzt tun? Bin ich wirklich krank? Ich meine, natürlich fühle ich mich miserabel, aber nicht krank. Mir ist nicht übel, ich habe keine Kopfschmerzen. Fieber habe ich wohl auch nicht. Wenn ich nicht krank bin, warum habe ich dann im Koma gelegen? Eine schwere Verletzung?
Ich taste meinen Kopf ab. Keine Schwellungen, Narben oder Verbände. Auch der Rest meines Körpers kommt mir ziemlich stabil vor. Mehr als stabil. Ich habe sogar einen Waschbrettbauch.
Am liebsten würde ich ein Nickerchen machen, aber ich kämpfe gegen die Müdigkeit an.
Es wird Zeit, es noch einmal zu versuchen. Ich stemme mich wieder hoch. Es ist wie Gewichtheben, geht dieses Mal aber etwas leichter. Wie es scheint, erhole ich mich langsam. Hoffentlich.
Ich schlurfe an der Wand entlang und stütze mich mit dem Rücken genauso stark ab wie mit den Füßen. Die Roboterarme tasten ständig nach mir, aber ich bleibe außer Reichweite.
Ich keuche und japse und fühle mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Vielleicht habe ich eine Lungenentzündung? Vielleicht bin ich zu meinem eigenen Schutz in Isolation?
Endlich erreiche ich die Leiter. Ich stolpere darauf zu und packe eine Sprosse. Ich bin furchtbar schwach. Wie soll ich eine zehn Fuß hohe Leiter hinaufklettern?
Zehn Fuß!
Ich denke im angloamerikanischen Maßsystem. Das ist ein Hinweis. Wahrscheinlich bin ich Amerikaner. Oder Brite. Oder Kanadier. Für kurze Entfernungen benutzen die Kanadier manchmal Fuß und Zoll.
Ich frage mich: Wie weit ist es von Los Angeles bis New York? Die Antwort ist sofort da: 3000 Meilen. Ein Kanadier hätte die Kilometer genannt. Also bin ich Brite oder Amerikaner. Oder aus Liberia.
Ich weiß, dass sie in Liberia das angloamerikanische Maßsystem benutzen, aber ich weiß meinen eigenen Namen nicht. Das ist ärgerlich.
Ich hole tief Luft, halte mich mit beiden Händen an der Leiter fest und stelle den Fuß auf die unterste Sprosse. Ich ziehe mich hoch. Es ist wacklig, aber es geht. Jetzt stehen beide Füße auf der untersten Sprosse. Ich greife nach oben und packe die nächste Sprosse. Na gut, ich mache Fortschritte. Mein ganzer Körper ist bleischwer, jede Bewegung ist eine Qual. Ich will mich hochziehen, aber ich habe nicht genug Kraft.
Ich kippe rückwärts von der Leiter. Das wird wehtun.
Es tut nicht weh. Die Roboterarme fangen mich auf, ehe ich auf den Boden pralle, weil ich in ihrer Reichweite gestürzt bin. Sie zögern keine Sekunde und stecken mich wieder ins Bett wie eine Mutter, die ihr Kind schlafen legt.
Wissen Sie was? Das ist mir ganz recht. Ich bin jetzt wirklich müde, und es tut gut, einfach nur dazuliegen. Das sanfte Wiegen des Bettes ist beruhigend. Etwas an der Art und Weise, wie ich von der Leiter gefallen bin, stört mich. Ich gehe es im Kopf noch einmal durch, kann aber nicht genau bestimmen, was mir daran seltsam vorkommt. Irgendetwas ist einfach falsch.
Hm.
Ich schlafe ein.
»Essen Sie.«
Auf meiner Brust liegt eine Zahnpastatube.
»Ähm?«
»Essen Sie«, wiederholt der Computer.
Ich nehme die Tube. Sie ist weiß mit schwarzer Beschriftung: TAG 1 – MAHLZEIT 1.
»Was soll das?«, frage ich.
»Essen Sie.«
Ich schraube den Verschluss ab und ein köstlicher Duft steigt mir in die Nase. Mir läuft sofort das Wasser im Mund zusammen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie hungrig ich bin. Ich drücke auf die Tube, aus der ein widerlicher brauner Matsch quillt.
»Essen Sie.«
Wer bin ich, dass ich einem unheimlichen Computerboss mit Roboterarmen widersprechen würde? Vorsichtig lecke ich an der Paste.
O mein Gott, schmeckt das gut! Es ist wie dicke Bratensoße, aber nicht zu aufdringlich. Ich quetsche mir eine Ladung direkt in den Mund. Ich könnte schwören, dass es besser ist als Sex.
Ich weiß, was das heißt. Man sagt ja, Hunger sei das beste Würzmittel. Wenn man am Verhungern ist, schenkt einem das Gehirn eine hübsche Belohnung, sobald man endlich etwas zu sich nimmt. Gut gemacht, sagt das Gehirn. Jetzt werden wir für eine Weile nicht sterben.
Allmählich fällt der Groschen. Ich habe lange im Koma gelegen und wurde künstlich ernährt. Beim Aufwachen hatte ich keinen Schlauch im Magen, also haben sie mich vermutlich mit einer Nasensonde durch die Speiseröhre versorgt. Das ist die am wenigsten invasive Art, einen Patienten zu füttern, der nicht selbst essen kann, aber keine Verdauungsprobleme hat. Außerdem bleibt so das Verdauungssystem aktiv und gesund. Und das erklärt, warum der Schlauch nicht mehr da war, als ich wach wurde. Wenn möglich, soll man die Nasensonde entfernen, solange der Patient noch bewusstlos ist.
Woher weiß ich das? Bin ich Arzt?
Ich quetsche mir noch eine Ladung Bratencreme in den Mund. Immer noch köstlich. Ich schlucke das Zeug herunter. Bald ist die Tube leer. Ich halte sie hoch. »Mehr davon!«
»Mahlzeit beendet.«
»Ich habe aber noch Hunger. Gib mir noch eine Tube!«
»Nahrungszuteilung für diese Mahlzeit ist ausgeschöpft.«
Das ist sogar vernünftig. Mein Verdauungssystem hat sich an halb flüssige Nahrung gewöhnt. Ich sollte es langsam angehen. Wenn ich so viel esse, wie ich will, wird mir wahrscheinlich übel. Der Computer macht das schon richtig.
»Gib mir mehr zu essen!« Wenn man Hunger hat, ist einem egal, was richtig ist.
»Nahrungszuteilung für diese Mahlzeit ist ausgeschöpft.«
»Pah.«
Trotzdem fühle ich mich erheblich besser als vorhin. Das Essen hat mir sofort neue Energie geschenkt, und ich habe mich ausgeruht.
Ich rolle mich aus dem Bett heraus und strebe eilig zu der Wand, doch dieses Mal verfolgen mich die Roboterarme nicht. Anscheinend darf ich das Bett verlassen, nachdem ich bewiesen habe, dass ich essen kann.
Ich betrachte meinen nackten Körper. Es kommt mir nicht richtig vor. Sicher, die einzigen anderen Menschen hier sind tot, aber trotzdem.
»Kann ich etwas zum Anziehen haben?«
Der Computer schweigt.
»Na gut, von mir aus.«
Ich ziehe das Laken vom Bett und wickle es mir mehrmals um den Rumpf. Eine Ecke lege ich mir von hinten über die Schulter und verknote sie vorne mit einer anderen Ecke. Spontantoga.
»Eigenständige Fortbewegung entdeckt«, bemerkt der Computer. »Wie heißen Sie?«
»Ich bin Kaiser Koma. Knie nieder vor mir.«
»Nicht korrekt.«
Mal sehen, was da oben jenseits der Leiter ist.
Ich bin noch immer etwas wacklig auf den Beinen, wandere aber unverdrossen quer durch den Raum. Das ist schon ein kleiner Sieg – ich bin nicht auf schaukelnde Betten oder Wände angewiesen, um mich festzuhalten.
Als ich die Leiter erreiche, greife ich sofort zu. Ich brauche nichts mehr, um mich festzuhalten, aber es macht das Leben leichter. Die Luke da oben sieht ziemlich massiv aus. Wahrscheinlich ist sie luftdicht. Und höchstwahrscheinlich ist sie zugesperrt. Aber ich muss es wenigstens versuchen.
Ich steige eine Sprosse hinauf. Schwer, aber machbar. Noch eine Sprosse. Gut, so langsam komme ich in Fahrt. Ruhig und gleichmäßig.
Ich erreiche die Luke, halte mich mit einer Hand an der Leiter fest und betätige mit der anderen das Handrad. Tatsächlich, es dreht sich!
»Heiliger Strohsack!«, sage ich.
Heiliger Strohsack? Ist das mein Standardspruch, wenn ich überrascht bin? Ich meine, dagegen ist ja nichts einzuwenden, aber ich hätte etwas erwartet, das nicht so stark nach den 1950er-Jahren klingt. Was bin ich eigentlich für ein Knallkopf?
Sobald ich das Handrad dreimal herumgedreht habe, höre ich ein Klicken. Ich mache Platz, und die Luke klappt herunter. Der Deckel fällt an einer Seite herab und hängt an dem kräftigen Scharnier. Ich bin frei!
Gewissermaßen.
Jenseits der Luke ist es stockfinster. Etwas beunruhigend, aber immerhin, es ist ein Fortschritt.
Ich strecke den Arm aus und ziehe mich nach oben in den nächsten Raum. Sobald ich dort ankomme, flammt das Licht auf. Wahrscheinlich war es der Computer.
Der Raum ist genauso groß wie der, den ich gerade verlassen habe. Auch er ist rund.
Im Boden ist ein großer Tisch – anscheinend ein Labortisch – verschraubt. In der Nähe sind drei Hocker befestigt. Ringsherum sehe ich nur Laborausrüstung. Alles ist auf Tischen oder Werkbänken montiert, die ihrerseits im Boden verankert sind. Es sieht so aus, als sei der Raum für ein katastrophales Erdbeben gerüstet.
An einer Wand führt eine Leiter zu einer weiteren Luke in der Decke hinauf.
Ich befinde mich in einem gut ausgestatteten Labor. Seit wann dürfen in einer Isolierstation die Patienten ins Labor? Außerdem sieht es nicht einmal nach einem medizinischen Labor aus. Verflixt und zugenäht, was ist hier los?
Verflixt und zugenäht? Ehrlich? Vielleicht habe ich kleine Kinder. Oder ich bin fromm.
Ich richte mich auf und sehe mich gründlich um.
Auf dem Labortisch sind mehrere Geräte montiert. Ich erkenne ein Mikroskop mit 8000-facher Vergrößerung, einen Autoklav, ein Gestell mit Reagenzgläsern, Schubladenkästchen mit Vorräten, einen Kühlschrank für Proben, einen Laborkammerofen, Pipetten – Moment mal. Woher kenne ich diese Gerätschaften?
Ich betrachte die größeren Apparate an der Wand. Rasterelektronenmikroskop, Mikro-3-D-Drucker, Labormischer, Laser-Interferometer, Vakuumkammer mit einem Kubikmeter Fassungsvermögen – ich bin mit all dem vertraut. Und ich weiß, wie man es benutzt!
Ich bin Wissenschaftler. Jetzt kommen wir weiter! Also wird es Zeit, die Wissenschaft zu nutzen. Mach schon, du Superhirn, lass dir was einfallen!
Ich … habe Hunger.
Gehirn, du lässt mich im Stich.
Na gut, ich habe keine Ahnung, warum dieses Labor hier ist und warum ich es betreten darf. Also … weiter!
Die Luke in der Decke befindet sich zehn Fuß über dem Boden. Ein weiteres Abenteuer auf der Leiter. Wenigstens bin ich jetzt etwas kräftiger.
Ich atme einige Male tief durch und steige die Leiter hinauf. Es geht genauso mühsam wie vorher, sogar diese einfache Tätigkeit ist eine große Belastung. Auch wenn es mir besser geht, von »gut« kann keine Rede sein.
Lieber Himmel, bin ich schwer. Mit Mühe und Not schaffe ich es bis nach oben.
Ich richte mich auf den unbequemen Sprossen ein und stemme mich gegen den Griff der Luke. Er rührt sich nicht.
»Bitte nennen Sie Ihren Namen, um die Luke zu entriegeln«, verlangt der Computer.
»Aber ich weiß meinen Namen nicht!«
»Nicht korrekt.«
Ich schlage mit der flachen Hand nach dem Riegel. Er gibt nicht nach, und mir tut die Hand weh. Verstehe. So wird das nichts.
Diese Luke muss warten. Vielleicht fällt mir mein Name noch ein, oder ich sehe ihn irgendwo aufgeschrieben.
Ich steige die Leiter hinunter. Oder besser gesagt, ich versuche es. Man könnte meinen, es sei einfacher und sicherer, nach unten zu klettern. Aber nein. Keineswegs. Statt anmutig den Fuß auf die nächste Sprosse zu setzen, rutsche ich ab und verliere den Halt am Griff der Luke. Ich stürze ab wie ein Idiot.
Ich winde mich wie eine wütende Katze und greife nach irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann. Leider ist das eine richtig schlechte Idee. Ich lande auf dem Tisch und pralle mit dem Schienbein gegen ein Schubladenkästchen mit Laborutensilien. Das tut höllisch weh. Ich schreie auf, greife an mein schmerzendes Schienbein, rolle vom Tisch und falle auf den Boden.
Dieses Mal fangen mich keine Roboterarme auf. Ich lande auf dem Rücken und kann nicht mehr atmen. Um das Maß vollzumachen, kippt das Kästchen um, die Schubladen gehen auf, und das Laborzubehör prasselt auf mich herab. Die Baumwolltupfer sind kein Problem. Die Reagenzgläser tun nur ein bisschen weh und gehen überraschenderweise nicht kaputt. Das Maßband fällt mir mitten auf die Stirn.
Noch mehr Sachen poltern herab, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, die wachsende Beule auf der Stirn zu betasten. Wie kann ein Maßband nur so schwer sein? Es fällt drei Fuß tief vom Tisch herunter, und ich habe eine Beule auf der Stirn.
»Das hat nicht geklappt«, sage ich zu niemandem im Besonderen. Diese ganze Aktion war einfach lächerlich. Wie aus einem Charlie-Chaplin-Film.
Ja … genau so war es. Sogar ein wenig zu viel davon.
Wieder habe ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.
Ich schnappe mir ein Reagenzglas und werfe es hoch. Es steigt empor und kommt herunter, wie es sein sollte. Trotzdem ist etwas an der Art, wie Objekte hier fallen, grundverkehrt. Ich will es herausfinden.
Was steht mir hier zur Verfügung? Nun ja, ein ganzes Labor, das ich sogar zu benutzen weiß. Aber was davon ist schnell zur Hand? Ich betrachte das Zeug, das auf den Boden gefallen ist. Mehrere Reagenzgläser, Labortupfer, Holzspatel, eine digitale Stoppuhr, Pipetten, Klebeband, ein Stift …
Fein. Ich glaube, das ist alles, was ich brauche.
Ich rapple mich auf und klopfe die Toga ab. Sie ist gar nicht verstaubt. Anscheinend ist meine ganze Welt hier sauber und steril. Ich mache es trotzdem.
Ich nehme das Maßband und betrachte es. Es ist metrisch. Vielleicht bin ich in Europa? Wer weiß. Dann sehe ich mir die Stoppuhr an. Sie ist ziemlich robust, wie etwas, das man auf eine Wanderung mitnimmt. Eine kräftige Plastikhülle mit einem schützenden Hartgummiring. Zweifellos wasserdicht. Außerdem mausetot. Die LCD-Anzeige ist leer.
Ich drücke auf mehrere Knöpfe, aber nichts passiert. Ich werfe einen Blick auf das Batteriefach auf der Rückseite. Vielleicht finde ich in einer Schublade die richtigen Batterien, wenn ich weiß, welchen Typ die Stoppuhr braucht. Hinten ragt ein kleiner roter Plastikstreifen hervor. Ich ziehe, und er rutscht ganz heraus. Die Stoppuhr erwacht zum Leben.
Wie bei dem Spielzeug, auf dem »Batterie inklusive« steht. Der kleine Plastikstreifen soll verhindern, dass sich die Batterie entlädt, bevor der neue Besitzer das Ding zum ersten Mal benutzt. Schön, jetzt habe ich also eine nigelnagelneue Stoppuhr. In diesem Labor sieht eigentlich alles nagelneu aus. Sauber, aufgeräumt, keine Gebrauchsspuren. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Ich spiele eine Weile mit der Stoppuhr herum, bis ich verstanden habe, wie sie funktioniert. Eigentlich ist es ganz einfach.
Mit dem Maßband ermittle ich, wie hoch der Tisch ist. Die Unterkante ist genau 91 Zentimeter über dem Boden.
Ich nehme ein Reagenzglas. Es besteht gar nicht aus Glas. Vermutlich ein extrem widerstandsfähiges Plastikmaterial. Jedenfalls ist es nicht zerbrochen, als es aus drei Fuß Höhe auf den harten Boden gefallen ist. Wie auch immer, die Dichte ist groß genug, um den Luftwiderstand vernachlässigen zu können.
Ich lege es auf den Tisch und halte die Stoppuhr bereit. Mit einer Hand schiebe ich das Reagenzglas über die Tischkante, mit der anderen starte ich die Stoppuhr und messe, wie lange das Reagenzglas braucht, um auf den Boden zu fallen. Dabei kommen etwa 0,37 Sekunden heraus. Das ist ziemlich schnell.
Ich notiere die Zeit mit dem Stift auf dem Arm. Papier habe ich bisher noch nicht gefunden.
Dann lege ich das Röhrchen wieder hin und wiederhole den Test. Dieses Mal sind es 0,33 Sekunden. Ich versuche es noch zwanzigmal und notiere die Ergebnisse, um die Auswirkung meiner Ungenauigkeit beim Starten und Stoppen des Zeitnehmers zu verringern. Am Ende bekomme ich einen Durchschnittswert von 0,348 Sekunden heraus. Mein Arm sieht aus wie die Tafel eines Mathelehrers, aber das stört mich nicht.
0,348 Sekunden. Die Strecke entspricht der halben Beschleunigung mal Zeit zum Quadrat. Die Beschleunigung entspricht demnach zweimal Strecke durch Zeit zum Quadrat. Die Formeln fallen mir sofort ein. Es ist wie meine zweite Natur. Mit Physik kenne ich mich also aus. Gut zu wissen.
Ich gehe die Zahlen durch und bekomme ein Ergebnis, das mir nicht gefällt. Die Schwerkraft in diesem Raum ist zu hoch. Die Fallbeschleunigung liegt bei fünfzehn Metern pro Quadratsekunde, obwohl der Wert nur 9,8 betragen sollte. Deshalb kommt es mir so falsch vor, wenn etwas fällt – die Dinge fallen zu schnell. Und deshalb bin ich trotz meiner Muskeln so schwach. Hier ist alles anderthalbmal so schwer, wie es sein sollte.
Das Problem ist nur, dass rein gar nichts die Schwerkraft beeinflussen kann. Man kann sie nicht erhöhen oder vermindern. Die Fallbeschleunigung auf der Erde beträgt 9,8 Meter pro Quadratsekunde. Ende der Diskussion. Aber hier liegt der Wert höher. Dafür gibt es nur eine mögliche Erklärung.
Ich bin nicht auf der Erde.