Einen Körper zu haben, hat viele Nachteile. Falls das nicht so offensichtlich sein sollte, dass wir auf Beispiele verzichten können, erwähnen wir auf die Schnelle Schmerzen, Wunden, Gerüche, Brechreiz, Altern, Schwerkraft, Blutvergiftung, Ungeschicklichkeit, Krankheit, Einschränkungen – jede einzelne Spaltung zwischen unserem körperlichen Wollen und unserem faktischen Können. Kann da noch jemand bezweifeln, dass wir Hilfe bei der Versöhnung brauchen? Sie ersehnen? Schließlich ist es Ihr Körper, der stirbt.
Natürlich hat es auch viele schöne Seiten, einen Körper zu haben – es ist nur viel schwieriger, diese Seiten in Echtzeit zu spüren und zu schätzen. Ähnlich wie bestimmte seltene sinnliche Grenzerfahrungen und Epiphanien (»Ich bin so froh, dass ich Augen habe und diesen Sonnenaufgang sehen kann!« u.ä.) beschleunigen Spitzensportler unsere Erkenntnis, wie herrlich es ist, zu berühren und wahrzunehmen, sich im Raum zu bewegen und mit der Materie zu interagieren. Schon klar: Von dem, was Spitzensportler mit ihren Körpern zustande bringen, kann unsereins nur träumen. Aber diese Träume sind wichtig – sie entschädigen für so vieles.
Besonders beunruhigt sind die Medien der USA, denn dieses Jahr hat weder ein Amerikaner noch eine Amerikanerin auch nur bis zum Viertelfinale überstanden. (Falls Sie auf abseitige Statistiken stehen: In Wimbledon ist das seit 1911 nicht mehr vorgekommen.)
Das ist im Wimbledon der zweiten Woche übrigens nicht der einzige Vorfall, der sich um Federer und ein krankes Kind dreht. Drei Tage vor dem Finale der Herren führe ich ein Einzelinterview mit Roger Federer* in einem kleinen, überfüllten Büro der International Tennis Federation im dritten Stock des Pressezentrums. Als der ATP-Spielervertreter Federer direkt danach durch die Hintertür zu seinem nächsten Termin bringen will, kommt ein ITF-Typ (der während des gesamten Einzelinterviews lautstark in sein Handy gequasselt hat) und fragt Roger, ob er einen Moment Zeit habe. Der Mann, der den allgemein ausländisch klingenden Akzent aller ITF-Fritzen mitbringt, sagt: »Hören Sie, es ist mir wahnsinnig unangenehm. Normalerweise mach ich so was nicht. Es ist für meinen Nachbarn. Sein Sohn ist krank. Sie planen eine Spendensammlung, und ich wollte fragen, ob Sie vielleicht ein T-Shirt signieren könnten, wissen Sie, irgendwas.« Er vergeht vor Scham. Der ATP-Vertreter funkelt ihn an. Federer nickt aber nur achselzuckend: »Kein Problem. Bring ich morgen mit.« Morgen ist das Halbfinale der Herren. Der ITF-Mann wünscht sich natürlich ein T-Shirt von Federer, von einem seiner Spiele, mit Federers echtem Schweiß. (Seine benutzten Schweißbänder wirft Federer nach seinen Matches in die Zuschauermenge, und die Leute, die sie abbekommen, wirken eher erfreut als angewidert.) Der ITF-Mann bedankt sich dreimal sehr schnell bei Federer und schüttelt den Kopf: »Das ist mir echt wahnsinnig unangenehm.« Federer, immer noch nicht ganz zur Tür raus: »Kein Problem.« Ist es auch nicht. Wie alle Profis wechselt Federer während seiner Matches mehrmals das T-Shirt, kann einfach jemanden bitten, eins davon aufzubewahren, und das dann signieren. Federer macht hier keinen auf Gandhi – er bleibt nicht stehen und erkundigt sich auch nicht näher nach dem Kind und seiner Krankheit. Er heuchelt keine übertriebene Anteilnahme. Die Bitte ist einfach nur eine kleine, kurz ablenkende Pflicht, um die er sich kümmern muss. Aber er sagt zu, und er wird dran denken – das sieht man gleich. Und er wird sich davon nicht ablenken lassen, weil er das nicht zulässt. Auf so was versteht er sich.
* (Platzgründe und Überlegungen zur grundsätzlichen Glaubwürdigkeit verbieten die ausführliche Schilderung der Scherereien, die man sich mit einem Einzelinterview einhandelt. Es ergeht einem, kurz gesagt, so wie in der alten Geschichte, wo jemand einen hohen Berg besteigt, um sich mit dem Mann zu unterhalten, der im Lotussitz auf dem Gipfel verharrt, nur dass der Berg in diesem Fall ausschließlich aus Sportbürokraten besteht.)
Die Aufschläge männlicher Spitzensportler erreichen oft Geschwindigkeiten von 200-220 km/h, das stimmt, aber die Radarmessungen und Grafiken verschweigen Ihnen, dass auch die Grundschläge männlicher Power-Grundlinienspieler oft Geschwindigkeiten von über 150 km/h erreichen, und das ist die Geschwindigkeit eines Fastballs im höherklassigen Baseball. Wenn Sie nah genug an einen Proficourt herankommen, hören Sie, dass der Ball im Flug, Tatsache, ein Geräusch produziert, eine Art flüssiges Zischen, das sich aus der Kombination von Tempo und Effet ergibt. Live und aus nächster Nähe verstehen Sie auch besser die »offene Schlagstellung«, die zum Inbegriff des Power-Grundlinienspiels geworden ist. Der Begriff besagt schließlich bloß, dass man sich seitlich nicht ganz zum Netz dreht, bevor man einen Grundschlag ausführt, und wenn so viele Power-Grundlinienspieler aus der offenen Schlagstellung schlagen, liegt das unter anderem daran, dass der Ball jetzt zu schnell auf sie zukommt, als dass sie sich noch ganz drehen könnten.
Das ist das große und schätzungsweise sechs Jahre alte Gebäude, in dem die Bereiche und Hauptquartiere von Wimbledons Verwaltung, den Spielern und den Medien liegen.
(Manche erinnern wie Nadal oder Serena Williams eher an Comic-Superhelden als an reale Menschen.)
Als Federer bei dem oben erwähnten Einzelinterview nach Beispielen anderer Sportler gefragt wird, deren Leistungen er »schön« nennen würde, erwähnt er zuerst Jordan, dann Kobe Bryant und schließlich »einen Fußballspieler wie – Männer, die quasi total entspannt spielen wie Zinédine Zidane oder so: Er schafft wahnsinnig viel, macht aber nie den Eindruck, als müsste er sich dafür überhaupt anstrengen«.
Federers Antwort auf die Anschlussfrage, was er denn davon halte, wenn Sportpäpste, aber auch andere Spieler sein Spiel als »schön« beschrieben, ist vor allem interessant, weil sie – wie Federer selbst – sympathisch, intelligent und entgegenkommend ist, ohne eigentlich wirklich etwas zu besagen (aber mal ehrlich, was soll man denn auch sagen, wenn andere einen als schön beschreiben? Was würden Sie denn sagen? Letztlich ist es eine dämliche Frage):
»Es geht immer darum, was den Leuten als Erstes auffällt – das ist für sie das, wo man ›am besten‹ ist. Wissen Sie, als Sie McEnroe das erste Mal gesehen haben, was haben Sie da gesehen? Sie haben einen Mann mit unglaublichem Talent gesehen, denn so wie der gespielt hat, hat sonst niemand gespielt. Bei ihm drehte sich alles um das Gefühl für den Ball. Und dann schauen Sie sich Boris Becker an und wissen auf Anhieb, Sie haben einen starken Spieler vor sich, wissen Sie?* Wenn Sie mich spielen sehen, sehen Sie quasi einen ›schönen‹ Spieler – und danach sehen Sie quasi, dass er auch schnell ist, dass er vielleicht eine gute Vorhand hat, und dann sehen Sie vielleicht noch seinen guten Aufschlag. Wissen Sie, als Erstes hat man eine Grundlage, und das find ich quasi auch großartig, wissen Sie, ich kann ja echt froh sein, dass ich grundsätzlich ›schön‹ genannt werde, wissen Sie, also mein Spielstil jetzt. Andere gelten erst mal als ›Hacker‹, andere als ›Power-Spieler‹ oder als ›der Schnelle‹. Ich gelte eben als ›der schöne Spieler‹, und das ist doch cool.«
* (Federers Gesprächsfloskeln sind notabene »quasi« und »wissen Sie«. Letztlich sind diese Floskeln hilfreich, denn sie erinnern daran, wie entsetzlich jung er eigentlich ist. Falls Sie so was interessiert: Der beste Tennisspieler der Welt trägt eine weiße Aufwärmhose und ein langärmliges weißes Mikrofaserhemd, vielleicht von Nike. Aber kein Jackett. Sein Händedruck ist noch erträglich kräftig, die Hand selbst erinnert allerdings an eine Schreinerraspel (Tennisspieler haben aus naheliegenden Gründen sehr verhornte Hände). Er ist etwas größer, als er im Fernsehen wirkt – breitschultriger und mit mehr Brustkorb. Neben ihm steht ein Tisch, der mit Mützenschirmen und Stirnbändern bedeckt ist, die er mit einem Edding signiert hat. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, lächelt freundlich und wirkt total entspannt; er spielt nie mit dem Edding rum. Der Gesamteindruck ist, dass Roger Federer entweder ein wahnsinnig netter Kerl ist oder ein Mann, der wahnsinnig gut mit den Medien kann – wahrscheinlich stimmt beides.)
Argumentative Schützenhilfe aus dem Einzelinterview mit dem großen Mann persönlich: »Das ist interessant, wissen Sie, diese Woche hat nämlich Ančić [Komma Mario, der kroatische Top-Ten-Hüne, den Federer im Viertelfinale am Mittwoch geschlagen hat] auf dem Centre-Court gegen meinen Freund gespielt, wissen Sie, den Schweizer Wawrinka [Komma Stanislas, Federers Doppelpartner beim Daviscup], und wissen Sie, ich wollte von da zusehen, wo meine Freundin Mirka [Vavrinec, eine ehemalige Top-100-Spielerin, die verletzungsbedingt ausscheiden musste und heute quasi als Federers Alice B. Toklas fungiert] immer sitzt, und da hab ich quasi – also zum ersten Mal, seit ich nach Wimbledon komme, hab ich mir ein Match auf dem Centre-Court angesehen, und ich war auch überrascht, wissen Sie, wie schnell der Aufschlag quasi ist und wie schnell man reagieren muss, um den Ball zurückzuschlagen, besonders wenn jemand wie Mario [Ančić, der für seine brutalen Aufschläge bekannt ist] Aufschlag hat, wissen Sie. Aber wenn Sie dann selbst auf dem Court stehen, ist das was ganz anderes, wissen Sie, dann haben Sie quasi nur noch den Ball im Auge und merken gar nicht, wie schnell der ist …«
Der Einfachheit halber gehen wir bei diesen Berechnungen davon aus, dass der Ball schnurgeradeaus fliegt. Bitte schicken Sie keine korrigierenden Leserbriefe. Wenn Sie berücksichtigen wollen, dass der Aufschlag aufspringt, und dann die gesamte vom Ball zurückgelegte Strecke als Summe der beiden kürzeren Seiten eines schiefwinkligen Dreiecks* berechnen wollen, dann tun Sie sich keinen Zwang an – am Ende haben Sie zwei bis fünf Hundertstelsekunden mehr, was den Kohl auch nicht fett macht.
* (Je langsamer der Belag eines Courts, desto näher müssen Sie einem rechtwinkligen Dreieck kommen. Auf schnellem Gras hat der Abprallwinkel nie neunzig Grad.)
Das Konditionstraining ist auch wichtig, aber vor allem weil körperliche Müdigkeit als Erstes den kinästhetischen Sinn außer Gefecht setzt. (Weitere Widersacher sind Angst, Befangenheit und Wut; labile Psychen sind im Profitennis daher eine Seltenheit.)
Die beste Analogie für Laien besteht wahrscheinlich im Vergleich mit einem geübten Autofahrer, der all die kleinen Entscheidungen und Anpassungen guten Fahrens vornimmt, ohne darauf bewusst achten zu müssen.
(vorausgesetzt, das »mit schwerem Topspin« der Legende bezieht sich auf »dominieren« und nicht auf »schlagstarke Spieler«, was es kann, aber nicht muss – Grammatik ist knifflig)
(auf die weder Connors noch McEnroe erfolgreich umsatteln konnte – beider Spiel war noch an vormoderne Schläger gebunden)