Die niederländische Originalausgabe »De pater en de filosoof. De redding van het Husserl-archief« erschien 2018 bei Uitgeverij Vrijdag in Antwerpen. Die Übersetzung folgt der 3. Auflage, ergänzt um Änderungen des Autors.
Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Flanders Literature herausgegeben. (flandersliterature.be)
»Tradition means giving votes to the most obscure of all classes, our ancestors. It is the democracy of the dead. Tradition refuses to submit to the small and arrogant oligarchy of those who merely happen to be walking about.«
– G. K. Chesterton in Orthodoxy (1908)
Es fing an, wie es meistens anfängt. Mit einer Erinnerung. Einem Erinnerungsfetzen. In diesem Fall mit einem Foto.
Das Bild muss Ende der Sechzigerjahre in Wortel, einem Kirchdorf bei Hoogstraten, im Garten meiner Großeltern entstanden sein. Innerhalb weniger Jahre haben mein Vater und all seine Geschwister in großem Stil geheiratet, was jedes Mal mit einem Empfang im Garten hinter dem Haus gefeiert wurde, in dem sie alle aufgewachsen waren. Auf dem Bild ist meine bereits betagte Großmutter Theresia Van Breda im bunten geblümten Kleid bei einem dieser Feste zu sehen, wie sie gerade etwas aus ihrer Tasche holt. Offensichtlich amüsiert, sogar ein wenig schelmisch wirft sie dem Mann neben ihr einen Blick zu. Einem lachenden Pater mit gestärktem Kollar, eine Zigarette zwischen den Fingern, der alles sehr locker zu nehmen scheint. Diesen Mann hatte ich schon einmal gesehen. In einem verwackelten Super-8-Film von einer dieser sommerlichen Hochzeiten sieht man ihn einen Moment lang, wie er gerade lachend den Kopf um eine Ecke streckt. Erst als ich ihn auf dem Foto wiedersah, fragte ich meinen Vater, wer denn dieser Mann sei. Offenbar war es der Lieblingscousin meiner Großmutter. Ihre Vertrauensperson. Hatte meine Großmutter ein Problem, wurde der Pater geholt. Es kam nicht oft vor, aber wenn es brannte, war er zur Stelle. Auch wenn es etwas zu feiern gab, war er immer dabei.
Wo dieser Pater genau tätig war, wusste mein Vater nicht so genau. Irgendetwas mit Philosophie an der Universität Leuven (dt. Löwen). Dann stand er aber auf, ging zu einem Schrank und begann, in einer großen Kiste zu kramen. Mein Vater ist nämlich, neben seinen vielen anderen Besonderheiten, auch ein begeisterter Sammler. Wenige Minuten später lag die Trauerkarte vor mir auf dem Tisch. Damit bekam der Pater auch einen Namen: Herman Leo Van Breda. Er hatte meine Großmutter nur knapp drei Jahre überlebt. Die Zeitungsanzeige enthielt eine beeindruckende Aufzählung seiner offiziellen Auszeichnungen durch die Staaten Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Belgien und Israel. Außerdem noch die Ehrendoktorwürde und ein Orden als »Widerstandskämpfer« im Zweiten Weltkrieg.
Anscheinend hatte meine Familie einen Helden hervorgebracht, den Eindruck konnte man wenigstens bekommen. Was er allerdings getan hatte, um diese große Anerkennung zu verdienen, das wusste keiner genau zu sagen. So blieb es bei der Feststellung, dass es ihn einst gegeben hatte.
Es sind Juden. Drei Juden. Juden, die in einer Zeit leben, in der man um diese Bezeichnung nicht herumkommt, selbst wenn man es möchte.
Stundenlang sitzen sie da, diskutieren und trinken. Es geht um Hitler. Darum, welche Rolle Österreich noch spielen kann. Was England tun wird, sollte es zu einem großen europäischen Krieg kommen. Um Literatur. Um den Zionismus und was es bedeutet, Jude zu sein. Und um Geld. Und dabei vernichten sie Unmengen Alkohol.
Der erste, Stefan Zweig, ist einer der beliebtesten österreichischen Schriftsteller seiner Zeit. Sein erzählerisches Werk verkauft sich in astronomisch hohen Auflagen, Novellen, Romane, historische Porträts und Biographien. Er ist ein »Jude aus Zufall«, Nachkomme einer gut situierten Familie, in der er nicht religiös erzogen wurde. Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen und auch in Österreich immer mehr Einfluss gewinnen, sieht er sich gezwungen, sein Haus in Salzburg zu verlassen und nach London zu emigrieren. Die Frage, ob er sich als Jude fühlt oder nicht, hat sich erledigt; die Politik hat für ihn entschieden, dass er einer ist. Jetzt, im Herbst 1937, ist er wieder in seiner Heimatstadt Wien, zu einem letzten Besuch, wie sich zeigen wird.
Auch Joseph Roth ist für kurze Zeit zurückgekehrt. Er lebt und arbeitet inzwischen im Exil, in Paris. Eine Lesereise führt ihn zu einem Abschiedsbesuch in die Stadt, in der er einst studiert hatte und in den Jahren gleich nach dem Ersten Weltkrieg als Journalist mit Artikeln, die er mit »Der rote Joseph« zeichnete, als Journalist debütierte. Wien war die Hauptstadt von Österreich-Ungarn, die Hauptstadt der 1918 untergegangenen Doppelmonarchie, nach der Roth großes Heimweh hatte. Zu der Zeit ist er einer der bestbezahlten deutschsprachigen Journalisten und hat bereits eine Reihe von Romanen publiziert, die sich, vor allem nach seinem Tod, zu Klassikern entwickeln. Hiob und Radetzkymarsch haben ihn zu einem weithin anerkannten Schriftsteller gemacht, aber in Sachen Popularität muss er sich Zweig doch geschlagen geben. Seit Jahren lebt er im Hotel, zahlt für seine Frau in der Nervenheilanstalt und trinkt viel mehr, als ihm guttut. Die Vorschüsse seiner Verleger und Auftraggeber reichen schon längst nicht mehr aus, um seinen Lebensstil zu gewährleisten. Stefan Zweig ist voller Bewunderung für den dreizehn Jahre jüngeren Freund Roth und hilft ihm regelmäßig finanziell aus der Klemme.
Jetzt, wo beide noch einmal in Wien sind, haben sie sich im Hotel Bristol, in der American Bar, verabredet. Zweig hat auch Soma Morgenstern angerufen, Roths ältesten Freund. Beide sind in Galizien aufgewachsen – haben sich aber erst in Wien kennengelernt. Auch Morgenstern verbindet Literatur mit Journalismus. Er lebt noch immer mit Frau und Kind in Wien. Seit einem Streit im Oktober 1934 (Morgenstern hatte Roth des Plagiats beschuldigt) haben sie sich nicht mehr geschrieben oder getroffen. Mit nur einem Anruf bringt Zweig die beiden Freunde wieder an einen Tisch; das Treffen führt am Ende zur Aussöhnung.
In diesen Herbsttagen des Jahres 1937 ziehen die drei Freunde durch die Stadt, durch Bars und Restaurants, um ihre Ratlosigkeit und Verzweiflung zu betäuben. Als Zweig im Taxi auf dem Weg zu einem Restaurant erzählt, er habe auch seinem Freund Sigmund Freud einen kurzen Besuch abgestattet, zeigt Roth dafür nur wenig Verständnis. Er schätzt den berühmten Wiener Psychiater nicht besonders, findet ihn humorlos. Zweig argumentiert überzeugt, Freud habe sehr wohl Humor, sehr viel sogar. Der Freund solle doch einmal Freuds Studien zum Humor lesen. Allein schon die Witzsammlung lohne. Für Roth beweist das noch gar nichts. Es gehe nicht darum, einen Witz zu begreifen, sondern man müsse auch etwas zum Wesen des Humors sagen können.
Als der Name des französischen Philosophen Henri Bergson fällt, der 1901 mit Le rire (dt. Das Lachen) ein einflussreiches Buch zur Bedeutung des Komischen vorgelegt hat, wird auch Zweig philosophisch: Er vergleicht die Diskussion mit der Situation, in der sich alle drei befinden. Bietet es etwa keinen Trost, dass auch prominente Zeitgenossen wie Bergson und Freud, zwei der bedeutendsten Denker der Zeit, Juden sind, fragt er sich laut. Morgenstern, der sich bis dahin zurückgehalten hat, mischt sich in die Diskussion ein: »Wenn das ein Trost sein kann, möchte ich noch zwei gute Namen hinzufügen: Husserl und Georg Simmel; es sind also vier, nicht zwei.« Zweig denkt kurz über das Gesagte nach und überlegt, ob der Soziologe und Philosoph Georg Simmel wirklich so wichtig ist. Er meint, eher nicht. Und dann sagt er: »Ich verstehe nicht, wie ich Husserl vergessen konnte.«
Es sind Juden. Drei Juden.
Bergson, ein Philosoph, der 1927 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der mit größter Leichtigkeit ebenso viele begeisterte Anhänger wie leidenschaftliche Gegner gefunden hat. Und Husserl, der Philosoph, dessentwegen sich Stefan Zweig an den Kopf fassen wollte, weil er nicht gleich an ihn gedacht hatte.
Wie kommt Edmund Husserl zu dieser Ehre?
Wie Friedrich Nietzsche bringt Husserl beim Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert alle philosophischen Gewissheiten der vergangenen Jahrhunderte ins Wanken. Nietzsche, indem er eine Splitterbombe wirft, einen Cocktail, gemixt aus Philosophie, Rhetorik und literarischem Talent. Und er löst damit eine wilde Stichflamme aus, die vorläufig der Unterscheidung zwischen Körper und Geist ein Ende macht, der Unterscheidung, an der die Philosophie seit Jahrhunderten festhielt. In einem Aufwasch erklärt er auch gleich Gott für tot. Husserl dagegen wählt einen völlig anderen Weg: Er will nichts Geringeres als die Philosophie (und damit die Welt) retten.
Friedrich Nietzsche und Edmund Husserl. Der Unterschied zwischen zwei Philosophen könnte kaum größer sein. Nietzsche ist ein Philosoph, dessen Werk vor allem eine große Wirkung hat (die von ihm ausgelöste Explosion im Denken hallt noch lange nach), Husserl dagegen hat großen Einfluss. Husserl ist ein Philosoph, der zahlreiche Schüler findet und Nachfolger aufbaut, der eine eigene Schule entwickelt und auf dessen Werk mehrere Philosophengenerationen weiter aufbauen werden. Beide stehen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Fokus der Öffentlichkeit, einem Jahrhundert, in dem sich die Naturwissenschaften rasend schnell entwickeln. Die Sprache der Mathematik und der Naturwissenschaften regiert und dominiert den Diskurs. Die Philosophie ist dabei, sich neu zu definieren, sie sucht nach einem Platz in der sich noch immer verändernden Welt. Nietzsche versucht diesen Ort zu finden, indem er eine sehr subjektive Weltanschauung entwickelt, eingebettet in die Zeit, in der er lebt. Die Person, die Individualität des Philosophen, steht im Mittelpunkt. Der Grat zwischen Literatur und Philosophie wird bei Nietzsche schmaler denn je zuvor. Husserl ist das genaue Gegenteil. Er versucht, die Grundlagen für die Philosophie als strenge Wissenschaft zu legen, und er will ihr – ganz anders als Nietzsche – eine allgemeine und absolute Gültigkeit zuerkennen. Husserls Ehrgeiz ist enorm. Er will mit seiner Phänomenologie den Brückenschlag zwischen Geist und Welt für die Philosophie möglich machen.
Dass Husserl zunächst in Mathematik promovierte, bevor er sich der Philosophie zuwandte, erwies sich von entscheidender Bedeutung für sein Denken. Für Husserl ist die Mathematik ganz selbstverständlich der Maßstab einer jeden logisch aufgebauten Theorie. Dass sich die Naturwissenschaften zu exakten erklärenden Wissenschaften entwickelten, im vergangenen Jahrhundert enorme Fortschritte gemacht und ihren Einfluss auf so gut wie alle Bereiche der Wirklichkeit ausgedehnt haben, verdanken sie ihrer engen Verbindung mit der Mathematik und dem mathematischen Denken. Und zwar in einem solchen Maße, dass die Philosophie verwaist zurückzubleiben scheint. Hat sie im Zeitalter der Wissenschaft überhaupt noch eine Existenzberechtigung? Als wäre das nicht schon schlimm genug, wird mit der Entstehung der Psychologie im neunzehnten Jahrhundert auch das Bewusstsein (der Geist oder die Seele) zum Forschungsfeld einer spezialisierten Erfahrungswissenschaft. Die Philosophie ist zum König Ohneland geworden. In Ermangelung eines eigenen Forschungs- und Wirkungsfelds scheint sie zugunsten der anderen Wissenschaften auf ihren Thron verzichten zu müssen.
Husserl will von einem solchen Thronverzicht nichts wissen. Er hält am ursprünglichen Konzept der Philosophie fest, das Platon ins westliche Denken implantiert hat und das zu Beginn der Neuzeit von Descartes erneuert wurde – die Philosophie als allumfassende und absolute Wissenschaft. Allumfassend, weil die Philosophie im Grunde alle einzelnen Wissenschaften in ein einziges systematisches Ganzes fassen und dafür die Grundlagen liefern möchte. Absolut, weil sowohl die Grundlagen als auch das darauf aufbauende Wissen keinerlei Zweifel zulassen. Für Husserl ist die westliche Philosophie seit ihren Anfängen mit dem Prinzip von Versuch und Irrtum auf dem Weg zu diesem Ziel und ist es – auch nach dem »Jahrhundert der Wissenschaften« – noch immer. Nur – wie wertvoll die Beiträge der großen Philosophen der Antike und vor allem der Philosophen der Neuzeit auch gewesen sein mögen, ihnen allen fehlte eine ganz bestimmte Erkenntnis, weshalb am Ende sogar sie vom Weg abgekommen waren, ihre Richtung verloren hatten. Husserl dagegen hat zu dieser einen allumfassenden Erkenntnis gefunden und sieht sich selbst als eine Art Kolumbus, als Entdecker einer neuen Welt, der Welt des reinen Bewusstseins.
Damit sind wir beim Herzstück von Husserls Denken angelangt. Um tatsächlich zu diesem reinen Bewusstsein zu gelangen, benötigt man eine Methode, und diese Methode wurde von Husserl entwickelt. Diese als phänomenologische Reduktion bezeichnete Methode ist der zentrale und zugleich komplexeste Teil seines Denkens. Für Husserl ist die Anwendung dieser Methode entscheidend für das Schicksal der Philosophie und sogar für unser aller Schicksal. Denn erst wenn wir die Welt, unter Zuhilfenahme der Methode der phänomenologischen Reduktion, voll und ganz verstehen, können wir auch das Ideal einer rationalen und liebevollen Welt verwirklichen.
Ziel der phänomenologischen Reduktion ist es, die Phänomene und Konzepte, die sich unserem Bewusstsein aufdrängen, auf ihr Wesen zu reduzieren. Dem liegt der Leitgedanke zugrunde, dass der Philosoph, um zur Essenz der Dinge zu gelangen, um »zu den Sachen selbst« vordringen zu können, sich von allen in seinem Bewusstsein vorhandenen Überzeugungen, Fragen und persönlichen Umständen verabschieden muss. Dies alles, so Husserl, müsse man mit Klammern versehen: die Frage, ob die Dinge, die wir wahrnehmen oder die sich unserem Bewusstsein aufdrängen, auch tatsächlich existieren; unsere eigenen Vorurteile, Vorlieben und Verblendungen; sogar die Frage, ob ich denn tatsächlich existiere. Das alles stellen wir auf on hold, klammern es aus. Und indem wir das tun, indem wir uns gewissermaßen bewusst und wohlüberlegt über all diese Fragen, Überlegungen und Überzeugungen hinwegsetzen, können wir zum inneren Wesen der Dinge vordringen. Nur dann bleibt der Kern erhalten, und das Bewusstsein rückt in seiner reinsten Form in den Vordergrund. Nur dann können wir die Phänomene, wie wir sie in diesem reinen Bewusstsein vorfinden, beschreiben und klassifizieren. Daher der Name Phänomenologie, die Lehre von den Phänomenen.
Auf die Gefahr hin, die Dinge viel einfacher darzustellen, als Husserl sie gemeint hat, ist das reine Bewusstsein, die von Husserl entdeckte neue Welt, dann der Ort, wo sich all diese auf ihre Wesenheit zurückgeführten Phänomene manifestieren und zueinander verhalten. Und das tun sie in erster Linie als ein kontinuierlicher Strom von Wahrnehmungen, Erinnerungen, Wertungen etc. All diesen Gedanken und Empfindungen ist eigen, dass sie immer auf etwas gerichtet sind. Ich will etwas, ich sehe etwas, ich erinnere mich an etwas, ich fühle etwas … Das reine Bewusstsein existiert also allein dank der Tatsache, dass es sich immer auf etwas bezieht; und auch diese Beziehung versucht die phänomenologische Reduktion zu definieren. Die Phänomenologie beschreibt nie – um ein Beispiel zu nennen – einfach so eine Praline. Wohl beschreibt sie, wie wir die Praline über die verschiedenen Sinne erfahren, was das Wesen der Praline ausmacht und wie wir durch all diese Erfahrungen zu der unwiderlegbaren Schlussfolgerung kommen, dass diese Praline auch tatsächlich existiert und nicht nur imaginär, das heißt eingebildet ist.
Die Methode der phänomenologischen Reduktion kann theoretisch in den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen eingesetzt werden, für Husserl aber eignet sie sich besonders für die Philosophie. Mehr noch, er ist davon überzeugt, dass es der Philosophie, will sie wieder ihren ursprünglichen Zweck erreichen, eine allgemeingültige, absolute Wissenschaft zu sein, allein auf der Grundlage der Phänomenologie gelingen kann. Einfach und schnell wird sich das nicht umsetzen lassen, denn die phänomenologische Philosophie ist für Husserl eine echte »Arbeitsphilosophie«, die auf der unermüdlichen, minutiösen, sich ständig stärker verfeinernden Beschreibung der Phänomene des reinen Bewusstseins basiert. Das erfordert Zeit, Sorgfalt und Hingabe. Aller allein so kann der Philosoph Einfluss auf die ihn umgebende Welt gewinnen, ohne sich in die Fragen zu verstricken, mit denen die Philosophie in den vergangenen Jahrhunderten zu viel Zeit verschwendet hat.
Zu Lebzeiten veröffentlichte Husserl hauptsächlich grundlegende, eher allgemeine Texte. Darin legte er unter anderem ausführlich die methodischen Grundlagen der Phänomenologie und der phänomenologischen Reduktion fest. Aber er bewahrte auch Zehntausende von unveröffentlichten handschriftlichen »Forschungsmanuskripten«. Dabei handelt es sich häufig um Texte, in denen er sich mit sehr konkreten Themen befasste und sie mithilfe der phänomenologischen Methode untersuchte und beschrieb. In gewissem Sinne sind es Beispiele aus der Praxis, anhand derer der Philosoph entfaltet, was die Phänomenologie impliziert und wie allumfassend die phänomenologische Reduktion als Methode ist. Es sind viel mehr als nur ein paar lose Randnotizen eines großen philosophischen Projekts. Sie gehören zum Kern von Husserls großem philosophischem Unternehmen. Daher war es für ihn von besonderer Bedeutung, dass diese Texte erhalten, analysiert und schließlich auch (vor oder nach seinem Tod) publiziert werden.
Nur dann werde die Welt voll und ganz die Größe seines phänomenologischen Projekts verstehen.
Den jungen flämischen Franziskanerpater Herman Leo Van Breda muss man nicht mehr von der Bedeutung von Husserls Werk überzeugen. 27 Jahre jung ist er im August 1938, und seit Sommer 1936 studiert er das Werk des Philosophen. Zwei turbulente Jahre hat er hinter sich. Seine älteste Schwester Bertha war im Mai 1937 mit kaum 39 Jahren gestorben. Für den Familienmenschen, der Van Breda trotz seiner Berufung zum Priester immer bleiben wird, war das ein schwerer Schlag. Sein Bruder Arthur, der die Kaffeerösterei der Eltern in Lier übernommen hatte, war bereits ein paar Jahre vorher verstorben, ebenfalls erst 35 Jahre alt.
Diese Schicksalsschläge stärken sein Durchhaltevermögen, und der Drang, etwas aus seinem Leben zu machen, wird immer stärker. Unmittelbar nach seiner Priesterweihe beginnt er an der Universität von Leuven Philosophie zu studieren und macht gleich großen Eindruck auf seine Dozenten. Im Studienjahr 1936/37 schafft er seinen ersten Abschluss, sein baccalauréat (Grundstudium) in Philosophie am Leuvener Philosophischen Institut, das damals gerade sein fünfzigstes Gründungsjubiläum feiert. Auch das auf zwei Jahre angelegte Hauptstudium schafft er daraufhin in nur einem Jahr und beginnt eine Dissertation über Husserls Frühwerk zu schreiben, über die Veröffentlichungen aus den ersten Jahren, in denen der Philosoph sein Denkgebäude entwickelte. Beim Verfassen dieser Studie setzt er sich intensiv mit allen frühen Publikationen Husserls auseinander. Diese Themenwahl war nicht gerade selbstverständlich, denn an der Leuvener Fakultät wurden schwerpunktmäßig noch immer der katholische Thomismus und Neuthomismus gelehrt, die beide auf die Lehren Thomas von Aquins zurückgehen. Neumodische Flausen wie die Philosophie Husserls stoßen dort nicht bei jedem Lehrstuhlinhaber auf Wohlwollen. Doch das kann Van Breda nicht von seinen Plänen abbringen. Er will seine philosophischen Studien fortsetzen und im Herbst 1938 über das spätere Werk Husserls und über dessen Theorie der phänomenologischen Reduktion promovieren. Husserl verweist in seinen in den Dreißigerjahren erschienenen Texten oft auf unveröffentlichte, in handschriftlicher Form vorliegende Arbeiten, die seine Studenten auf Wunsch einsehen und konsultieren konnten. Van Breda wünscht für seine im Entstehen begriffene Doktorarbeit ebenfalls Zugang zu diesen Dokumenten, denn er geht davon aus, in diesen Handschriften Antworten auf verschiedene Fragen zu finden, die sich für ihn aus den bereits publizierten Schriften ergeben haben. Daher beschließt er, nach Freiburg im Breisgau zu reisen, wo Husserl jahrelang gelebt und gelehrt hat und wo sich zu diesem Zeitpunkt die Handschriften befinden.
Außerdem hat sich Van Breda ein weiteres Ziel gesetzt. Er möchte nämlich die Möglichkeit eruieren, ob diese unveröffentlichten Texte in Belgien herausgegeben werden könnten. Da allgemein bekannt ist, dass Husserl Jude ist, wenn auch seit Langem zum Protestantismus konvertiert, geht der junge Pater davon aus, dass Husserls Werk in Deutschland vermutlich nicht mehr wird erscheinen dürfen. Husserl gilt von nun an als »entarteter« Philosoph. In der neuen deutschen Lebensphilosophie ist kein Platz mehr für das Werk der »jüdischen Parasiten« (wie Juden im Handbuch der Judenfrage bezeichnet werden), die mit ihrem »pervertierten Denken« das Wesen der deutschen Seele angreifen. Sogar mit Wiederauflagen von Husserls Werken, davon geht Van Breda aus, werde es Schwierigkeiten geben. Dass Husserl, wie alle deutschen Akademiker jüdischer Abstammung, unter den sehr rigiden Maßnahmen zu leiden hat, weiß er auch. Der emeritierte Professor wurde nicht nur von der offiziellen Liste der Professoren der Universität Freiburg gestrichen, ihm und zwanzig weiteren jüdischen Kollegen wurde auch der Zugang zu den Gebäuden der Universität verwehrt. Schließlich wird sein Name sogar von der Liste der Emeriti der Universität getilgt. Außerdem wird er mit dem ausdrücklichen Verbot belegt, als Mitglied der deutschen Delegation zu den internationalen philosophischen Kongressen in Prag (1934) und in Paris (1937) zu reisen. Ihm wird sogar mitgeteilt, solle er als Privatperson teilnehmen wollen, werde man ihm kein Visum erteilen. Immer weniger Freunde und Kollegen haben den Mut zu einem Besuch, außerdem werden die Husserls von ihren nazistisch gesinnten Nachbarn beschimpft und sogar schikaniert. Auch Martin Heidegger, ein philosophisches Ziehkind Husserls, der an dessen Lehrstuhl Assistent war, dessen philosophisches Werk auf dem von Husserl aufbaut, der – von Husserl empfohlen – auf dessen Lehrstuhl in Freiburg nachfolgte und der von 1933–1934 sogar Rektor der Universität Freiburg war, hat jeden Kontakt mit seinem früheren Förderer abgebrochen. Van Breda, der später noch viel mehr über die vielschichtige Beziehung Husserl–Heidegger erfahren wird, als ihm lieb ist, wird bewusst, dass für Husserls Werk in Deutschland nur noch wenig Gutes zu erwarten sein wird.
Der junge Pater ist voller Tatkraft. Er schmiedet sofort einen Plan. Noch vor seiner Abfahrt sucht er seinen Doktorvater Joseph Dopp auf, um mit ihm über seine Pläne zu sprechen, denn Dopp ist an der Fakultät für den Bereich Moderne bzw. zeitgenössische Philosophie zuständig: Wäre es nicht eine gute Idee, einige von Husserls unveröffentlichten Schriften in Leuven unter den Fittichen des Leuvener Philosophischen Instituts, dem Institut Supérieur de Philosophie bzw. Hoger Instituut voor Wijsbegeerde (HIW), zu publizieren? Dieselbe Frage legt er auch einem anderen Dozenten vor, Louis De Raeymaeker. Dopp und De Raeymaeker unterstützen beide Van Bredas Vorschlag bei Léon Noël, dem damaligen Präsidenten des HIW. Das Gespräch endet positiv: Im Prinzip sollte es möglich sein, die Texte in Leuven herauszubringen. Dabei mag die Tatsache, dass Noël 1910 den allerersten französischen Artikel über Husserls Philosophie veröffentlicht hat, durchaus zu diesem positiven Bescheid beigetragen haben. Jahrelang wies er seine Schüler auf die Bedeutung von Husserls Logischen Untersuchungen hin, die 1900 und 1901 in zwei Bänden erschienen waren. Auch Van Breda, der sich anfangs vor allem für Naturphilosophie interessierte, war als Student durch einige enthusiastische Hinweise seines Lehrers Noël auf die Spur Husserls gebracht worden, dessen Philosophie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg an Einfluss und Bedeutung gewonnen hatte. Der junge Pater wird von Noël damit beauftragt, während seines Freiburger Aufenthalts Genaueres über diese Fragen herauszufinden: Wie wichtig sind die Manuskripte? Sind es viele? Und vor allem: Würden die Erben die angestrebte Edition befürworten?
In der Tat – die Erben. Edmund Husserl ist noch nicht lange tot. Er starb am 27. April 1938 im Alter von 79 Jahren in Freiburg, fünf Monate nach seinem fünfzigsten Hochzeitstag, als Folge eines unglücklichen Sturzes im Badezimmer. Die ohnehin labile Gesundheit des Philosophen hatte sich von diesem Fall nicht erholen können. Die Nachricht von Husserls Tod hat auch Leuven erreicht, Pater Van Breda ist bereits vor seinem Aufbruch im Bilde. Am 15. August steigt Herman Leo Van Breda in den Zug nach Freiburg, zu einer Reise, die es in sich haben wird. Wie immer in einer braunen Kutte, die nackten Füße in Sandalen und mit im Nacken kurz geschorenem Haar macht er sich auf den langen Weg. Er hat noch keinen Termin mit einem Mitglied der Husserl-Familie, nicht einmal eine Adresse, an die er sich wenden könnte. Im Freiburger Franziskanerkloster jedenfalls ist er willkommen und kann dort auch übernachten. Überall in der Stadt hängen rote Hakenkreuzfahnen, und auch die Adresse seiner Unterkunft macht sofort klar, dass in Deutschland nichts mehr ist wie zuvor. Das Kloster liegt seit Neuestem in der Adolf-Hitler-Straße 335.
Es dauert einige Tage, bis er Malvine Husserl, die Witwe des Philosophen, ausfindig gemacht hat. Die Strategie der Nazis, Juden zu isolieren, erweist sich als sehr erfolgreich, denn niemand scheint genau zu wissen, wo sie sich aufhält. Schließlich findet der Pater mithilfe einiger Freiburger Franziskaner ihre Adresse heraus. Sie wohnt in der Schöneckstraße am Freiburger Schlossberg, in einem schönen Haus mit Blick über die Stadt. Dort ist sie Ende 1937, gemeinsam mit ihrem damals noch lebenden Mann, eingezogen.
Van Breda schreibt ihr einen Brief, in dem er sich noch recht vage zu seinen Plänen äußert. Er schreibe an seiner Doktorarbeit, das gibt er schon preis, und er möchte gern die unveröffentlichten Manuskripte einsehen. Über diesen Wunsch würde er gern mit ihr sprechen. Er vergisst nicht hinzuzufügen, eine Anfrage des Philosophischen Instituts der Universität Leuven mitgebracht zu haben. Van Breda stellt sich als Franziskaner vor, als Belgier und – was das Niveau seiner philosophischen Kenntnisse angehe – als »fortgeschrittener Student« der Universität Leuven.
Er sei mehr als willkommen, teilt ihm Malvine postwendend mit. Am Montag, dem 29. August, wird er im Hause Husserl erwartet.
Angst oder Zögerlichkeit, solche Gefühle scheinen Pater Van Breda fremd zu sein. Er ist ein Macher – ein Pater, ja, aber ein unternehmungslustiger Pater. Leo (den Namen Herman hat er bei seiner Priesterweihe angenommen) hat im Elternhaus auch nie etwas anderes erlebt. Sein Vater Frans Van Breda war ein Bauernsohn aus Merksplas in der Region Kempen, der sich einen anderen Lebensweg erträumte. Daher begann er bei der im Aufschwung begriffenen Kaufhauskette Delhaize als Verkäufer zu arbeiten, eroberte im Nachbarort Beerse die Verkäuferin Maria Nuyens und zog mit ihr nach Lier, wo sie gemeinsam eine blühende Kaffeerösterei aufbauten.
Als Pater Van Breda bei Malvine Husserl, geborene Steinschneider, klingelt, ist er weder ängstlich noch nervös. Er lässt sich durch wenig oder gar nichts aus der Fassung bringen. Die Witwe ist nicht allein. Zum Besuch des belgischen Paters hat sie auch Husserls letzten Assistenten Eugen Fink eingeladen. Die Begrüßung ist freundlich und herzlich. Fink zeigt ihm die Mappen, in denen der Nachlass des Philosophen nach einem System aufbewahrt wird, das Fink noch in Rücksprache mit seinem Lehrer entwickelt hat. Pater Van Breda ist verblüfft. Offenbar handelt es sich um etwa 40000 handschriftliche Seiten. Außerdem liegen noch weitere 10000 Seiten vor, handschriftliche oder maschinenschriftliche Transkripte, die von Husserls Assistenten erstellt worden waren: von Edith Stein, Ludwig Landgrebe und eben Eugen Fink. Alle drei beherrschen die Gabelsberger-Kurzschrift, eine zu dieser Zeit bereits recht seltene Notierweise, die Husserl verwendet hatte. Sie war vor allem im neunzehnten Jahrhundert in Süddeutschland und Österreich sehr beliebt. Die Assistenten setzten die Notizen in vollständig ausgearbeitete deutsche Texte um, die Husserl dann wiederum in vielen Fällen mit Kommentaren und Änderungen versah. Zur Verblüffung seiner Assistenten, insbesondere von Edith Stein, ignorierte er deren Transkriptionen oft gänzlich, um noch einmal völlig neu anzusetzen. Dass sie oft tagelang an den Transkriptionen gearbeitet hatten, störte ihn wenig. Und genau auf diese Transkripte, sagt ihm Fink, habe sich Husserl in seinen späteren Texten bezogen und in seinen letzten Lebensjahren einigen seiner Studenten auch die Einsicht in diese Schriften erlaubt.
Fink und Malvine Husserl zeigen Pater Van Breda auch die Bibliothek des Philosophen, deren 2700 Bücher oft mit handschriftlichen Widmungen der Verfasser und zusätzlich mit Randnotizen Husserls versehen waren. Auch zweitausend Sonderdrucke von Artikeln, ebenfalls oft mit Husserls Kommentaren, sind Bestandteil der Bibliothek. Fink meint, durch die Lektüre dieser zahlreichen Notizen könne man Antworten auf die Fragen nach den literarischen und philosophischen Inspirationsquellen des Begründers der Phänomenologie finden. Van Breda macht sich durchgängig Notizen.
Auf jeden Fall ist nicht zu übersehen, dass die Witwe des Philosophen völlig verzweifelt ist. Die fast achtzigjährige Malvine hat sich die Rettung des philosophischen Vermächtnisses ihres Mannes zur letzten großen Lebensaufgabe gemacht. In seinem Testament hatte Husserl die Verantwortung für sein geistiges Erbe seinem Sohn Gerhart Husserl anvertraut. Dieser übertrug, vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1935 – nachdem man ihn als Jude seiner Stelle als Professor der Juristischen Fakultät der Universität Kiel enthoben hatte –, den größten Teil der Rechte am Werk seines Vaters vorübergehend seiner Mutter. Und Malvine beschloss, solange die Manuskripte, die Briefe und die Bibliothek ihres verstorbenen Ehemanns nicht in Sicherheit gebracht seien, in Freiburg zu bleiben. Die Situation in Nazideutschland wird für Juden jedoch zunehmend gefährlicher und heikler.
Einen ersten Versuch, den Nachlass an einem anderen Ort unterzubringen, hatte Husserl 1934 noch selbst initiiert. Man verweigerte ihm zwar das Visum für die Teilnahme an dem großen Philosophenkongress in Prag, aber sein Werk und das Schicksal seines Nachlasses waren ein wichtiges Gesprächsthema der dort versammelten Kollegen. Ein Brief Husserls wurde verlesen, und verschiedene Teilnehmer zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie man das in Papierform vorliegende Archiv in Sicherheit bringen könnte. Drei Personen trieben die Sache voran – der Philosoph und Psychologe Emil Utitz, der sogar den Ehrgeiz hegte, aus Prag die Hauptstadt der Phänomenologie zu machen; Husserls ehemaliger Assistent Ludwig Landgrebe, der damals in Prag lehrte; und der junge Philosoph Jan Patočka, der bei Husserl in Freiburg Vorlesungen gehört hatte. Im Cercle Philosophique de Prague, dem Prager Philosophiekreis, diskutierten sie die Möglichkeiten, dort ein Husserl-Archiv einzurichten.
Husserl, der fest davon überzeugt war, dass man sein Werk erst nach seinem Tod in vollem Umfang würdigen werde, zeigte sich diesem Vorschlag gegenüber sehr aufgeschlossen. Vermutlich vor allem, weil er aus Prag kam. Husserl wurde 1859 in Prostějov/Prossnitz in Mähren (heute Tschechien) geboren, hatte allerdings kaum eine persönliche Bindung zu seiner Heimatregion. Mähren war in der Tschechoslowakei aufgegangen, dem neuen Land, das nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie 1918 entstanden war. Seine Begeisterung für das Prager Projekt hing auch mit dem Mann zusammen, der damals seit sechzehn Jahren Präsident der Tschechoslowakei war – seinem alten Jugendfreund Tomáš Masaryk. Husserl und der acht Jahre ältere Masaryk waren im Winter 1876 praktisch zur selben Zeit in Leipzig eingetroffen, Husserl als Student, Masaryk als Hochschullehrer. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft, und auch später in Wien verbrachten sie viel Zeit miteinander. Masaryk war es auch, der Husserl als Erster auf Franz Brentanos Vorlesungen in Wien aufmerksam machte. Das sei der Mann, dessen Werk Husserl kennenlernen müsse. Als Husserl dann Jahre später einmal bei Brentano ein Seminar besuchte, war er überwältigt. Brentano blieb für ihn immer sein wichtigster Lehrmeister. Für ihn war er der Mann, der ihn gelehrt hatte, dass man Philosophie als exakte Wissenschaft betreiben kann, und ihn damit auf den richtigen, seinen eigenen philosophischen Weg gebracht hatte. Das hatte Husserl Masaryk nie vergessen. Die beiden hielten in den folgenden Jahrzehnten sporadisch Kontakt, mit einer gelegentlichen Korrespondenz und mindestens zwei weiteren Begegnungen. Als Masaryk viele Jahre später der erste Präsident der Tschechoslowakei wurde, setzte er sich sehr für die Gründung eines Brentano-Archivs in Prag ein und Husserl hoffte, er könne nun das Gleiche für seinen Nachlass tun. Jedenfalls schien das Projekt unter einem guten Stern zu stehen. Über die Rockefeller-Stiftung bekam der Prager Philosophiekreis genügend Geld, um Landgrebe, der von 1923 bis 1930 Husserls persönlicher Assistent gewesen war, damit zu beauftragen, ein Inventar aller Dokumente zu erstellen und anschließend mit der Transkription zu starten. Einige wenige Manuskripte wurden nach Prag geschickt, und Landgrebe machte sich an die Arbeit. Gute Nachrichten, meinte Malvine im März 1935: Das »(…) enthebt Edmund der großen Sorge um seinen Nachlaß, denn hier war auf keinerlei Förderung mehr zu rechnen.«
Am 15. September 1935 wurden die Nürnberger Rassengesetze für das gesamte Deutsche Reich erlassen. Die Diskriminierung von Deutschen jüdischer Abstammung wurde mit den neuen Gesetzen offiziell. Die Husserls begriffen sofort, dass es von nun an nicht mehr allein um den philosophischen Nachlass ging, sondern auch um ihr eigenes Leben. »Jetzt ist es soweit, daß ich es wirklich nicht mehr aushalten kann und in Prag alles Erdenkliches versuchen und sehen werde, was da zu machen ist. Mss., Bibliothek, Honorare – das können sie haben, wenn sie uns Alte übernehmen«, schrieb Edmund Husserl. Malvine und er wollten das Land verlassen, mit seinen Manuskripten und seiner Bibliothek. Am liebsten nach Prag.
Nachdem Husserl im November 1935 nachträglich ein Reisevisum für Prag genehmigt worden war, hielt er einen Vortrag vor dem dortigen Philosophiekreis. Mit dessen Mitgliedern überlegte er auch Möglichkeiten für ein Asyl in der Tschechoslowakei und eruierte, ob sich eine angemessene Stelle an einer akademischen Einrichtung finden ließe. Wenn er Deutschland gegen Prag eintauschte, wollte er nicht von Almosen abhängig sein. Aus dem anschließenden Briefwechsel ergab sich immer deutlicher, dass eine solche Berufung ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Husserl musste sich eingestehen, dass sein Prager Traum gescheitert war. Dazu kam die traurige Nachricht, dass er seinen alten Freund Masaryk nicht mehr würde besuchen können; der Präsident war schwer krank.
Als Van Breda drei Jahre später, vier Monate nach dem Tod des Philosophen, mit Fink und Malvine im Wohnzimmer der Familie Husserl sitzt, ist noch immer keine Lösung in Sicht. Nicht für die Erhaltung und Konservierung der Manuskripte, nicht für die Transkription der Texte, nicht für das Editionsprojekt und auch nicht für die Forschungsarbeit. Malvine bleiben nicht mehr viele Optionen. Sie erinnert sich, dass Van Breda in seinem Brief einen »Leuvener Plan« erwähnt hatte, und fragt, ob er ihr mehr dazu sagen könne.
Van Breda hat diesen Vorschlag noch nicht zur Sprache bringen können. Er beschließt, die Karten auf den Tisch zu legen, und berichtet, dass er in Leuven den Vorschlag vorgetragen hatte, das Problem der Veröffentlichung einiger Husserl-Texte unter den Fittichen des Philosophischen Instituts zu lösen. Nachdem er aber inzwischen gesehen habe, wie umfangreich die Sammlung von Manuskripten, Transkriptionen und Büchern ist, begreife er, dass der Vorschlag aus Leuven, unveröffentlichte Texte zu publizieren, zum einen nicht weitreichend genug sei und zum anderen kaum zu realisieren, wenn nicht zuvor die Manuskripte gerettet würden. Es müsse eine andere Lösung gefunden werden.
Die Bedeutung von Husserls geistigem Nachlass sei derart, sagt er, »dass man sich, wenn irgend möglich, entscheiden müsste, ihn voll und ganz der Forschung so zur Verfügung zu stellen. Selbst wenn die gegenwärtigen Umstände zunächst nur die Veröffentlichung von Teilen zuließen, so müsse dies mit Rücksicht darauf geschehen, dass die philosophische Welt späterhin ohne jeden Zweifel wünschen würde, diese Teile im Zusammenhang des Gesamtwerkes studieren zu können.«
Dann macht Van Breda, einer spontanen Eingebung folgend, den Vorschlag, der sein restliches Leben bestimmen wird. Und zugleich die Leben der beiden anderen Gesprächsteilnehmer, Malvine Husserl und Eugen Fink. Die einzige Möglichkeit, den gesamten Nachlass der Welt zugänglich zu machen, sei die Schaffung eines echten Husserl-Archivs, meint der Pater. »In diesem Archiv, das als dem Denken und Werk Husserls gewidmete Studien- und Forschungsstätte zu errichten wäre, gälte es zunächst, die sämtlichen Stücke, die ich an jenem Nachmittag gesehen hatte, zu vereinigen und diese Sammlung dann um jederlei weitere Dokumente zu vervollständigen, die geeignet waren, auf Husserls Werk und die Geschichte der phänomenologischen Forschungsrichtung, die daran anschloss, ein Licht zu werfen.«
Malvine hat allen Grund zum Misstrauen. Ein Student aus Leuven, ein gut aussehender 27-jähriger junger Mann, dazu noch ein Franziskaner in brauner Mönchskutte, verspricht ihr die Lösung all ihrer Probleme. Ein Versprechen, das er, wie ihr wahrscheinlich nur allzu bewusst ist, nur schwer wird wahr machen können. Die Zeiten sind dafür nicht geeignet, denn der Faschismus und der Nationalsozialismus bekommen immer größere Teile von Europa in ihre Gewalt. Trotzdem ist Malvine glücklich, begeistert, voller Enthusiasmus – und glaubt sofort an ihn. Der junge Pater aus Leuven ist der rechte Mann zur rechten Zeit am rechten Ort. Herman Leo Van Breda, ein kleines Weltwunder, hat in ihr Leben Einzug gehalten. In den folgenden Tagen und Wochen kann sie nicht genug von dem Mann erzählen, von dem sie sich von nun an alles Heil der Welt erwartet, von einem Wunder im Mönchsgewand.