Sterben war gestern

Inhaltsverzeichnis

 

Die dargestellten Personen und Ereignisse dieses Romans sind außer den zeitgeschichtlichen Bezügen Fiktion. Darum erhebt der Roman keinen Anspruch, die geschilderten Vorgänge seien wahr oder haben sich so zugetragen.

 

Wichtig zu wissen ist, erstens, dass ich gerade Yuval Hararis Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« gelesen hatte. Dort beschreibt der Autor unsere nahe Zukunft, in der wir – jedenfalls die Wohlhabenden unter uns – 120 Jahre alt werden und gesund bleiben oder sogar erst werden. Zweitens kam ich gerade aus dem Fitnessstudio. Das wäre keine besondere Nachricht, eher fragt man sich, wie ich da hineinkam, ich, ein Mann in den besten Jahren, der noch alle Tassen im Schrank hatte und am Samstag den SPIEGEL las. Was sollte ein intelligenter Mensch wie ich in solch einem Folterkeller für Gehirnlose?

Meine Frau, eine furchtlose, couragierte Person, die schon in Straßenschlachten Nazis verprügelt hatte, jedenfalls in ihrer Jugend, kannte nur eine Angst, nämlich dass ich vor ihr sterben könnte. Schon kurz nachdem wir ein Paar geworden waren, musste ich ihr hoch und heilig, beim Augenlicht meiner Kinder, mit der Hand auf dem ersten Band von »Das Kapital« schwören, auf keinen Fall vor ihr das Zeitliche zu segnen. Sie hätte das nicht ertragen. Umgekehrt löste auch bei mir die Vorstellung, sie könne sterben, sozusagen vor meinen Augen, und mich allein zurücklassen auf diesem dann leblosen Planeten, Tränenkrämpfe aus. Ich musste dann binnen Sekundenbruchteilen weinen.

Um lange zu leben, musste man sich fit halten, vor allem erst einmal fit werden, dachte meine Frau, und kam auf die Idee, mich bei einem Fitnessstudio anzumelden. Ich ging da natürlich nicht hin, denn wie die meisten von uns hatte

Der erste Tag war nicht nur so scheußlich wie meine Jugenderfahrung in Köln, sondern sogar noch grauenhafter. Jetzt war ich nicht mehr mit halb nackten Unterschichtlern,

Genau vier Wochen hielt ich durch. Das hatte ich mir vorgenommen und abverlangt. In der Zeit hatte ich keinen Satz schreiben, keinen längeren, komplizierteren Satz sagen und keinen neuen Gedanken denken können. Das Gehirn bekam kein Blut mehr, da es in die Muskeln floss. Ich hatte daher auch nicht mehr die Kraft und Eloquenz, meiner Frau mein Aufgeben erklären zu können. Ich ging deswegen erst einmal zu unserer Hausärztin, die mir mit müdem Blick irgendein Placebo-Medikament aufschrieb. Schwach dosierte Ibuprofen, also genau die

Das war der Durchbruch. Hauptsache schmerzfrei! Ich musste meine Frau nicht enttäuschen. Ich ging weiter brav in das Studio, auch wenn ich zunächst keinerlei Fortschritte machte, sondern eher schwächer wurde und an Gewicht zunahm. Manchmal ein Kilo pro Tag, es war beängstigend. Ich war dennoch guter Dinge, denn es hätte meiner schönen Frau das edle Herz gebrochen, hätte ich aufgegeben. Sie selbst marschierte übrigens mit gutem Beispiel voran und ging jeden Morgen vor der Arbeit schwimmen. Sicher wollen Sie wissen, wie meine Frau mit Vornamen heißt, aber ich werde noch ein paar Seiten damit warten. Es geht ja auch um etwas anderes in dieser Story. Jedenfalls: Es war genau diese Phase der ersten Schmerzfreiheit und katastrophalen Gewichtszunahme, in der diese Geschichte beginnt. Die, die Sie gerade lesen, die mit Lana de Roy.

 

Trotz der Hitze trug ich einen weit geschnittenen, nachtblauen Anzug, und zwar einzig deswegen, weil ich damit noch am ehesten die Gewichtszunahme verdecken konnte.

Ich parkte die Limousine vor der Hausnummer 52 und rief die Bekannte aus dem kulturellen Establishment an. Sie kam kurz darauf auf das Auto zugelaufen. Eine elegante, schlanke, sportliche, im besten Sinne gut aussehende Frau, die mir dennoch und unerklärlicherweise nicht gefiel. Um ehrlich zu sein, sah ich sie zum ersten Mal. Sie war

Während wir zum Wannsee fuhren, versuchte ich, und zwar unbewusst, sie zum Lachen zu bringen. Als mir das nicht gelang, versuchte ich, erneut unbewusst, wenigstens mich selbst zum Lachen zu bringen. Das gelang sogar. Ich tat so, als würde der Motor ausgehen. Ich erzählte, erst im hohen Alter den Führerschein gemacht zu haben. Ich erklärte weitschweifig, wie ich das Bio-Gemisch-Benzin für den Motor im eigenen Garten selbst herstellte. Solche Sachen. Ich wurde immer redseliger.

Die Frau war in den Medien tätig und als solche eine grundsätzlich zuhörende Person. Nun bin ich selbst in den Medien tätig und höre auch lieber die Stimme eines anderen als meine eigene. So bat ich sie schließlich explizit, etwas von sich zu erzählen.

Sie sprach von den schwierigen beruflichen Verhältnissen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das kannte ich nicht nur schon von Hilka Sinning, sondern auch von gefühlt 80 weiteren Bekannten und BekanntInnen aus ARD und ZDF. Man könne nicht machen, was man wirklich wolle, die Kreativität bliebe auf der Strecke, und so weiter. Das Lied wurde wahrscheinlich von Beginn der Menschheitsgeschichte an gesungen. Schon die alten Ägypter haben es sinngemäß so gegospelt, nehme ich an. Oh Lord, die

Ich dachte, es wäre sinnvoller, über Yuval Harari zu reden. Ob sie etwas von dem gelesen habe?

»Ja, hm, irgendwie schon.«

»Ein Schwätzer, eigentlich, nicht wahr?«

»Weiß nicht, hm.«

»Aber trotzdem anregend!«

»Hm …«

Ich erzählte von Hararis These, wir würden 120 Jahre alt werden. Die Bekannte sagte nichts. Machte ich Witze? Wenn ja, fand sie’s nicht lustig. Ich holte etwas weiter aus.

»Weißt du, wenn die Leute merken, dass sie nicht mehr nach zehn Jahren Rente sterben, sondern quasi ewig weiterleben, ändern sich doch die bisherigen Lebensstrategien. Also bei mir ist es so.«

Sie sagte nichts. Es schien sie nicht zu interessieren, wahrscheinlich hielt sie mein Reden für den peinlichen Versuch, sie mit irgendeiner »witzigen« Meinung zu beeindrucken. Mit etwas, mit dem ich schon vorher auf zahllosen Partys Punkte gesammelt hatte, bei dummen jungen Studenten zum Beispiel. Daher redete ich nun für mich selbst weiter.

»Also, meine Lebensstrategie war immer ganz klar. Mein Leben sollte wie eine gute Geschichte ablaufen, das dachte ich schon als Kind, und das Wichtigste einer guten Geschichte ist natürlich das Happy End. Das heißt, dass dem Ende eine zentrale Bedeutung zukommt! Wie geht es aus, das war für mich die alles entscheidende Frage, auch und vor allem, wenn ich mir andere Lebensgeschichten ansah.«

»Warum enden andere Leben fast immer so entsetzlich? Da stimmt doch etwas mit der Vorgeschichte nicht, mit der gesamten Story, wenn man so will. Also bei mir muss das anders ausgehen.«

Da sie nichts sagte, dachte ich weiter nach. Mir fiel ein, dass Freunde von mir bereits ihre Lebensstrategie geändert hatten. Das waren alles Künstler. Sie verhielten sich neuerdings so, als wüssten sie, dass die alten Abläufe von Jugend, Potenzial, Entfaltung und Selbstzerstörung, mündend im Tod, nicht mehr stimmten. Mein bester Freund Thomas Draschan strotzte vor Kraft. Zweimal im Jahr wechselte er die Freundinnen aus, und er hatte immer drei auf einmal. Jetzt lebte er monogam – mit einer gleichaltrigen Frau mit Festanstellung.

Festanstellung! Das Wort hatte er bisher nicht einmal im passiven Wortschatz gehabt. Das Kalkül war klar. Mit der »wilden Kunst« war es in fünf, spätestens zehn Jahren vorbei. Und mit den Einkünften. Und so lange ging es auch nur weiter, wenn er den destruktiven Lebensstil beibehielt. Und danach? Nach dem Finale von Kraft, Kunst, Sex, Anmaßung und Ruhm? Folgte keineswegs der unbewusst einterminierte Tod! Nein, es ging vierzig Jahre weiter. Dann lieber gleich die verbeamtete Lebensgefährtin mit fetter Endlos-Rente.

Aber dabei konnte es nicht bleiben. Man musste sich auch körperlich, seelisch, intellektuell und erotisch völlig neu justieren. Welchen Sinn machte es jetzt noch, mit einer Bekannten aus dem kulturellen Establishment im Auto zu sitzen und über die Einschränkungen der Kreativität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu lamentieren? Fernsehen war etwas für Menschen, die sich aufs Sterben eingerichtet hatten, auf

Oder auch nicht. Ich dachte jetzt an meine Agentin Rebecca Winter. Eigentlich finde ich Agenten so ärgerlich wie Spielerberater. Ich mochte den Fußball nur so lange, wie er das religiöse Fundament unserer Nachkriegsgesellschaft gewesen war, unser einziges verbliebenes Ritual, und das war zeitgleich mit dem Aufkommen der Spielerberater zerfallen. Auch die Literatur war besser gewesen ohne Agenten. Aber egal. Irgendwann habe sogar ich einen Agenten genommen, genauer gesagt eine Agentin, und die hat aus mir einen reichen Mann gemacht. Nun ist diese Agentin, also Rebecca Winter, auch noch die lustigste Person, die ich kenne. Man könnte sie sich gut in Tel Aviv vorstellen. Aber sie lebt in Wien und hat einen 25-jährigen Freund, der besser aussieht als Alain Delon in den early sixties und als angesagter Künstler an der Einkommensgrenze von einer Million kratzt. Übrigens fährt er für sein Leben gern Autos, nämlich englische Sportwagen aus … den early sixties. So einen super Typen kann es in der Wirklichkeit eigentlich gar nicht geben, und ich gäbe viel darum, dass mir ein paar Nachteile von ihm einfielen, damit der Leser nicht glaubt, jetzt wird’s kitschig, jetzt wird’s platt, jetzt bindet uns der Autor einen Bären auf, oder wie es auf Kölsch heißt: »Nu verzällt er ein’ vom Pferd.« Ich muss es versuchen: Vielleicht ist Antony,

Aber warum dachte ich jetzt an meine Agentin? Weil die Frau im Auto die Kommunikation verweigerte und mir einfiel, dass die Agentin sehr wohl Kinder hatte, was aber niemand glauben mochte. Die Kinder waren so alt wie ihr Freund, aber sie sah gar nicht so aus, als sei sie älter als er. Sie hatte lange vor mir und Yuval Harari erkannt, was passieren würde. Sie hielt sich konsequent an die Jugend und mied die eigene Generation. Wenn ihr von anderen oder älteren Frauen entgegengeschleudert wurde, sie habe gut reden, ohne Kinder sei es schließlich leicht, jüngere Liebhaber zu unterhalten, konnte sie nur still lächeln. Aber interessant an meiner Agentin war auch – und selbst da war sie Yuval Harari voraus –, dass sie frühzeitig auf den Epochenwechsel hingewiesen hatte, den zwei Frauen herbeigeführt hatten, nämlich Greta Thunberg und die Frau von …

»In 19 Minuten sind wir da«, riss mich die Beifahrerin aus den Gedanken. Sie hatte die Strecke auf ihrem Tausend-Euro-Smartphone berechnet.

In der Tat. Kurz darauf bogen wir in die Uferstraße des Wannsees ein, der wie das Mittelmeer zur schönsten Ferienzeit leuchtete, nämlich azurblau, mit dem Glitzern der tief stehenden Sonne auf den Wellen, einem ins Orange changierenden Himmel am Horizont und einem tiefblauen

Die Lesungen, die das große Sommerfest dominieren, waren schon seit Stunden im Gang. Diesmal waren es aber eher Umweltaktivisten, die die Bühne gekapert hatten und lieber über die Klimakrise statt über Bücher diskutierten. Meine Begleitung fand das toll, das merkte ich, sie begann jetzt ganz ernsthaft über den Klimawandel und Donald Trump zu reden.

Ich tastete erst mal die Innenseite meines Jacketts ab, irgendwo hatte ich immer ein kleines Fläschchen Campari dabei. Null Komma null vier (oder in Ziffern: 0,04) Liter. Diese Mini-Edition meines Lieblingsgetränks hatte mich schon durch einige obskure Veranstaltungen gerettet. Ich drehte mich unauffällig um, setzte gerade die Flasche an den Mund, als eine laute, fast krächzende, auf jeden Fall weibliche Stimme mich innehalten ließ:

»Der Konsum von mitgebrachten Spirituosen ist hier verboten.«

Ich drehte mich ertappt um, wie ein Schulbursche in Erwartung einer verklemmten Lehrerin, und war umso überraschter, als ich niemand anderes als die deutschlandweit leidlich bekannte Influencerin und Schauspielerin Lana de Roy erblickte. Die sah nun leider wirklich gut aus, also dermaßen gut, dass es schon irritierend war, sozusagen zusätzlich.

Sie brach in lautes Gelächter aus.

»Wie Sie gucken! Krieg ich auch ’nen Schluck?«

Verunsichert reichte ich ihr mein Fläschchen.

Sie nahm mein Geschenk gespielt beeindruckt entgegen, runzelte aber die hohe, noch jugendliche und vermutlich gedankenarme Stirn:

»Danke, nett gemeint, aber ich trinke kein Gebräu, das nur durch tote Insekten seine knallige Farbe bekommt.«

Schon wieder diese Schote mit den Silberraupen oder was das war, die man angeblich im Campari verarbeitete. Ich hörte das immer wieder, wenn über Campari geredet wurde. Beleidigt forderte ich die Flasche zurück:

»Na dann nicht. Außerdem ist das seit 2006 nur noch chemisch«.

»Na dann!«

Sie entriss mir das Fläschchen wieder und stürzte den Inhalt mit einem Mal hinunter.

Scheinheilig fragte ich nach ihrem Namen.

»Wie heißt du?«

»Lana de Roy.«

»Fast möcht ich hinzufügen, und wer bist du?«

»Google mich, dann weißte es, ich bin DIE Lana de Roy, nicht zu übersehen eigentlich. Und wer bist du?«

Ich zückte erst mal mein iPhone und tippte ihren Namen in die Instagram Suchleiste – sofort ploppte ein Profil mit Millionen von Followern auf.

»Nicht schlecht, du bist berühmt und antirassistisch – Hashtag Blackouttuesday – super Sache …«

»Findest du, ja?«

»Klar, man muss viel mehr gegen Diskriminierung tun! Mein Name ist Johannes Lohmer. Ich bin auch berühmt.«

Sie fing auch an, meinen Namen bei Google einzugeben, und das bestätigte dann zum Glück tatsächlich einen gewissen Berühmtheitsgrad meiner Person. Vor Wikipedia sind wir eben alle gleich, dachte ich, aufatmend. Sie war schon echt eine kleine Sensation, mit ihrer Figur, die ich mir nun genauer ansah, leider nicht lange. Lana rief auf einmal:

»Wie, aber mit dem Laub bist du befreundet? Das geht ja GAR NICHT

Und schon war die mysteriöse Lana de Roy wieder verschwunden! Ohne mir eine Erklärung zu gestatten. Erstaunt blickte ich ihr nach. Hatte dieses hübsche junge Influencer-Weltwunder gerade mit mir geflirtet? Ich meine, MIT MIR?

»Ist auf jeden Fall aufbaufähig …«, murmelte ich, nun nur zu mir, in Gedanken schon bei der Gegenattacke.

Das Internet war eigentlich toll. Wir kannten uns nun, nach gefühlt zehn Sekunden, wussten quasi alles Wichtige voneinander, leider auch die unguten Dinge wie die blöde Laub-Sache. Das muss ich noch erklären, später einmal.

 

Irgendwann war dann doch der letzte Tag und die letzte Stunde im teuren Fitnessstudio gekommen. Die Ibuprofen-Pillen hatten es auch nicht mehr retten können. Ich war natürlich immer seltener hingegangen, aber die Leute kontrollierten das.

»Warum haben Sie eine Pause von zehn Tagen verstreichen lassen?«, wurde ich gefragt.

Alles wurde anhand von großen Fragebögen protokolliert, die man, auf eine harte DIN-A4-Platte gespannt, während der Übungen bei sich führte, zusammen mit dem dunkelfarbigen Handtuch, auf das das Logo der Firma gedruckt war. Das Ergebnis einer jeden Übung wurde eingetragen.

Schon am Empfangsbord des Eingangs standen zwei Aufpasser, die einem die Ausweiskarte abnahmen, in den Computer steckten und die Daten abglichen. Diese Leute waren aber noch freundlich. Im Grunde die einzig sympathischen Zeitgenossen in den unmenschlichen Hallen. Einige hatte ich im Laufe der Zeit ein bisschen kennengelernt, in dem Sinne, dass ich mir die Namen merkte, die auf ihren Namensschildern auf der Brust standen. Der eine hieß Jakob Bauer und hatte ein nettes Gesicht. Insgeheim nannte ich ihn immer »der mit dem netten Gesicht«. Ich hielt mich regelrecht daran fest, dass es so einen da gab. Noch besser gefiel mir Nikolaus Hofer. Das war der mir zugeteilte persönliche Trainer. Jung, groß, schlank, locker und wendig, ein extremer Gegensatz zu den Kunden.

Das Karma hier war so unterirdisch, dass es kein Wort mehr dafür gab. Ich schlurfte mit gesenktem Kopf auf dem grauen Linoleumboden den Umkleidekabinen entgegen. Eine totale Kasernenanmutung war das, in den Farben Wehrmachtsgrau und Weiß, und alle Gegenstände bestanden aus Blech: die Spinde, die Verkleidungen der Duschen, die schmalen Sitzbänke, die Gitter vor den Neonröhren. Elendige Erinnerungen an den Turnunterricht in der Schule kamen hoch.

Hier, wo sich die Leute umzogen und noch nackter,

Überall waren Spiegel angebracht, um die zahlenden Opfer an ihren Ist-Zustand zu erinnern. Und Bahnhofsuhren. Sie waren der rettende Ruheplatz für die in diesem Elend und dieser Hässlichkeit herumirrenden Augen. Fast alle starrten immerzu auf die nächste Bahnhofsuhr. Damit maß man ja auch die Zeit der jeweiligen Übung. Wanderte das Auge zur Decke, blickte man auf eine Unzahl von Belüftungs- und Heizungsrohren, wie im Heizungskeller eines Kaufhauses. In Berlin war das Fitnessstudio auch wirklich in einer lichtlosen Kelleretage untergebracht. Das Unternehmen hatte Filialen in allen Großstädten der Welt, alle sahen gleich aus, ich hatte mehrere aufgesucht und ausprobiert, zwei in Berlin und eine in Wien. Es wurde schnell klar, dass man in keiner dieser Hallen Freundschaften schloss. Niemand redete miteinander. Der einzige verbale Kontakt unter den dort Verkehrenden war ein schüchternes, eigentlich rührendes, in meinen Ohren aber fast verzweifelt klingendes »Auf Wiedersehen«, wenn einer es hinter sich hatte, sich Gott sei Dank wieder vollständig angekleidet hatte und mit seiner uncoolen Hängebauch-Sporttasche den Umkleidebereich Richtung Ausgang verließ.

Ich hatte es noch nicht hinter mir, an diesem Tag. Meine körperliche Verfassung war seit Wochen schlechter geworden. Es rührte von diesen Übungen im Fitnessstudio her, das

Meine Gesundheitsvorsorge hatte bis dahin ein Leben lang aus Spaziergängen bestanden. Ich bin Hamburger und gehe daher gern spazieren, eben wie alle Hamburger. Früher bin ich um die nahe gelegene Alster gegangen und nun, da mein Lebensmittelpunkt Wien geworden war, um den ebenso nahe gelegenen Prater-Park, immer abends, zur blauen Stunde, mehrmals in der Woche, gern mit meiner schönen Frau. Doch nach dreieinhalb Wochen im Fitnessstudio zog ich mir einen Fersensporn zu. Und der ging nicht weg, sondern wurde schlimmer. Jeder Schritt tat höllisch weh. Es war vorbei mit dem schönen Bummeln am Abend, nach der Arbeit, manchmal Hand in Hand. Die Liebe begann darunter zu leiden.

Zu meinem Erstaunen bestätigte mein persönlicher Trainer meine Befürchtung: ja, es könne daran liegen, dass ich falsch trainiert hätte. Es war sogar wahrscheinlich. Die Maschinen hätten die Muskelbelastungen der Ferse durcheinandergebracht. Genau deswegen müsse ich jetzt eine andere, weitere Spezialmaschine benutzen, die das wieder ins

Ich schlich durch den Hauptraum. Mehrere Tausend Euro hatte meine Frau in ihrer weltfremden Güte dem Unternehmen im Voraus überwiesen. Das Geld war für immer verloren, wenn nicht doch noch eine Wende eintrat. Und selbst wenn sie nicht eintrat, musste ich mindestens sechs Wochen durchhalten, ehe ich kapitulieren durfte. Mit dem Geld hätte man zweimal in die USA reisen können! Das war unser Traum gewesen.

Wie die anderen hatte ich mir in diesen Räumen eine Art Tunnelblick angewöhnt, aber dabei traten die Geräusche verstärkt in den Vordergrund. Es klang wie der hintere Raum einer Restaurant- oder Hotelküche. Irgendwie schien pausenlos irgendein Zeug hin- und hergeschoben, Dinge verrückt und weggeschleppt zu werden, klappernd und polternd, alles Geräusche von Gegenständen, nicht von Menschen.

Nirgendwo ein Lachen, eine befreite Stimmung infolge eines Austobens, das es ja nicht gab. Überall nur graue Bärte, weiße Haare, unsichere Gesichter, kindlich verstörte Mienen: es war, als hätte ein furchtbarer Gott die unglücklichen Pennäler von einst direkt aus dem Turnunterricht herausgeholt und mit einem Schlag sechzig Jahre älter gemacht. Da waren sie nun wieder, unglücklich wie damals, aber nun auch noch verflucht alt.

»Hallo Herr Lohmer … ich bin schon zur Stelle. Wie geht es Ihnen?«

Der Trainer, mit dem ich verabredet war, hantierte bereits mit der sogenannten Rückenmaschine. Es war der Mann mit

»Na ja, Herr Bauer, danke schön … ich will Sie ja nicht in Panik versetzen, aber …«

»Passt schon …«

»Ich habe Ihnen ja von meinem, äh, Fersensporn erzählt. Ist schlimmer geworden.«

»Durch die Rückenmaschine?«

»Nein, vorher schon.«

»Dann ist es nicht die Rückenmaschine. Wir geben heute acht Kilo mehr ein.«

»Lieber nicht.«

»Wir versuchen es einfach. Sie sagen dann, ob es passt, Herr Lohmer.«

Er legte zwanzig Schläuche um meinen Körper, zurrte Gurte um meine Beine fest, schraubte Gewichte auf meinen Oberkörper, ließ ihn strecken. Es fühlte sich nicht unbedingt schlecht an, mit einer Ausnahme: die Knie begannen höllisch zu schmerzen. Insgesamt geriet mein Körper, besser gesagt mein Bewusstsein, in eine kleine Alarmstimmung.

Nun musste ich mich nach vorn beugen und 188 Kilo in dieselbe Richtung stemmen oder schieben. Ich versuchte es, kam aber nicht voran. Der Trainer forderte mich auf, endlich zu beginnen.

»Das geht nicht«, sagte ich.

»Doch. Wir waren bei 180 zuletzt. Die acht Kilo mehr schaffen Sie.«

Ich ließ mich zurückfallen.

»Geht nicht.«

»Macht nichts. Wir geben vier Kilo runter.«

Herr Bauer bekam schlechte Laune, glaube ich. Oder soll ich sagen, er wurde einfach sachlich, ließ die Freundlichkeit mal kurz weg? Er tat seinen Job, und er wusste über die Maschine nun wirklich gut Bescheid.

»Nein, das ist zu viel«, sagte ich.

»Wir können 180 machen, aber davon haben Sie nichts. Dann hätten Sie im Prinzip gar nicht kommen brauchen. 180 ist keine Steigerung, das bringt für den Muskelaufbau null. Wir versuchen es noch mal, Herr Lohmer.«

Wieder drückte ich meinen Oberkörper sowie die gesamte monströse Apparatur plus 184 Kilo nach vorn. Es fühlte sich total gefährlich an.

Nach nunmehr zwanzig Zentimetern hielt ich inne, fiel langsam unter Schmerzen wieder zurück und öffnete die Augen, die ich während des Stemmens geschlossen gehalten hatte. Mein Gesichtsausdruck hatte dabei

»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragte Jakob Bauer fröhlich. Er hatte seine gute Laune wiederbekommen.

»Es fühlt sich echt absolut gefährlich an«, sagte ich leise.

»Okee, machen wir 180«, sagte er, schon wieder leicht beleidigt.

»Nein!«

»Was?«

»Herr Bauer, ich will Sie nicht … machen Sie sich keine Sorgen, aber machen wir lieber das nächste Mal weiter. Es passt heute nicht.«

»Was passt nicht?«

»Die Maschine … passt heute nicht … irgendwie.«

»Das ist Unsinn, Herr Lohmer. Die Maschine weiß genau, was sie tut, glauben Sie mir. Die hat alle Daten von Ihnen. Die kennt Ihre Probleme besser als Sie selbst!«

Er lachte gutmütig.

»Lieber nächstes Mal. Mir ist schlecht.«

Er starrte mich an. So etwas schien er noch nicht erlebt zu haben. Was sollte er tun? Hilfesuchend sah er zum Desk, zu den Aufpassern.

»Ja, was machen wir denn da …«, sagte er gedehnt, mehr zu sich selbst.

»Binden Sie mich los«, sagte ich.

Er zögerte. Dann fing er sich endlich wieder.

»Klar! Herr Lohmer, aber ich sage Ihnen, wir machen einen Fehler. Aber ich habe schon eine Idee, wie wir

»Ja, das ist lieb von Ihnen, eine gute Idee.«

»Wir waren bei der sechsten Sitzung eigentlich, heute, und Sie hätten noch vier gehabt. Jetzt trag ich das neu ein, so haben Sie noch fünf!«

»Super, Herr Bauer, ist ja voll nett. Danke!«

»Ja, sehen Sie, so machen wir das. Und gehen Sie nachher sofort zum Desk und machen sich die nächsten zwei Termine fest aus, oder am besten gleich alle fünf!«

»Hm, ja, wäre zu machen.«

»Machen Sie es auf jeden Fall, Herr Lohmer!«

Er lockerte die ganzen Seile, Gewichte und Schrauben, wobei er noch einmal beteuerte, wie wichtig die nächsten Verabredungen seien. Zweimal die Woche müsste ich kommen, sonst würde es nicht funktionieren. Dann entließ er mich zu den normalen Übungen, also zu denen, die man ohne Trainer machen konnte und musste.

Ich merkte beim Aufstehen aber, nicht sofort, doch sobald ich gänzlich aus seinem Blickfeld gehumpelt war, dass meine Rückenschmerzen zugenommen, ja sich vervielfacht hatten. Zudem war mein Nacken vollkommen steif geworden.

»Hoffentlich ist das morgen wieder weg«, dachte ich, wollte aber ansonsten nicht darüber nachdenken, nicht in diesem Moment … erst mal raus aus dem Laden!

Das ging aber nicht, Herr Bauer und die Aufseher dachten ja, ich würde jetzt mit dem normalen Training beginnen. Also schlich ich in den hinteren Saal und beobachtete die Leidensgenossen.

Keiner machte sich noch schön – wozu auch –, kämmte sich die Haare – für wen denn – oder redete voller Vorfreude auf den Abend mit anderen. Umkleidekabinenwitze über Frauen, wie Donald Trump sie einmal publik machte, wären hier das Ungewöhnlichste und Unheimlichste der Welt gewesen. Mit todernsten Gesichtern, als hätten sie gerade eine Krebs-Diagnose gekriegt, traten diese eher bürgerlichen Männer ins Freie, und die wenigen Frauen noch nicht einmal damit. Sie, diese, äh, nennen wir sie einmal Karrierefrauen, sahen, um die Schilderung hier einmal gnädig abzukürzen, schlichtweg nur zum Fürchten aus.

Ich sah eine solche Frau auf einer der Beinspreizmaschinen. Gut fünfundzwanzig Mal hatte ich selbst auf so einer »trainiert«. Wozu eigentlich? Wofür war dieses Training gut? Niemals im Alltag musste man diese beinharte Bewegung ausführen. Höchstens in einem alten James-Bond-Film konnte man mit stählernen Spreizmuskeln einen asiatischen Agenten erwürgen.

Den Nacken durchzog ein brennend heißer Blitzstrahl, sobald ich den Kopf drehte. Der Rücken tat fortlaufend weh, auch wenn ich innehielt und mich überhaupt nicht bewegte. Wieder hoffte ich, es wäre nur vorübergehend. Ich war

Wie kam ich an den Aufpassern am Desk vorbei, ohne dass ich weitere feste Verabredungen mit der Rückenmaschine aufgebrummt bekam? Langsam ging ich zu meinem Spind, holte meine Sachen hervor und zog mich an.

Es ging dann aber doch ganz leicht. Ich wartete ab, bis beide Aufpasser etwas zu tun hatten – sie halfen älteren Frauen beim Einstellen der Galgen, Guillotinen, Streckbänke und elektrischen Stühle –, und huschte, genauso wie vorher die anderen Teilnehmer dieser traurigen Veranstaltung, wortlos und angstgetrieben nach draußen.

Ich habe mich dann nie wieder dort blicken lassen.

 

Inzwischen, so traurig meine Entwicklung auch scheinen mochte, war die Kommunikation mit Lana de Roy in ganz erstaunlicher Weise eskaliert. Ich hätte Mühe, jetzt, in einem Abstand mehrerer Wochen, den genauen Beginn, die exakte Ursache dieser bemerkenswerten »Freundschaft« (sagte man noch so?) zu erinnern oder zu benennen. Ich weiß nur, dass es mit dem Niedergang von Facebook zu tun hatte. Dieses Ur-Netzwerk, Mutter aller sozialen Foren, wurde Ende der

Ich solle einfach ein Foto hochladen, riet er mir, nahm mein Smartphone – es hatte tausend Euro gekostet und besaß einen Speicherplatz von 512 Gigabyte, konnte also eine Million solcher Fotos speichern – und führte die Aktion aus. Es war eine Campariflasche, die ich bei dem Fest des Literarischen Colloquiums Berlin fotografiert hatte. Im Hintergrund war Lana de Roy zu sehen. Als der Freund das

»Oh, du hast grad a Nachricht kriegt«, sagte der Freund, ein Österreicher. Er zeigte sie mir. Ich sah einen kleinen leuchtenden Punkt rechts oben auf dem Bildschirm. Meine erste Insta-Nachricht! Ich las:

»Ich fühle mich erkannt.«

Oha, das war wohl … witzig gemeint.

»Hast du sie auf dem Foto markiert?«, fragte ich.

Er schüttelte den großen, klobigen Kopf. Als ich weiter bewegungslos auf den Bildschirm starrte, sagte er:

»Am besten antwortest du jetzt einfach.«

Er zeigte mir, wie es geht, und ich überlegte mir

»Fandst du die Party auch so lästig? Krasse Langweiler, erhole mich jetzt noch davon.«

»Literatur-Events sind der Ort, an dem Träume sterben«, tippte ich rasch in den Computer. Wahrscheinlich traf ich damit den richtigen Ton, denn Lana schrieb fast zeitgleich zurück:

»Apropos Träume. Ich habe heute die grausamsten Dinge geträumt.«

Ich antwortete sogleich, schrieb was von Vollmond und dergleichen. Mein Freund war inzwischen auf die Toilette gegangen, und als er wiederkam, tat ich so, als hätte ich den Chat nicht weitergeführt. Ich wollte ihn schnell verabschieden, und zum Glück ließ er sich darauf ein. Ich wollte natürlich nicht, dass er weiterhin seine extrem große Nase in die Sache stecken konnte, denn er war ja auch mit meiner Frau befreundet.

Als ich mit Lana allein war, schrieb ich:

»Besser als jede Lesung: auf Konzerte gehen.«

Und sie so: »Was bist du eigentlich für ein Sternzeichen?«

Und ich: »Keine Ahnung. Die Sterne sind mir alle gewogen.«

Und sie: »Hab dich schon wieder gegoogelt. 6. Oktober, du bist Waage.«

Ich: »Falsch. Die lügen alle auf Wikipedia. Ich bin im Dezember geboren.«

Sie: »Krasse Scheiße.«

Natürlich googelte ich sie auch sofort wieder, erst mal

»Was ist man denn, wenn man im Dezember geboren ist?«

Ich tat so, als wüsste ich es nicht. Irgendwie war das nicht komplett gelogen, denn ich hatte mich mein ganzes Leben lang gegen astrologische Zuschreibungen gewehrt, so wie gegen alle anderen Zuschreibungen, etwa nationale, ethnische, sexuelle und biologische. Nie wollte ich mein Alter sagen, den »Stamm« meiner Ahnen, meine erotische »Orientierung« und all den übrigen Identitätsmist. Ich wollte ich sein. Bei Lana würde ich damit aber scheitern. So ließ ich mich willig aufklären, dass ich wohl ein Steinbock sei. Ich schrieb:

»Ist das was Schlechtes?«

Und sie so: »Nein, nein, voll geil, meine beiden Brüder sind auch Steinbock«.

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Was nun? Sie schrieb aber bald etwas Neues:

»Heute Abend spielen Fettes Brot im Grünen Salon. Hast du Lust, dass wir uns dort treffen?«

Fettes Brot?! Gab es die noch? Über diese Band hatte ich im letzten Jahrhundert für die Popmusik-Zeitschrift SPEX

»Cool«

Und sie: »Mega«

Und ich so: »Matthias kommt auch?«

Sie: »Nee, mit dem hab ich grad ein bisschen Stress.«

»Oh, tut mir leid.«

Ein paar Minuten war Ruhe im Chat. Das war normal, die Leute ließen den Chat offen und werkelten in ihrer Wohnung herum, machten Tee, telefonierten. So war das Leben in der Nach-Merkel-Ära, die wir gerade betraten. Vielleicht gab es noch irgendwo auf dem Land Menschen der Sechzig-plus-Kategorie, die anders lebten, ich wusste es nicht und wollte es nicht mehr wissen. Ich spürte, dass ich jetzt in jeder Minute meines Lebens jünger wurde. Die Zeitrichtung hatte sich umgedreht. Und irgendwann nach einigen Viertelstunden leuchtete der Punkt wieder auf.

»Hey! Weiß gar nicht, wie ich heut so drauf bin. Hoody und ugly sneakers? … oder doch auf verrückte Gothic Braut? Lets see …«

Sollte ich das jetzt entscheiden, kommentieren? Sie schrieb schon wieder weiter:

»Ha, ich kann mich nicht entscheiden.«

Und dann:

»Ich werde mich wohl selbst überraschen.«

Es kamen jetzt immer mehr Nachrichten, sie schien mit sich selbst zu chatten. Warum tat sie es eigentlich mit mir und nicht mit gleichaltrigen Generation-Y-Hühnern? Ach

Eine Nachricht klang sehr nach Drogen:

»Meine Nachbarin kam grad mit einer Zigarette vorbei, hihi … bis später.«

Nun war sie länger beschäftigt. Ich klappte den Laptop zu und schnappte etwas frische Luft. Am Nachmittag ging es weiter.

»Krass, ich hab da so ’n neuen Tee. Voll die abgefahrenen neuen Kräuter. Lässt mich bisschen fliege …«

Ich so: »ha ha.«

Sie, zehn Minuten danach: »Umso besser! Und jetzt nur noch die volle Dröhnung SOUND …«

Volle Dröhnung? Schon wieder so ein Wort aus der abgelegten Jugendsprache von früher, es musste an ihrem Liebhaber liegen. Egal. Was genau meinte sie? Sie hatte Musik in ihrer Wohnung aufgelegt?

Sie schrieb dann in schneller Folge weitere, wie soll man es nennen, Selbstentäußerungen, aber vielleicht sollte ich an dieser Stelle Grundsätzliches klären. Der Leser wird sich seit einigen Seiten zweierlei fragen. Erstens: was war zwischen Lana und mir bei dem damaligen Fest des Literarischen Colloquiums Berlin am Wannsee geschehen? Und zweitens, was hatte einer wie ich, die fünfzig schon deutlich überschritten, mit so einem Puppengesicht aus der Generation Y zu tun? Hatte ich nicht eine viel schönere und attraktivere Frau zu Hause?

Deshalb machte die nun anrollende Story mit Lana wenig Sinn, wüsste man nicht, dass ich den Auftrag hatte, über die Lana-Generation zu schreiben. Ein Freund meiner Frau Harriet mit dem lächerlichen und vielsagenden Namen Heinz-Christian Gurkenmeier hatte mich angesprochen. Den Namen habe ich natürlich ändern müssen, aber der wirkliche klang nicht weniger absurd. Der Mann war Jugendforscher, so wie ich, nur offizieller, es stand auf seiner Visitenkarte, und er leitete ein demoskopisches Institut für Jugendforschung, das ihm selbst gehörte. Er war auch so alt wie ich, vielleicht zwei bis drei Jahre jünger, und einer der beiden Männer, die Harriet wirklich bewunderte (der andere war ich).

Dieser Typ hatte ein echtes Problem. Obwohl er natürlich perfekt und durchgehend den sogenannten »Jugendjargon« beherrschte und von sich gab (ich will nicht das Wort

Zurück zur zweiten Frage: Warum war es zwischen Lana und mir mehr als nur das unmoralische Abschöpfen einer vermeintlichen Quelle geworden? Warum begann ich sie irgendwann zu mögen? Hatte ich ein verstecktes Woody-Allen-Gen in mir? Dann müsste ich sofort diesen Bericht unterbrechen und zum Nervenarzt gehen. Nein, es hatte mit Lanas Wesen zu tun. Sie hatte eine Art, beim Sprechen ins Schleudern zu kommen, das letzte Wort nicht zu finden, also das Verb meistens, und dann doch eines, das man nicht erwartet hatte, das dem Satz auf einmal zu eindrücklicher Prägnanz verhalf. Sie war auch nicht so puppenhaft simpel, wie ihr Image es nahelegte. Schon der erste Satz in ihrem Wikipedia-Eintrag musste jeden, der das Leben kennt, stutzig machen:

Das war also ihr wirklicher Name, Roy. Kein kitschiges Disney-Pseudonym. Es geht noch weiter, kommt noch wilder: Aufgewachsen in Brasilien, Vater Belgier, Mutter Schweizerin. Vor diesem Hintergrund erwartet man sehr gutes Portugiesisch, gutes Französisch, passables Englisch, aber nicht das perfekte Bühnendeutsch, das sie sprach, sobald die Kamera lief. In gut zwanzig Filmen hatte sie schon mitgespielt, vom Tatort bis zum ZDF-Historiendrama, seit ihrem zehnten Lebensjahr. Ihre Filmografie war fast länger als die von Ochsenknecht. Der hatte sich da einen Goldfisch geangelt, nicht sie sich ihn.