Für Beda und Fabia
Kennen Sie es?, fragte ich. Santa Marìa de Bonval, nein, nie gehört, sagte der Taxifahrer. Es ist in der Nähe von Hornachuelos, sagte ich. Das wird teuer, sagte er, das sind zwei Stunden Fahrt, wollen Sie einen Mietwagen, mein Schwager vermietet günstig. Ich sagte, ein Mietwagen nützt mir im Kloster nichts, ich bleibe drei Wochen dort. Ah, sagte der Fahrer, drei Wochen, jetzt verstehe ich, Sie suchen Ruhe, viel Stress bei der Arbeit, Burn-out. Nein, dachte ich, eben nicht viel Stress bei der Arbeit, ganz ruhige Arbeit, Arbeit wie Vögel beobachten an einem warmen Sommernachmittag. Ja, Ruhe, sagte ich, den ganzen Tag nur Vogelgezwitscher, ich wäre bereit loszufahren, und Sie? Tómalo con calma!, sagte der Fahrer. Auf der Schnellstraße fragte er mich, ob ich von drüben sei. Ich sagte, nein, aber meine Mutter sei Chilenin gewesen. Das hört man, sagte er, verdammter Idiot. Damit meinte er den Rollerfahrer, der ihm den Weg abgeschnitten hatte.
Málaga zog am Autofenster vorbei. Liliane war vor unserer Ehe mal mit einem Málagueño zusammen gewesen. Zum ersten Mal hier?, fragte der Fahrer, ich sagte, ich ja, aber meine Frau hat mal einen der Euren geliebt, vor der Ehe wohlverstanden, haben Sie es auf dem Navigationsgerät gefunden? Das Kloster, sagte er, nein, das ist nicht drauf, aber keine Sorge, ich habe schon ganz andere Adressen gefunden. Sie hat also Sie geheiratet und nicht den Málagueño? Sie ist Yogalehrerin, und er war Weinhändler, sagte ich. Ah, Yoga, sehr gesund, sagte der Taxifahrer, Kinder? Eine Tochter, sagte ich. Eine sportliche Frau, sagte der Taxifahrer, eine Tochter, und dann immer viel Arbeit im Beruf, der Chef ruft die Leute heutzutage sogar in der Hochzeitsnacht an, immer muss man erreichbar sein, kein Wunder, wenn die Pumpe eines Tages streikt. Ich sehe, Sie tragen eine Gesundheitsuhr, ist mir gleich aufgefallen, misst die auch den Blutdruck? Nein!, sagte ich. Was wollte er sonst noch wissen, wie viele Leukozyten ich zur Zeit besaß? Nein, sie maß nur den Puls, und der war bei mir zu hoch, deswegen war ich ja unterwegs ins Kloster, um den Ruhepuls runterzubringen, wir müssen Ihren Ruhepuls zurück auf die Erde holen, sagt meine Kardiologin.
Diese Uhr zählt sogar die Schritte, die man macht, nicht wahr?, sagte der Fahrer, er schielte im Rückspiegel begierig nach dem Tracker. Ich interessiere mich nämlich für digitale Technik, sagte er. Ich drückte die Seitentaste des Trackers, auf dem Display erschien die Zahl 95. Meine erste Pulsmessung in Andalusien, ich widmete die Messung Liliane, der Tracker war mein Geschenk an deine Gesundheit. Für jemanden, der in einem Taxi saß und dessen einzige Anstrengung es war, mit chilenischem Akzent zu sprechen, war es ein bemerkenswert hoher Ruhepuls. Meine Kardiologin hätte mich dafür geohrfeigt.
Dann zwei Stunden Fahrt durch die andalusische Gegend, die ich mir anders vorgestellt hatte, urtümlicher, wilder, doch alles war frisch gestrichen. Waren in Andalusien nicht die Winnetou-Filme gedreht worden? Wohin waren seither die endlosen Steinwüsten verschwunden? Nein, Winnetou wurde in Jugoslawien gefilmt, sagte der Fahrer, Sie meinen sicher Game Of Thrones, das haben sie in Sevilla gefilmt. Als wir uns jedoch der Sierra Norte näherten, bekam ich die Gegend, nach der ich mich gesehnt hatte, hier ließ die Landschaft die Vorstellung zu, sich hoffnungslos zu verirren und in der Not den Morgentau von den Steinen ablecken zu müssen.
Der Taxifahrer hielt auf einer unbefestigen Straße bei einem Bauern, der sich an seinen staubverkrusteten Pick-up lehnte. Auf der Ladefläche streckten abgesägte Äste von Steineichen ihre Seitenzweige in die Luft, als riefen sie um Hilfe. Der Taxifahrer ließ das Fenster runter und fragte den Bauern nach dem Weg zum Kloster, spanisch Monasterio. Da seid ihr falsch, sagte der Bauer, hier gibt’s kein Ministerio, das ist in Sevilla, ihr erkennt es an den leeren Weinflaschen im Müllcontainer. Nicht Ministerio, sagte der Taxifahrer, Monasterio, Santa María de Bonval. Ach das, sagte der Bauer. Danach sagte er nichts mehr. Ja, das, sagte der Taxifahrer, es muss hier in der Nähe sein. Nein, sagte der Bauer, das ist nicht hier in der Nähe. Doch, das ist hier in der Nähe, sagte der Taxifahrer, der Bauer fragte, bist du hier geboren worden oder ich? Während sie sich darüber stritten, ob es besser war, hier oder in Málaga geboren worden zu sein, stieg ich aus und atmete die warme, feuchte Abendluft ein. Ich legte mein linkes Bein auf die Kühlerhaube und neigte mich vor, bis meine Fingerspitzen den Fußrist berührten, bis zu den Zehen schaffte ich es nicht, Liliane konnte das. Sie hatte mir diese Yogaübung beigebracht, die normalerweise ohne Auto durchgeführt wird. Ich behielt das Bein auf der Kühlerhaube und versuchte, mich mit ausgestreckten Armen so weit wie möglich nach hinten zu lehnen. Auch laienhaftes Yoga dehnt irgendeinen Muskel, das ist das Gute daran, und dass der Bauer und der Taxifahrer mich entgeistert anstarrten, bin ich von Lesungen gewohnt, es macht mir schon lange nichts mehr aus, ein Publikum in Ratlosigkeit zu versetzen. Was ich machte, war Purvottanasana für Arme, obwohl, diesmal gelang mir die Rückwärtsbeuge passabel, ich konnte kopfüber hinter mich sehen und sah in der Ferne ein auf dem Kopf stehendes Gebäude auf einer Felswand, die aussah, als habe jemand aus dem Fels ein Stück rausgebissen.
War das nicht das Kloster? Ich machte den Taxifahrer darauf aufmerksam, er sagte, er sehe nicht gut in die Weite. Der Bauer sagte, das ist Santa María de Bonval, ein Kloster. Danach haben wir Sie doch gefragt!, sagte ich, der Bauer sagte, nein, ihr habt mich nach einem Kloster in der Nähe gefragt, und Santa María de Bonval ist nicht in der Nähe. Auf der Straße hier kommt ihr nicht hin, ihr müsst umkehren und dann die CP-002 nach Hornachuelos nehmen, nicht die A-3151. Die Fahrt dauert von hier mehr als eine Stunde, nennt ihr Stadtleute das etwa in der Nähe?
Bei Sonnenuntergang hören sie auf!, rief der Taxifahrer, er wuchtete meinen Koffer aus dem Kofferraum und stellte ihn auf den staubigen Vorplatz des Klosters. So ist das auf dem Land, sagte er, den ganzen Tag die Zikaden, du hörst dein eigenes Wort nicht. Ist manchmal besser!, rief ich. Wenn Tausende von Singzikaden ihre Tymbalorgane in Schwingung versetzen und das Geräusch einer Kreissäge nachahmen, wird wenigstens nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage gelegt.
Dieses Kloster hätten sie in Game of Thrones auch filmen sollen, sagte der Taxifahrer, das ist bestimmt hundert Jahre alt. Tausend, sagte ich, er sagte, ja, das sieht man, es müsste renoviert werden, aber die Kirche hat kein Geld mehr, sie war mal reich, jetzt holt sie Priester aus Marokko, weil die billiger sind. Wir standen vor der Klostermauer, die im Laufe der Zeit unter ihrem eigenen Gewicht in den Boden gesunken und dabei bauchig geworden war. Teilweise waren noch die Zinnen erhalten, die Gebäude mit den romanischen Fensterbögen duckten sich hinter ihnen, damit sie bei Beschuss geschützt waren, die Sorgen des 10. Jahrhunderts waren hier noch zu besichtigen. Ein in die Tiefe gegliederter, niedriger Torbogen für die kleinen Leute und die kleinen Pferde jener Zeit war mit einem Tor aus dickem, spaltigem Holz verschlossen, rostige Eisenbeschläge hielten die Torbretter zusammen. Ich machte schnell ein Foto vom Kloster und schickte es Liliane mit einer Textnachricht: Schau dir das an! Es ist schöner als auf dem Foto im Internet, sie haben untertrieben, in christlicher Bescheidenheit. PS Der Tracker funktioniert!
Ich schaute der Staubwolke nach, in der der Taxifahrer zurück nach Málaga fuhr. Nun wäre ich gerne empfangen worden, hätte mich gerne unter eine Dusche gestellt, im Internet war eine Dusche erwähnt worden, Gästezimmer mit moderner Dusche und eigener Toilette. Am Klostertor fand ich weder Klingel noch Klopflöwe, wie kam man hier rein? Die Zikaden gingen mir nun doch auf die Nerven, der Lärm war eine natürliche Unverschämtheit. Ich rief die Kontaktnummer der Gästeverwaltung an, die ich vor meiner Abreise gespeichert hatte – es ging niemand ran. Ich vergab erste Minuspunkte an den Gästeverwalter. Auch das Kloster beurteilte ich bereits kritischer: Es war romantisch, zweifellos, aber eben wegen seiner Baufälligkeit. Niemand schien sich um die bemalten Bleiglasfenster zu kümmern, die in die halbrunden Fensterbögen eingelassen und teilweise spinnennetzartig gerissen waren, ein mit einem nicht mehr erkennbaren Wappenzeichen verzierter Turm stand wie ein fauler Zahn an der Mauer.
Ich setzte mich auf meinen Koffer und rief Liliane an. Sie sagte, na, wie geht’s meinem Eremiten, sieht ja schön aus, dein Kloster, wie ist das Essen? Ist das Baulärm? Bauen die? Ich sagte, nein, das sind die Zikaden, aber in zwei Stunden hören sie auf, sobald die Sonne untergeht! Liliane, hörst du mich? Liliane!, rief ich – plötzlich spürte ich das Gewicht einer Hand auf meiner Schulter. Ein Mann hatte sie mir draufgelegt, er sagte, versuchen Sie nicht, lauter zu sein als die Zikaden, das führt zu nichts. Sie müssen leiser sein als sie, wie ich, hören Sie? Ich spreche leise, und Sie verstehen mich gut.
Er stellte sich mir vor: Juan Carlos Herrera. Koch und Gästeverwalter. Liliane, sagte ich, ich muss Schluss machen, der Koch und Gästeverwalter ist hier, ich liebe dich, ich legte auf. Das Gesicht des Gästeverwalters kam mir bekannt vor, er sagte, ja, ich weiß, ich sehe Fernandel ähnlich, dem französischen Schauspieler, das sagen viele ältere Leute. Auch weniger ältere Leute wie ich sagen das, sagte ich, ich habe die Filme mit Don Camillo und Peppone als kleines Kind gesehen, Fernandel spielte den Don Camillo. Ich muss mir die Filme mal ansehen, sagte Señor Herrera, als ich klein war, wurden sie schon nicht mehr gezeigt. Er sah Fernandel wirklich sehr ähnlich, die drahtigen schwarzen Haare, das bäurische Gesicht, vierschrötig zwar, aber wenn man nachts eine Autopanne hat und Hilfe braucht, will man genau dieses Gesicht sehen.
Señor Herrera trug meinen Koffer an der Klostermauer entlang, von der eine weitere, niedrigere Mauer abging. Durch deren schmales Tor betraten wir einen Garten mit Zitronenbäumen und einem alten Ziehbrunnen mit Kurbel. Vom Garten aus gelangte man zu einem Säulengang, die teilweise mit Stahlstangen gestützten Säulen mit ionischem Kapitell waren original, wie Señor Herrera es nannte. Ich strich mit der Hand über eine der Säulen, die über die Jahrhunderte speckig geworden war von den vielen Händen, die wie meine den Stein unweigerlich hatten berühren wollen. Der Säulengang führte zu einem weltlichen Anbau aus unverputztem Beton, lieblos hingebaut in neuerer Zeit, aus dem flachen Dach ragten noch die Armierungseisen heraus: der Gästetrakt.
Señor Herrera drückte mit dem Fuß die Spanholztür auf und stellte meinen Koffer vors Bett. Es war ein Zimmer, das man sich gar nicht zu genau ansehen wollte. Das einzige Fenster war nahezu zugemauert, da sich unmittelbar davor die Klostermauer befand. Das Fenster geht nach innen auf, sagte Herrera und zeigte mir, wie es nach innen aufging. Jedes Fenster geht nach innen auf, sagte ich, aber dieses könnte gar nicht nach außen aufgehen, wegen der Nähe der Mauer. Da haben Sie allerdings recht, sagte Herrera, gefällt Ihnen das Zimmer? Ich sagte, wie viele Nonnen leben eigentlich im Kloster? Ich schätze mal, vier, sagte er, ich koche immer für vier, wenn keine Gäste da sind, also werden’s vier sein, es sei denn, die Äbtissin kriegt zwei Portionen, keine Ahnung. Müssten Sie es nicht wissen, fragte ich, Sie leben doch hier mit den Schwestern? Er lachte. Das ist ein Trappistinnenkloster, sagte er, ich lebe nicht mit den Schwestern. Ich arbeite in der Küche, und die Schwestern leben im Kloster, da gibt’s keinen Kontakt, ich bin ja nicht Jesus. Mit ihm sprechen sie, aber selbst der Papst würde kein Wort aus ihnen rauskriegen, sie sprechen auch nicht miteinander, sie haben ein Schweigegelübde abgelegt. Nein, ich habe keinen Kontakt zu ihnen, das Berufliche, die Lohnzahlungen, die ganze Organisation, das bespreche ich alles mit der Ordensleitung in Madrid. Ich verstehe, sagte ich, die Ordensleitung spricht mit Ihnen. Ja, Madrid spricht mit mir, sagte Herrera, die Brüder in Madrid sind ja keine Trappistinnen, sie sind lockere Zisterzienser. Locker?, fragte ich. Es gibt bei den Zisterziensern solche, die nach lockeren Regeln leben, sagte Herrera, und solche strengerer Observanz, wie sich das nennt. Die Trappistinnen hier in Santa María de Bonval sind strengerer Observanz, ich würde mal sagen, sogar sehr strenger Observanz, es sind eigentlich Eremitinnen.
Heißt das, ich kann nicht am Klosterleben teilnehmen?, fragte ich, an den gemeinsamen Essen, den Stundengebeten? Herrera sagte, haben Sie das Kleingedruckte nicht gelesen? Das steht doch auf der Internetseite, da steht: Übernachtung und Verpflegung und nicht: mit Zisterzienserinnen strengerer Observanz essen und plaudern und mit ihnen in der Kirche rumsitzen. Nein, sagte ich, das stand da nicht, da stand: Erleben Sie die authentische Klosteratmosphäre, nehmen Sie teil am Klosterleben. Das ist doch Klosteratmosphäre!, sagte Herrera und zeigte auf das schmale Bett, den kleinen Tisch, den noch kleineren Stuhl und das dafür sehr große Kruzifix über dem Bett, Sie sind in einem Kloster oder jedenfalls bei einem Kloster, und wenn Sie am Klosterleben teilnehmen wollen, dann schweigen Sie von jetzt an drei Wochen lang, tun Sie mir den Gefallen! Anstatt dass Sie sich beschweren, kaum dass Sie angekommen sind! In einer Stunde gibt’s Essen, es wird im Garten serviert, Sie kriegen dasselbe wie die Schwestern, nur mit Fisch, ist das in Ordnung?
Er ging, und ich dachte, er hat recht, es ist meine Schuld, ich hätte mich genauer informieren sollen, nie informiere ich mich genau, in was für Scheißhotels bin ich schon gelandet, weil ich zu faul war, mir die Zimmerfotos anzusehen, jetzt stecke ich in einem Kloster mit Eremitinnen fest! Wie sollte ich das Klosterleben recherchieren, wenn ich das Kloster gar nicht betreten durfte? Das war eins der zwei Ziele meiner Reise gewesen: Erstens das Klosterleben recherchieren, zweitens herausfinden, weshalb mein ruhiges Leben mich im selben Maße stresste, wie es ein Leben unter permanentem Zeitdruck getan hätte. Was die Recherche betraf, so ging es um Lena Seidel, die Figur, an der ich im Zusammenhang mit dem Konzept für meinen neuen Roman seit Monaten herumdachte. Sie war gezwungen, sich in einem Kloster zu verstecken, getarnt als Nonne. Um zu erfahren, wie sie im Kloster lebte, war ich hierhergekommen, und nun blieb mir das Kloster verschlossen, weil mir die strengere Observanz entgangen war. Andererseits: Schweigegelübde. War das nicht eine gute Idee? Lena Seidel muss sich, weit von Deutschland entfernt, in Spanien verstecken. Doch sie spricht kein Spanisch. In jedem anderen spanischen Kloster außer einem der Trappistinnen würde sie sofort als Ausländerin entlarvt werden. Aber hier, unter Nonnen, aus denen selbst der Papst kein Wort rauskriegen würde, ist sie sicher. Sehr gut. Wunderbare Fügung. Das Problem, das Klosterleben nicht von innen recherchieren zu können, bestand zwar weiterhin, aber die Idee, das Schweigegelübde zu nutzen, um als Ausländerin unbemerkt zu bleiben, war es wert. Ich war also doch am richtigen Ort, dank meines Versäumnisses, das Kleingedruckte auf der Website des Klosters zu lesen. Wenn es darum ging, produktive Fehler zu machen, konnte ich mich auf mich verlassen.
Der Garten mit den Zitronenbäumen dämmerte in den Abend hinein, eine Eidechse wedelte am Ziehbrunnen hoch, doch auch Insekten waren aktiv: Ein bläulicher Käfer krabbelte über den runden Marmortisch, an dem ich saß. Sein Glück war, dass ich Bertrand Russells Definition des Bösen kannte: Extra einen Schritt zur Seite machen, um einen Käfer zu zertreten. Die Wärme der Abendluft, das endlich eingetretene Schweigen der Zikaden, die Düfte, Rosmarin, Pinienharz, Thymian, woher kam eigentlich dieser starke Kräutergeruch? Aus dem Klostergarten? Ich schrieb Liliane eine Nachricht: Die Wärme, das Schweigen der Zikaden, mein Liebling, die Stille, alles zu meiner Zufriedenheit, und woher kommt dieser starke Kräutergeruch? Ich schrieb, dass ich sie vermisste, und sicherlich, ja, ich vermisste sie, aber genüsslich. Ich löschte alles zu meiner Zufriedenheit.
Herrera brachte auf einem Tablett aus Olivenholz das Essen und eine Karaffe Wein. Er entschuldigte sich für seinen Vorwurf von vorhin, ich würde mich beschweren, er sagte, sein Bein tue ihm heute weh. Jetzt erst bemerkte ich, dass er schief dastand, um sein schmerzendes Bein zu entlasten. Er sagte, wenn sein Bein schmerze, werde er manchmal ein bisschen mistig. Ich sagte, alles in Ordnung, es war mein Fehler, ich hätte das Kleingedruckte lesen müssen. Er sagte, es gebe in der Sierra Norte schöne Wanderwege, er könne mir gern einige Wanderungen empfehlen. Aber essen Sie doch! Essen Sie, bevor es kalt wird!
Auf meinem Teller lag eine Scheibe Fisch auf einem Gemüsebrei. War es Gemüsebrei? Der Fisch schmeckte nach absolut nichts, nicht einmal nach Karton. Der Gemüsebrei wiederum war eine komplexe kulinarische Komposition, bei der die einzelnen Zutaten sich gegenseitig geschmacklich neutralisierten. Das muss man erst mal hinkriegen. Selbst in sehr schlecht gekochten Gerichten ist normalerweise immer noch ein einzelnes Aroma herauszuschmecken: Hier nicht. Ja, sehr gern, sagte ich, sehr gern würde ich mir von Ihnen schöne Wanderungen empfehlen lassen! Hauptsache, dachte ich, die Route führt an einem Restaurant vorbei.
Unten im Dorf, sagte Herrera, wird mittwochs, freitags und natürlich am Sonntag die Heilige Messe gelesen. Sie können aber auch zu allen anderen Zeiten in der Dorfkirche beten. Zu Fuß ist es eine Stunde bis zum Dorf, zwei Stunden, ich weiß nicht, ich gehe nie zu Fuß runter. Oder Sie bestellen ein Taxi, es kommt aus Hornachuelos. Ich kann Sie aber auch mit dem Auto mitnehmen, wenn ich es vorher rechtzeitig weiß. Dann können Sie in der Kirche beten, ich mache die Einkäufe, und nachher fahre ich Sie wieder zurück. Ich dachte, er glaubt, dass ich am Klosterleben teilnehmen will, weil ich gläubig bin, pass mal gut auf, was du jetzt sagst! Ich sagte, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte mich hier erholen, bei der Arbeit, das heißt, ich wollte arbeiten, ich hatte gehofft, hier das Klosterleben recherchieren zu können. Im Konzept meines neuen Romans spielt ein Kloster eine wichtige Rolle. Ah, ich verstehe, sagte Herrera, ein Roman! Sie sind ein Schriftsteller! Ja genau, sagte ich. Wie Miguel de Cervantes, sagte Herrera. Na ja, sagte ich, der Vergleich hinkt ein bisschen. Wie Gabríel García Marquez, sagte Herrera, ich sagte, ich mache im Prinzip, theoretisch, dasselbe wie er, nämlich schreiben, ja. Und in Ihrem Roman, fragte Herrera, um was geht es da, wenn ich fragen darf? Es ist noch kein Roman, sagte ich, ich arbeite erst am Konzept dazu. Essen Sie, sagte Herrera, essen Sie, es schmeckt nicht, wenn es kalt ist. Ja gern, sagte ich.
In dem Roman, sagte ich, und spülte mir mit Wein den Mund frei, geht es um eine Frau, sie heißt Lena Seidel. Sie ist Textildesignerin, pendelt zwischen Mailand, London und Berlin, ihr Leben steht ganz im Zeichen einer hektischen Akkumulation von Geld und Erfolg. Doch dann wird sie zufällig Zeugin eines Mordes, den das Oberhaupt eines libanesischen Mafiaclans begangen hat, er hat seinen Bruder erschossen, Eifersucht. Lena Seidel sagt im Prozess gegen den Clanchef aus, und da dieser schwört, sie umbringen zu lassen, wird sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Nach einem missglückten Mordanschlag wird sie von der Polizei im Ausland versteckt, eben in einem Zisterzienserinnen-Kloster, wo sie als Nonne getarnt ein ihr vollkommen fremdes Leben führen muss. Das klingt nach Krimi, ist es aber nicht, sagte ich, ganz und gar nicht, sondern es ist eine Studie über eine Frau, die von einem Tag auf den anderen ein völlig anderes Leben führen muss, verstehen Sie? Oh ja, sagte Herrera, ich verstehe, ich verstehe sehr gut, ich frage mich nur, wie Sie das wissen konnten? Wie ich was wissen konnte?, fragte ich, und er setzte sich zu mir an den Tisch.
Diese Frau versteckt sich also in einem Kloster?, fragte er, ich sagte, ja, das ist die Idee, warum? Haben Sie das wirklich gewusst?, fragte er, oder ist es ein Zufall, verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt frage, aber wie Sie sich vorstellen können, bin ich gerade ein bisschen durcheinander. Ich selbst wusste es nämlich von Anfang an, gut, ich will nicht übertreiben: Ich wusste es nicht, aber ich habe es geahnt. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass mit ihr etwas nicht stimmt, und nun kommen Sie und erzählen mir dasselbe, Sie, ein Fremder, der heute zum ersten Mal dieses schöne Kloster betreten hat. Ich sagte, Señor Herrera, ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen, mit wem stimmt hier etwas nicht?, fragte ich. Mit Schwester Ana María, sagte er, mit wem sonst. Wer ist das, fragte ich, eine der Schwestern? Eine Nonne, sagte Herrera, er blickte sich im Garten um, er sagte, ich bin nicht sicher, ob es gut ist, wenn wir das hier besprechen, denn wenn es stimmt, was Sie mir gerade erzählt haben, haben die Zitronenbäume möglicherweise Ohren. Ich wartete auf ein Lachen von ihm, aber es kam keins. In die Küche, sagte er, darf ich Sie nicht mitnehmen, Gäste dürfen sich nur im Gästetrakt aufhalten, Anweisung der Ordensleitung. Madrid, sagte ich. Ja, Madrid, sagte er, wir könnten einen Spaziergang machen, in den Bergen kann uns niemand belauschen, aber für Spaziergänge habe ich keine Zeit. Also müssen wir es hier besprechen. Was müssen wir besprechen, Señor Herrera?, sagte ich.
Herrera trank einen Schluck aus meinem Glas, er entschuldigte sich dafür, sagte, er sei aufgeregt, er brauche einen Schluck Wein, und aus der Flasche wolle er nicht trinken. Vor einem Jahr, sagte er, sei eine neue Nonne ins Kloster eingetreten. Schwester Ana María. Etwa dreißig Jahre alt, vielleicht etwas älter, ich hab sie nur von Weitem gesehen. Und wissen Sie, fragte er, wie sie hier angekommen ist? Mit dem Auto?, sagte ich. Mit dem Taxi, sagte Herrera. Mit dem Taxi aus Hornachuelos, aber der Fahrer war nicht Ramón. Nicht Ramón, sagte ich, verstehe, und was ist daran ungewöhnlich? Fahren Sie mit dem Taxi zu Ihrer Hochzeit?, fragte Herrera. Bisher nicht, sagte ich. Eine Zisterzienserin, sagte er, fährt nicht mit dem Taxi in das Kloster, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wird. Sie kommt zu Fuß, weil sie zuerst mit der Eisenbahn gefahren ist, dann mit dem Bus in unser Dorf, und von dort trägt sie ihren Koffer mit ihren Habseligkeiten zu Fuß hierher ins Kloster. Aber gut, sagte Herrera, es ist nicht vollkommen ausgeschlossen, dass eine Nonne mit dem Taxi kommt, das bestreite ich nicht. Aber dann hätte der Fahrer Ramón sein müssen. Im Dorf gibt es kein Taxi, nur in Hornachuelos, die haben nur einen Wagen, und der Fahrer ist Ramón, in dreißig Jahren war das nie anders. Doch an jenem Tag fuhr ein großer, kräftiger Kerl mit kurz geschorenen Haaren das Taxi, ein Typ wie aus einem dieser Filme, die mit einer Explosion beginnen. Er trug eine Sonnenbrille, wie sie nur Touristen tragen, ein Einheimischer war das jedenfalls nicht, was meinen Sie? Das kann ich nicht beurteilen, sagte ich, ich habe ihn ja nicht gesehen, und von Filmen, die mit einer Explosion beginnen, verstehe ich nichts. Sie sollten Ihre Leistung nicht kleinreden, Señor Renz, sagte Herrera, Sie verstehen sogar sehr viel von dieser Angelegenheit, sonst hätten Sie nicht gewusst, dass Schwester Ana María sich hier versteckt.
Moment mal, sagte ich, das habe ich nie behauptet! Lena Seidel versteckt sich in einem Kloster, aber sie ist eine Romanfigur, wie Don Quichotte, wenn auch bislang weniger legendär. Sie existiert nur hier. Ich tippte an meine Stirn. Mein Freund, sagte Herrera, er trank mein Glas leer, ich will mit Ihnen nicht über Ihre Begabung streiten. Ich sage nur, dass Schwester Ana María von einem fremden Taxifahrer hierhergebracht wurde, und das war nicht das Einzige, das mich stutzig machte. Da war noch etwas. Etwas viel Wichtigeres.
Herrera schwieg, eine Kunstpause, ich sagte, na gut, ich will es wissen.
Sie sieht nicht aus wie eine Spanierin, sagte er. Das muss nicht in jedem Fall ein Nachteil sein, sagte ich. Das meine ich damit nicht, sagte Herrera, es ist aber doch merkwürdig, das müssen Sie zugeben, eine Ausländerin, die in dieses Kloster eintritt? Ausländerin, sagte ich, wie wollen Sie das denn wissen, oder haben Sie Kontakt zu ihr? Sie sagten, Kontakt mit den Schwestern sei verboten, und Sie hätten diese Ana María nur von Weitem gesehen. Was für ein sonderbarer Mensch, ich hatte inzwischen richtig Lust, ihn mit seinen Widersprüchen zu konfrontieren. Herrera hob die Hände, ließ sie auf seine kräftigen Schenkel fallen, hob sie wieder. Sie wissen doch, wie das ist, sagte er, Sie sind Schriftsteller, Sie wissen doch, der Mensch ist neugierig. Ja, ich habe sie bei ihrer Ankunft von Weitem gesehen. Aber danach ein paarmal zwar auch von Weitem, aber das Fernglas hat die Distanz verkürzt. Das Fernglas?, fragte ich, er sagte, darüber möchte ich eigentlich gar nicht sprechen, Sie sehen, ich schäme mich dafür. Nicht, dass Sie jetzt etwas Falsches denken! Ich habe sie nur zwei- oder dreimal beobachtet, aber was heißt schon beobachtet, es war mehr ein Sehen, ich habe sie gesehen, im Klostergarten. Schwester Ana María kam mir eben merkwürdig vor, das ist alles, ich hatte diesen Verdacht, dass mit ihr etwas nicht stimmt, und damit bin ich ja jetzt in bester Gesellschaft, Ihnen geht es ja genauso.
Nein!, sagte ich. Mir geht es keineswegs so, ich kenne diese Schwester ja gar nicht. Ich auch nicht, sagte Herrera, ich weiß nur, dass sie keine Spanierin ist, aber was heißt wissen, es ist mehr als Wissen: Es ist ein klares Gefühl. Señor Herrera, sagte ich, als ich meinen ersten Roman veröffentlichte, hatte ich das Gefühl, dass noch nie ein Mensch etwas so Gutes geschrieben hat, aber die Reaktion der Literaturkritiker lehrte mich, Gefühle nicht mit Wissen gleichzusetzen. Jaja, sagte Herrera, wie auch immer, ich glaube, wir sind uns einig, dass es für eine Ausländerin, die sich verstecken muss, das Beste wäre, sich bei uns in Andalusien in einem Kloster mit Schweigegelübde zu verstecken. Bei den Zisterzienserinnen strengerer Observanz. Sie spricht kein Spanisch, aber wem sollte das hier auffallen, die Schwestern wünschen sich beim Essen nicht mal guten Appetit, so sehr schweigen sie. Aber wem erzähle ich das, das steht alles in Ihrem Roman. Nicht Roman, sagte ich, es ist nur ein Konzept für einen Roman, und ich plane kein prophetisches Werk! Wie Sie wollen, Konzept, sagte Herrera, er klopfte mir auf die Schulter, aber jetzt ist es Zeit, ich muss das Geschirr spülen, von Hand, einen Geschirrspüler kann sich das Kloster nicht leisten, deshalb sind die Schwestern über jeden zahlenden Gast froh. Lassen wir einfach erst mal alles sacken, buenas noches.
Ich saß allein im Zitronengarten, trank die Karaffe leer, ließ alles sacken und beobachtete, wie der Garten sich in die Dunkelheit zurückzog: Um zehn Uhr sah ich noch das gelbe Schimmern der Zitronen, um halb elf erloschen die Zitronen. Auch für eine Lampe im Garten schien den Schwestern das Geld zu fehlen, es reichte nicht mal für ein Teelicht.
Im Zimmer gab es nur Deckenlicht, wie soll man bei Deckenlicht ein Buch lesen, Literatur lebt von indirektem, gedämpftem Licht. Bei Deckenlicht liest der Gefangene die richterliche Begründung für das Todesurteil, dazu ist Deckenlicht geschaffen worden. Ich knipste es aus und legte mich angezogen aufs Bett. Ich schrieb Liliane eine Textnachricht, schlaf süß und denk an mich, ich löschte süß und ersetzte denk an mich durch träum von mir, obwohl mir ein Neurologe mal erklärt hatte, das sei dasselbe. Ich fügte eine Bemerkung über das schlechte Essen im Kloster hinzu, dass mir das aber egal sei, dass einzig die Ruhe zähle – es war mir überhaupt nicht egal, aber Liliane mochte Menschen, die in schwierigen Situationen gelassen reagieren. Vor dem Einschlafen rief ich auf dem Tracker meine Pulswerte ab. Mein Ruhepuls galoppierte, dafür hätte meine Kardiologin mich an den Ohren gezogen, aber das sagte ich schon. Wie sonderbar: Ich lag bewegungslos auf dem Bett, mein Herz jedoch schien zu glauben, dass ich gerade unter Artilleriebeschuss im Zickzack über ein Minenfeld rannte und versuchte, mit beiden Händen meine Eingeweide zurück in den Leib zu stopfen. Mein Herz schätzte die Lage falsch ein, und ich schaffte es nicht, ihm mitzuteilen, dass ich in Sicherheit war und nicht mal die Zehen bewegte – es gab ein Kommunikationsproblem zwischen mir und meinem Herz.
Am nächsten Morgen weckte Herrera mich um sieben Uhr, er versprach, mir gleich sein Spezial-Rührei zu servieren, im Zitronengarten. Er hatte drei Bartnelken in einer kleinen gläsernen Vase auf den Marmortisch gestellt, und als ich mich dafür bedankte, sagte er, die Beblumung des Gästetisches habe er im Hotelleriekurs in Córdoba gelernt. Er habe auch gelernt, den Gast zu fragen, wie er genächtigt habe. Ich sagte, die Matratze ist hart, aber vermutlich gerecht in dem Sinn, dass kein Mensch, egal ob Sozialhilfebezieher oder Milliardär, darauf gut schläft, und ob ich vielleicht ein Daunenkissen haben könnte? Herrera sagte, wieso, was ist denn in dem Kissen drin? Das weiß ich nicht, sagte ich, vermutlich Faserbällchen aus Polyester, es ist eins dieser Allergikerkissen, die jetzt auch in Hotels leider Standard geworden sind, mir sind die zu hart. Wie die Matratze, sagte Herrera. So ist es, sagte ich. Die Schwestern, sagte Herrera, schlafen auf denselben Matratzen, und auch die Kissen sind dieselben. Im Fall der Schwestern, sagte ich, verstehe ich das, denn sie führen ein entbehrungsreiches Leben – aber woher wissen Sie, auf welchen Kissen sie schlafen? Wurde Herrera rot? Was Sie für Fragen stellen, sagte er, von Miguel weiß ich es natürlich, er holt einmal im Monat die Wäsche. Dann hat er also mit den Schwestern Kontakt?, fragte ich. Nein, nein, sagte Herrera, die Wäsche liegt morgens vor dem Klostertor, verpackt in Leinensäcke aus dem Krankenhaus, das Krankenhaus in Córdoba hat die Säcke der Kirche gespendet. Ich werde mich jedenfalls nach einem Launenkissen umsehen. Daunenkissen, sagte ich, und Herrera sagte, ja, aber eigentlich ist es ja eine Laune von Ihnen. Im Kurs habe ich gelernt, die Launen des Gastes ernst zu nehmen, der Gast ist König und Behinderter. Behinderter?, fragte ich. Es ist nur ein Gleichnis, sagte Herrera, unser Kursleiter riet uns, die Gäste mit derselben Geduld und Nachsicht zu behandeln wie Behinderte. Und nun wünsche ich Ihnen guten Appetit! Er stellte mir einen übergroßen Tonteller hin, auf dem ein Haufen Rührei lag, aus dem eine Flüssigkeit herausrann, sie hatte bereits eine Pfütze um den Rühreihaufen gebildet. Die Flüssigkeit war farblos und durchsichtig, aber es war kein Wasser, dazu war sie zu viskos.
Das Rührei schmeckte nach Ammoniak, doch dieses Aroma wurde durch einen herben Erdton abgerundet, das Erdige versöhnte das Chemische mit dem Gaumen. Ich sagte, mit ein bisschen Salz wäre es köstlich! Er eilte davon und kam kurz darauf mit einer Menage zurück, darin Salz, Pfeffer und Zahnstocher. Ah, sagte er mit Blick auf meinen Teller, auf dem nur noch die Hälfte des Rühreihaufens lag, Sie haben ja schon tüchtig zugelangt! Weil es so gut schmeckt, sagte ich.
Ich fühlte mich vollkommen sicher, denn der Ziehbrunnen im Garten war ausgetrocknet und so tief, dass es drei Sekunden gedauert hatte, bis der Rühreiklumpen, den ich vom Teller ins Loch hinuntergeschabt hatte, unten aufgeschlagen war. Drei Sekunden entsprachen einer Tiefe von etwa dreißig Metern, ohne Militär-Taschenlampe konnte man von oben den Boden niemals rekognoszieren. Am liebsten hätte ich das gesamte Rührei dem Brunnen übergeben, doch das hätte Herrera zur Überlegung angestiftet, ob es menschenmöglich war, dass ein Gast in der kurzen Zeit, die er benötigt hatte, um die Menage zu holen, so viel Rührei isst. Außerdem wollte ich ihn zu kleineren Portionen animieren, das würde mir fortan bei der Entsorgung der Speisen Arbeit ersparen. Ich bin allerdings jetzt schon satt, sagte ich, die Hälfte hätte mir genügt, ich muss auf meine Linie achten. Sie meinen, damit Sie keine Kurve kriegen, sagte Herrera, die Leute, die eine Kurve bekommen, haben nicht auf ihre Linie geachtet – das ist ein Scherz. Jaja, sagte ich, ich lachte ein wenig. Aber Sie sind schlank, sagte Herrera, Sie werden sich an die Menge gewöhnen, wir sind hier in einem Kloster, da achtet niemand auf seine Linie, denn ins Fegefeuer kommt man nicht, weil man fett ist. Haben Sie das Gewürz herausgeschmeckt? Das dem Gericht die besondere Note verleiht? Nun, ich glaube, sagte ich, es war Rosmarin? Nein, es war nicht Rosmarin. Herrera sagte, er sei gespannt, ob ich es nächstes Mal herausschmecke. Rührei sei übrigens für die andalusische Küche nicht typisch, aber er halte nichts von regionaler Küche, er bediene sich bei der Kreation neuer Rezepte aus dem Fundus aller Kochtraditionen der Welt, das nennt man Fusion, sagte er. Nimm ihn ernst, dachte ich, im Yoga lernen wir, auch solche Leute ernst zu nehmen, hätte Liliane gesagt.
Kochen ist meine Leidenschaft, sagte Herrera, während er den Rest meines Rühreis salzte, das haben Sie sicherlich schon bemerkt, aber was heißt Leidenschaft! Möchten Sie Pfeffer? Pfeffer passt hervorragend zu Ei! Bitte, ja, sagte ich, und er schüttelte den Pfefferstreuer über meinem Rührei. Ich sollte es Liebe nennen, das trifft es besser, ich liebe das Kochen. Ich sagte, das merkt man, haben Sie eine Ausbildung zum Koch, ich meine, oder wo haben Sie es … gelernt? Nein, ich habe es mir selber beigebracht, sagte Herrera, learning by doing, ich brauchte ja einen neuen Beruf, nach meinem Unfall bei der Corrida. Bei der Corrida?, fragte ich. Ja, sagte er, als Formalito mich erwischt hat, am Bein und am Kopf, Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades, contusio cerebri, wenn Ihnen das was sagt. Formalito, sagte ich, sprechen Sie von einem Stier? Es war natürlich nicht der Formalito, sagte Herrera, er hieß offiziell Formalito II, er wurde benannt nach dem Vater von Islero, der Formalito hieß, jedenfalls hat er mich zweimal erwischt, erst an der Schläfe, dann machte er sich über mein Bein her. Das war sein gutes Recht. Keiner nimmt es einem Stier übel, wenn er sich wehrt, dazu holt man ihn ja zur Corrida, man will ja, dass er sich wehrt, und wenn er es erfolgreich tut, ist das nicht sein Problem, sondern das des Matadors, es war also mein Problem. Sie waren Torero?, fragte ich, er sagte, nicht Torero, Matador war ich.
Ich hatte mir Stierkämpfer immer hochgewachsen, schwarzhaarig und attraktiv vorgestellt, und Herrera war nur schwarzhaarig. In seiner Jugend war er vielleicht hochgewachsen und attraktiv gewesen, die Leute verlieren ja mit dem Alter an Attraktivität und an Höhe. Wenn ich ihn mir genauer ansah, musste ich zugeben, dass ich ihn vielleicht bisher optisch unterschätzt hatte. Er war durchaus auf eine Weise attraktiv, in die Jahre gekommen, aber er hatte lebendige dunkle Augen, ein etwas pferdiges, aber markantes Gesicht, eine kräftige, männliche Statur, und trotz seines bösen Beins bewegte er sich, als habe er versteckte Kraftreserven, wie ein Braunbär, der, wenn er richtig wütend ist, seine Tapsigkeit ablegt und einem aus hundert Metern Entfernung an den Hals springt.
Banderilleros, Picadores, Novilleros.