Am Abgrund balanciert es sich am besten

Über Fiona Lucas

Foto: © Rose Loakes

Fiona Lucas hat zahlreiche erfolgreiche Romane geschrieben und wurde unter anderem mit dem Joan Hessayon Award und mit dem Romantic Novel Award ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Töchtern in London.

 

Die Übersetzerin

Claudia Feldmann studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und überträgt seit mehr als zwanzig Jahren Romane aus dem Englischen und Französischen, unter anderem von Eoin Colfer, Morgan Callan Rogers, Louisa Young und Graeme Macrae Burnet.

die eine Autorin sich nur wünschen kann.

Anna lag im Bett und hatte die Decke über den Kopf gezogen. Das wäre an sich nicht weiter bemerkenswert, nur war es halb acht an einem Donnerstagabend, und sie war vollständig angezogen, abgesehen von den Schuhen. Irgendwo in der Ferne klingelte es an der Haustür. Sie versuchte es zu ignorieren.

Sie war vor einer halben Stunde ins Bett gekrochen und hatte nicht vor, an diesem Abend wieder hervorzukommen. Vielleicht auch nie. Es war schön in ihrem Kokon. Still und dunkel. Die Welt war heute zu hell gewesen, zu laut. Zu verdammt fröhlich. Aber das hier war eine wunderbare Lösung. Darauf hätte sie schon viel früher kommen sollen.

Der Briefschlitz klapperte. »Anna?«

Anna seufzte. Vielleicht sollte sie über eine Schallisolierung nachdenken?

Die Stimme meldete sich wieder, diesmal lauter. »Hey! Ich bin hier. Mach die Tür auf!«

Tief atmen … Das sollte doch angeblich helfen, ruhig zu bleiben, oder? Anna beschloss, es zu versuchen; sie wollte so gerne in dieser weichen, dämmrigen Dumpfheit bleiben. Das Problem dabei war nur, dass Anna schon seit einer ganzen Weile nicht mehr tief atmen konnte. Zwei Jahre, neun Monate und acht Tage, um genau zu sein.

War es wirklich schon so lange her? Es kam ihr immer noch so vor, als wäre es gestern gewesen.

Sie drehte sich auf die Seite, zog die Knie an die Brust und kniff die Augen zu.

Die Stimme kam erneut durch den Briefschlitz, aber diesmal klang sie genervt. Sogar ein bisschen verzweifelt. Anna atmete zitternd aus.

»Anna? Minha querida? Alles in Ordnung?«

Anna vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte. Dann kroch sie aus ihrem kuscheligen Nest, richtete sich widerstrebend auf und ging die Treppe hinunter in den Flur.

»Dem Himmel sei Dank!«, sagte ihre beste Freundin, als Anna die Tür öffnete. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass du die Treppe runtergefallen oder in der Badewanne ausgerutscht bist!« Gabrielas Stimme klang munter, als sie in den Flur trat, aber ihr Lachen hatte etwas Angespanntes, und ihre Augen waren voller Fragen. Anna wusste, dass Gabi sie nicht stellen würde, aber sie hörte sie trotzdem. Dir geht’s doch gut? Oder muss ich mir ernsthaft Sorgen machen?

In letzter Zeit hatten alle, die Anna kannte, Fragen in den Augen, wenn sie mit ihr sprachen. Meist waren es dieselben Fragen. Aber sie hatten Angst, das Falsche zu sagen. Oder nicht das Richtige. Anna lebte auf einem Minenfeld aus rohen Eiern.

Gabi drückte Anna eine Blechdose in die Hand. »Ich hatte Sehnsucht nach dem Möhrenkuchen meiner Mutter, aber ich habe viel zu viel davon gebacken.«

»Danke«, sagte Anna und drückte die Dose an sich. »Darauf freue ich mich schon.« Die knallorange Version ihrer brasilianischen Freundin mit dickem Schokoladenüberzug war unglaublich lecker.

Gabi sah sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Hoffnung an. »Wirklich?«

Hier ging es nicht nur um Kuchen. Gabi stöhnte immer, ihre üppigen Rundungen kämen daher, dass ihre Mutter Liebe stets durch Leckereien zeigte, aber anscheinend war sie da gar nicht so viel anders.

Anna nickte befangen. »Natürlich.« Und dann brachte sie die Dose in die Küche, in der Hoffnung, dass das Thema damit beendet war.

Sie verstand, dass ihre Familie und ihre Freunde sich um sie

Als Anna in den Flur zurückkehrte, musterte Gabi sie mit gerunzelter Stirn. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

Anna hob tastend die Hände und stellte fest, dass ihr schulterlanges braunes Haar am Hinterkopf ganz zerzaust war. Sie versuchte es unauffällig glatt zu streichen, traute sich aber nicht, in den Spiegel neben der Haustür zu sehen. Sie hatte seit Heiligabend das Haus nicht mehr verlassen, und sie fürchtete, ein blasses und ungepflegtes Gegenüber zu erblicken. Gabi hingegen sah makellos aus. Ihr dunkles Haar ringelte sich in seidigen Locken um ihre Schultern, und das kobaltblaue Kleid, das sie trug, passte perfekt zu ihrem warmen Hautton.

»Du bist doch bereit für die Party, oder?« Gabis Blick wanderte hinunter zu dem zerknitterten kleinen Schwarzen, das Anna trug, und ihren unbeschuhten Füßen. »Es sind nur noch ein paar Stunden, bis wir alle ›Frohes neues Jahr‹ rufen, und ich will nicht zu spät kommen!«

Frohes neues Jahr …

Wie gerne würde Anna sich diesen Ausdruck vorknöpfen! Vor allem müsste das erste Wort abgeschnitten und weggeworfen werden. Das »neue Jahr« allerdings war eine Tatsache. Daran konnte sie nichts ändern. Die Zeit würde weiterlaufen, ob sie es wollte oder nicht, aber das mit dem »froh« war einfach lächerlich, sogar fast beleidigend.

Eine Flut von Gefühlen wogte in ihr auf, so mächtig, dass sie am liebsten sofort wieder nach oben gerannt und unter die Decke gekrochen wäre. Sie holte Luft, um Gabi abzusagen, doch der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin ließ sie innehalten. Da waren Verwirrung über Annas zerknautschtes Aussehen und eine gewisse Besorgnis, aber auch noch etwas anderes, das Anna wiedererkannte.

»Auf der Party ist jemand, der dir gefällt, stimmt’s?«, fragte sie,

Gabi setzte ihre Unschuldsmiene auf. »Nein.«

Hmm. Anna war sich nicht sicher, ob sie ihr das glauben sollte.

»Sieh mich nicht so an«, wehrte Gabi ab. »Du weißt doch, seit Joel bin ich mit den Männern durch.«

Anna nickte leicht. »Ja, das hast du gesagt.« Ob es allerdings dabei blieb, musste sich erst noch zeigen. In diesem Moment hätte Anna zwanzig Pfund darauf gewettet, dass ihre Freundin spätestens um Mitternacht in einem leidenschaftlichen Kuss versinken würde.

Aber Anna gönnte es ihr. Die Trennung von Joel lag mittlerweile fünf Jahre zurück. Um ehrlich zu sein, war Anna nicht traurig darüber gewesen – er hatte Gabi überhaupt nicht zu schätzen gewusst –, aber Gabi hatte es nicht so gesehen und war vollkommen am Boden zerstört gewesen. Seitdem hatte es nur ein paar kurze Beziehungen gegeben. Gabi mochte selbstbewusste Männer, aber meistens stellte sich heraus, dass sie nicht selbstbewusst, sondern großspurig und egozentrisch waren – nicht unbedingt das Richtige für eine reife, dauerhafte Beziehung.

»Und es stimmt auch«, sagte Gabi im Brustton der Überzeugung, sodass Anna ihr beinahe glaubte. »Bist du startklar?«

Anna blickte zur Treppe, an deren Ende ihr kuscheliger Kokon wartete, und seufzte. Wenigstens eine von ihnen sollte an diesem Abend etwas zu hoffen haben, wenn sie dieses alte erschöpfte Jahr hinter sich zurückließen und über die Schwelle in ein frisches unbeschriebenes traten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Na klar. Gib mir zwei Sekunden. Ich schnappe mir nur schnell meinen Mantel und ziehe mir Schuhe an.«

In einer idealen Welt, dachte Anna, würde ich bei jeder Party anderthalb Stunden zu spät kommen. So könnte sie sich den Anfang sparen, die allgegenwärtige Vorfreude, die lärmenden Begrüßungen und die Vorstellungsrunden mit den sofort wieder vergessenen Namen.

Gabi arbeitete als Foodstylistin und sorgte dafür, dass die Gerichte in Kochbüchern und Zeitschriften so verlockend aussahen, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Im Lauf der Jahre hatte sie eine bunte Mischung von Leuten kennengelernt – Fotografen und Grafiker, Herausgeber von Zeitschriften, Stylisten und Fernsehmoderatoren. Gastgeberin der Party an diesem Abend war eine Kalifornierin, der eine Kette von Schönheitssalons in Südlondon gehörte. Vanessa lebte in Chislehurst, und je näher Anna und Gabi ihrem Ziel kamen, desto prächtiger wurden die Häuser und desto grüner die Straßen. Die Gegend war nur ein paar Kilometer von Annas Doppelhaushälfte in Sundridge Park entfernt, aber sie kam sich vor wie in einer anderen Welt.

Sie folgte Gabi durch das Erdgeschoss des eleganten Hauses, ein unberührtes Glas Champagner in der Hand. Jedes Mal wenn es Gabi gelang, sich aus einem Grüppchen überschwänglicher Extrovertierter zu lösen, wurde sie sofort in das nächste gezogen, und Anna kannte kaum jemanden davon. Sie stellte sich einfach mit freundlicher, aber zurückhaltender Miene an den Rand und vermied so weit wie möglich jeden Blickkontakt.

Der Vorteil daran, eine kontaktfreudigere Freundin zu haben, die nahezu alle Gäste zu kennen schien, war, dass das Gespräch um Anna herumfloss wie ein Bach um einen Felsen, und das war ihr auch ganz recht so. Denn mit dem Small Talk kamen die Fragen, und sie

»Hi, Anna! Wie geht es Ihnen?«

Sie zwang ihre Mundwinkel nach oben, drehte sich um und stand vor einer von Gabis kreativen, interessanten Freundinnen, die sie anstrahlte. »Oh, äh, hallo …« Anna verstummte, zum einen, weil sie sich nicht an den Namen der Frau erinnern konnte, aber vor allem, weil diese einfache Frage sie stets in eine Zwickmühle brachte. Sie war ein ehrlicher Mensch, und wenn jemand sie fragte, wie es ihr ging, antwortete sie automatisch wahrheitsgemäß.

Großer Fehler.

Damals, in der ersten Zeit, hatte sie genau das getan, hatte erwidert, dass jede Sekunde des Tages wie ein Messerstich in ihrem Herzen war und dass sie sich davor fürchtete, morgens die Augen zu öffnen. Es hatte so gutgetan, alles herauszulassen.

Doch sie hatte schnell gemerkt, dass ihre Freunde sie dann erschrocken ansahen und nicht wussten, was sie darauf sagen sollten. Meistens behaupteten sie, sie müssten dringend noch mit jemandem da drüben sprechen, und ergriffen die Flucht.

Niemand wollte wirklich wissen, wie es ihr ging. Nicht nach zwei Jahren, neun Monaten und acht Tagen. Nicht mal Gabi. Sie wollten hören, dass sie sich hochgerappelt hatte, dass es möglich war, etwas so Tragisches zu überstehen und wieder nach vorn zu blicken. Im Grunde war es egoistisch, denn sie wollten, dass sie ihnen Hoffnung gab. Sie sollte ihnen versichern, dass auch sie, falls ihnen etwas so Furchtbares zustieß, darüber hinwegkommen würden. Aber Anna war nicht darüber hinweg, nicht mal ansatzweise.

Gabis Freundin sah sie erwartungsvoll an.

»Ganz gut«, erwiderte Anna mit einem Nicken und bemerkte wieder einmal, dass die Trauer sie in eine elende Lügnerin verwandelt hatte. »Und Ihnen?«

Die Frau – Keisha! Sie hieß Keisha – zuckte philosophisch die Achseln. »Ach, na ja, das Übliche …« Dann zog sie die Stirn kraus. »Ich

Anna hätte sie am liebsten abgeschüttelt und Keisha wütend angefunkelt, weil sie eine unsichtbare Grenze überschritten hatte, aber sie tat es nicht. »Oh!«, sagte sie und blickte an ihr vorbei ans andere Ende der großen, edlen Küche. »Ich glaube, Vanessa sucht Sie.«

Tatsächlich war ihre Gastgeberin nirgends zu sehen, aber das Spiel mit der »unsichtbaren Freundin« konnte sie schließlich genauso gut spielen. Keisha wirkte einen Moment hin- und hergerissen, dann drückte sie Anna kurz mit einem Arm an sich und eilte davon.

Sie war froh, als gegen neun die Begrüßungsphase vorbei war und die Leute sich in kleinen Grüppchen in der Küche und über die diversen Sitzgelegenheiten verteilten. Das machte es einfacher, mit ihrem mittlerweile lauwarmen Champagner umherzuschlendern und so zu tun, als hätte sie gerade ein wunderbares Gespräch mit einem Gast beendet und wäre auf dem Weg zum nächsten. Dabei hatte sie – abgesehen von dem kurzen Wortwechsel mit Keisha – bisher nur mit Gabi gesprochen, und das war im Auto auf dem Weg hierher gewesen.

Sie waren kaum losgefahren, da hatte Gabi betont beiläufig gesagt: »Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Jeremy heute Abend auch kommt?«

Anna warf ihrer Freundin einen scharfen Seitenblick zu. Gabi saß ganz ruhig auf dem Beifahrersitz, die Hände im Schoß gefaltet und die Andeutung eines unschuldigen Lächelns auf den Lippen. Das beunruhigte Anna, denn Gabi war nie cool und zurückhaltend. Gabi strahlte und kreischte und warf Konfetti. Immer. Das ungute Gefühl in Annas Magen verstärkte sich.

»Ach ja?«, erwiderte sie leichthin. »Wer war das noch gleich?« Obwohl sie genau wusste, dass Jeremy ein Freund von Vanessa war. Und dass er als Grafikdesigner arbeitete und eine »Wahnsinnswohnung« in Beckenham hatte.

Anna war klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis

Aber Anna wollte nicht nach vorne schauen. Sie war noch nicht so weit.

Das hatte sie Gabi auch schon tausendmal gesagt, aber offenbar ohne jede Wirkung, denn in diesem Moment schlängelte sich ihre Freundin lächelnd mit einem Mann im Schlepptau durch das Gedränge in der Küche auf sie zu.

Da begriff sie. Gabi ging es gar nicht um ihr eigenes Liebesleben, sondern um Annas.

Anna versuchte, in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten, doch Vanessas Angestellte aus dem Schönheitssalon versperrten ihr den Weg, bunt und aufgeputzt wie ein Schwarm exotischer Vögel. Sie hatten sich direkt neben dem gläsernen Kühlschrank niedergelassen, der bis obenhin mit Champagnerflaschen gefüllt war, und rührten sich nicht von der Stelle.

»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«, rief Gabi und setzte ihr strahlendstes Julia-Roberts-Lächeln auf. Sie blickte zu dem Mann, den sie am Arm hinter sich herzog und der nicht ganz so enthusiastisch wirkte wie Gabi. »Das ist Jeremy!«, verkündete sie mit solchem Elan, als handele es sich um die Oscar-Verleihung. Groß, mit sandfarbenem Haar und ausgeprägten Wangenknochen, erinnerte Jeremy Anna an den Detektiv in der schwedischen Krimiserie, die sie gerade auf Netflix dauerguckte.

»Weißt du noch? Ich hab dir doch von ihm erzählt.«

Anna warf Gabi einen Blick zu. Das ist nicht dein Ernst, oder?

Doch Gabi funkelte unbeirrt zurück – Jetzt reiß dich gefälligst zusammen! – und sprach weiter. »Du hast doch gesagt, du würdest gerne mal Salsa ausprobieren. Und Jeremy macht einen Kurs am Civic Centre. Er kann dir alles darüber erzählen.« Dann fiel Gabi plötzlich auf, dass sie nichts mehr zu trinken hatten, und sie eilte, obwohl sie

Anna holte Luft, lächelte und sagte: »Hallo.« Ja, sie fühlte sich gerade ein bisschen ungesellig, aber sie war nicht unhöflich. Deshalb sagte sie ihm auch nicht, als sie vorsichtig ein paar Sätze wechselten, dass das mit dem Salsakurs Gabis Idee gewesen war. Damit Anna mal aus dem Haus und auf andere Gedanken kam. Davor war es Italienisch gewesen. Und davor ein Goldschmiedekurs. Selbst »Wie repariere ich mein Auto?« war ihr nicht zu blöd gewesen.

Und so kam es, dass Anna sich eine halbe Stunde lang dort in der Küche mit Jeremy unterhielt. Er war nett, das musste sie zugeben. Nicht zu sehr von sich eingenommen. Kein Langweiler. Und ganz offensichtlich hatte Gabi ihn mit ihrem wenig subtilen Verkuppelungsversuch genauso überrumpelt wie sie. Er gab sich zwar Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen, aber es gelang ihm nicht so recht. Was ihn für Anna noch sympathischer machte.

Als er vorschlug, nach draußen zu gehen, um dem Lärm und dem Gedränge zu entkommen, folgte sie ihm. »Wie sind Sie denn zum Salsaexperten geworden?«, fragte sie, als sie auf die Terrasse hinaustraten, von der man auf den perfekt gepflegten Garten blickte.

Jeremy verzog das Gesicht. »Ich bin ganz sicher kein Experte.«

»Nein? Wie lange tanzen Sie denn schon?«

Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und lachte. Er hatte ein nettes Lächeln, fand Anna. In seinen Augen lagen Wärme, Ehrlichkeit und auch etwas Verschmitztes. »Das ist es ja gerade – ich war nur ein paarmal da, und auch nur, weil meine Schwester unbedingt hinwollte und mein Schwager sich stur geweigert hat.«

Anna musste lachen. Nicht schallend laut, eher leise und amüsiert, aber es schockierte sie so sehr, dass sie sofort wieder verstummte. Das Geräusch war ihren Ohren fremd, das leichte Beben ihrer Schultern ungewohnt. Wie lange war es her, dass sie zuletzt gelacht hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie wechselte zu einem anderen Gesprächsthema, und dabei ging ihr durch den Kopf, dass Gabi eine gute Wahl getroffen hatte. Eine sehr gute sogar. Denn in einem anderen Leben, einer anderen Wirklichkeit hätte sie bei der Vorstellung, mit Jeremy zu tanzen, seine Hand auf ihrem Rücken zu spüren, während sie sich bewegten, vielleicht Schmetterlinge im Bauch. Als sie dort ans Geländer gelehnt standen, sah Jeremy sie immer wieder an, und jedes Mal verspürte sie zu ihrer Überraschung das Kitzeln zarter Flügel in ihrem Innern.

Doch Anna wusste, dass sie dem Geflatter nicht zu viel Beachtung schenken sollte. Schmetterlinge waren kurzlebige Geschöpfe, und in Anbetracht des Frosts, der ihre Seele gefangen hielt, würden sie vermutlich bald tot sein. Zu Eis erstarrt, die Armen.

Doch als Jeremy ihr das Glas mit dem lauwarmen, abgestandenen Champagner abnahm, um ihr ein neues zu holen, streiften seine Finger ihre, und die Schmetterlinge gerieten in Panik.

Diese kurze Berührung löste einen verborgenen Alarm aus, wie ein Bankangestellter, der beim Überfall auf den Knopf unter dem Tisch drückt. In ihrem Herzen blinkte alle paar Sekunden ein rotes Licht auf, und in ihrem Schädel lärmte eine Sirene, als Jeremy sich durch das Gedränge Richtung Küche bewegte.

Ganz egal, dass er gut aussieht, tönte der Alarm. Sogar ausgesprochen gut. Er ist nicht Spencer.

Ganz egal, dass er intelligent, feinfühlig und auf eine gute Art ernsthaft ist, wie Spencer es nie war. Ganz egal, dass dieser Jeremy bestimmt nie auf die Idee käme, jedes Mal einen Witz abzulassen, wenn du über

Anna versuchte, den Alarm zu ignorieren, als Jeremy zurückkam. Sie versuchte zuzuhören, als er eine Anekdote über einen besonders anspruchsvollen Kunden erzählte, aber die Warnung pulsierte die ganze Zeit in ihrem Hinterkopf, während sein Blick immer länger auf ihr lag und sich eine kleine Blase der Intimität um sie schloss.

Mist. Sie wusste, wo das hinführte.

Spätestens in einer halben Stunde würde er sanft ihren Arm berühren, während er ihr etwas erzählte. Und wenn Big Bens Glockenschläge durch das Land hallten, würde er sich vielleicht vorbeugen und sie sanft auf die Lippen küssen. Bei der Vorstellung sackte ihr der Magen in die Knie. Ihr wurde heiß, und es kribbelte überall.

Nicht Spencer, blinkte die Warnlampe. Nicht Spencer. Nicht Spencer. Nicht Spencer.

Anna versuchte zu lächeln und zu nicken, während Jeremy weitersprach, aber sie fühlte sich zugleich elend und aufgedreht. So ging es nicht weiter. Sie musste einen Weg finden, das hier zu einem Ende zu bringen.

Da fing Jeremy von einem Junggesellenabschied an, bei dem er und seine Freunde einen ganzen Nachmittag lang in Goodwood mit Rennwagen ihre Runden gedreht hatten, und Anna packte die Gelegenheit sofort beim Schopf.

»So was wollte ich meinem Mann mal zum Geburtstag schenken«, warf sie ein. »Er liebte schnelle Autos, ganz besonders Aston Martins.«

Jeremy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann sickerte die Information offenbar ein, denn er stockte. »Aston Martin?«, sagte er schließlich und räusperte sich. »Gute Wahl.«

Ihr fiel auf, dass er zwar etwas aus dem Konzept gebracht war, aber nicht schockiert wirkte, wie es wohl bei den meisten Männern der Fall wäre, wenn eine Frau sich über eine Stunde lang ausschließlich mit ihnen unterhielt, ohne zu erwähnen, dass es da noch einen Ehemann gab.

»Ein bisschen«, erwiderte er, und sie rechnete es ihm hoch an, dass er ihr dabei in die Augen sah und nicht den Blick abwandte oder so tat, als hätte er gerade jemanden entdeckt, mit dem er unbedingt sprechen wollte. Bis hierhin war ihr Gespräch entspannt dahingesegelt, aber obwohl die See jetzt rauer wurde, ergriff er nicht die Flucht. Er blieb da und navigierte durch die Wellentäler der Befangenheit, die sich nun vor ihnen auftaten. Der Mann hatte Klasse.

Doch Anna konnte nicht zulassen, dass deshalb ihre Überzeugung ins Wanken geriet, und so erzählte sie ihm, was vor zwei Jahren, neun Monaten und acht Tagen passiert war: dass ihr Mann abends noch kurz zum Laden an der Ecke gegangen war, um eine Flasche Wein zu besorgen. Und dass er nicht zurückgekommen war, weil jemand am gleichen Abend zu viel getrunken und sich trotzdem ans Steuer eines Autos gesetzt hatte. Bis zum Laden waren es nur drei Minuten gewesen.

Sie erzählte ihm, wie sie die Sirene des Rettungswagens gehört und sofort gewusst hatte, dass etwas Furchtbares passiert war. Wie sie trotz der Märzkälte barfuß aus dem Haus gerannt war und die Tür hatte offen stehen lassen. Wie sie Spencer auf der Straße hatte liegen sehen, mit lauter Sanitätern um ihn herum, die Gesichter blass und ernst. Und wie man ihr bei der Ankunft im Krankenhaus mitgeteilt hatte, dass er auf dem Weg dorthin gestorben war.

Sie erzählte Jeremy alles bis ins kleinste Detail, und er sah sie dabei an, nicht entsetzt oder peinlich berührt, sondern voller Mitgefühl. Echtem Mitgefühl, nicht Mitleid.

Genau deshalb sorgte Anna dafür, dass jedes Wort ein Ziegelstein war und dass sie aus den Steinen eine Mauer baute. Eine Grenze. Und als sie ihre Geschichte beendet hatte, stand sie auf der einen Seite und Jeremy auf der anderen.

Trotzdem haute er nicht ab. Verfluchter Kerl.

»Was den Salsakurs angeht …«, sagte er. »Ich nehme an, das war eher Gabis Idee.«

Er nickte. Sie würden also nicht so bald zusammen das Tanzbein schwingen. Wahrscheinlich nie.

»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Anna«, sagte er sanft und sah ihr in die Augen. Nicht auf romantische Weise (das hatte sie ihm eindeutig ausgetrieben), aber voller Ehrlichkeit, um ihr zu verstehen zu geben, dass er es wirklich so meinte.

Anna nickte nur und schluckte die Worte hinunter, die ihr in die Kehle stiegen, weil sie fürchtete, sie könnten sich zu der Bitte formen, bei ihr zu bleiben und weiter mit ihr zu reden, als wäre sie ein normaler Mensch und nicht eine wandelnde Tragödie, die man wie ein rohes Ei behandeln musste.

Er blickte zum Haus. »Da ist jemand, mit dem ich …« Er beendete den Satz nicht, sondern lächelte ihr nur ein wenig traurig zu, drehte sich um und ging hinein. Anna sah ihm nach, als er sich durch das Gedränge in der Küche schob.

Nun hatte er doch noch die alte Ausrede gewählt, aber sie verübelte es ihm nicht, im Gegenteil, sie war ihm sogar dankbar. Er hatte es getan, um sie aus der unbehaglichen Situation zu befreien, nicht sich selbst. Jeremy hatte ihre Steine und ihre Mauer gesehen und sie respektiert. Ihr schossen Tränen in die Augen.

Während sie noch dastand und mit feuchten Augen auf die Glastüren der Küche starrte, tauchte mit einem Mal Gabi auf. »Wo ist Jeremy?«

Anna war ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie das fragte, weil sie ihn allein im Haus gesehen hatte. »Da war jemand, mit dem er dringend sprechen musste«, antwortete sie und ignorierte das warme Gefühl, das bei dem Gedanken daran aufflackerte, dass sie durch diese Notlüge, dieses kleine Geheimnis mit ihm verbunden war. Sie drehte sich um und blickte hinaus in den dunklen Garten.

Gabi wirkte schwer enttäuscht. »Aber … aber es sah so aus, als würdet ihr euch richtig gut verstehen.«

»So war es auch.«

Anna nickte. Sie verspürte den Stich eines schlechten Gewissens. Es war Jeremy gegenüber nicht fair gewesen, sich so lange mit ihm zu unterhalten. Und dann bohrte sich das Messer des schlechten Gewissens, das sie bisher nur leicht geritzt hatte, tiefer und grub sich in ihre Eingeweide. Es war auch Spencer gegenüber nicht fair gewesen. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Gabi?«

Gabi wollte erst die Unschuldige spielen, doch dann gab sie es auf. Sie sah Anna kleinlaut an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich fand ihn nur nett und dachte, dass du … dass du …«

Anna knirschte mit den Zähnen. »Wenn du jetzt sagst, dass ich nach vorne schauen soll, dann kippe ich dir den Champagner ins Gesicht.«

Gabis Gesicht wurde ernst. »Aber du musst –«

Das reichte. Anna hatte genug. Sie machte ihre Drohung zwar nicht wahr, aber sie schleuderte ihr Glas über das Geländer in den Garten, wo es unter einen Busch rollte. Vanessa würde sie umbringen, falls sie das je herausfand.

»Ich muss nicht nach vorne schauen!«, schrie sie. »Es ist erst zwei Jahre her!«

Gabi öffnete den Mund, um – zutreffenderweise – einzuwenden, dass es mittlerweile schon fast drei Jahre waren, doch als sie Annas Miene sah, ließ sie es bleiben.

»Was erwartest du denn? Soll ich einfach mit den Fingern schnippen und sagen: Tja, die Liebe meines Lebens, der Mann, den ich mit jeder Faser meines Seins geliebt habe, ist tot, also sollte ich mir wohl Ersatz suchen? Als wäre er ein Kleidungsstück vom letzten Jahr?«

»Nein, natürlich nicht … Ich …«

Anna sah, wie verletzt ihre Freundin war, aber das bremste sie nicht. Selbst schuld, Gabi. Du hast immer wieder gestochert, du hast diesen Tiger aus seinem Schlaf aufgeschreckt, und jetzt hörst du dir gefälligst sein Gebrüll an!

Gabi zuckte zusammen. Anna wusste, dass das ein Schlag unter die Gürtellinie gewesen war und dass sie es bereuen würde, sobald sie sich wieder beruhigt hatte, aber sie musste dafür sorgen, dass Gabi damit aufhörte. Dass sie endlich begriff.

Es musste Schluss sein mit den Italienischkursen, dem Goldschmieden und dem Salsatanzen. Und mit den Jeremys. Denn Anna wusste, dass ihr noch mehr davon vorgeführt werden würden, wenn sie sich jetzt nicht durchsetzte. Sie musste Gabi klarmachen, dass sie nicht auf magische Weise über Spencer hinwegkam, wenn sie lernte, das Verb essere zu konjugieren oder einen perfekten »Side Basic« zu tanzen. Sie würde überhaupt nicht über ihn hinwegkommen.

»Sag mir nie mehr, dass ich nach vorne schauen soll! Weil du es nicht verstehst! Nicht, solange du es nicht selbst erlebt hast!«

Und bevor Gabi irgendetwas zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte, drehte Anna sich um und marschierte auf die Pforte an der Seite des Hauses zu. Zum Glück war sie nicht verschlossen. Sie hätte es nicht ertragen, sich noch einmal zwischen all den Leuten da drinnen hindurchzwängen zu müssen.

Nein, du hättest es nicht ertragen, dich umzudrehen und Gabi mit Tränen in den Augen dastehen zu sehen, wandte eine Stimme in ihrem Kopf ein, aber Anna beachtete sie nicht, sondern knallte die Pforte so heftig hinter sich zu, dass der Riegel schepperte. Und dann stapfte sie zu ihrem Auto, stieg ein und fuhr nach Hause.

Anna schaltete gar nicht erst das Licht ein, als sie nach Hause kam, sondern lief direkt die Treppe hoch und ins Schlafzimmer. Der Digitalwecker auf dem Nachttisch zeigte 23:36 an. Sie wandte den Blick ab.

Wenn sie nicht daraufschaute, konnte sie nicht sehen, wie die Zahlen immer höher wurden, bis schließlich die gefürchtete Reihe von Nullen da stand. Und wenn sie sie nicht sehen konnte, dann existierte sie auch nicht. Mitternacht war eine Schwelle, die sie nicht überschreiten wollte. Nicht nur an diesem besonderen Tag, sondern immer. Jeder Tag ohne ihn war einer zu viel.

Anna hatte einige kleine Rituale, die ihr helfen sollten, durch die Tage und Nächte zu kommen, und davon brauchte sie jetzt eins. Sie ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen, ging zu Spencers eingebautem Kleiderschrank, legte die Hände um die Griffe und öffnete die Türen. Alle seine Anzüge und Hemden hingen dort genau so, wie er sie zurückgelassen hatte. Sie wusste, es war ein fürchterliches Klischee, aber sie brachte es einfach nicht über sich, sie in einen Müllbeutel zu stopfen oder ins Sozialkaufhaus zu bringen.

Seufzend zog sie den Ärmel eines Hemdes zu sich und schnupperte daran. Sein Duft hing nicht mehr darin, obwohl sie nichts von seinen Sachen gewaschen hatte, aber sie tat so, als ob. Dabei versuchte sie jedes Mal, sich daran zu erinnern, wie er gerochen hatte, aber es fiel ihr immer schwerer.

Spencer hätte über sie gelacht, weil sie so sentimental war, aber schließlich hatte er über alles gelacht, über alles gefrotzelt – was sie bezaubert, aber oft genug auch auf die Palme gebracht hatte. Er hatte es sogar getan, als sie ihm zum ersten Mal gesagt hatte, dass sie ihn liebte.

Spencer zog sie an sich und küsste sie, dann legte er die Hände um ihr Gesicht, sah ihr tief in die Augen und sagte ganz schlicht und ernst: »Ich liebe dich.« Und dann fing er plötzlich an zu lachen. »Tut mir leid – ich konnte mich einfach nicht länger zusammenreißen.«

Sie war atemlos, und alles um sie herum schien sich zu drehen. Das passierte ihr bei Spencer oft, dass sie sich fragte, wo oben und wo unten war; er war der Magnet und sie die Kompassnadel.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie, und sein Lächeln wurde noch breiter, doch dann schaute er mit einem Mal ganz ernst.

»Wie bitte?«, fragte er mit schelmischem Funkeln in den Augen. »Ich glaube, das habe ich nicht richtig verstanden.«

Sie musste lachen, dann räusperte sie sich und versuchte es noch einmal lauter. »Ich liebe dich auch.«

Spencer legte die Hand an sein Ohr. »Nein. Habe ich immer noch nicht verstanden.« Sie knuffte ihn in den Arm. Er kam immer näher, bis ihre Lippen sich fast berührten, dann ließ er sie plötzlich los, sprang auf eine der Bänke am Ufer und breitete die Arme aus. »Wenn man jemanden liebt«, brüllte er, »sagt man das nicht leise, sondern man ruft es von den Dächern! Und zwar so …« Er drehte sich zu den Möwen, die auf der Lichterkette zwischen den Straßenlaternen saßen. »Ich liebe dich, Anna Mason! Ich habe dich seit dem Tag geliebt, als wir uns das erste Mal begegnet sind, und ich werde dich immer lieben!«

»Du hast es sehr wohl verstanden, du Idiot«, murmelte sie ihm ins Ohr, und dann küsste sie ihn genauso sanft und zärtlich, wie er sie geküsst hatte.

Von da an war es ihr »Ding« gewesen – wenn sie »Ich liebe dich« sagte, fragte er jedes Mal: »Wie bitte?«, und dann flüsterte sie: »Du hast es sehr wohl verstanden, du Idiot.« Sie hatte gedacht, dass sie das noch mit achtzig machen würden …

Mit einem Schluchzen sank sie auf den Schrankboden, wobei sie das Hemd samt Bügel mitriss, und dann vergrub sie das Gesicht in dem blau-weiß gestreiften Stoff und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.

Wie konnte Sehnsucht nur so wehtun? Jetzt verstand sie, warum die Leute von einem gebrochenen Herzen sprachen, denn sie spürte den Schmerz mit jedem einzelnen Schlag.

Sie verlor jegliches Zeitgefühl, während sie zusammengekrümmt dort im Schrank lag, Spencers Hemd an die Brust gedrückt. Schließlich jedoch kam sie wieder im Hier und Jetzt an. Aber der Schmerz hörte nicht auf. Er hörte nie auf.

Sie beugte sich vor und griff nach ihrer Handtasche, dann setzte sie sich wieder in den Schrank, den Rücken an die Wand gelehnt, holte ihr Handy heraus und schaltete es ein.

23:56. Es war fast Mitternacht.

Anna schloss die Augen und versuchte, mit reiner Willenskraft die Zeit anzuhalten. Noch vier Minuten. Oder vermutlich eher weniger – drei und ein paar Sekunden – war alles, was ihr von diesem Jahr

Es funktionierte nicht. Als sie die Augen wieder öffnete, war eine weitere Minute vergangen. Sie starrte auf das Handy, während in ihrem Innern ein Kampf entbrannte. Es gab nämlich noch ein Ritual. Eines, das noch ungesünder war. In dem vernünftigen Teil ihres Kopfes wusste sie das auch. Deshalb hatte sie es sich ja verboten. Sie versuchte es wirklich, auch wenn Gabi ihr das nicht glaubte.

Leg das Handy weg, ermahnte sie sich. Du hast dir doch vorgenommen, es nicht mehr zu tun. Seit Monaten war sie nicht mehr so schwach gewesen.

Aber sie legte das Handy nicht weg. Langsam und gezielt öffnete sie ihre Kontakte, scrollte zu Spencers Namen und tippte auf »Wählen«.

Noch bevor die Verbindung stand, hörte sie die Nachricht – seine Stimme – in ihrem Kopf: Hi! Hier ist Spencer. Ich bin unterwegs und amüsiere mich, aber wenn ihr unbedingt eine öde, langweilige Nachricht hinterlassen wollt, wisst ihr ja, wie’s geht …

Sie sehnte sich so sehr danach, genau das zu tun, ihm ihr Herz auszuschütten, aber sie tat es nicht. Das war nicht genug. Ja, sie wollte mit ihm reden, aber sie wollte kein leeres, einseitiges Gespräch. Sie wollte seine Stimme hören, seine richtige Stimme, nicht eine alte, abgenudelte Aufnahme. Sie wollte, dass er ihr antwortete. Und dann könnte sie ihm endlich sagen, was sie damals an jenem letzten Abend hätte sagen sollen, bevor er zur Tür hinausgegangen war, etwas Bedeutsameres als: »Kannst du noch Milch mitbringen?«

Ihr Daumen schwebte über dem »Anruf beenden«-Button. Sooft sie seine Nummer auch gewählt hatte, um seine Bandansage zu hören, sie hatte nie eine Nachricht hinterlassen, denn auch wenn Gabi ihr vorwarf, dass sie sich in der Vergangenheit vergrub, stimmte das nicht. Sie machte sich nichts vor. Das hier war nur ein Echo von ihm, mehr nicht. Sie wusste, dass sie ihn nicht zurückholen konnte.

Doch wenn sie an diesem Abend schon abstürzte, dann wenigstens richtig. Vielleicht lag es daran, dass in diesem Moment die

»Ich liebe dich …«, flüsterte sie mit tränenrauer Stimme.

Einen Moment lang herrschte Stille.

Und dann kam die Antwort.

»Wie bitte?«

Aufzuwachen ist manchmal so, als glitte man aus einem sanften weißen Nebel. Der Dunst lichtet sich, und man fühlt sich ausgeruht, wach und klar, bereit, den Tag zu beginnen. Für Anna jedoch fühlte es sich an diesem Morgen eher so an, als sei sie unter einer Lawine begraben. Ihr Schlaf war zum Glück traumlos gewesen, doch sie hatte das Gefühl, dass etwas Schweres auf ihrer Brust lastete, und sie wusste nicht, wo sie war. Sie lag da, unfähig, sich zu bewegen oder zu denken. Schließlich begann sie sich freizukämpfen.

Als Erstes versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte ein paarmal, bis es ihr halbwegs gelang, und schaute nach dem Wecker, doch dort, wo eine Digitalanzeige hätte sein sollen, war jetzt ein altmodischer Wecker mit Glocken obendrauf und kleinen Messingfüßchen.

Obwohl die schweren Vorhänge zugezogen waren und kaum Licht hereinließen, erkannte sie, dass das Fenster am falschen Platz war. Es hätte rechts sein müssen, aber es befand sich eindeutig links.

Verwirrt setzte sie sich auf, und da fiel es ihr wieder ein. Sie war gar nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern im Gästezimmer. Sie rieb sich die müden Augen, und ihr Magen schlug einen Salto.

O Gott. Letzte Nacht … Der Anruf.

Sie erinnerte sich nicht einmal mehr an Spencers Ansage, nur an das, was danach gekommen war – die Stimme. Die Stimme, die gesprochen hatte, obwohl da nur Leere und Stille hätten sein müssen.

Als sie sie hörte, hatte sie sofort das Handy in die Tiefen des Schranks geschleudert und war panisch durchs Schlafzimmer gekrabbelt, bis sie an der gegenüberliegenden Wand ankam. Dort hatte sie sich zitternd hingesetzt, die Knie bis ans Kinn gezogen, und den offenen Schrank angestarrt, als könnte dort jeden Moment ein Geist

Nach Spencers Tod hatte sie alle möglichen seltsamen Dinge geträumt, zum Beispiel dass ihr Leben ganz normal weiterlief, und es hatte sich so real angefühlt, dass das Aufwachen fast so war wie in den ersten furchtbaren Tagen nach dem Unfall. Und dann die Albträume …

Doch die Träume waren nicht immer schlimm gewesen. Manchmal hatte sie sich in diesem Zwischenreich zwischen Schlafen und Wachen vorgestellt, er läge neben ihr im Bett, warm und solide und lebendig. Ein- oder zweimal war sie überzeugt gewesen, sie hätte seinen Atem in ihrem Nacken gespürt oder seine Hand auf ihrem Oberschenkel, aber als sie dann richtig wach wurde, war seine Seite des Bettes kühl und unberührt gewesen. Sie hatte angenommen, dass ihr Unterbewusstsein sich weigerte, die Wahrheit zu akzeptieren, und versuchte, die riesige Lücke, die er hinterlassen hatte, zu füllen.

War letzte Nacht etwas Ähnliches passiert? Sie war aufgewühlt gewesen, als sie die Party verlassen hatte. Vielleicht hatte das etwas ausgelöst …

Während Anna noch darüber nachdachte, fiel ihr mit einem Mal ein, dass sie zwar auf den Wecker gesehen, aber gar nicht darauf geachtet hatte, was er anzeigte. Sie wandte den Kopf, um noch einmal nachzusehen.

Halb zwölf? Sie sprang aus dem Bett.

Um halb eins sollte sie bei Spencers Eltern zum Neujahrsessen sein, und die Fahrt nach Epsom dauerte mindestens eine Dreiviertelstunde. Sie musste sofort los!

Doch ein kurzer Blick in den Spiegel belehrte sie eines Besseren. Sie hatte immer noch das zerknitterte schwarze Kleid an, ihre Strumpfhose hatte eine Laufmasche, die von der Ferse bis zum

Im Moment war keine Zeit, darüber nachzudenken, was letzte Nacht passiert war. Sie musste zusehen, dass sie in weniger als fünfzehn Minuten geduscht und halbwegs präsentabel war, und selbst wenn sie den ganzen Weg nach Epsom mit der Geschwindigkeitsbegrenzung flirtete, würde es verdammt knapp werden.

Spencers Mum war sehr auf Pünktlichkeit bedacht, und Anna achtete stets darauf, dass sie zum sonntäglichen Mittagessen, das alle zwei Wochen stattfand, um Punkt halb eins da war, obwohl sie nie vor eins aßen. Während Spencer notorisch unpünktlich gewesen war – Anna konnte sich an kein Familientreffen mit ihm erinnern, bei dem sie nicht mindestens eine halbe Stunde zu spät gekommen waren –, schien Gayle bei ihrer Schwiegertochter strengere Maßstäbe anzulegen.

Diese gemeinsamen Mittagessen hatten kurz nach Spencers Tod begonnen, um einander in dieser schweren Zeit zu unterstützen und gemeinsam zu lachen und zu weinen und seiner zu gedenken, und irgendwie waren sie immer weitergegangen, weil niemand den Mut aufbrachte, die Tradition zu durchbrechen. Zu spät zu kommen würde respektlos wirken.

Um zwölf hatte Anna sich wieder im Griff und stieg ins Auto. Um zwanzig nach bog sie auf die M25 ein und trat aufs Gas. Es schüttete, und wäre es noch ein oder zwei Grad kälter gewesen, wäre daraus Schneeregen geworden. Sie stellte die Scheibenwischer auf höchste Stufe und zwang sich, mehrere Autos und Lastwagen zu überholen, obwohl sie bei diesem Wetter lieber auf der langsamen Spur geblieben wäre. Doch die Strecke war ihr vertraut, und nach kurzer Zeit fuhr sie praktisch auf Autopilot und ließ ihre Gedanken wandern.

Was war denn nun wirklich letzte Nacht passiert?

Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte die Stimme am Telefon – Spencers Stimme? – tatsächlich gehört, oder sie hatte es sich eingebildet. Beide Varianten behagten ihr nicht

Denn er hatte ja nicht einfach irgendwas gesagt. Er hatte »Wie bitte?« gesagt. Ihre Worte, ihr Ding.

Hatte sie sich so sehr danach gesehnt, es noch einmal zu hören, dass sie sich das Ganze eingebildet hatte? So musste es sein. Sie war den ganzen Abend so aufgewühlt gewesen, schon bevor sie sich im Schrank ihres verstorbenen Mannes verkrochen hatte. Was sie alles zu Gabi gesagt hatte …

O Gott – Gabi!

Sie hatte völlig vergessen, sie anzurufen und sich bei ihr zu entschuldigen. Was war sie nur für eine miese Freundin!

Normalerweise war Anna eine vorsichtige Fahrerin, so sehr, dass Spencer sie immer »Grandma« genannt hatte, wenn sie am Steuer saß, aber jetzt schwenkte sie auf den Standstreifen und hielt an. Das hier war ein Notfall. Ihre Handtasche lag auf dem Beifahrersitz, und sie kramte mit der linken Hand darin herum. Erst als ihre Finger den Boden berührten, fiel es ihr ein.

Ihr Handy lag immer noch im Schrank, wo sie es nach dem Anruf hingeworfen hatte. So sehr sie auch das schlechte Gewissen Gabi gegenüber plagte, im Moment konnte sie nichts tun. Es würde bis zum Nachmittag warten müssen, wenn sie wieder zu Hause war.

Anna spähte auf die Fahrbahn, setzte den Blinker und fädelte sich wieder ein. In ihrem Kopf hörte sie immer noch die Stimme – seine Stimme.

Wie bitte?

Genau das, was Spencer gesagt hätte, allerdings ohne das kaum unterdrückte Lachen und die samtige Weichheit, die ihr so vertraut war. Er hatte so ernst geklungen, so traurig. Als litte er genauso unter ihrer Trennung wie sie.

Einerseits passte das. Andererseits auch wieder nicht. Wenn es nur Einbildung war, warum hatte sie nicht Spencers heitere,

Spencer hätte sie für diese Überlegungen ausgelacht, aber waren sie denn wirklich so lächerlich? Sie hatten doch immer gesagt, dass ihre Liebe etwas Besonderes war. Einmal, als sie bei einer Dinnerparty gewesen waren, hatte einer von seinen Freunden gesagt, falls ihm etwas zustieße, wolle er, dass seine Frau nach vorne schaute und wieder heiratete; darauf hatte Spencer erwidert, so großzügig sei er nicht, er werde einen Weg finden zurückzukommen, denn Anna gehöre für immer zu ihm. Was, wenn er tatsächlich einen Weg gefunden hatte? Schließlich wusste ja niemand wirklich, was nach dem Tod geschah, oder? Das war der einzige Bereich, in den die Wissenschaft niemals ihre neugierige Nase stecken konnte. Was, wenn etwas Wunderbares, etwas Unmögliches passiert war?

Nein, sagte sie sich. Das ist Quatsch.

Es konnte nicht wahr sein. Denn was sollte sie tun, falls doch? Zum Mittagessen bei ihren Schwiegereltern aufkreuzen und in aller Ruhe verkünden, dass sie in der vergangenen Nacht mit ihrem geliebten dahingeschiedenen Sohn geplaudert hatte? Das klang absurd. Es war absurd.

Also gut. Anna atmete zitternd aus. Es half, das Ganze in einen Zusammenhang zu setzen. Schön, vielleicht war es nicht nur ein Traum gewesen. Das hieß aber noch lange nicht, dass es wirklich passiert war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus Wirklichkeit, Einbildung und Gefühlen – das würde sie sich zumindest sagen, wenn sie wieder anfing, sich deswegen verrückt zu machen. Und sie würde es sich während des gesamten Mittagessens sagen.

Was ich jetzt wirklich gebrauchen könnte, mehr als alles andere, dachte Anna, als sie beim Haus von Spencers Eltern ankam und den Motor ausstellte, ist eine richtige Umarmung. Sie wünschte, sie stünde vor dem Haus ihrer eigenen Eltern, und ihre Mutter würde sich die Hände am Geschirrtuch abtrocknen und zur Tür gelaufen kommen, um sie zu begrüßen, aber das war nicht möglich. Es sei denn, sie stieg in ein Flugzeug und flog knapp fünftausend Kilometer.

Ihre Eltern waren, kurz nachdem sie und Spencer geheiratet hatten, nach Kanada gezogen. Annas Mutter arbeitete als Conference Centre Manager für eine internationale Hotelkette, und ihr war genau die Position angeboten worden, von der sie ihr ganzes Berufsleben lang geträumt hatte. Der einzige Haken dabei: Die neue Stelle war in Nova Scotia. Annas Vater war gerade als Bauingenieur in den Ruhestand gegangen, und ihre einzige Tochter hatte ihr eigenes Leben, und so hatten sie den Sprung gewagt. Der Plan war, nach England zurückzukehren, wenn ihre Mum in Pension ging. Anna besuchte sie natürlich ab und zu, und sie skypten regelmäßig, aber das war nicht dasselbe. Schließlich konnte man einen Bildschirm nicht umarmen.

Anna lief vom Auto zur Haustür der Barrys und klingelte. Viertel nach eins. So spät war sie noch nie gewesen.

Gayle öffnete ihr. Sie lächelte zwar, aber ihre Haltung wirkte ein wenig steif, als sie sich vorbeugte und Anna kurz auf die Wange küsste. Eine Umarmung gab es nicht. »Du bist spät dran«, sagte sie und musterte Annas Jeans und Wollpullover, die eindeutig nicht ihrem sonstigen Kleidungsstandard für die sonntäglichen Besuche entsprachen, aber Anna hatte kaum Zeit gehabt, etwas Sauberes aufzutreiben, geschweige denn, etwas zu bügeln.

»Nun, wir haben ein wenig gewartet«, sagte Gayle und ließ sie eintreten. »Aber du kommst gerade noch rechtzeitig – wir wollten uns eben zu Tisch setzen.« Und damit führte sie Anna durchs Haus zu dem großen Esszimmer, das auf den Garten hinausging.

Scott, Spencers älterer Bruder, war auch da und half, die Schüsseln aus der Küche herüberzutragen. Anna versetzte sein Anblick jedes Mal einen Stich. Er sah seinem jüngeren Bruder so ähnlich. Beide Söhne hatten das blonde Haar und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, aber Spencer hatte immer jungenhafter gewirkt. Scotts Gesichtszüge waren schärfer, und er war von Natur aus ernster.

Er und seine Frau hatten kurz vor Weihnachten verkündet, dass sie Ende Mai ihr erstes Kind erwarteten. Teresa nickte Anna kurz zu, als sie mit einer Schüssel voller Klöße hereinkam. Anna schaute unwillkürlich, ob unter Teresas losem Oberteil schon eine Wölbung zu erkennen war. Obwohl sie sich sehr für die beiden freute, empfand sie jedes Mal einen Anflug von Neid, wenn sie daran dachte.

Sie bot ihre Hilfe an, wurde jedoch weggescheucht, und so setzte sie sich auf ihren üblichen Platz am unteren Ende des Tisches. Richard, Spencers Dad, zwinkerte ihr zu, was ihr etwas die Befangenheit nahm, weil sie zu spät gekommen war. Anna zwinkerte lächelnd zurück und spürte, wie ihre Schultern sich ein wenig lockerten.