ISBN: 978-3-86191-219-4
1. Auflage 2020
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Von Zeit zu Zeit wird das Phänomen der Nahtod-Erfahrungen in den Medien diskutiert. Wenn man die Diskussionen regelmäßig verfolgt, kann man den Eindruck bekommen, die Nahtodforschung trete auf der Stelle. Es werden immer ähnliche Argumente Pro und Contra vorgetragen. Aber der Eindruck täuscht. Die öffentliche Diskussion ist verengt. Sie kreist um wenige Fragen, die sich vor allem auf medizinische Erklärungsversuche beziehen.
In Wirklichkeit ist das Nahtod-Phänomen komplexer, als allzu vereinfachte Deutungen es erscheinen lassen. Es berührt Fragen, die nur in einer Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen beantwortet werden können. Deshalb führt das Netzwerk-Nahtod-Erfahrung e. V. jährlich Tagungen durch, in denen Wissenschaftler aus relevanten Bereichen (zum Beispiel der Medizin, Theologie, Philosophie, Psychologie oder Physik) nach Antworten suchen. Die Ergebnisse veröffentlichen wir in unseren Tagungsbänden. Aus einer solchen Veranstaltung ist auch der vorliegende Band hervorgegangen, in dem wir neue Erkenntnisse und Wege vorstellen, die uns für die Zukunft der Nahtodforschung bedeutsam erscheinen.
Eine wichtige Frage betrifft den Stand unseres Wissens. Wo stehen wir heute? Sind Nahtod-Erfahrungen, wie es manchmal heißt, »neurobiologisch erklärbar«? Der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Dr. Wilfried Kuhn untersucht häufig genannte Erklärungsmodelle. Er zeigt, dass wir von einer Erklärung der Nahtod-Erfahrungen im Rahmen unseres heutigen Wissens weit entfernt sind. Er weist auf die außersinnlichen Wahrnehmungen hin, zu denen es während einer außerkörperlichen Erfahrung kommen kann. »Zahlreiche verifizierte Einzelbeobachtungen sprechen für die Realität dieser Wahrnehmung und gegen eine halluzinatorische Ursache.«
Was ergibt sich vor diesem Hintergrund für das Verständnis des Bewusstseins? Dieser Frage geht der Bregenzer Philosoph Univ.-Doz. Dr. Eckart Ruschmann nach. Er sieht in Nahtod-Erfahrungen eine Herausforderung für die aktuelle Theorie, nach der Bewusstsein nur eine Hervorbringung des Gehirns ist. Er erörtert alternative Modelle, die den Erkenntnissen der Nahtod-Forschung adäquater sind. Seiner Ansicht nach sprechen viele empirische Daten dafür, dass Bewusstsein auch ohne funktionierendes Gehirn möglich ist. Diese Einsicht sei »durchaus geeignet, als ›Hebel‹ zu wirken, um die derzeit noch sehr festgefügt erscheinenden Konzepte des Naturalismus infrage zu stellen und langfristig abzulösen im Sinne eines grundlegenden Paradigmen-Wechsels«.
Der Physiker Prof. Dr. Andreas Neyer geht von Berichten aus, in denen Nahtod-Erfahrene vom Eintritt in eine nicht-stoffliche Wirklichkeit berichten, in der Raum und Zeit keine Bedeutung haben und Alles mit Allem zusammenhängt. Eine solche Wirklichkeit erinnert ihn an die Eigenschaften von Quantenobjekten, wenn sie nicht gestört oder gemessen werden. Den Beitrag, den die Quantenphysik zum Verständnis von Nahtod-Erfahrungen leistet, sieht er darin, dass sie »als einzige aller Naturwissenschaften Denkmöglichkeiten (keine Beweise!) für Transzendenz« eröffne.
Die Diplom-Pädagogin Dr. Silke Morche schreibt über »Pädagogische Konzepte und Nahtod-Erfahrungen – Mögliche Zugänge zu einem neuen Welt- und Menschenbild«. Sie orientiert sich dabei an Maria Montessori und Rudolf Steiner. Für beide gebe es ein »Mysterium des Kindes«. Rudolf Steiner sehe im Bild des Kindes den Träger des ewigen Lichtes, des Christuslichtes in uns. Nach Maria Montessori sei das Kind unser Lehrmeister der Liebe. Darin sieht Silke Morche auch eine Parallele zu Nahtod-Erfahrungen. »Eine mögliche Botschaft bzw. eine mögliche Schlussfolgerung wäre dann diese, dass in einem erweiterten Bewusstseinszustand in uns die Liebe und das Licht des Christus erfahren werden kann.«
Ich selbst, Joachim Nicolay, bin Diplomtheologe und Diplompsychologe und habe in Philosophie promoviert. Ich stelle in meinem ersten Beitrag die Hermeneutik als die »Kunst, Nahtod-Erfahrungen zu verstehen« vor. Sie ermöglicht es, eine Ebene der Nahtod-Erfahrungen zu untersuchen, die bisher unerforscht geblieben ist. Das ist die Sinndimension. Sie entzieht sich dem naturwissenschaftlichen Zugriff und bedarf einer andersartigen Herangehensweise. Mit der Hermeneutik können methodisch abgesichert Aussagen beispielsweise zum Gottesbild, den Jenseitsvorstellungen oder ethischen Ansätzen in Nahtodberichten getroffen werden.
In einem zweiten Beitrag zeige ich, dass sich auf hermeneutischen Untersuchungen aufbauend eine »Theologie der Nahtod- und Transzendenz-Erfahrungen« herausbilden kann. Sie hat ihre Grundlagen in den überkulturellen Erfahrungen von Menschen und ist daher unabhängig von vorhandenen religiösen Vorstellungen. Sie kann als eine Form »natürlicher« Theologie betrachtet werden, wie ich ausgehend von einem Konzept erläutere, das der britische Forscher Alister Hardy entwickelt hat.
Für unsere Tagungen ist die Verbindung von Wissenschaft und Erfahrung kennzeichnend. Neben Fachreferenten laden wir Betroffene ein, die ihre Erlebnisse darstellen. Wir wollen so die Anbindung der Wissenschaft an die Erfahrungsebene fördern und der Gefahr entgegenwirken, dass Wissenschaftler, die Nahtod-Erfahrungen erforschen, sich in realitätsfernen Theorien verlieren. Diese Verbindung spiegelt sich auch in diesem Buch. Neben fachspezifischen Beiträgen enthält es zwei ausführliche Erfahrungsberichte.
Dr. Ralph Skuban ist Autor zahlreicher Bücher zur Philosophie und Praxis des Yoga. Mit den meditativen Praktiken des Yoga und anderen Methoden hat er viele Male außerkörperliche Erfahrungen herbeigeführt, um eine persönliche Antwort auf die uralte Frage des Menschen zu finden, ob das Bewusstsein nach dem Tode weiterlebt bzw. unabhängig vom Körper existieren kann. Von einigen dieser Erfahrungen berichtet er in diesem Buch.
Bernhard Marmorstein war berufstätig in der Pharmaindustrie. 1991 und 1992 unterbrach er seine berufliche Tätigkeit für den Dienst bei den UN-Blauhelmen. 2004, im Alter von vierzig Jahren, hatte er einen Tauchunfall in einem österreichischen See. Dabei kam es zu einer Nahtod-Erfahrung. Am Anfang stand ein ungewöhnlich langer Außerkörperzustand. Er schildert detaillierte Beobachtungen, die er im Zustand der Bewusstlosigkeit machte.
Ich habe Bernhard Marmorstein in einem E-Mail-Austausch gefragt, ob er später mit seinen Tauchkameraden, die ihn reanimiert hatten, über seine Beobachtungen gesprochen habe. Seine Antworten finden sich in meinem abschließenden Beitrag: Joachim Nicolay, Nachträgliche Bestätigung – Ein Gespräch mit Bernhard Marmorstein über seine außersinnlichen Wahrnehmungen.
Der Tagungsband erscheint zum ersten Mal im Crotona-Verlag. Wir danken dem Verleger Peter Michel für sein Angebot, unsere Bücher in seinem Verlag zu veröffentlichen, nachdem der Santiago Verlag, in dem unsere Tagungsbände bisher erschienen sind, geschlossen hat.
Dr. phil. Joachim Nicolay
(Vorsitzender des Netzwerk-Nahtod-Erfahrung e. V.)