MICHAEL CONNELLY, 1956 in Philadelphia geboren, entdeckte während seiner Studienzeit Raymond Chandlers Romane und beschloss, Schriftsteller zu werden. Er arbeitete zunächst für verschiedene Tageszeitungen in Florida, bis er 1986 zusammen mit zwei Kollegen eine Reportage über ein großes Flugzeugunglück in Fort Lauderdale schrieb und für den Pulitzer-Preis nominiert wurde. Danach wechselte er zur Los Angeles Times und arbeitete dort auf dem Gebiet der Kriminalreportage. Für seinen ersten Roman Schwarzes Echo, 1992 erschienen, wurde Connelly mit dem Edgar Award, dem renommiertesten amerikanischen Krimipreis, ausgezeichnet. Heute ist er einer der erfolgreichsten amerikanischen Krimiautoren, auch im deutschsprachigen Raum, wo mehr als 1,5 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft wurden. Seine Romane Das zweite Herz und Der Mandant wurden mit Clint Eastwood und Matthew McConaughey in den Hauptrollen verfilmt, seit 2014 produziert Amazon außerdem die Serie Bosch, die auf den Fällen seines legendären Ermittlers Hieronymus »Harry« Bosch basiert. 2018 erhielt er den Diamond Dagger, den wichtigsten britischen Krimipreis. Michael Connelly lebt in Florida.
Für Detective Mitzi Roberts,
die mich zu Renée inspiriert hat.
Die Streifenpolizisten hatten die Haustür offen gelassen. Sie glaubten, ihr einen Gefallen zu tun, wenn sie das Haus lüfteten. Aber es war gegen die Vorschriften zur Beweismittelsicherung an einem Tatort. Keime konnten hinein- und hinausgelangen. Touch-DNA konnte von einem Luftzug fortgeweht werden. Gerüche bestanden aus Partikeln. Lüftete man an einem Tatort, gingen Beweise verloren.
Aber das alles wussten die Streifenpolizisten nicht so genau. Ballard hatte vom Schichtleiter nur mitgeteilt bekommen, dass die Leiche schon zwei, drei Tage im Haus lag – bei ausgeschalteter Klimaanlage. Entsprechend stank es dort, seinen Worten nach, wie in einem Stinktierbau.
Am Straßenrand waren zwei Streifenwagen geparkt. Zwischen ihnen standen drei uniformierte Polizisten und warteten auf Ballard. Sie konnte gut verstehen, dass sie nicht bei der Leiche im Haus geblieben waren.
Ein in etwa hundert Metern Höhe kreisender Hubschrauber hatte seinen Suchscheinwerfer auf die Straße gerichtet. Es sah aus, als hinge er an einer Leine aus Licht, die ihn am Wegfliegen hinderte. Ballard machte den Motor aus, blieb aber noch in ihrem Zivilstreifenwagen sitzen. Von der Stelle, an der sie angehalten hatte, konnte sie zwischen zwei Häusern hindurch die Lichter der Stadt sehen, die sich wie ein riesiger Teppich unter ihr ausbreiteten. Nicht viele wussten, dass sich der Hollywood Boulevard eng und kurvig so weit in die Hügel heraufwand. Hier oben gab es nur noch Wohnhäuser, es war nichts mehr vom Glamour und Schmutz der Touristenattraktion Hollywood Boulevard zu spüren, wo die Leute mit kostümierten Superhelden und Sternen im Gehsteig Selfies machten. Hier oben waren Macht und Geld zu Hause, und Ballard wusste, dass ein Mord in den Hügeln immer die tollen Hechte des LAPD anlockte. Sie war nur eine Art Übergangslösung und würde den Fall nicht lang behalten. Je nachdem, wen es erwischt hatte und wie prominent er war, würde sie ihn bald an die Mordkommission des West Bureau oder vielleicht sogar an die Robbery-Homicide Division Downtown abgeben müssen.
Sie riss sich vom Anblick des Lichtermeers los und machte die Innenbeleuchtung an, um ihren Notizblock besser sehen zu können. Sie kam gerade von ihrem ersten Einsatz dieser Schicht, einem Einbruch in einer Seitenstraße der Melrose Avenue, und hatte sich bereits alles für den Bericht aufgeschrieben, den sie bei ihrer Rückkehr in die Hollywood Division verfassen wollte. Sie schlug eine neue Seite auf, notierte sich Zeitpunkt – 1:47 Uhr – und Adresse und fügte einen Vermerk über die klare Sicht und die milde Witterung hinzu. Sie machte die Innenbeleuchtung wieder aus, ließ aber das Blaulicht an. Dann stieg sie aus, öffnete die Heckklappe und nahm ihren Tatortkoffer heraus.
Es war Montagmorgen, und sie hatte noch eine ganze Woche vor sich, in der sie allein Dienst hatte. Deshalb musste sie ihren Hosenanzug mindestens noch ein weiteres Mal, wenn nicht sogar öfter tragen und durfte ihn sich nicht mit Verwesungsgeruch versauen. Sie zog ihr Jackett aus und legte es ordentlich gefaltet auf eine der leeren Beweismittelboxen im Kofferraum ihres Streifenwagens. Dann nahm sie ihren Tatortoverall aus einer Plastiktüte und streifte ihn sich über Stiefel, Hose und Bluse. Nachdem sie den Reißverschluss bis unters Kinn zugezogen hatte, stellte sie erst einen Fuß, dann den anderen auf die Stoßstange, um die Klettverschlüsse um ihre Fußgelenke herum zu verschließen. Nachdem sie das auch an ihren Handgelenken gemacht hatte, waren ihre Kleider luftdicht versiegelt.
Sie nahm ein paar Gummihandschuhe und eine Atemmaske, die sie bei Obduktionen verwendet hatte, als sie noch bei der RHD war, aus dem Tatortkoffer, schloss den Kofferraum und ging zu den drei Streifenpolizisten. Es waren Sergeant Stan Dvorek, der für dieses Viertel zuständig war, und zwei Officers, denen ihre Ausdauer bei der Nachtschicht das ereignislose und wenig stressige Hollywood-Hills-Revier eingetragen hatte.
Die Haare auf Dvoreks Kopf begannen sich zu lichten, und sein Rettungsring zeugte von zu vielen Jahren in einem Streifenwagen. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und lehnte am Kotflügel eines der Streifenwagen. Alle nannten ihn nur Relic, das Relikt. Jeder, der sich für die Nachtschicht meldete und es dort lange genug aushielt, bekam irgendwann einen Spitznamen. Dvorek war der aktuelle Rekordhalter und hatte vor einem Monat sein Zehnjähriges gefeiert. Seine zwei Begleiter, Anthony Anzelone und Dwight Doucette, waren Caspar und Deuce. Ballard, die erst drei Jahre bei der Friedhofsschicht war, hatte noch keinen Spitznamen verpasst bekommen. Zumindest keinen, von dem sie wusste.
»Na, Männer«, sagte sie.
»Wen haben wir denn da?«, sagte Dvorek. »Sally Ride? Wann startet das Space Shuttle?«
Damit ihr Outfit besser zu sehen war, breitete Ballard die Arme aus. Sie wusste, dass der weite Overall wie ein Raumanzug aussah. Sie schloss nicht aus, dass sie gerade einen neuen Spitznamen bekommen hatte.
»Wohl nie mehr«, sagte sie. »Aber warum habt ihr so fluchtartig das Haus verlassen?«
»Riecht ein bisschen streng da drinnen«, sagte Anzelone.
»Ja, richtig gut abgehangen«, fügte Doucette hinzu.
Relic löste sich vom Kotflügel des Streifenwagens und kam zur Sache.
»Eine Weiße, Mitte fünfzig, sieht nach Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand aus, dazu mehrere Fleischwunden im Gesicht. Übel zugerichtet. Im Haus ziemliches Chaos. Könnte ein Einbruch gewesen sein.«
»Sexuelle Gewalt?«
»Ihr Nachthemd ist hochgezogen. Sie ist entblößt.«
»Okay, dann gehe ich mal rein. Irgendein Freiwilliger, der mir alles zeigt?«
Keiner der drei meldete sich.
»Die höchste Nummer hast du, Deuce«, sagte Dvorek.
»Scheiße«, war Doucettes Kommentar.
Da er derjenige von den dreien war, der am kürzesten dabei war, hatte er die höchste Dienstnummer. Er zog sein blaues Halstuch über Mund und Nase.
»Du siehst aus wie einer dieser beschissenen Crips«, sagte Anzelone.
»Warum? Weil ich schwarz bin?«, schoss Doucette zurück.
»Weil du ein blaues Halstuch überm Gesicht hast«, sagte Anzelone. »Wäre es rot, hätte ich gesagt, du siehst wie ein Blood aus.«
»Führ sie einfach rum«, sagte Dvorek. »Ich will nicht die ganze Nacht hier rumstehen.«
Doucette machte dem Gefrotzel ein Ende und ging auf die Haustür zu. Ballard folgte ihm.
»Wieso haben wir überhaupt erst so spät davon erfahren?«, fragte sie.
»Die Nichte des Opfers, sie lebt in New York, hat einen Nachbarn angerufen«, sagte Doucette. »Er hat einen Schlüssel, und sie hat ihn gebeten, nach ihrer Tante zu sehen, weil sie schon ein paar Tage kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Sie hat weder auf Whatsapps noch auf Anrufe reagiert. Der Nachbar geht also zu ihr rüber, schließt die Haustür auf, riecht den Gestank und ruft bei uns an.«
»Um ein Uhr früh?«
»Nein, wesentlich früher. Aber wegen eines Vier-fünf-neun-Verdächtigen in Park La Brea wurde gestern Abend die ganze Spätschicht bis Schichtende für die Peripheriesicherung benötigt. Und weil niemand verfügbar war, haben wir es dann beim Appell zugeteilt bekommen und sind sofort losgefahren.«
Ballard nickte. Die Peripheriesicherung, mit der in der Regel ein Raubüberfallverdächtiger am Entkommen gehindert werden sollte, hörte sich nach einer Ausrede an. Höchstwahrscheinlich war der Einsatz von Schicht zu Schicht weitergereicht worden, weil niemand Lust darauf hatte, nach einer Leiche zu sehen, die schon längere Zeit in einem geschlossenen Haus vor sich hin moderte.
»Wo ist der Nachbar jetzt?«, fragte sie.
»Wieder bei sich zu Hause«, sagte Doucette. »Wahrscheinlich hat er ausgiebig geduscht und sich WICK VapoRub in die Nase geschmiert. Er wird nie mehr derselbe sein.«
»Um ihn ausschließen zu können, müssen wir ihm Fingerabdrücke abnehmen – selbst wenn er angibt, das Haus nicht betreten zu haben.«
»Alles klar. Ich fordere den Abdruckwagen an.«
Ballard streifte sich Gummihandschuhe über und folgte Doucette ins Haus. Die Atemmaske nützte so gut wie nichts. Obwohl sie durch den Mund atmete, schlug ihr der scheußliche Leichengeruch mit voller Wucht entgegen.
Doucette war groß und breitschultrig. Sie konnte erst etwas sehen, als er im Wohnzimmer stehen blieb und sie um ihn herumging. Das Haus stand auf Stelzen an einem steilen Abhang, sodass man durch das Panoramafenster einen atemberaubenden Blick auf das Lichtermeer von L.A. hatte. Selbst um diese Uhrzeit schien die Stadt voller Leben und großartiger Möglichkeiten.
»War es im Haus dunkel, als ihr reingegangen seid?«, fragte Ballard.
»Als wir hergekommen sind, hat nirgendwo Licht gebrannt«, sagte Doucette.
Das merkte sich Ballard. Dass kein Licht an gewesen war, konnte heißen, dass der Einbruch tagsüber erfolgt war oder spät nachts, als die Hausbesitzerin schon im Bett gelegen hatte. Sie wusste, dass die meisten Einbrüche tagsüber passierten.
Doucette, der ebenfalls Handschuhe trug, drückte auf einen Wandschalter neben der Tür, worauf eine Reihe von Deckenleuchten anging. Das Innere des Hauses bestand aus einem einzigen loftartigen Raum, der so angelegt war, dass man den Blick durch das Panoramafenster von Wohnzimmer, Küche und Esszimmer gleichermaßen genießen konnte. Als Gegengewicht dazu hingen an der gegenüberliegenden Wand drei großformatige Gemälde mit den roten Lippen einer Frau.
Auf dem Boden neben der Kochinsel lagen Glasscherben, aber ein zerbrochenes Fenster konnte Ballard nirgendwo sehen.
»Irgendwelche Einbruchsspuren?«, fragte sie.
»Wir haben keine gesehen«, sagte Doucette. »Es liegen zwar überall zerbrochene Sachen rum, aber ein Fenster wurde nicht eingeschlagen. Wir haben keine Stelle gefunden, wo der Täter ins Haus eingedrungen sein könnte.«
»Okay.«
»Die Leiche ist dort hinten.«
Er betrat einen vom Wohnzimmer abgehenden Gang und hielt als zusätzlichen Schutz gegen den stärker werdenden Gestank seine Hand auf das Halstuch um seinen Mund.
Ballard folgte ihm. Das Haus war ein eingeschossiger Bau im Contemporary-Stil. Sie nahm an, dass es in den fünfziger Jahren gebaut worden war, als eine Etage als ausreichend gegolten hatte. Alles, was heutzutage in den Hügeln hochgezogen wurde, hatte mehrere Level, um so viel an Wohnfläche herauszuholen, wie die Baubestimmungen zuließen.
Sie kamen an den offenen Türen eines Gästezimmers und eines Bads vorbei, bevor sie das Schlafzimmer betraten. Dort herrschte ziemliches Chaos. Der Schirm einer umgefallenen Lampe war verbeult, die Birne zerbrochen. Über das Bett waren wahllos Kleider verstreut, und ein Stielglas, das allem Anschein nach Rotwein enthalten hatte, lag in zwei Teile zerbrochen auf dem weißen Teppich, auf dem sich ein dunkelroter Fleck gebildet hatte.
»Da drinnen.«
Doucette deutete durch die offene Tür des Bads und machte einen Schritt zurück, um Ballard als Erste eintreten zu lassen.
Ballard blieb in der Tür stehen. Das Opfer lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden. Sie war eine große korpulente Frau und hatte Arme und Beine von sich gestreckt. Ihre Augen waren offen, ihre Unterlippe war aufgeplatzt, und in ihrer Wange klaffte eine Schnittwunde, deren rosafarbenes Gewebe grau verfärbt war. Die Lache aus getrocknetem Blut, die sich auf den weißen Fliesen um ihren Kopf gebildet hatte, stammte von einer nicht zu sehenden Kopfwunde.
Ihr mit Kolibris bedrucktes Flanellnachthemd war über ihre Hüften hochgezogen und über dem Bauch und um die Brüste gerafft. Ihre bloßen Füße standen etwa einen Meter auseinander. An den äußeren Genitalien waren keine blauen Flecken oder Verletzungen.
Ballard konnte sich in einem deckenhohen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen. Sie ging in der Türöffnung in die Hocke, legte die Hände auf ihre Oberschenkel und hielt auf dem Fliesenboden nach Fußabdrücken, Blutflecken und anderen Spuren Ausschau. Außer der getrockneten Blutlache um den Kopf der toten Frau war auf dem Boden ein immer wieder unterbrochener Streifen aus kleinen Blutflecken zu erkennen, der sich vom Bad ins Schlafzimmer zog.
»Schließ die Haustür, Deuce«, sagte sie.
»Äh, okay. Aus einem bestimmten Grund?«
»Tu’s einfach. Und dann schau in die Küche.«
»Weswegen?«
»Ob dort eine Schale mit Wasser auf dem Boden steht. Mach schon.«
Doucette ging, und Ballard hörte, wie sich seine schweren Schritte im Flur entfernten. Sie richtete sich auf, betrat das Bad und ging vorsichtig an der Wand entlang zu der Toten. Dann ging sie wieder in die Hocke. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem Fliesenboden ab und beugte sich vor, um so die Kopfwunde vielleicht besser sehen zu können. Aber das dunkelbraune Haar der Frau war zu dicht und lockig, um sie ausmachen zu können.
Ballard schaute sich im Bad um. Die Wanne war von einem Marmorsims umgeben, auf dem alle möglichen Behälter mit Badezusätzen und mehrere vollständig heruntergebrannte Kerzen standen. Auch ein zusammengelegtes Badetuch lag dort.
Ballard veränderte ihre Stellung und schaute in die Badewanne. Sie war leer, aber der Abfluss mit einem Stöpsel verschlossen. Ballard drehte kurz das kalte Wasser auf und stellte es wieder ab.
Sie richtete sich auf und trat an den Rand der Wanne. Sie hatte so viel Wasser eingelassen, dass es den Verschluss bedeckte. Sie wartete und schaute.
»In der Küche ist eine Schale mit Wasser.«
Ballard drehte sich um. Doucette war zurückgekommen.
»Hast du die Haustür zugemacht?«, fragte sie.
»Sie ist zu.«
»Gut, dann schau dich im Haus um. Wahrscheinlich ist es eine Katze. Irgendein kleines Tier jedenfalls. Am besten, du rufst Animal Control an.«
»Was?«
Ballard deutete auf die Tote.
»Das war ein Tier. Ein hungriges. Sie machen sich als Erstes über das weiche Gewebe her.«
»Willst du mich verarschen, oder was?«
Ballard schaute in die Badewanne. Die Hälfte des Wassers, das sie eingelassen hatte, war abgelaufen. Der Gummistöpsel war nicht mehr dicht.
»Die Gesichtsverletzungen haben nicht geblutet«, sagte Ballard. »Sie müssen ihr beigebracht worden sein, als sie bereits tot war. Gestorben ist sie von dem Schlag auf den Hinterkopf.«
Doucette nickte. »Jemand hat sich ihr von hinten genähert und ihr den Schädel eingeschlagen.«
»Nein«, sagte Ballard. »Es war ein Unfall.«
»Hä?«
Ballard deutete auf die Gegenstände auf dem Badewannenrand.
»Dem Verwesungszustand nach zu schließen, ist es vor drei Tagen passiert«, sagte sie. »Sie will ins Bett gehen und löscht alle Lichter im Haus. Die Lampe, die im Schlafzimmer auf den Boden gefallen ist, war vermutlich die einzige, die sie angelassen hat. Sie kommt hier rein, lässt die Wanne einlaufen, zündet die Kerzen an, legt sich das Badetuch bereit. Vom heißen Wasser beschlagen die Fliesen und sie rutscht aus – möglicherweise, als sie merkt, dass sie das Weinglas auf dem Nachttisch hat stehen lassen. Oder als sie das Nachthemd hochgezogen hat, um in die Wanne zu steigen.«
»Und die umgefallene Lampe und das Glas Rotwein?«, fragte Doucette.
»Das war die Katze.«
»Und auf das alles bist du gekommen, während du hier gestanden hast?«
Ballard ging nicht auf die Frage ein.
»Sie war nicht die Schlankste«, sagte sie. »Eine plötzliche Richtungsänderung vielleicht, als sie sich ausgezogen hat – ›oh, ich habe ja den Wein vergessen‹ –, und sie rutscht aus und schlägt sich den Kopf an der Wanne an. Sie stirbt, die Kerzen brennen runter, das Wasser läuft langsam ab.«
Doucette quittierte ihre Erklärung mit Schweigen. Ballard blickte auf das verunstaltete Gesicht der Toten hinab.
»Spätestens am zweiten Tag hat die Katze Hunger bekommen«, fuhr sie fort. »Sie war wahrscheinlich schon halb am Durchdrehen. Dann hat sie die Tote entdeckt.«
»Also echt«, sagte Doucette.
»Hol deinen Partner, Deuce. Seht zu, dass ihr die Katze findet.«
»Moment. Warum ist sie schon im Nachthemd, als sie in die Badewanne steigen will? Das zieht man doch erst nach dem Baden an.«
»Wieso? Vielleicht kommt sie von der Arbeit oder von einem Abendessen nach Hause, schlüpft schon in ihr Nachthemd, macht es sich bequem, sieht vielleicht noch ein bisschen fern … und beschließt dann, ein Bad zu nehmen.«
Ballard deutete auf den Spiegel.
»Außerdem war sie sehr dick. Vielleicht war es ihr unangenehm, sich nackt im Spiegel zu sehen. Sie kommt also nach Hause, schlüpft in ein Nachthemd und behält es an, bis sie in die Wanne steigt.«
Ballard drehte sich um und ging an Doucette vorbei aus dem Bad.
»Seht zu, dass ihr die Katze findet.«
Um drei Uhr morgens hatte Ballard ihre Ermittlungen abgeschlossen und war wieder in der Hollywood Division, wo sie sich in einem Abteil des Detective Bureau an die Arbeit machte. Tagsüber wimmelte es in dem riesigen Raum mit seinen insgesamt 48 Arbeitsplätzen von Detectives, aber nach Mitternacht war er verlassen, und Ballard konnte sich den Schreibtisch aussuchen. Sie entschied sich für einen in der hintersten Ecke, weit fort von den Nebengeräuschen und dem Polizeifunkgebrabbel aus dem Büro des Schichtleiters am Ende des Flurs. Außerhalb der üblichen Dienstzeiten konnte sie hinter dem Computermonitor und der Trennwand des Abteils in Deckung gehen, wie ein Soldat in einem Schützenloch, und dort ungestört ihre Berichte schreiben.
Zuerst erledigte sie den Einbruch, zu dem sie zu Beginn der Schicht gerufen worden war, dann wandte sie sich der Toten zu, die sich an der Badewanne den Kopf angeschlagen hatte. Da noch keine Obduktion vorgenommen worden war, gab sie die Todesursache als »ungeklärt« an. Zu ihrer Absicherung hatte sie einen Tatortfotografen angefordert und alles, die Katze eingeschlossen, dokumentiert. Ihr war klar, dass die Angehörigen der Toten und vielleicht sogar ihre Vorgesetzten möglicherweise Zweifel anmeldeten, wenn sie den Vorfall als Unfalltod einstufte. Aber sie war sicher, dass bei der Obduktion keine Fremdeinwirkung festgestellt und die Todesursache auf einen Unfall zurückgeführt würde.
Ballard hatte allein Dienst. Ihr Partner John Jenkins war wegen eines Todesfalls beurlaubt. Für die Detectives der Nachtschicht gab es keine Ersatzleute, und Ballard würde mindestens eine Woche allein Dienst tun müssen. Wann genau Jenkins zurückkommen würde, war noch nicht absehbar. Seine Frau war nach einem langen, schmerzhaften Krebsleiden gestorben. Das hatte ihn stark mitgenommen, und Ballard hatte ihm angeboten, sich ruhig Zeit zu lassen, um über den Verlust hinwegzukommen.
Sie schlug in ihrem Notizblock die Seite mit den Einträgen zum zweiten Einsatz dieses Abends auf und öffnete ein Tatverlaufsformular auf ihrem Rechner. Bevor sie sich an die Arbeit machte, neigte sie den Kopf auf die Seite und hielt den Kragen ihrer Bluse an ihre Nase. Sie glaubte, einen schwachen Verwesungsgeruch wahrgenommen zu haben, war aber nicht sicher, ob er sich in ihren Kleidern festgesetzt hatte oder nur in ihrem olfaktorischen Gedächtnis hängen geblieben war. Jedenfalls hieß das, dass sie ihren Hosenanzug in dieser Woche wohl kein zweites Mal würde tragen können. Sie musste ihn in die Reinigung bringen.
Während sie den Kopf an den Kragen ihrer Bluse gesenkt hielt, hörte sie ein metallisches Scheppern, wie es entstand, wenn der Schub eines Aktenschranks geschlossen wurde. Sie schaute über die Trennwand ihres Abteils in den hinteren Teil des Bereitschaftsraums, wo eine lange Reihe vierschübiger Aktenschränke stand. Jedem Ermittlerteam standen zur Archivierung seiner Unterlagen vier Schübe zur Verfügung.
Ballard hatte den Mann, der gerade einen weiteren Schub herauszog, noch nie zuvor gesehen, obwohl sie von den monatlichen Meetings, an denen alle Detectives der Station teilnehmen mussten, jeden Ermittler kannte. Der Fremde, der in den Aktenschränken etwas zu suchen schien, hatte graues Haar und einen Schnurrbart. Ballard konnte spüren, dass er hier nichts zu suchen hatte. Sie schaute sich im Bereitschaftsraum um, ob sonst noch jemand da war. Es war jedoch niemand zu sehen.
Der Mann öffnete und schloss einen weiteren Schub. Ballard nutzte das Scheppern, um das Knarzen ihres Stuhls zu überdecken, als sie aufstand. Sie ging in die Knie und bewegte sich im Sichtschutz der Abteiltrennwände auf den Hauptgang in der Mitte zu, in dem sie sich dem Eindringling unbemerkt von hinten nähern konnte.
Sie hatte die Jacke ihres Hosenanzugs im Kofferraum ihres Dienstwagens gelassen und konnte deshalb sofort an die Glock in ihrem Hüftholster greifen. Sie legte die Hand auf den Griff der Pistole und blieb drei Meter hinter dem Mann stehen.
»Was machen Sie da?«
Der Mann erstarrte. Dann nahm er langsam die Hände aus dem Schub, den er durchsucht hatte, und hielt sie so hoch, dass Ballard sie sehen konnte.
»So ist es gut«, sagte sie. »Und würden Sie mir jetzt vielleicht erklären, wer Sie sind und was Sie hier suchen?«
»Bosch der Name«, sagte der Mann. »Ich wollte mich mit jemand treffen.«
»Aha. Mit jemand, der sich in den Aktenschränken versteckt?«
»Nein, ich habe mal hier gearbeitet. Ich kenne Money vorne. Er hat gesagt, ich könnte im Aufenthaltsraum warten, bis der Officer hier ist. Aber dann habe ich beschlossen, mich ein bisschen umzusehen. Mein Fehler.«
Ballard schaltete einen Gang zurück und nahm die Hand von der Pistole. Der Name Bosch war ihr bekannt, und der Umstand, dass er den Spitznamen des Schichtleiters wusste, trug ebenfalls zur Entspannung der Situation bei. Trotzdem blieb sie misstrauisch.
»Haben Sie den Schlüssel für Ihren alten Aktenschrank behalten?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Bosch. »Der hier war nicht abgeschlossen.«
Ballard konnte am Schloss des Schranks sehen, dass er tatsächlich nicht verriegelt gewesen war. Die meisten Detectives schlossen ihre Schränke ab.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte sie.
»Klar«, sagte Bosch. »Aber ich bin Polizist und habe eine Pistole an meiner linken Hüfte. Die werden Sie sehen, wenn ich meinen Ausweis raushole. Okay?«
Ballard führte ihre Hand wieder an ihre Hüfte und sagte: »Danke für den Hinweis. Aber wissen Sie was? Vergessen wir den Ausweis erst mal und sichern stattdessen die Waffe. Dann können wir …«
»Da bist du ja, Harry.«
Ballard sah Schichtleiter Lieutenant Munroe in den Bereitschaftsraum kommen. Munroe war ein schmaler Mann, der die Station zwar nur noch selten verließ, die Hände aber immer noch wie beim Streifegehen in Höhe seines Gürtels hielt, an dem er allerdings, weil das Vorschrift war, nur noch die Dienstwaffe trug. Den Rest der sperrigen Ausrüstung für den Streifendienst bewahrte er in einer Schublade seines Schreibtischs auf. Munroe war zwar nicht so alt wie Bosch, aber er hatte einen Schnurrbart, wie er in den siebziger und achtziger Jahren bei Polizisten anscheinend zur Grundausstattung gehört hatte.
Er sah Ballard und deutete ihre Haltung richtig.
»Ballard, was ist los?«
»Er ist einfach hier reingekommen und hat sich Akten angesehen«, sagte Ballard. »Ich wusste nicht, wer er ist.«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Munroe. »Er ist einer von uns, er war bei der Mordkommission – als wir noch eine hatten.«
Munroe wandte sich Bosch zu.
»Was hast du dir dabei gedacht, Harry?«
Bosch zuckte mit den Achseln.
»Nur in meinem alten Schrank rumgeschnüffelt. Um mir die Zeit zu vertreiben.«
»Dvorek ist jetzt jedenfalls zurück und wartet im Schreibzimmer auf dich«, sagte Munroe. »Sprich bitte gleich mit ihm. Ich ziehe ihn nämlich nur ungern von der Straße ab. Er ist einer meiner besten Leute, und deshalb würde ich ihn gern so bald wie möglich wieder losschicken.«
»Klar.« Bosch folgte Munroe auf den Flur hinaus, der zum Büro des Schichtleiters und zum Schreibzimmer führte, in dem Dvorek wartete. Bosch drehte sich im Gehen kurz zu Ballard um und nickte. Ballard schaute ihm bloß hinterher.
Als die beiden Männer weg waren, ging sie zu dem Aktenschub, in den Bosch geschaut hatte. Daran war mit Klebstreifen eine Visitenkarte befestigt, wie das unter den Ermittlern zur Kennzeichnung ihrer Schübe allgemein üblich war.
Detective Cesar Rivera
Hollywood Station
Sexualdelikte
Sie schaute in den Schub. Er war nur halb voll, und die Ordner waren nach vorn gekippt. Das hatte vermutlich Bosch getan, als er sie durchgesehen hatte. Ballard richtete sie wieder gerade und schaute, was auf den Reitern stand. Das waren hauptsächlich die Namen von Opfern und Fallnummern. Auf einigen standen auch die großen Straßen im Revier der Hollywood Division; sie enthielten vermutlich Meldungen über verdächtige Aktivitäten oder Personen.
Sie schloss den Schub und schaute in die zwei darüber, denn sie hatte Bosch mindestens drei Schübe öffnen gehört.
Sie unterschieden sich nicht vom ersten und enthielten Ordner, die vorwiegend nach dem Namen des Opfers, der Kategorie des Sexualdelikts und der Fallnummer angeordnet waren. Als sie im obersten Schub eine aufgebogene Büroklammer liegen sah, nahm sie das Drucktastenschloss in der oberen Ecke des Aktenschranks genauer in Augenschein. Es war ein einfaches Modell, das sich mit einer Büroklammer problemlos öffnen ließ. Da die Unterlagen in einer Polizeistation aufbewahrt wurden, mussten sie nicht groß gesichert werden.
Ballard schloss die Schübe, drückte auf den Knopf des Schlosses und kehrte an den Schreibtisch zurück. Je länger sie über Boschs späten Besuch nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass er den Aktenschrank mit der Büroklammer geöffnet hatte und demnach nicht nur ein oberflächliches Interesse am Inhalt seiner Schübe haben konnte. Er hatte keineswegs aus einer nostalgischen Anwandlung heraus in seinen alten Aktenschrank geschaut.
Sie holte ihre Kaffeetasse und ging damit in den Aufenthaltsraum, der wie üblich verlassen war. Sie schenkte sich Kaffee ein und ging ins Büro des Schichtleiters. Lieutenant Munroe saß an seinem Schreibtisch und schaute auf einen Bildschirm mit einer Karte des Reviers, auf der per GPS die Standorte der einzelnen Streifeneinheiten angezeigt wurden. Er hörte Ballard erst, als sie schräg hinter ihm stehen blieb.
»Viel los?«, fragte sie.
»Im Moment nicht.«
Ballard deutete auf eine Gruppe von drei GPS-Markierungen.
»Was ist denn da passiert?«
»Das ist nur der Mariscos-Reyes-Truck. Dort sind gerade drei Einheiten auf Code 7.«
Die Streifen waren an einem Foodtruck im Sunset, Ecke Western essen. Das erinnerte Ballard daran, dass sie noch keine Pause gemacht hatte und Hunger bekam. Ob sie allerdings Lust auf Seafood hatte, war eine andere Frage.
»Was wollte Bosch eigentlich hier?«
»Mit Relic über eine Leiche reden, die er vor neun Jahren gefunden hat. Anscheinend rollt Bosch einen Fall neu auf.«
»Er hat gesagt, er ist noch ein Cop. Aber nicht bei uns, oder?«
»Nein, er ist Reservist beim San Fernando Police Department, oben im Valley.«
»Was kümmert die in San Fernando ein Mord hier unten?«
»Keine Ahnung, Ballard. Hätten Sie lieber ihn gefragt, solange er noch hier war. Jetzt ist er weg.«
»Das war aber ein kurzer Besuch.«
»Weil sich Relic an nichts erinnern konnte.«
»Ist Dvorek noch da?«
Munroe deutete auf die Drei-Streifen-Ansammlung auf dem Bildschirm.
»Er ist auch bereits wieder los, aber im Moment Code 7.«
»Dann werde ich auch gleich mal hinfahren und mir ein paar Shrimp-Tacos holen. Soll ich Ihnen was mitbringen?«
»Nein, danke. Nehmen Sie ein Funkgerät mit.«
»Alles klar.«
Auf dem Weg zurück ins Detective Bureau ging sie noch mal in den Aufenthaltsraum, wo sie den Kaffee in die Spüle schüttete und die Tasse ausspülte. Dann nahm sie ein Funkgerät aus der Ladestation und ging durch den Hinterausgang zu ihrem Streifenwagen hinaus. Es war, wie in der Mitte ihrer Schicht üblich, spürbar kühler geworden, weshalb sie ihr Jackett aus dem Kofferraum nahm und anzog, bevor sie losfuhr.
Relics Streife stand immer noch neben dem Foodtruck, als Ballard eintraf. Da Dvorek als Sergeant allein in einem Wagen unterwegs war, traf er sich in den Pausen gern mit anderen Streifenpolizisten.
»Sally Ride«, sagte er, als er Ballard die Kreidetafel mit den Gerichten studieren sah.
»Und, Relic, wie steht’s?«, sagte sie.
»Na ja, wieder mal eine Nacht im Paradies zur Hälfte rum.«
»Was willst du mehr?«
Ballard bestellte einen Shrimp-Taco und machte aus einer der Flaschen auf dem Zutatentisch ordentlich scharfe Soße drauf. Dann ging sie zu Dvorek, der am vorderen Kotflügel seines Streifenwagens lehnte. Er hatte fast zu Ende gegessen. Zwei andere Streifenpolizisten hatten ihr Essen auf der Motorhaube ihres Schwarz-Weißen ausgebreitet, den sie vor Relics Wagen geparkt hatten.
Ballard lehnte sich an den Kotflügel neben ihm.
»Was hast du heute?«, fragte Dvorek.
»Shrimps«, sagte Ballard. »Ich bestelle nur Sachen von der Tafel. Dann ist es auf jeden Fall frisch. Sie wissen erst, was es gibt, wenn sie unten am Hafen eingekauft haben.«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Ich will eben gern selig werden.«
Sie nahm den ersten Bissen von ihrem Taco. Er war gut und hatte keinen fischigen Beigeschmack.
»Nicht übel«, bemerkte sie.
»Ich hatte die Fisch-Tacos«, sagte Dvorek. »Wahrscheinlich ziehen sie mich spätestens dann aus dem Verkehr, wenn sie den unteren Verdauungstrakt erreichen.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen, Sarge. Aber ganz was anderes, was wollte eigentlich dieser Bosch von dir?«
»Hast du ihn noch mitbekommen?«
»Ich habe ihn erwischt, wie er in den Aktenschränken im Detective Bureau rumgeschnüffelt hat.«
»Ja, er weiß nicht mehr weiter. Sucht in einem Fall, an dem er gerade arbeitet, verzweifelt nach Anhaltspunkten.«
»In Hollywood? Arbeitet er zurzeit nicht für das San Fernando Police Department?«
»Schon, aber mit dieser Sache befasst er sich mehr oder weniger privat. Ein Mädchen, das hier vor neun Jahren umgebracht wurde. Ich habe damals die Leiche gefunden, aber leider konnte ich mich an nichts erinnern, was ihn weitergebracht hätte.«
Ballard nahm einen weiteren Bissen von ihrem Taco und nickte. Die nächste Frage stellte sie mit dem Mund voller Krabben und Tortilla.
»Was war das für ein Mädchen?«
»Eine Ausreißerin. Daisy. Sie war fünfzehn, ist aber schon auf den Strich gegangen. Traurige Geschichte das. Ich habe sie ab und zu auf dem Hollywood Boulevard gesehen, oben bei der Western Avenue. Und dann ist sie eines Tages zum Falschen ins Auto gestiegen. Ich habe ihre Leiche in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard gefunden. Nach einem anonymen Anruf – daran erinnere ich mich noch.«
»War das ihr Straßenname?«
»Nein, so hat sie richtig geheißen. Daisy Clayton.«
»Hat damals Cesar Rivera schon bei Sexualdelikte gearbeitet?«
»Cesar? Keine Ahnung. Das ist jetzt neun Jahre her. Aber möglich ist es schon.«
»Weißt du noch, ob Cesar was mit dem Fall zu tun hatte? Bosch hat nämlich seinen Aktenschrank geknackt.«
Dvorek zuckte mit den Achseln.
»Ich habe die Leiche gefunden und das Ganze gemeldet, Renée. Aber damit hatte es sich. Weiter hatte ich nichts mehr damit zu tun. Ich weiß nur noch, dass sie mich zum Cahuenga vor geschickt haben, damit ich die Straße sperre und niemand reinlasse. Ich war damals erst kurz dabei.«
Streifenpolizisten bekamen für alle fünf Dienstjahre einen Streifen am Ärmel. Vor neun Jahren war Relic noch mehr oder weniger ein Rookie gewesen. Ballard nickte und stellte ihre letzte Frage.
»Hat dich Bosch was gefragt, was ich dich gerade nicht gefragt habe?«
»Ja, aber das hat nicht sie betroffen. Er wollte wissen, ob ich Daisys Freund nach dem Mord noch mal irgendwo gesehen habe.«
»Wer war ihr Freund?«
»Auch ein Ausreißer. Wie er hieß, weiß ich nicht, nur dass sein Graffiti-Tag Addict war. Bosch hat gesagt, dass er Adam Irgendwas hieß. Ich weiß nicht mehr. Aber die Antwort auf seine Frage war Nein, ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Typen wie der tauchen plötzlich auf und sind genauso schnell wieder verschwunden.«
»Waren sie einfach nur zusammen, das übliche Freund-Freundin-Muster?«
»Er hat auch auf sie aufgepasst. Ein Mädchen wie sie, die braucht einen Beschützer. Eine Art Zuhälter praktisch. Sie ist auf den Strich gegangen, und er hat auf sie aufgepasst, und das Geld haben sie sich geteilt. Bloß in dieser Nacht hat er’s wohl versemmelt. Pech für sie.«
Ballard nickte. Vermutlich wollte Bosch mit Adam/Addict reden, weil er am ehesten wusste, mit wem Daisy Clayton zu tun gehabt hatte und wo sie in der letzten Nacht ihres Lebens gewesen war.
Vielleicht war er auch ein Tatverdächtiger.
»Du weißt doch, wer Bosch ist?«, fragte Dvorek.
»Ja«, sagte Ballard. »Er war früher mal bei uns.«
»Weißt du von den Sternen auf dem Gehsteig?«
»Klar.«
Vor dem Eingang waren zu Ehren von Polizisten der Hollywood Station, die im Dienst getötet worden waren, Sterne in den Gehsteig eingelassen.
»Einer von ihnen ist für Lieutenant Harvey Pounds«, fuhr Dvorek fort. »Er war Boschs L.T., als er bei uns war, und er wurde entführt und bekam einen Herzinfarkt, als er in Zusammenhang mit einem Fall, den Bosch hatte, gefoltert wurde.«
Das war Ballard völlig neu.
»Ist der Täter gefasst worden?«, fragte sie.
»Das hängt ganz davon ab, mit wem du redest«, sagte Dvorek. »Angeblich fällt die Sache unter Geklärt-Sonstige, aber in Wirklichkeit ist es ein weiteres ungelöstes Rätsel dieser großen bösen Stadt. Es wurde damals gemunkelt, dass der Typ wegen was gestorben ist, was Bosch getan hat.«
»Geklärt-Sonstige« war eine Bezeichnung für Fälle, die zwar offiziell als abgeschlossen galten, in denen es aber nicht zu einer Festnahme oder Anklage gekommen war. Normalerweise lag das daran, dass der Verdächtige tot war oder wegen einer anderen Straftat eine lebenslange Haftstrafe verbüßte und dass es deshalb den Zeitaufwand, die Kosten und das Risiko nicht lohnte, einen Fall vor Gericht zu bringen, der keine zusätzliche Bestrafung des Täters zur Folge hatte.
»Angeblich ist die Akte unter Verschluss. High Jingo.«
»High Jingo« wurden im Polizeijargon Fälle genannt, in die politische Erwägungen hineinspielten. Fälle, die massive Auswirkungen auf die eine oder andere Karriere haben konnten.
Die Auskünfte über Bosch waren interessant, aber nicht sachdienlich. Bevor Ballard eine Frage einfiel, mit der sie wieder auf den Fall Daisy Clayton zurückkommen konnte, begann Dvoreks Funkgerät zu rauschen, und er nahm eine Durchsage der Zentrale entgegen. Ballard hörte, wie ihn Lieutenant Munroe zur Unterstützung einer Streife zu einem häuslichen Streit in Beachwood Canyon schickte.
»Ich muss los.« Dvorek knüllte die Folie zusammen, in die seine Tacos eingepackt gewesen waren. »Oder willst du mitkommen und mir Rückendeckung geben?«
Das war natürlich nicht ernst gemeint. Relic brauchte keine Unterstützung von einem Late-Show-Detective.
»Wir sehen uns in der Station«, sagte sie. »Außer die Sache läuft aus dem Ruder, und du brauchst tatsächlich einen Detective.«
Sie hoffte nicht. Häusliche Auseinandersetzungen endeten meistens in Er-hat-gesagt-sie-hat-gesagt-Vergleichen, bei denen sie eher die Funktion eines Schiedsrichters hatte als die eines Ermittlers. Selbst unübersehbare Verletzungen erzählten nicht immer die ganze Geschichte.
»Bis dann«, sagte Dvorek.
Der Tagesablauf der Detectives von der Tagschicht wurde in erster Linie vom Verkehrsaufkommen bestimmt. Damit sie am Nachmittag früh genug Schluss machen konnten, um nicht in den Feierabendverkehr zu geraten, erschienen die meisten von ihnen normalerweise schon vor sechs Uhr morgens zum Dienst. Darauf zählte Ballard, als sie beschloss, Cesar Rivera nach dem Fall Daisy Clayton zu fragen. Während sie auf sein Eintreffen wartete, sah sie die digitalen Daten durch, die es über den neun Jahre zurückliegenden Mord gab.
Das Mordbuch, ein blauer Ordner mit ausgedruckten Berichten und Fotos, galt beim Los Angeles Police Department bei Mordermittlungen nach wie vor als die Quelle schlechthin, aber wie vor der Welt als Ganzem hatte der digitale Wandel auch vor der Polizei nicht Halt gemacht. Mithilfe ihres LAPD-Passworts konnte sich Ballard zu den meisten in die Datenbanken eingescannten Berichten und Fotos zu dem Fall Zugang verschaffen. Das Einzige, was bei der Digitalisierung der Daten verloren ging, waren die handschriftlichen Notizen, die sich Ermittler meistens auf dem hinteren Einbanddeckel des Mordbuchs machten.
Am wichtigsten war jedoch die sogenannte Chronologie, die ausnahmslos das Rückgrat eines Falls war, eine Aufzählung sämtlicher Maßnahmen, die von den zuständigen Ermittlern ergriffen worden waren.
Ballard stellte sofort fest, dass der Mord offiziell als Cold Case, als ungelöster Fall, eingestuft und an die Einheit Offen-Ungelöst weitergeleitet worden war, die als Teil der Robbery-Homicide Division, der Elitetruppe des LAPD, Downtown im Präsidium stationiert war. Ballard hatte selbst einmal der RHD angehört und kannte viele der Detectives und sonstigen Akteure dort. Zu ihnen gehörte auch ihr ehemaliger Lieutenant, der sie vor drei Jahren bei der Weihnachtsfeier der Einheit in einem Badezimmer an die Wand gedrückt und sich ihr aufzudrängen versucht hatte. Der Umstand, dass sie ihn zurückgewiesen, Beschwerde gegen ihn eingereicht und ein internes Ermittlungsverfahren angestrengt hatte, hatte zur Folge gehabt, dass sie in der Nachtschicht der Hollywood Division gelandet war. Ihre Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen, weil ihr damaliger Partner sie nicht bestätigt hatte, obwohl er Zeuge des Vorfalls geworden war. In der Verwaltung des LAPD hielt man es für das Beste für alle Beteiligten, Ballard und Lieutenant Robert Olivas zu trennen. Er blieb bei der RHD, Ballard wurde versetzt, und die dahinter stehende Botschaft war unmissverständlich. Olivas kam ungeschoren davon, während sie von einer Eliteeinheit auf eine Stelle versetzt wurde, für die sich nie jemand bewarb oder freiwillig meldete, ein Posten, der normalerweise den Spinnern und Losern vorbehalten war.
Noch augenfälliger war die fatale Ironie dieser Maßnahme für Ballard gerade in den letzten Monaten geworden, als das Land und insbesondere die Unterhaltungsindustrie in Hollywood von einer Flut von Skandalen überschwemmt wurden, in denen es um sexuelle Belästigung und Schlimmeres ging. Der Polizeichef rief sogar eine Sondereinheit ins Leben, um die zahllosen, zum Teil schon Jahrzehnte zurückliegenden Anzeigen bearbeiten zu können, die plötzlich aus der Filmindustrie eingingen. Natürlich setzte sich die Sondereinheit des Polizeichefs aus RHD-Detectives zusammen, und einer ihrer Leiter war Olivas.
Die alte Geschichte mit Olivas war Ballard nur zu gegenwärtig, als sie die digitalen Archive des LAPD nach Boschs altem Fall zu durchforsten begann. Grundsätzlich verstieß sie nicht gegen irgendwelche Vorschriften, wenn sie in alte Akten Einsicht nahm. Allerdings war der Fall, nachdem die Mordkommission der Hollywood Division aufgelöst worden war, der Einheit Offen-Ungelöst zugeteilt worden, die zur Robbery-Homicide Division gehörte und somit in Olivas’ Einflussbereich lag. Ballard wusste, dass sie bei ihrer Suche in der LAPD-Datenbank eine digitale Spur hinterließe, auf die Olivas möglicherweise aufmerksam wurde. Und das böte ihm eine Gelegenheit, ihr das Leben schwer zu machen und ein internes Ermittlungsverfahren gegen sie einzuleiten, weil sie sich für einen RHD-Fall interessierte.
Aber dieses Risiko einzugehen, war sie bereit. Sie hatte keine Angst vor Olivas gehabt, als er ihr auf der Weihnachtsfeier vor drei Jahren ins Bad gefolgt war; sie hatte ihn von sich gestoßen, und er war in eine Badewanne gefallen. Und auch jetzt hatte sie keine Angst vor ihm.
Obwohl die Chronologie das wichtigste Dokument war, um sich Überblick über einen Fall zu verschaffen, nahm sich Ballard als Erstes die Fotos vor. Sie wollte wissen, wie Daisy Clayton ausgesehen hatte, lebendig und tot.
Unter den zahlreichen Tatort- und Obduktionsfotos war auch ein Studioporträt des Mädchens. Sie trug darauf eine weiße Bluse mit dem Monogramm SSA über der linken Brust, die für Ballard nach einer Privatschuluniform aussah. Ihr blondes Haar war halblang, die Akne auf ihren Wangen mit Make-up kaschiert, und obwohl sie in die Kamera lächelte, lag bereits dieser abwesende Pubertätsblick in ihren Augen. Auch die Rückseite des Fotos war gescannt worden. Dort stand: 7. Klasse, St. Stanislaus Academy, Modesto.
Ballard beschloss, die Tatortfotos später anzusehen und sich zunächst mit der Chrono zu befassen. Zuerst scrollte sie zu den letzten Ermittlungsschritten und erfuhr so, dass die Ermittlungen, abgesehen von jährlichen Routinechecks, acht Jahre lang geruht hatten, bis sie vor sechs Monaten einer Cold-Case-Ermittlerin namens Lucia Soto zugeteilt worden waren. Ballard kannte Soto nicht, hatte aber von ihr gehört. Sie war die jüngste Ermittlerin, die je zur RHD versetzt worden war, und hatte Ballards Rekord gebrochen, die bei ihrer Beförderung acht Monate älter gewesen war als Soto.
»Lucky Lucy«, sagte Ballard laut.
Ballard wusste auch, dass Soto zurzeit der Hollywood Sexual Harassment Task Force zugeteilt war, weil die zuständigen Stellen beim LAPD – hauptsächlich weiße Männer – gemerkt hatten, dass es nicht schaden konnte, diese Sondereinheit mit möglichst vielen Frauen zu besetzen. Soto, die wegen eines furchtlosen Einsatzes, der ihr neben ihrem Spitznamen die Beförderung zur RHD eingetragen hatte, in den Medien keine Unbekannte war, musste bei Pressekonferenzen und sonstigen Medienterminen oft als Aushängeschild der Sondereinheit herhalten.
Das gab Ballard zu denken. Sie rechnete rasch zurück. Vor sechs Monaten hatte Soto den ungelösten Fall Daisy Clayton entweder zugeteilt bekommen, oder sie hatte selbst einen Antrag gestellt, ihn bearbeiten zu dürfen. Kurz darauf war sie von der Einheit Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden. Dann taucht Bosch in der Hollywood Station auf, um sich über den Fall zu erkundigen und sich Einblick in die Akten eines für Sexualdelikte zuständigen Detective zu verschaffen.
Hier bestand eindeutig ein Zusammenhang. Aber wo genau war er zu suchen? Was diese Frage anging, sah Ballard rasch klarer, als sie in der LAPD-Datenbank eine neue Suche startete und alle Fälle aufrief, in denen Bosch als leitender Ermittler aufgeführt war. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den letzten Fall, den er vor seinem Ausscheiden beim LAPD bearbeitet hatte: eine Brandstiftung in einem Wohnblock, bei der mehrere Kinder infolge einer Rauchvergiftung ums Leben gekommen waren. In mehreren Berichten über diesen Fall wurde Lucia Soto als Boschs Partnerin genannt.
Langsam begann sich für Ballard ein klareres Bild abzuzeichnen. Soto übernimmt den Fall Clayton und zieht ihren früheren Partner Bosch zu den Ermittlungen hinzu, obwohl er nicht mehr beim LAPD ist. Aus welchem Grund? Weshalb holt sich Soto Hilfe von außen, und das, obwohl sie gerade von Offen-Ungelöst zu der Sondereinheit für sexuelle Belästigung versetzt worden ist?
Da diese Frage im Moment nicht zu beantworten war, machte sich Ballard wieder ans Studium der Akte, wobei sie diesmal ganz von vorne begann. Daisy Clayton wurde darin als chronische Ausreißerin dargestellt, die es sowohl zu Hause als auch in den betreuten WGs und Heimen, in denen sie vom Department of Children and Family Services untergebracht worden war, nie lange ausgehalten hatte. Jedes Mal wenn sie ausriss, landete sie auf den Straßen Hollywoods, wo sie sich in Obdachlosenlagern und besetzten leerstehenden Gebäuden anderen Ausreißern anschloss. Sie trank, nahm Drogen und ging auf den Strich.
Mit dem Gesetz war Daisy zum ersten Mal sechzehn Monate vor ihrem Tod in Konflikt gekommen. Dem folgten mehrere weitere Festnahmen wegen Drogendelikten und Prostitution. Aufgrund ihrer Minderjährigkeit wurde sie nach den ersten Festnahmen lediglich zu ihrer alleinerziehenden Mutter Elizabeth oder in entsprechende Einrichtungen für Jugendliche gebracht. Aber das konnte sie nicht davon abhalten, auf die Straße und in die Obhut Adam Sands‘, eines neunzehnjährigen ehemaligen Ausreißers mit einer ähnlichen kriminellen Vorgeschichte, zurückzukehren.
Sands war von den ursprünglichen Ermittlern zwar vernommen, aber von der Liste potentieller Verdächtiger gestrichen worden, als sich sein Alibi bestätigte: Er war zum Zeitpunkt von Daisy Claytons Ermordung in einer Arrestzelle der Hollywood Division festgehalten worden.
Nachdem der Tatverdacht ausgeräumt war, wurde Sands ausführlich zu den Gewohnheiten und Beziehungen des Opfers befragt. Er behauptete zwar, nicht zu wissen, mit wem sie sich in der Mordnacht getroffen hatte, rückte aber zumindest heraus, dass sie sich normalerweise in der Nähe eines Einkaufszentrums am Hollywood Boulevard auf Höhe der Western Avenue herumtrieb, in dem es einen kleinen Supermarkt und einen Liquor Store gab. Dort sprach sie aus diesen Geschäften kommende Männer an, fuhr mit ihnen in eine der Seitenstraßen des Viertels und hatte im Auto Sex mit ihnen. Dabei behielt Sands sie normalerweise im Auge, aber in der fraglichen Nacht hatte er sich in Polizeigewahrsam befunden, weil er zu einer Gerichtsverhandlung wegen eines Drogendelikts nicht erschienen war.
Daisy war sich also selbst überlassen gewesen, und in der darauffolgenden Nacht wurde ihre Leiche in einer der Seitenstraßen entdeckt, in denen sie ihre Freier abfertigte. Sie war nackt, und ihr Körper wies Spuren von sexueller Gewalt und Folter auf und war nach ihrer Ermordung mit Bleichmittel gesäubert worden. Ihre Kleidungsstücke wurden nie gefunden. Den Ermittlungen zufolge lagen zwanzig Stunden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie auf dem Strich im Einkaufszentrum das letzte Mal gesehen worden war, und dem Moment, als bei der Polizei ein anonymer Anruf einging, dass in einem Müllcontainer in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard eine Leiche lag, und Officer Dvorek losgeschickt wurde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Was in den zwanzig Stunden dazwischen passiert war, konnte nicht rekonstruiert werden, aber der Umstand, dass die Leiche mit Bleichmittel gewaschen worden war, legte den Schluss nahe, dass Daisy an einen unbekannten Ort gebracht, dort missbraucht und ermordet und anschließend gründlich gesäubert worden war, um alle Spuren, die zu ihrem Mörder hätten führen können, zu vernichten.
Der einzige Anhaltspunkt, aus dem die Ermittler jedoch nie schlau geworden waren, war ein Bluterguss an der rechten oberen Hüfte, der dem Opfer nach Ansicht der Detectives vom Mörder beigebracht worden war. Er hatte die Form eines Kreises von etwa fünf Zentimetern Durchmesser mit den kreuzförmig angeordneten Buchstaben A-S-P in der Mitte.
Der Umstand, dass die Buchstaben auf dem Körper der Toten spiegelverkehrt waren, bedeutete, dass sie auf dem Gegenstand, der den Abdruck hinterlassen hatte, richtig herum standen. Der Kreis um die kreuzförmig angeordneten Buchstaben sah wie eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange aus. Die Ränder des Blutergusses waren jedoch so stark verschwommen, dass sich das nicht mit Sicherheit feststellen ließ.
Obwohl viel Zeit und Mühe darauf verwendet wurde, die Bedeutung der Buchstaben zu entschlüsseln, kamen die Ermittler zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zunächst waren für den Fall zwei Mordermittler der Hollywood Division zuständig gewesen, doch als Hollywoods berühmte Mordkommission im Zuge der Zusammenlegung in Regionalzentren aufgelöst wurde, bekam die Olympic Division den Fall zugeteilt. Die Hollywood-Detectives waren King und Carswell gewesen, die Ballard beide nicht kannte.
Die Obduktion ergab, dass der Tod des Opfers zehn Stunden nach dem Zeitpunkt eingetreten war, zu dem es das letzte Mal lebend gesehen worden war, und zehn Stunden bevor die Leiche entdeckt worden war.
Die Todesursache war dem Obduktionsbefund zufolge manuelle Strangulation. Diese Feststellung wurde dahingehend spezifiziert, dass die Würgespuren, die die Hände des Täters am Hals des Opfers zurückgelassen hatten, darauf hindeuteten, dass es von hinten gewürgt worden war – möglicherweise, während es sexuell missbraucht wurde. Zu den Gewebeschädigungen in Vagina und Anus war es dem Befund zufolge sowohl ante als auch post mortem gekommen. Die Fingernägel des Opfers waren post mortem entfernt worden, was als ein Versuch des Täters gedeutet wurde, jegliche biologische Spuren zu beseitigen.