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ÜBER DEN AUTOR

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Er war Easy Listening-DJ, Debitorenbuchhalter und Tanztheatermusiker. Zuletzt erschienen seine Kolumnensammlung Die Rettung der Dinge und sein Roman Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück. Max Küng lebt in Zürich.

ÜBER DAS BUCH

Eine abgründige und urkomische Geschichte über die schönste Zeit des Jahres: die Ferien!

Die Einladung klingt perfekt: Eine Woche Ferien in einem idyllischen Haus in Frankreich. Einfach mal wieder die Seele baumeln lassen. Süßes Dolcefarniente genießen. Und natürlich: Essen wie Gott in Frankreich! Doch leider kommt es dann so, wie es oft kommt: Ganz, ganz anders.

Kein & Aber

 


Reinhard Döhl, »apfel«, 1965

ERSTER
FERIENTAG

La racine

Die Wurzel

Ein Haus. Der Himmel. Ein Baum. Alles spiegelt sich in einer Regenpfütze.

Eine ganze Woche über hatte es geschüttet, gepisst, geschifft. Und wenn der Regen aufhörte, äugten die Menschen misstrauisch in den grauen Himmel und meinten: Bald wird er wiederkommen. Und so war es dann auch. Das Wetter war grässlich in jenen Tagen, als der Sommer aufhörte und der Herbst begann. Die Menschen in der Gegend sagten kopfschüttelnd, als redeten sie über jemand Unverbesserlichen: »Temps de chien.«

Man urteilt gerne streng über das Wetter, geht hart mit ihm ins Gericht. Kein Tag vergeht, ohne dass man sich Gedanken darüber macht, ob man will oder nicht. Das Wetter gehört quasi zur Familie; man muss sich mit ihm arrangieren.

Endlich hieß es im Fernsehen, vom Atlantik her ziehe ein Hoch heran. Tatsächlich hörte der Regen auf. Das angekündigte Hoch fegte die Schlechtwetterwolken weg, auch über Saint-Jacques-aux-Bois. Erst wollten die Menschen den Prognosen nicht recht trauen, denn wie oft war man schon enttäuscht worden?

Tatsächlich kam ein Tag ohne einen einzigen Tropfen, dann noch einer. Morgens hing zwar noch Nebel über den Feldern, zum Schneiden dichtes Trüb. Niemals, so dachte man, würden die Sonnenstrahlen gegen diesen zähen Nebel ankommen. Doch noch im Verlauf des Vormittags hatte er sich verzogen, und die Sonne beschien die Landschaft mit ihrem klaren Licht, dass diese wirkte wie frisch gewaschen und abgeledert.

Ein paar Pfützen, sonst erinnert nichts an den Regen. Wie jene, in der sich ein Baum spiegelt, der Himmel, ein Haus. Es ist das letzte Haus an einer selten befahrenen Straße, die Rue de la Tuilerie heißt, obwohl heute weit und breit mehr keine Ziegelei zu sehen ist. Das Dorf, zu dem das Haus gehört – Saint-Jacques-aux-Bois eben, im Nordosten des Landes gelegen –, ist nicht groß, nichts Besonderes, ein Nest, wie tausend andere Käffer auch.

Vor einem halben Jahrhundert gab es noch eine Vielzahl von florierenden Fabriken in der Gegend, Möbelmanufakturen, Glasereien, Gerbereien, irgendwo auch eine Ziegelei. Damals lebten über tausend Menschen in Saint-Jacques-aux-Bois. Heute sind es weniger als die Hälfe, die Leute auf den wie in die Umgebung gewürfelten Höfen und Weilern mit eingerechnet. Viele waren weggezogen, in ein größeres Dorf, eine Stadt oder deren Nähe, dorthin, wo es Arbeit gibt oder wenigstens das Versprechen davon.

In Saint-Jacques-aux-Bois gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen: ein bisschen Landwirtschaft, ein bisschen lokales Gewerbe, aber auch diese Zweige gediehen in den letzten Jahren nicht gerade rosig, und der Blick in die Zukunft verheißt keine Besserung. Niemand zieht her, auch wenn eingangs des Dorfes ein großes Schild aufgestellt wurde, um für Bauland zu werben. Der Quadratmeter ist für neun Euro zu haben, erschlossen und baufertig. Das Werbeplakat blieb trotz seines Versprechens und seiner imposanten Größe wirkungslos, bloß die Witterung scheint sich für es zu interessieren.

Hinter dem Haus beginnt schon bald der Wald, mächtig und dunkel. Die Wiese zwischen Wald und Haus wurde länger nicht mehr gemäht. Eine Mauer trennt sie vom Wald. Sie ist zwar schon halb zerfallen, dennoch hält sie wacker ihre Funktion aufrecht, separiert Wildnis von Zivilisation, trennt als von Menschenhand erbaute Linie aus Stein das Chaos von der Ordnung. Auf der Wiese stehen Bäume, mehr als ein Dutzend, krumm und knorrig. Allesamt Obstbäume von kleinem Wuchs, die Äste teils mit Holzlatten abgestützt, damit sie unter der Last der reifen Früchte nicht bersten.

Nur ein paar Schritte von den Obstbäumen entfernt, direkt vor dem Haus, steht ein anderer Baum: eine mächtige Linde. Sie ist weitaus eleganter als ihre verwilderten Nachbarn und beinahe so groß wie das Haus hoch. Verglichen mit der Linde und ihrem mächtigen Blattwerk wirken die zerzausten Apfelbäume mickrig, schmächtig.

Das Haus ist hundert Jahre alt, sieht jedoch frisch aus, die Mauern wurden vor nicht allzu langer Zeit geweißelt, die Fensterläden leuchtend blau gestrichen.

Entlang des Grundstücks verläuft ein Kanal. Früher war er Teil eines großen Plans gewesen. Man wollte ein bedeutendes Wasserstraßennetz für Frachtkähne anlegen, welches das Mittelmeer mit dem Nordosten des Landes und schlussendlich sogar mit der Ostsee verband, von Arles bis Stettin. Das funktionierte. Der Verkehr zu Wasser prosperierte. Doch dann kamen Eisenbahn und Lastwagen, die Transportrouten änderten sich. Heute sind auf den Kanälen nur noch selten Frachtschiffe unterwegs, es tuckern mehrheitlich gemietete Touristenboote mit leidlich talentierten Freizeitkapitänen am Ruder träge von Schleuse zu Schleuse. Kaum merklich fließt der Kanal dahin. Dunkel verbirgt sein stilles Wasser, was in ihm lebt, treibt und schwebt. Nur dann und wann durchbricht das Maul eines Fisches mit kaum hörbarem Glucksen die Oberfläche, schnappt nach einer Fliege, einer Mücke.

Die Sonne wirft ihr Licht auch auf einen Apfel. Er hängt schwer am kurzen, wulstigen Stiel. Es ist kein Schneewittchenapfel. Er ist nicht prall und knallig rot glänzend, sondern unscheinbar, schüchtern gelb-grün, die Haut von mattem Glanz, auf der der Sonne zugewandten Seite von leiser, orangeroter Färbung, als wäre er ein wenig errötet.

Der Wind lässt die Blätter im Baum rascheln. Träge baumelt der Apfel am elastischen Ast. In der Ferne hört man den scharfen Warnruf eines Greifvogels, das entfernte Bellen von Hunden. Irgendwo beschleunigt ein Motorrad mit giftigem Heulen. Sonst ist es still an diesem Tag am Ende des Sommers, am Anfang des Herbstes. Bis das feine Knirschen von Kies vernehmbar ist. Kaum ist es verklungen, folgt ein dumpfes »Klonk«. Eindeutig das Zuschlagen einer Autotür, gefolgt von zwei weiteren, beinahe identischen Geräuschen, dann das metallische Klimpern eines Schlüsselbundes. »Da sind wir wieder«, sagt eine Stimme. Es klingt eher wie eine nüchterne Feststellung denn wie ein freudiges Verkünden. Eine Frau hat die Worte gesprochen. Ihnen folgt das Grunzen einer männlichen Stimme, das Zustimmung ausdrücken soll und ebenso unbestimmt klingt.

Der Apfel hängt am Stiel. Der Stiel hängt am Ast. Der Ast führt zum Stamm. Der Stamm steht auf der wilden Wiese und unter der Wiese verlaufen im feuchten, kühlen Dreck weit verzweigt und ungesehen von jedem menschlichen Auge die Wurzeln des Baumes. Dick wie Menschenarme erst, dann dünn wie Finger, am Ende fein wie Haar, verästelt und bis an die Grundmauer des Hauses reichend, wo die Pfütze ist, in der sich der Himmel spiegelt, das Haus, ein Baum. Alsbald wird sie versiegen, um im Boden von den Spitzen der Wurzeln des Baumes aufgesogen zu werden.

Der Apfel fällt zu Boden.

L’arrivée

Die Ankunft

Schwer hingen die Reisetaschen an Jeans Armen. »Verdammt, habt ihr da Plutonium reingepackt?«, sagte er zu niemand Bestimmtem. Er wollte nicht jammern, denn er wusste, jammernde Männer kamen nie gut an. Die Henkel der Taschen schnitten ihm in die Handflächen, er tat Schritt um Schritt, stellte die Taschen vor der Haustüre ab und ging zurück zum Wagen, dessen Metallic-Lack in der Mittagssonne schillerte wie der Panzer eines Waldlaufkäfers. Zwei weitere Reisetaschen lud er aus dem Gepäckraum, zudem einen voluminösen Hartschalenkoffer. Als er Laurent mit nichts als dem iPad in den Händen und auch noch ohne Schuhe an den Füßen zum Haus schlurfen sah, blaffte er seinen Sohn an, ob er sich nicht auch beteiligen wolle am Unvermeidbaren, dem Hereintragen des Gepäcks, denn das gehöre schließlich dazu, wenn es »dem Monsieur« zumutbar und nicht zu viel verlangt wäre, vielleicht, bitte, ja? Laurent bemühte sich um eine mitleiderweckende Miene, als er seinen Vater anblickte und mit dünner Stimme sagte, ihm sei schlecht, von der Autofahrt, so richtig kotzübel. In der Tat wirkte er fahl im Gesicht. Sein Vater wollte eben anmerken, das käme halt davon, wenn man während der Autofahrt die ganze Zeit in diese elektronischen Geräte starrte, anstatt – so wie er es ihm wiederholt geraten hatte – aus dem Fenster zu schauen. Jean hatte den Mund schon geöffnet, die erste Silbe lag ihm schon auf der Zunge, da hörte er Jacqueline rufen. »Leg dich drinnen aufs Sofa, Schatz!«

Es klang fürsorglich, versöhnlich.

»Danke, Mama«, sagte Laurent matt und müde.

Jean schloss seinen Mund, verzog das Gesicht und dachte, danke. So viel zum Thema »Erziehung auf einer Linie«.

Jacqueline mühte sich mit dem Schloss der Dachbox ab, sah Jean an und fragte mit vor Anstrengung verkniffenem Gesicht, ob er ihr nicht helfen könne mit dem verfluchten Ding.

»Ja«, erwiderte Jean ohne übermäßige Begeisterung, die Taschen in seinen Händen zogen ihn zum Erdmittelpunkt hinab. Er empfand es als doch einigermaßen seltsam, dass er so viel Schwere und Last empfinden musste, jetzt, am Anfang der Ferien. Ferien sollten doch Leichtigkeit sein. Ein Zustand des Schwebens. Luftiges Dasein. Glück. Deshalb hatten sie schließlich das Haus gekauft, hier in Saint-Jacques-aux-Bois. Damit sie ohne große Mühe in die Ferien fahren konnten. Das war die Idee gewesen: Spontan und ohne sich groß Gedanken machen zu müssen einfach zu Hause ins Auto klettern, gemütlich nach Frankreich kutschieren, ankommen, aussteigen, genießen! Es war nicht weniger als die Erfüllung eines Traums, ein Haus sein Eigen zu nennen, das man ohne Aufwand nutzen konnte, wo die Vorratsschränke voll waren, wo es warme Kleider gab für kühle Tage und einen Satz Badeklamotten für den Sommer. Und ein Paar Gummistiefel für den seltenen Fall, dass es einmal regnen sollte (so hatte er gescherzt, leider aber sollte sich das mit dem Regen als ganz und gar nicht so seltener Fall herausstellen, sondern als ausgesprochen nasse Regelmäßigkeit). Ein Haus, um »einfach zu sein«, wie Jean gerne sagte. Es gab noch andere Dinge, die Jean gerne sagte, wenn er von ihrem Haus erzählte, voller Stolz und mit entrücktem Lächeln, etwa: »Unser Second-House«. Und Jacqueline echote dann. »Second-House« war ein Begriff, der ihr gefiel. Was konnte man vom Dasein auf Erden mehr erwarten, als eine eigene Firma zu gründen, Kinder in die Welt zu setzen und ein Ferienhaus zu besitzen? Damit war für ein Leben schon viel erreicht, wenn nicht gar alles – wenigstens für Menschen knapp vor oder nach dem fünfzigsten Lebensjahr.

Die Realität jedoch sollte sich als etwas anders geartet herausstellen. Und so luden sie ihren Renault Espace jedes Mal voll bis unters Dach, wenn sie sich auf den Weg machten. Es war unglaublich, was alles mit in die Ferien musste, zwingend, dringend: Skateboards, Inlineskates, Fahrräder und Stand-up-Paddling-Bretter, große Kisten mit Gesellschaftsspielen (die mit schöner Regelmäßigkeit am Ende der Ferien unberührt wieder ins Auto eingeladen wurden), Jacquelines Puzzles, ihre Frühstücksflocken, die Hasen samt Futter und Streu. Auch wenn sie bloß für ein Wochenende fuhren, kam es Jean vor, als würden sie zu einer über alle Kontinente führenden Reise um die Erde aufbrechen.

Verdammt, dachte Jean, sagte aber nichts, bemühte sich, keine schlechten Vibes zu verbreiten, denn er wusste, dass es für alle nicht einfach war. Das Packen, das Einladen, die Abfahrt, die Reise, die Ankunft, die Trennung vom trauten Heim, der Aufbruch in ein zwar nicht gerade exotisch-fernes, aber doch fremdes Land. All das bedeutete Stress. Nicht selten kam es ihm vor, als bräuchte er den größten Teil der Ferien dazu, sich vom Stress zu erholen, den die Reiserei verursacht hatte, um dann, wenn er endlich an einem Punkt angelangt war, den man entfernt als so etwas wie »erholt« nennen konnte, wieder zu packen und die Heimreise anzutreten, die ihm jeweils noch anstrengender vorkam als die Anreise. Denn man konnte ja nicht einfach mir nichts, dir nichts wieder ins Auto steigen und abdüsen, sondern musste das Haus putzen, die Betten abziehen, den Kühlschrank ausräumen, die Heizung runterdrehen und kontrollieren, ob wirklich alle Türen und Fenster verschlossen waren. Zwar hatten sie eine Frau aus dem Dorf, die sich um die Tiefenreinigung kümmerte. Trotzdem, man musste, musste, musste! Was für ein Leben.

»Klemmt«, sagte Jacqueline knapp, als sich Jean an der Dachreling in die Höhe zog, um sich das Problem mit der Transportbox anzusehen, die wie ein grauer Sarg über dem Autodach schwebte. Es war zweifelsohne ein hässliches Ding, aber nützlich, so wie es eben hässlichen Dingen oft zu eigen zu sein scheint.

Die Gäste würden in zwei, drei Stunden ankommen. Bis dahin hätten Jacqueline und Jean genügend Zeit, das Gepäck zu verstauen, das Haus vorzubereiten, Licht und Luft hereinzulassen, die Betten frisch zu beziehen, Frottiertücher in die Bäder zu legen, vielleicht schnell noch mit dem Besen durch die Zimmer zu huschen und die toten Fliegen auf dem Boden wegzufegen. Die toten Fliegen, wo die immer herkamen? Einmal war der Boden schwarz vor geflügelter Leichen. Jacqueline hatte einen spitzen Schrei ausgestoßen, als sie die Türe zu jenem Zimmer unter dem Dach geöffnet hatte. Jean aber hatte bloß mit der Schulter gezuckt und kurzerhand persönlich die Bestattung per Besen besorgt.

Jacqueline würde auf der Wiese einen Strauß Herbstblumen pflücken – etwas, das sie liebte – und den feinen, zarten Strauß im alten Mostkrug auf den Tisch stellen. Sie würde einen kleinen Imbiss herrichten für die sicherlich hungrigen Ankömmlinge. Im Weinkühler stünde eine Flasche Grüner Veltliner, ihr Hauswein, den sie kistenweise von zu Hause mitbrachten, da Jacqueline der hiesige nicht zusagte. Ja, alles wäre parat und ganz wunderbar, wenn ihre Gäste einträfen.

Jean machte sich weiter an der Dachbox zu schaffen. Er fluchte nicht, obwohl ihm danach war; das verdammte Schloss der Dachbox ließ sich einfach nicht öffnen. Er fluchte nicht, da er nicht wollte, dass Jacqueline ihn mit ihrem Ich-hab-dir-doch-gesagt-die-Dachbox-taugt-nichts!-Blick ansah. Sie stand neben dem Wagen, die Arme verschränkt, schaute streng zu ihm hoch. Er schob die Zunge in den Mundwinkel, zog den Schlüssel aus dem Schloss, schob ihn erneut hinein, drehte sachte, mit Gefühl und forschend, erst in die eine, dann in die andere Richtung, dann mit so viel Kraft, dass er die im Mundwinkel geparkte Zunge zurückziehen musste, damit er sie nicht blutig biss.

Es war ein helles Geräusch, das erklang, als der Schlüssel brach, der Bart im Schloss stecken blieb. Jean fluchte leise, als er betrachtete, was er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, klein und silbrig glänzend: ein halber Schlüssel.

»Was ist passiert?«, rief Jacqueline.

»Hm«, murmelte Jean, den bartlosen Schlüssel in seinen Fingern, »abgebrochen.«

Jacqueline erwiderte nichts, aber Jean sah, dass sie nun doch ihren Ich-hab-dir-doch-gesagt-die-Dachbox-taugt-nichts!-Blick aufgesetzt hatte.

»Kein Problem«, meinte Jean. »Ich habe ja noch einen Ersatzschlüssel.«

»Aber, wenn er abgebrochen ist, steckt ja ein Teil des Schlüssels im Schloss, dann bekommst du den Zweitschlüssel nicht rein.«

Richtig, dachte Jean, aber er sagte, während er herunterstieg und den kaputten Schlüssel in seine Hosentasche steckte, ihn verschwinden ließ wie ein korrupter Polizist ein zu unterschlagendes Beweisstück: »Ich krieg den schon raus. Du musst dir deswegen nicht deinen hübschen Kopf zerbrechen. Das übernehme ich. Kein Problem, das Jean nicht lösen könnte, oder? Bringen wir erst mal den Rest rein. Um die Dachbox kümmere ich mich später.«

Jacqueline bedachte ihn nun mit einem anderen Blick. Es war der Ich-weiß-was-das-heißt-wenn-du-sagst-ich-kümmere-mich-später-drum-Blick, eine Mischung aus Warnung und vorweggenommener Enttäuschung. Kaum hatte sich Jean nach den zuvor am Boden deponierten Taschen gebückt, sie ächzend gehoben und »Es muss Plutonium sein« gestöhnt, da hörten sie ein Hupen. Ein Wagen fuhr vor.

Es war ein Toyota Prius mit Schweizer Nummernschild. Am Steuer saß schmal grinsend Bernhard, neben ihm breit lächelnd Veronika, die Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Zum offenen Fenster im Fond heraus winkte eine Hand, die Denis gehören musste.

»Viel zu früh … sie sind viel zu früh …«, rief Jacqueline und lachte auf. Jean hörte keine Freude im Lachen seiner Frau, es klang eher nach Besorgnis.

Er ließ die Taschen erneut fallen und hob die rechte Hand zum Gruß. »Dann mögen die Ferien beginnen«, sagte er leise.

La douane

Der Zoll

Filipp hatte den Wagen für ihre Reise nach Frankreich online bei einer Carsharing-Firma gebucht. Die Auswahl an Fahrzeugen war erstaunlich und auch etwas überfordernd. Sollte er auf radikal spartanisch machen und einen Wagen aus der »Micro«-Klasse buchen? Zu klein! Brauchten sie einen Wagen aus der »Minivan«-Kategorie? Zu groß! Ein »Cabrio«? Er lachte kurz auf.

Schließlich buchte er einen Honda Jazz Hybrid aus der Kategorie »Economy«, denn den Jazz hatte er immer schon gemocht. Außerdem war dieser Honda sensationell umweltfreundlich – wenn ein Auto überhaupt umweltfreundlich sein konnte. Als Filipp am Tag der Abreise damit vorfuhr, stöhnte Quentin auf.

»Du hast echt das hässlichste Auto auf der ganzen Welt ausgesucht.«

»Lass dich nicht von seinem Äußeren täuschen, es kommt auf die inneren Werte an«, erwiderte Filipp.

»So wie bei dir?«, entgegnete Quentin.

Filipp musterte seinen Sohn prüfend, sah, dass er fies grinste. Eine Neckerei. Er liebte Neckereien. Also gab er ihm in schneller Abfolge drei – »Biff! Bam! Pow!« – angedeutete Faustschläge in die Bauchgegend. Quentin spielte mit, stöhnte auf, krümmte sich theatralisch, wich zurück, ächzte, lachte.

Es war Gena, Filipps fünfzehnjährige Tochter, die er sagen hörte: »Habt ihr’s lustig?«

Aus ihrem Mund klang es nicht freundlich, sondern genervt, sie schien peinlich berührt, ihren Vater und Bruder bei diesem kindischen Theater ertappt zu haben. Filipp richtete sich auf, legte den Kopf etwas schief, als er seine Tochter ansah.

»Alles klar, Gena? Wirst du zurechtkommen?«

Sie zog eine Schnute. Selbstverständlich würde sie zurechtkommen.

»Mama hat gesagt, das Gepäck sei bereit.«

»Dann wollen wir das Gepäck mal holen, wenn Mama das sagt!« Filipp nickte Quentin zu, deutete eine Bewegung an, als hole er zum ultimativen Hulk-Schlag aus, dann stoben sie lachend davon. Gena rief ihnen nach, aber ohne Vehemenz oder Dringlichkeit, einfach so, damit es gesagt war: »Ihr seid echt peinlich, wisst ihr das?«

Gena würde zu Hause bleiben, während die anderen ein paar Tage nach Frankreich fuhren. So hatten sie es ausgemacht. Gena hätte mitfahren können, sie wollte aber nicht.

»Ich und die drei Idioten?«, hatte sie zu Salome gesagt, als diese sie gefragt hatte.

Gena stand im Badezimmer und untersuchte die Spitzen ihrer langen, dunkelblonden Haare.

»Nein danke!«

Mit den drei Idioten meinte sie ihren Bruder Quentin und dessen beide Freunde Laurent und Denis. Oft hingen die zusammen in der Wohnung ab, taten, was Zwölfjährige tun: Erdnussflips aus der Tüte essen, die Hälfte auf dem Boden verstreuen, Zocken, Müll erzählen, blöd kichern, behämmerte YouTube-Videos glotzen, hundert Mal »Geil, Alter!« sagen, komisch riechen, ihr auf die Nerven gehen.

»Ich habe jetzt alles gepackt«, sagte Salome, die abwesend im Flur stand, wie hypnotisiert. In Gedanken ging sie den Inhalt aller Gepäckstücke noch einmal durch. Das Packen war ihr Zuständigkeitsbereich. Filipp war darin nicht besonders gut, genauer gesagt war seine Nonchalance diesbezüglich nicht kompatibel mit ihrer zuverlässigen und verbindlichen Art. Er war der festen Überzeugung, dass alles, was man für die Ferien brauchte, die Kreditkarte, die Sonnenbrille und eine Badehose sei.

Hatte sie Quentins Asthmaspray dabei? Ja.

Das Buch über die Kapelle von Ronchamp, die ganz in der Nähe lag und die sie unbedingt besuchen wollte? Ja.

Die Elektrozahnbürsten? Ja.

Die Ladestation zu den Elektrozahnbürsten? Ja.

Ersatzaufsätze für die Elektrozahnbürsten? Ja.

Den Beutel mit den Steckdosenadaptern? Ja.

Ihre Thermosflasche? Ja.

Die Badesachen? Ja, auch die hatte sie eingepackt.

Als Jacqueline am Telefon gesagt hatte, sie sollen unbedingt die Badesachen mitnehmen, es gäbe einen Kanal vor dem Haus, in dem man prima schwimmen könne, gingen bei Salome sofort die Warnlichter an. Gewässer, in denen gebadet werden konnte, waren vor allem eines: potenzielle Gefahrenzonen. Hörte sie das Wort »Wasser«, dachte sie an Strudel, tückische Strömungen, Tod durch Ertrinken. Trotzdem hatte sie die Badehosen für Quentin und Filipp eingepackt. Ihren Badeanzug aber nicht, den würde sie mit Sicherheit nicht brauchen.

Sie herzte Gena, die es mit einem stoisch ertragenen Schauer des Ekels über sich ergehen ließ. Aber als ihr die Umarmung zu lange dauerte, stöhnte sie: »Ist ja gut, Mama«, und machte sich von ihr los, ging davon. Nicht ohne Kummer blickte Salome ihrer Tochter nach. Gena schlidderte gerade in ein schwieriges Alter. Früher war sie ein so pflegeleichtes Kind gewesen, folgsam und lieb, fleißig in der Schule, nie hatte sie Probleme bereitet. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, der rebellisch und darauf bedacht gewesen war, immer das Gegenteil von dem zu tun, was von ihm verlangt wurde, impulsiv, auf Krawall gebürstet. Nun aber schienen sich die Launen der Kinder gekreuzt zu haben und sich in entgegengesetzter Richtung wieder voneinander zu entfernen. Je älter Quentin wurde, desto vernünftiger, angenehmer und sanfter schien er Salome. Gena hingegen war zunehmend schwierig geworden, unberechenbar, streitlustig, zickig. Noch keine drei Wochen war es her, als Gena ihr im Streit etwas so Furchtbares an den Kopf geworfen hatte, etwas so unerhört Böses – »Du dumme Fotze!« –, dass Salome die Hand ausgerutscht war … was ihr sogleich furchtbar leidgetan hatte. Es war nun eine für sie emotional nicht einfache, aber für die Beziehung zueinander sicher sinnvolle Sache, in diesen Ferien auch ein bisschen Ferien voneinander zu machen, die Elastizität der Familienbande zu dehnen. Mädchen im Teenageralter waren gnadenlos den hormonell bedingten Stürmen der Gehirnchemie ausgeliefert. Noch schlimmer war es dabei für Salome, dass sie selbst sich gerade ebenfalls veränderte, auch launischer war seit ein paar Monaten, niedergeschlagener, aus heiterem Himmel, grundlos. Sie spürte, sie verließ die Zone, in die Gena nun eintrat. Gena wurde vom Mädchen zur Frau; und sie, Salome, wurde von der Frau zu was? Zur alten Schachtel?

Bald waren sie auf der Autobahn, ließen die Stadt hinter sich, drangen ein in den äußeren Asteroiden-Gürtel der Vorstadtsiedlungen. Filipp fummelte am Autoradio herum, schaute, ob sie schon in das Sendegebiet von Kanal K gekommen waren. Plötzlich schrie Salome laut auf. Filipp zuckte zusammen.

»Verdammt, was ist denn los?«, rief er.

Er klang echt genervt, was daran lag, dass er echt genervt war, sich so erschreckt hatte.

»Schrei doch nicht so, ich wär fast in die Leitplanke gefahren! Was ist denn los?!«

»Ich habe Quentins Ausweis vergessen!«, rief Salome und stöhnte auf. Seit ihrer Abfahrt hatte sie kein Wort gesagt, sondern war in Gedanken abermals die imaginäre Checkliste ihres Gepäcks durchgegangen.

Einen Moment herrschte Schweigen im Wagen, man hörte nur das hohle Dröhnen der Reifen, das Brummen des kleinhubraumigen Motors und das Gedudel aus den billigen Lautsprechern, dann sagte Salome: »Verdammt, wie konnte mir das passieren?«

Und ja, tatsächlich war das eine berechtigte Frage, wie konnte ihr das passieren? An alles hatte sie gedacht, so wie immer, an alles, sogar an die Zeckenzange und das Etui mit dem Reiseflickzeug – bloß nicht an den Ausweis ihres Sohnes.

»Gemach, gemach«, sagte Filipp mit lauter, aber ruhiger Stimme, den Blick weiterhin konzentriert auf die Straße und den darauf fließenden Verkehr gerichtet, »was ist daran so schlimm?«

Salome blickte Filipp an und äffte ihn nach.

»Was ist daran so schlimm? Ich sag dir, was daran so schlimm ist: Wir reisen in ein anderes Land! Und wenn man in ein anderes Land reist, muss man seinen Ausweis dabeihaben.«

Die Musik ging ihr auf die Nerven, sie schaltete das Autoradio aus. Wieder machte sich Schweigen im Wagen breit, bis sie kopfschüttelnd wiederholte: »Wie konnte mir das passieren?«

Filipp nickte bedächtig und sagte sanft: »Easy, Salome. Wer braucht schon Ausweise? Wir leben im 21. Jahrhundert, in Europa, da werden die Grenzen nicht mehr bewacht. Schon mal was von Personenfreizügigkeit gehört? Vom Schengenabkommen?«

Er warf ihr einen Seitenblick zu. Sie schaute wie versteinert geradeaus. Ein Tunnel verschluckte sie.

»Wir müssen den Ausweis holen«, sagte Salome entschlossen, als hätte sie Filipp gar nicht zugehört.

Der erwiderte: »Sag mal, hast du mir nicht zugehört? Wir fahren sicher nicht zurück. Wir brauchen den Ausweis nicht.«

Salome schwieg, innerlich mit sich ringend, unsicher. Stimmte das? Filipp schaltete das Radio wieder an.

»So geil! Amen Dunes! So eine geile Band, hört mal!«

Er grinste breit, drehte den Song lauter, und nach hinten zu Quentin gewandt rief er: »Zieh dir das rein! Das ist Musik!«

Es war einer seiner pädagogischen Grundpfeiler, seinem Sohn wahre Kultur in den allgegenwärtigen und unausweichlichen Pop-Brei des Alltags zu mengen – schon als Kleinkind kam Quentin in den Genuss von reichlich Miles Davies und Thelonious Monk und anstatt Findet Nemo gabs an den Kindergeburtstagen Buster-Keaton-Filme. Doch nun hatte der Junge seine Kopfhörer auf den Ohren und stierte in die Nintendo Switch, ganz und gar verloren im Sog eines Spiels. Filipp ließ sich durch die kindliche Ignoranz seine gute Laune nicht verderben, nickte im Rhythmus des Songs, setzte den Blinker zum Überholen und beschleunigte.

»In zweieinhalb Stunden sind wir da«, sagte er. Niemand im Wagen erwiderte etwas. Als der Song im Radio zu Ende war, begann ein neuer.

Vierzig Minuten später überquerten sie den Rhein. Auf Anhieb erwischten sie die richtige Ausfahrt Richtung Frankreich, kamen zum Zollübergang, wo sie von einem Grenzwächter angehalten wurden. Nein, sagte Filipp in seinem besten Französisch, das nicht gerade gut war, aber bis dahin gereicht hatte, um etwa in Paris bei Chez Omar an der Rue de Bretagne ein Couscous zu bestellen oder am Ticketschalter des Centre Pompidou Eintrittstickets zu lösen, für ihren Sohn hätten sie keinen Ausweis dabei, nein, aber er sei wirklich sein leiblicher Sohn, das könne er ihm glauben.

Er wusste nicht, was »wie aus dem Gesicht geschnitten« auf Französisch hieß, also sagte er bloß »la tête« und »comme coupée«, den Rest erledigten seine an der Schauspielschule ausgebildeten Hände mit ihren ausdrucksstarken Fingern.

Gab es Dinge, die Filipp mit seinem Charme nicht meistern konnte?

Ja, die gab es. Und so waren sie bald wieder unterwegs, aber in die entgegengesetzte Richtung.

Es entstand ein kurzer interfamiliärer Disput darüber, ob man einfach einen anderen Zollübergang nehmen sollte. Salome setzte sich schließlich durch, Filipp gab nach, schweigend fuhren sie zurück. Salome holte Quentins Ausweis und, weil sie gerade in der Wohnung war, auch gleich noch das Buch, das sie eigentlich nicht hatte mitnehmen wollen, da es so dick war, so schwer. Vielleicht hätte sie ja tatsächlich Muße und Zeit in den kommenden Tagen, darin zu lesen. Es war doch immer gut, in den Ferien ein Buch dabeizuhaben, um damit die Langeweile totschlagen zu können, falls sie aufkäme.

Auch auf der erneuten Fahrt Richtung Basel sprachen sie wenig, das Radio blieb diesmal stumm, aber als Filipp wieder den Blinker zur Abzweigung nach Frankreich setzte, sagte er bitter grinsend: »Und täglich grüßt das Murmeltier.«

Salome schwieg.

Sie fuhren an denselben Zollübergang heran, an dem sie zuvor passieren wollten. Niemand war zu sehen, das Zollhäuschen verwaist und sie fuhren über die Landesgrenze, ohne dass sie überhaupt einen Uniformierten zu Gesicht bekamen.

»Diese Arschlöcher«, sagte Filipp leise und schüttelte ungläubig den Kopf. Und als sie schon französischen Boden unter den Rädern hatten, Filipp den Honda Jazz auf die erlaubten 130 km/h und dann darüber hinaus beschleunigte, sagte er noch einmal leise »diese Arschlöcher«.

Salome spähte auf den Tacho.

»Du fährst zu schnell«, sagte sie.

»Wir sind in Frankreich, da fahren alle zu schnell. Das gehört zum hiesigen Lebensstil. Zum …« Filipp dachte nach, suchte nach dem passenden Begriff, da fiel er ihm ein: »… savoir-faire!«

Grell und kurz war das Licht, das aus dem Kasten am Straßenrand herausblitzte, dem Kasten, der ein Foto des roten Autos machte, mit einem Fahrer hinter dem Lenkrad, der grinste. Ein Grinsen, das eine Sekunde später erstorben war.

L’arbre

Der Baum

»Meinst du?«, fragte Jacqueline. »Aber sicher«, entgegnete Veronika betont locker, »das mach ich gerne.« Sie lächelte. Jacqueline sah Veronikas Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. War ihr bis dahin gar nicht aufgefallen. Und groß war diese Frau! Überragte Jacqueline gut und gerne um einen Kopf, brachte aber sicherlich trotzdem ein paar gewichtige Kilos weniger auf die Waage.

Nicht ohne Widerwillen übergab Jacqueline den Stapel mit den Bettbezügen, Laken und der Frotteewäsche ihrem Gast. So war es nicht gedacht gewesen. Bernhard und Veronika waren viel zu früh angereist. Vier Uhr nachmittags war ausgemacht gewesen, nun war es erst halb drei. Sie fühlte sich überrumpelt.

»Gut«, sagte Jacqueline, »dann lass ich dich.« Sie lächelte und legte die Hand sanft an Veronikas Schulter. »Bis später. Und wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach.«

»Danke, Jacqueline. Und danke überhaupt. Für alles. Für die Einladung. Dass wir hier sein dürfen. Das ist sehr großzügig von euch!«

»Gern geschehen. Dafür hat man ja schließlich Freunde! Und ein Haus!«

Die Treppe knarzte, als Jacqueline hinunterstieg. Dann kehrte Ruhe ein in dem Zimmer, in dem Veronika nun alleine stand. Nein, mehr als Ruhe, eine Stille, wie sie sie schon lange nicht mehr erlebt hatte. Veronika legte den Stapel mit der Wäsche auf die noch unbezogenen Matratzen, die einen ordentlichen Eindruck machten, ohne die sonst übliche Fleckenhistorie menschlicher Absonderungen waren. Veronika trat an das Fenster und öffnete es. Der Blick ging auf den Kanal. Sie hörte das Gezwitscher von Vögeln, die im großen Baum vor dem Haus ihre Dinge verhandelten. Es war eine betörende Landschaft, in die sie da blickte. Nichts, was sie sah, schien von Menschenhand erschaffen, kein hässliches Einfamilienhaus, keine Handy-Antenne, kein Geräteschuppen. Es war, als hätte sie nicht das offene Fenster eines Hauses vor Augen, sondern ein Gemälde, das ein Idyll in hundert Grüntönen zeigte.

Dann ertönte ein fernes Brummen, das langsam lauter wurde. Sie trat näher an das Fenster. Ein Boot fuhr heran, eine Art Hausboot, fast so breit wie der Kanal selbst, gemächlich zog es vorbei.

Zwar war der Kanal künstlich, angelegt von Händen und Maschinen, erdacht von Köpfen mit wirtschaftlichen und politischen Interessen und Zielen, aber er war schon vor so vielen Jahren ausgebaggert worden, dass er nun mit der Landschaft verschmolz, die Natur sich ihn einverleibt hatte.

So war sie, die Natur: geduldig und schlussendlich immer obsiegend. Der Mensch dachte in Jahren; eventuell in Jahrzehnten, wenn er weise war. Für die Natur jedoch waren hundert Jahre bloß ein Wimpernschlag.

Veronika ließ das Fenster offen, wandte sich um. Das Zimmer verströmte einen behaglichen Charme, die Wände waren in einem bläulichen Grünton gestrichen, eine dunkelholzige Spiegelkommode mit verschnörkelten Details stand in der Ecke. Sie zog an einem der Griffe, die Schublade war leer und mit Wachspapier ausgeschlagen. Sie ließ sie offen, um später ihre Kleider einzuräumen. Neben dem geschwungenen Holzbein der Kommode sah sie eine Fliege, auf dem Rücken liegend. Mit dem Fuß wischte Veronika das tote Insekt unter die Kommode.

Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein Korbstuhl, zwei Einzelbetten. »Leider kein Kingsize-Doppelbett«, hatte Jacqueline entschuldigend gesagt und sogleich darauf hingewiesen, dass sie dafür aber das hellste Zimmer hätten, mit am meisten Morgensonne.

Zum Glück, hatte Veronika gedacht, wobei sich das nicht auf die Morgensonne, sondern auf die getrennten Betten bezog.

Jacqueline hatte Bernhard und Veronika zuvor durch das Haus geführt. Es war in der Tat beeindruckend. Sie hatten es bereits von außen bewundert, man sah ihm seine Schönheit schon vom Parkplatz aus an, aber erst als sie gemäßigten Schrittes von Raum zu Raum gingen, offenbarte sich seine wahre Größe. Man betrat es vom gekiesten Parkplatz, kam in ein luftiges Entree mit einem gekachelten Schachbrettboden, gelangte durch einen langen Flur in das großzügige Esszimmer mit einem massiven Marmortisch. Alte Plakate zierten die Wände, ein großer, altersblinder Spiegel mit goldenem Rahmen hing über einem kleinen Sideboard, welches ein Altar der liebsten Dinge war: Krimskrams, ein blauer Papagei aus Porzellan, alte Arzneimittelflaschen, Aschenbecher mit Werbemotiven von alkoholhaltigen Aperitifgetränken, die seit Dekaden schon vom Markt verschwunden waren.

»Eklektizistisch!«, hatte Veronika gesagt, während sie eine imposante Ansammlung von Duftkerzen studierte, woraufhin Jacqueline sie mit einem fragenden Lächeln bedacht hatte. »Sehr schön eingerichtet«, sagte Veronika schnell, ließ es wohlwollend klingen.

Ja, jemand hatte sichtlich viel Zeit und Liebe in die Dekoration der Räume gesteckt. Vielleicht etwas zu viel, dachte Veronika.

An das Esszimmer angeschlossen war der Salon mit einem ausladenden Sofa, zwei identischen Eames-Lounge-Chairs mit Ottomanen und einem Kamin, der so aussah, als sei er eine Weile schon nicht mehr benutzt worden. Über dem Kamin hing ein kurioses Ding, Veronika hatte ein fragendes Gesicht gemacht.

»Was ist denn das für ein Monstrum?«

In der Tat war dieses Ding seltsam anzusehen, ein schwarzes Gestänge aus Eisen mit schartigen, zackigen Zähnen, nicht unähnlich einem gewaltigen rostigen Haifischgebiss.

»Das war Jeans Idee«, hatte Jacqueline gesagt und die Augen verdreht.

Just in dem Moment war der hinzugetreten.

»Ein altes Tellereisen. Mit solchen Fallen hat man früher Bären gejagt. Und Wölfe. Hab das Prunkstück in einem Trödelladen in Luxeuil gefunden. Musste ganz schön feilschen!« Noch eine Weile bestaunten sie das Tellereisen, dann gingen sie weiter.

Die Küche befand sich gleich nebenan. Bernhard pfiff anerkennend, als sie eingetreten waren. Der Ausbaustandard dieser Küche ließ keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Absichten dessen, der sie geplant hatte.

Auch an elektrischen und mechanischen Küchenhilfen mangelte es nicht, eine massige Berkel-Wurstschneidemaschine war ebenso zu finden wie eine imposante Espressomaschine mit so vielen Anzeigen, Schaltern, Hebeln und schwenkbaren Dampfdüsen, dass sie ebenso in das Labor eines verrückten Wissenschaftlers gepasst hätte. »Haushaltsgeräte, mon amour!«, hatte Jean gesagt, die Schultern entschuldigend gehoben und gegrinst.

Auf zwei Stockwerken darüber verteilten sich die Schlafzimmer, je vier pro Etage sowie zwei Badezimmer, die sowohl vom Flur wie auch durch schmale Türen von den angrenzenden Zimmern aus zugänglich waren. Die Decken waren hoch und reich an Stuckverzierungen. Alles verströmte eine nicht zu ferne aber dennoch wirksame Exotik. Es war für Veronika nicht ohne Reiz, ein fremdes Haus zu erkunden, von Raum zu Raum zu gehen, all die Dinge zu entdecken, die ein solches Haus ausmachten, das unbestreitbar eine Geschichte besaß, ein Leben und sicherlich auch das eine oder andere Geheimnis. Doch sie hätte das Haus anders eingerichtet, ganz anders.

Jacqueline hatte erzählt, das Haus sei kurz vor der Jahrhundertwende erbaut worden, von einem Kapitän, der die Meere der Welt bereist und sich dann hier in seiner alten Heimat zur Ruhe gesetzt habe.

»Kommt mit, ich zeig euch den wahren Star hier: den Garten.« Stolz lächelnd führte Jacqueline ihre Gäste aus dem Haus.

Und in der Tat, in diesem Garten musste man sich schlagartig wohlfühlen, romantisch, wie er war, wild und einladend ausladend, einfach wunderbar.

»Boccia!«, hatte Bernhard gerufen, als er die mit alten Bahnschwellen eingefasste Bahn hinter der efeuumrankten Fassade einer Remise entdeckte. »Das habe ich ja ewig nicht mehr gespielt!«

»Boule!«, erwiderte Jean.

»Wie?«

»Boule sagt man hier, nicht Boccia. Oder Pétanque.«

»Ach stimmt, wir sind ja in Frankreich!«

»Wir hatten solch ein Glück mit diesem Haus!«, sagte

Jacqueline mit verklärtem Blick zu den beiden. »Ich sag immer, wir haben es nicht gesucht. Es hat uns gefunden. Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir zum allerersten Mal hier waren, da fühlte ich mich überhaupt nicht fremd, nein, mir war, als hätte ich früher schon mal darin gelebt. So vertraut kam es mir vor.« Jean hatte mit einem Nicken bedeutet, dass es auch ihm so oder ähnlich ergangen war. Dann wies er in den angrenzenden Obstgarten und sagte feierlich: »Die Apfelbäume! Aus den Früchten dieser Bäume machen wir bald Saft. Jus de Pomme. Er schmeckt herrlich, das kann ich euch versprechen! Herrlich!«

Veronika stand noch immer am Fenster, als Bernhard mit dem Gepäck hereinkam, es fallen ließ und ächzte.

»Verdammt schwer!«

»Was macht Denis?«

»Was weiß ich, die Kids sind in ihrem Zimmer verschwunden.«

»Sind sicher schon am Gamen.«

Bernhard zuckte mit den Schultern.

»Lass sie doch. Es sind Ferien. Zeit für uns alle, sich zu entspannen.«

Veronika sah Bernhard an, als wolle sie abchecken, ob er sie verarschte. Aber er schien es so gemeint zu haben, wie er es gesagt hatte. Entspannen …, dachte sie. Fremdwörter hatte sie noch nie gemocht.

»Welches Bett möchtest du?«

»Ist mir egal.«

»Mir auch. Entscheid du.«

»Nein, sag du. Sonst sagst du später, du hättest eigentlich lieber das andere gehabt.«

Veronika verdrehte die Augen.

Bernhard ging wieder aus dem Zimmer, ohne sich für eines der Betten entschieden zu haben. Sie hörte ihn davongehen, kaum vernehmlich klagten die Dielen unter seinen Füßen.

Als die Betten bezogen waren mit der lilafarbenen und den etwas aufdringlich nach fremdem Waschmittel riechenden Bezügen, ging auch Veronika hinunter. Jean oder Jacqueline hatte einen kleinen Aperitif auf einem Tablett vorbereitet.

»Ich weiß, es ist noch etwas früh«, sagte Jean, der eine Flasche Weißwein in einen Kühler stellte und diesen auf das Tablett, »aber wir sind ja erstens in Frankreich und zweitens in den Ferien! Kommt, wir gehen in den Garten!«

Kaum hatte er das Tablett erhoben, ertönte eine Hupe.

»Da kommt wohl noch jemand«, sagte er und stellte das Tablett wieder ab.

Laurent und Denis hatten das Gehupe ebenfalls gehört, jagten mit Gepolter die Treppe herunter und stürzten aus dem Haus. Die Erwachsenen folgten ihnen gemächlich. Filipp und Salome stiegen gerade aus dem Wagen.

Filipp streckte sich, als ob er aus einem langen Schlaf erwacht sei. Die Jungs drängelten sich um die offene hintere Wagentüre, um Quentin zu begrüßen.

»Gut gereist?«, fragte Jean.

»Absolut!«, sagte Filipp und packte die ihm entgegengestreckte Hand, zog Jean an sich und umarmte ihn, als seien sie alte, dicke Freunde. Doch eigentlich kannten sie sich kaum, bloß vom Sehen, wie man sich eben so kennt, wenn die Kinder zusammen zur Schule gehen. Genau das aber sollte sich in den nächsten Tagen ändern, denn das war der Zweck dieses Urlaubs: Dass man vertrauter wurde miteinander. Sich näher kennenlernte. Das Fundament einer Freundschaft gegossen wurde. Dass aus flüchtigen Bekannten Gefährten wurden; Gefährten, die einen auf dem zukünftigen Weg begleiteten.

Er klopfte Jean auf den Rücken. Salome stand etwas verlegen beim Auto, zwang sich aber zu einem Lächeln.

»Wir …«, setzte sie an, um von ihrem Missgeschick zu erzählen, der Sache am Zollübergang, dem vergessenen Ausweis, brach aber ab, sagte nicht, was sie hatte sagen wollen.

»Ihr beweist gutes Timing! Die Weißweinflasche wurde eben geköpft. Kommt herein«, rief Jean, der aus Filipps Umarmung wieder in Freiheit entlassen worden war. Nun wurde Bernhard in Filipps Armen begraben.

Wenig später standen sie unter dem Apfelbaum, auch die Kinder, Gläser in den Händen, Lächeln in den Gesichtern. Die Last der Reise fiel von ihnen ab. Langsam kamen sie an. Erleichterung machte sich breit. Sie stießen auf die Woche an, die vor ihnen lag. Tage voller Versprechungen, voller Erholung, Entdeckungen und Abenteuern, zudem mit einer Dosis kultureller Bildung: Die Kapelle von Ronchamp, das berühmte Bauwerk von Le Corbusier, lag nicht weit entfernt.

Nebst dem Weißwein und selbst gemachter Zitronenlimonade für die Kids hatte Jean auch Champagner aufgetischt; und zwar echten, keinen Cava- oder Prosecco-Fusel. Die Flaschen lagen in einem splendiden Kühler, der üppig mit Eis gefüllt war. Unter Gejohle flog der Korken, weit in den Himmel, beschrieb eine wunderbare Parabel und landete mit einem kaum hörbaren Geräusch im Kanal.

»Guter Schuss!«, rief Filipp.

»Gekonnt ist gekonnt!«

Sie füllten die Gläser, eines lief über, man schüttelte sich die Finger trocken, lachte, prostete sich zu.

Filipp rüffelte scherzhaft seinen Jungen, weil der ihm beim Anstoßen nicht in die Augen geschaut hatte. »Du weißt ja, was passiert, wenn man sich nicht in die Augen schaut!« Quentin guckte etwas dümmlich drein, und auch etwas verlegen, denn er wusste, was sein Vater nun sagen würde, er hatte ihn diesen Satz schon hundertmal sagen hören. Der Junge sagte also, was sein Vater von ihm zu hören wünschte, und erntete Gelächter von den Erwachsenen: »Sieben Jahre schlechten Sex.«

»Der war gut«, rief Jean und tätschelte Filipp die Schulter. »Der war wirklich gut! Sieben Jahre schlechten Sex! Eine fürchterliche Vorstellung!«

Und sie lachten, manche mehr, manche weniger.

Die Ferien hatten begonnen.

La fringale

Der Kohldampf

Vor dem Essen sollten sie sich noch etwas die Beine vertreten, die sicherlich müde waren von der langen Autofahrt, wie Jean anregte. »Lasst uns den Kreislauf etwas ankurbeln!«

Eine gute Idee, fanden alle bis auf die Kinder.

Doch auch die mussten mit, trotz Protesten und Quengelei. Also verließ ein ganzer Tross das Haus, spazierte schwatzend den Kanal entlang, zur alten Drehbrücke und dann noch weiter. Mit einem lauten, singenden Bonjour grüßte Jean einen Mann, der ihnen entgegenkam und knapp zurückgrüßte, indem er seinen Finger an eine imaginäre Hutkrempe legte.

»Wer war denn dieser finstre Kerl?«, fragte Filipp mit gesenkter Stimme und blickte dem Mann hinterher.

»Der Wirt.«

»Es gibt also ein Restaurant hier! Großartig!«

»Oh ja, das gibt es, aber etwas Besonderes ist es nicht.«

»Nicht?«

Jean korrigierte sich sogleich, er wollte nichts Negatives über das Dorf berichten.

»Sagen wir’s so: Es ist recht einfach. Eher ein Wirtshaus als ein gediegenes Restaurant. Eine typische Dorfkneipe.«

»Aber in Frankreich isst man doch so gut! Wie Gott und so. Deswegen sind wir ja hier, Jean!«

Jean lachte auf.

»Ich weiß, Frankreich hat diesen Ruf, doch man isst leider nicht überall wie bei Paul Bocuse. Außerdem: Selber zu kochen macht doch viel mehr Spaß, oder?«

Filipp pflichtete Jean wortreich bei, und während er von den Dingen erzählte, die er selber gerne kochte, etwa sein »weitherum berühmtes« Gulasch, wandte Jean noch mal schnell den Kopf nach dem Wirt. Er war nicht mehr zu sehen.

Damals, als sie das Haus gekauft und umgebaut hatten, sagte Jean den gleichen Satz zu seiner Frau, der eben aus Filipps Mund gekommen war: »Es gibt ein Restaurant hier! Großartig!«

Das Restaurant hieß La Fringale. Jean musste das dicke grüne PONS-Wörterbuch aus dem Regal ziehen und das Wort nachschlagen.

»Und?«, fragte Jacqueline. »Was heißt es? Froschschenkel oder so was? Oder Kühlschrank?«

Jean las ihr den Eintrag aus dem Wörterbuch vor.

»Kohldampf?«, sagte Jacqueline. »Sehr passend. Dann spielen wir mal die hungrigen Gourmetkritiker, los!«

Voller Elan machten sie sich auf den Weg zum Restaurant, das von außen nicht sonderlich viel hermachte, was aber – das wussten sie – nichts bedeuten musste. In Italien beispielsweise hatten sie vermeintliche Spelunken betreten, kamen Stunden später aber glücklich betrunken und gemästet wieder heraus.

An einem ihrer allerersten Abende in Saint-Jacques-aux-Bois, noch ganz fiebrig vom Feuer des Neuen, drückte Jean die Klinke herunter, öffnete die Türe, und als sie die Gaststube betraten, blendete sie das grelle Licht der Neonröhren an der niedrigen Decke der Wirtsstube. Eine eben noch vergnügt lärmende Runde am Tisch verstummte. Köpfe wandten sich um. Sie blickten in ein halbes Dutzend fragender Gesichter von Männern, vor denen Bier- und kleine Weingläser standen. Jean hob schüchtern die Hand zum Gruß, sagte leise »Bonjour«, während er in die Gaststube trat. Jacqueline blieb wie angewurzelt bei der Türe stehen.

Ein Mann erhob sich von seinem Stuhl und fragte, ohne sie zu begrüßen, ob sie zu essen wünschten. Jean antwortete ihm auf Französisch, so gut er konnte, ja, er habe einen »echten Kohldampf«, was weder bei dem Mann noch bei den Gästen am Tisch irgendeine Reaktion auslöste. Der Mann trug keine Schürze und war auch nicht wie ein Kellner gekleidet. Es musste wohl der Wirt sein, nahm Jean an. Hager und bleich machte er einen ungepflegten, ja ungesunden Eindruck. Der Wirt wies auf einen der Tische und bedeutete den zwei Neuankömmlingen, sich zu setzen. Sie bestellten zwei Gläser Weißwein, der sich als klebriger Chardonnay herausstellte, immerhin aber gut gekühlt war.

Menu Gourmand stand in gestenreich geschwungener Schrift auf einem kopierten Blatt.

»Achtzehn Euro«, sagte Jacqueline in einem neutralen Ton, der wohl besagen sollte, dass der Preis zwar niedrig sei für ein Menü mit einem solchen Namen, jedoch nur bedingt Anlass zu Euphorie war. Jean, der die Plastikkarte studierte, an der die Tageskarte klebte, sagte: »Es gibt auch Pizza und Pasta.«

»Hmmm«, machte Jacqueline.

»Hmmm«, machte auch Jean.

Sie bestellten zweimal das Menu Gourmand.

Es dauerte nicht lange, da hörten sie das typische Geräusch aus der Küche, welches bloß ein Gerät zu machen imstande war, ein leises minutenlanges Dröhnen, gefolgt von einem kurzen »Pling!« – der Mikrowellenofen.

Sie aßen nie wieder in dem Lokal, kehrten nur dann und wann ein, sommers, wenn das Gartenrestaurant geöffnet hatte, um ein kühles Kronenbourg zu trinken, denn auch den Wein mieden sie fortan, wenigstens im La Fringale.

Einmal suchte Jean das Gespräch mit dem Wirt, doch der war weiterhin nicht, was man einen geborenen Gastgeber nennen würde. Und immer, wenn Jean ihm zufällig begegnete, schien ihm der Blick des Wirtes zu sagen: »Wegen Menschen wie euch gehen wir Konkurs. Weil ihr nicht unsere Gäste seid, weil ihr nicht kommt. Weil ihr euch zu gut seid. Ihr elenden Snobs von der Insel der Ahnungslosen. Was wollt ihr überhaupt hier? Euch an unserem Elend ergötzen?«

Dabei war es ganz und gar nicht so. Jean hätte gerne die lokale Wirtschaft unterstützt. Doch galt es abzuwägen: Goodwill gegen Gesundheit. Wenn das schlechte Gewissen wieder mal zu sehr an Jean nagte, dann schlug er Jacqueline vor, dem La Fringale einen Besuch abzustatten, auf einen Imbiss vorbeizuschauen, ein kaltes Plättchen zu bestellen, Käse, Wurst, aus »politischen Gründen«, wie er sagte, »um das Klima zu verbessern, pure Diplomatie«.

Doch Jacqueline weigerte sich strikt und standhaft. Jean fügte sich. Ohne Gesellschaft wollte er auch nicht hin, denn gab es etwas Traurigeres, als alleine in einem Lokal zu sitzen und zu essen, schweigend und nicht wissend, wohin man blicken soll?