Fragen der Zeit

Inhaltsübersicht

Fußnoten

  1. Nach Ansicht des optimistischen Dr. Guillotin sollte der Verurteilte allerhöchstens einen «kühlen Hauch im Nacken» spüren.

  2. Justice sans bourreau, No. 2, Juni 1956

  3. Veröffentlicht von Roger Grenier in Les Monstres (Gallimard). Diese Erklärungen sind authentisch

  4. Matot-Braine, Reims

  5. Im Jahre 1905 im Departement Loiret

  6. Réalités, No. 105, Oktober 1954

  7. Jede Woche kann man in den Zeitungen von Verbrechern lesen, die anfänglich nicht wußten, ob sie sich selbst oder jemand anderen umbringen sollten.

  8. Bericht des englischen Select Committee aus dem Jahre 1930 und der Königlichen Kommission, die diese Untersuchung kürzlich wiederaufgenommen hat: «Alle von uns geprüften Statistiken bestätigen, daß die Abschaffung der Todesstrafe keine Zunahme der Kriminalität nach sich gezogen hat.»

  9. Bericht des Select Committee, 1930

  10. Belaß Just: ‹La Potence et la Croix›, Fasquelle, Paris

  11. Roger Grenier, a.a.O.

  12. Roger Grenier, a.a.O.

  13. Ich habe vor ein paar Jahren um die Begnadigung von sechs zum Tode verurteilten Tunesiern nachgesucht, denen vorgeworfen wurde, im Verlauf eines Aufruhrs drei französische Gendarmen getötet zu haben. Die Umstände dieses Totschlags machten es schwierig, die Verantwortung abzuklären. Das Büro des Präsidenten der Republik ließ mich wissen, daß mein Gesuch von den zuständigen Stellen aufmerksam geprüft werde. Als ich diese Mitteilung erhielt, wußte ich leider bereits seit zwei Wochen, daß das Urteil vollstreckt worden war. Drei Verurteilte waren hingerichtet worden, die drei anderen begnadigt. Es gab keine schlüssigen Gründe, die einen eher zu begnadigen als die anderen. Aber da es drei Opfer gegeben hatte, war es ohne Zweifel erforderlich, drei Hinrichtungen vorzunehmen.

  14. Roemen, der nach der Befreiung Frankreichs zum Tode verurteilt wurde, hatte siebenhundert Tage in Ketten auf seine Hinrichtung zu warten, was ein Skandal ist. Die Kriminellen warten durchschnittlich drei bis sechs Monate auf den Morgen ihres Todes. Und es ist schwierig, diese Frist zu verkürzen, wenn ihre Aussichten, mit dem Leben davonzukommen, nicht geschmälert werden sollen. Ich kann übrigens bezeugen, daß die Prüfung der Gnadengesuche in Frankreich mit einer Sorgfalt vorgenommen wird, die den sichtlichen Willen zu begnadigen, nicht ausschließt, soweit das Gesetz und die herrschenden Sitten es überhaupt zulassen.

  15. Da am Sonntag keine Hinrichtungen stattfinden, ist die Nacht vom Samstag auf den Sonntag im Flügel der zum Tode Verurteilten die ruhigste.

  16. Bela Just, a.a.O.

  17. Ein bedeutender Chirurg, selber überzeugter Katholik, sagte mir, daß er nach gemachten Erfahrungen sogar bei gläubigen Patienten darauf verzichte, sie von einem unheilbaren Krebs in Kenntnis zu setzen. Der Schock wäre seiner Ansicht nach durchaus imstande, selbst ihren Glauben zu zerstören.

  18. Pater Devoyod, a.a.O. Es ist erschütternd, die Begnadigungsgesuche zu lesen, die von fassungslosen, die plötzlich über sie hereinbrechende Züchtigung offensichtlich nicht begreifenden Eltern eingereicht werden.

  19. Frankreich weist von allen Ländern den höchsten Alkoholkonsum auf; im Wohnungsbau dagegen steht es an fünfzehnter Stelle.

  20. Ende des letzten Jahrhunderts wurde von den Anhängern der Todesstrafe ein großes Geschrei erhoben, als von 1880 an die Kriminalität zunahm, was mit einer milderen Handhabung der Todesstrafe zusammenzufallen schien. 1880 wurde jedoch das Gesetz erlassen, das den Ausschank geistiger Getränke ohne Lizenz erlaubte. Da soll noch einer Statistiken richtig auslegen!

  1. In den amerikanischen Gefängnissen ist es Brauch, den Verurteilten am Abend vor seiner Hinrichtung in eine andere Zelle zu bringen, wobei ihm die bevorstehende Zeremonie bekanntgegeben wird.

  2. So hieß der Unschuldige, der in der Affäre des Lyoner Kuriers enthauptet wurde.

  3. Der Verurteilte war angeklagt, seine Frau getötet zu haben, doch war die Leiche unauffindbar geblieben.

  4. Man war froh, Sillon begnadigt zu haben, der vor nicht langer Zeit sein vierjähriges Töchterchen umbrachte, um es der auf Scheidung klagenden Mutter nicht überlassen zu müssen. Während der Haft entdeckte man nämlich, daß Sillon an einem Hirntumor litt, der seine Wahnsinnstat erklären mochte.

  5. Revue de Criminologie et de Police technique, Genf, Sondernummer, 1952

  6. Jean Bocognano: ‹Quartier des fauves, prison de Fresnes›, Du Fuseau

  7. Von mir hervorgehoben

  8. Bekanntlich wird der Urteilsspruch des Gerichts durch die Formel eingeleitet: «Vor Gott und meinem Gewissen …»

  9. Man vergleiche damit auch den Bericht über die Todesstrafe, den der Abgeordnete Dupont Am 31. Mai 1791 der Nationalversammlung unterbreitete. «Ein bitteres, brennendes Gefühl verzehrt ihn (den Mörder); was er am meisten fürchtet, ist Ruhe; in diesem Zustand ist er mit sich selbst allein, und um dem zu entgehen, scheut er den Tod nicht und versucht ihn auch auszuteilen; Einsamkeit und sein Gewissen sind seine wahrhaften Martern. Gibt uns das nicht einen Hinweis, welche Art Strafe wir ihm auferlegen müssen, damit sie ihn wahrhaft trifft? Muß man das Mittel, das die Krankheit heilen soll, nicht dem Wesen der Krankheit entnehmen?» Dieser letzte Satz (von mir hervorgehoben) macht aus dem wenig bekannten Abgeordneten Dupont einen wahren Vorläufer unserer modernen Psychologie.

  10. Tarde

Für René Leynaud

Seine Größe zeigt man nicht, indem man sich zu einem Extrem bekennt, sondern indem man beide in sich vereinigt.

Pascal

Die Briefe an einen deutschen Freund wurden nach der Befreiung Frankreichs in wenigen Exemplaren veröffentlicht und sind nie neu aufgelegt worden. Ich habe mich aus Gründen, auf die ich im folgenden näher eingehen werde, ihrer Verbreitung im Ausland stets widersetzt.

Zum erstenmal nun erscheinen sie außerhalb Frankreichs, und einzig der Wunsch, mit meinen schwachen Kräften dazu beizutragen, daß die sinnlose Grenze zwischen unseren beiden Ländern eines Tages fallen möge, hat mich dazu bewegen können.

Aber ich kann diese Briefe nicht erscheinen lassen, ohne zu erklären, wie sie verstanden werden müssen. Sie sind zur Zeit der Widerstandsbewegung geschrieben und veröffentlicht worden. Sie setzten sich zum Ziel, den blinden Kampf, in dem wir standen, etwas zu erhellen und dadurch wirksamer zu gestalten. Es sind durch die Umstände bedingte Texte, die darum ungerecht erscheinen mögen. Denn wenn man über das besiegte Deutschland schreiben müßte, wäre in der Tat ein etwas anderer Ton am Platz. Doch liegt mir daran, einem Mißverständnis vorzubeugen. Wenn der Verfasser dieser Briefe ‹ihr› sagt, meint er nicht ‹ihr Deutschen›, sondern ‹ihr Nazis›. Wenn er ‹wir› sagt, heißt das nicht immer ‹wir Franzosen›, sondern ‹wir freien Europäer›. Ich stelle zwei Haltungen einander gegenüber, nicht zwei Völker, selbst wenn in einem bestimmten Augenblick der Geschichte diese beiden Völker zwei feindliche Haltungen verkörpert haben. Wenn ich mich eines Ausspruchs bedienen darf, der nicht von mir stammt, möchte ich sagen: ich liebe mein Land zu sehr, um Nationalist zu sein.

Und ich weiß, daß weder Frankreich noch Italien etwas dabei verlieren würden, wenn sie sich einer umfassenderen Gemeinschaft anschlössen – im Gegenteil. Aber davon sind wir noch

Erster Brief

Sie sagten: «Die Größe meines Landes kann nicht zu teuer bezahlt werden. Alles, was ihrer Verwirklichung dient, ist gut. Und ihr müssen in einer Welt, in der nichts mehr Sinn hat, die Menschen, die wie wir jungen Deutschen das Glück haben, im Schicksal ihres Volkes einen Sinn zu finden, alles zum Opfer bringen.» Ich war Ihnen damals zugetan, aber hier schon konnte ich nicht mehr mit Ihnen einiggehen. «Nein», entgegnete ich, «ich kann nicht glauben, daß man alles einem bestimmten Ziel unterordnen darf. Es gibt Mittel, die nichts heiligt. Und ich möchte mein Land lieben können, ohne aufzuhören, die Gerech tigkeit zu lieben. Ich kann nicht zu jeder Größe ja sagen, selbst zu einer, die in Blut und Lüge gründet. Indem ich die Gerechtigkeit am Leben erhalte, möchte ich mein Land am Leben erhalten.» Und Sie haben geantwortet: «Ach was, Sie lieben Ihr Land nicht!»

Das war vor fünf Jahren. Seit jener Zeit haben sich unsere Wege getrennt, aber ich darf sagen, daß in diesen langen (für Sie so blitzartig flammend verflogenen) Jahren kein Tag verstrich, ohne daß ich mich an Ihren Ausspruch erinnert hätte. «Sie lieben Ihr Land nicht!» Wenn ich heute an diese Worte denke, würgt mich etwas in der Kehle. Nein, ich liebte es nicht, wenn Liebe

Wir werden uns bald wiedersehen, wenn dies möglich ist. Aber unsere Freundschaft wird nicht mehr vorhanden sein. Sie werden erfüllt sein von Ihrer Niederlage und sich Ihres früheren Sieges nicht schämen, ihm im Gegenteil mit all Ihren zerschmetterten Kräften nachtrauern. Heute bin ich Ihnen im Geist noch nahe – allerdings Ihr Feind, doch immer noch ein wenig Ihr Freund, sonst würde ich Ihnen nicht mein ganzes Denken offenbaren. Morgen ist das vorbei. Was Ihr Sieg nicht anzutasten vermochte, wird Ihre Niederlage vollbringen. Aber ehe wir uns gleichmütig gegenüberstehen, will ich versuchen, Ihnen gewisse Schicksalszüge meines Landes klarzumachen, die Sie weder im Frieden noch im Krieg erkannt haben.

Gleich zu Beginn will ich Ihnen sagen, welche Art Größe unsere Triebkraft ist. Das heißt aber, Ihnen erklären, welche Art Mut wir anerkennen, denn es ist nicht der Ihre. Ins Feuer rennen hat nicht viel zu bedeuten, wenn man sich seit jeher darauf vorbereitet hat und wenn einem Rennen selbstverständlicher ist als Denken. Es bedeutet im Gegenteil viel, der Folter und dem Tod entgegenzugehen, wenn man zutiefst und unverrückbar weiß, daß der Haß und die Gewalt an sich sinnlos sind. Es bedeutet viel, sich zu schlagen, wenn man den Krieg verachtet, hinzunehmen, daß man alles verliert, wenn man das Verlangen nach Glück bewahrt, zu zerstören, wenn man an eine höhere Kultur glaubt.

Wir hatten viel zu unterdrücken und vielleicht in erster Linie die ständige Versuchung, euch zu gleichen. Denn es steckt immer etwas in uns, das sich dem Instinkt überläßt, der Verachtung des Geistes, der Anbetung der Tüchtigkeit. Wir werden schließlich unserer großen Tugenden müde. Wir schämen uns des Geistes und träumen zuweilen von einem glückseligen Barbarentum, das uns eine mühelose Wahrheit schenkte. Aber in dieser Beziehung sind wir schnell geheilt: ihr seid da, ihr zeigt uns, wie es mit diesem Traum bestellt ist, und wir kommen zur Besinnung. Wenn ich an eine geschichtliche Vorherbestimmung glaubte, würde ich annehmen, daß ihr uns als Heloten des Geistes zu unserer Besserung zur Seite steht. Dann finden wir zum Geist zurück, und er bereitet uns kein Unbehagen mehr.

Aber auch den Verruf, in dem das Heldentum bei uns stand, mußten wir überwinden. Ich weiß: ihr glaubt, Heldentum sei uns fremd. Ihr täuscht euch. Nur daß wir uns gleichzeitig dazu bekennen und ihm mißtrauen. Wir bekennen uns dazu, weil zehn Jahrhunderte der Geschichte uns das Wissen um alles Edle geschenkt haben. Wir mißtrauen ihm, weil zehn Jahrhunderte der Erkenntnis uns die Kunst und die Vorzüge der Natürlichkeit gelehrt haben. Um euch gegenüberzutreten, mußten wir einen weiten Weg zurücklegen. Und darum sind wir ganz Europa gegenüber im Rückstand, denn es stürzte sich im rechten Augenblick in die Lüge, während wir es uns einfallen ließen, nach der Wahrheit zu suchen. Darum erfuhren wir zuerst einmal eine Niederlage: ihr seid über uns hergefallen, während wir damit beschäftigt waren, in unseren Herzen zu prüfen, ob wir das Recht auf unserer Seite hätten.

Wir mußten unsere Freude am Menschen, das Bild, das wir uns von einem friedlichen Schicksal machten, die tief in uns wurzelnde Überzeugung überwinden, wonach kein Sieg sich lohnt,

Jetzt ist das geschehen. Wir hatten einen langen Umweg nötig, wir haben uns sehr verspätet. Es ist der Umweg, den der Skrupel der Wahrheit dem Geist, der Skrupel der Freundschaft dem Herzen auferlegt. Es ist der Umweg, der die Gerechtigkeit bewahrte und die Wahrheit denen schenkte, die sich Gedanken machten. Und zweifellos haben wir ihn sehr teuer bezahlt. Wir haben ihn mit Demütigungen und Schweigen bezahlt, mit Bitterkeit, Gefängnis, Hinrichtungen im Morgengrauen, Verlassenheit, Trennung, täglichem Hunger, ausgemergelten Kindern und vor allem mit erzwungenen Bußübungen. Aber das mußte sein. Wir brauchten diese ganze Zeit, um herauszufinden, ob wir das Recht hatten, Menschen zu töten, ob es uns erlaubt war, zu dem entsetzlichen Elend der Welt beizutragen. Und diese verlorene und wiedergefundene Zeit, diese hingenommene und überwundene Niederlage, diese mit Blut bezahlten Skrupel verleihen uns Franzosen heute das Recht, zu denken, daß wir mit reinen Händen in diesen Krieg getreten sind – mit der Reinheit der Opfer und der Überzeugten – und daß wir mit reinen Händen aus ihm heraustreten werden – aber diesmal mit der Reinheit eines großen Sieges, den wir über die Ungerechtigkeit und über uns selber davongetragen haben.

Denn wir werden siegen, daran besteht kein Zweifel. Aber wir werden dank dieser Niederlage siegen, dank diesem langen Weg, der uns unsere Gründe hat erkennen lassen, dank diesem Leiden, dessen Ungerechtigkeit wir gespürt und aus dem wir eine Lehre gezogen haben. Wir haben dabei das Geheimnis eines jeden Sieges erfahren, und wenn wir es nicht eines Tages wieder verlieren, werden wir den endgültigen Sieg erringen. Wir haben dabei

Ich habe nie an die Macht der Wahrheit an sich geglaubt. Aber es ist schon viel, wenn man weiß, daß bei gleichen Kräfteverhältnissen die Wahrheit stärker ist als die Lüge. Dieses mühsame Gleichgewicht haben wir erreicht. Und diese Nuance gibt unserem Kampf heute seinen Sinn. Ich bin versucht, Ihnen zu sagen, daß wir eben gerade für Nuancen kämpfen, aber Nuancen, die so wichtig sind wie der Mensch selber. Wir kämpfen für die Nuance, die das Opfer von der Mystik, die Energie von der Gewalt, die Kraft von der Grausamkeit unterscheidet, für jene noch feinere Nuance, die das Falsche vom Wahren und den von uns erhofften Menschen von den von euch verehrten feigen Göttern unterscheidet.

Das wollte ich Ihnen sagen, nicht obenhin als Außenstehender, sondern als zutiefst Beteiligter. Das wollte ich jenem «Sie lieben Ihr Land nicht», das mir heute noch in den Ohren klingt, zur Antwort geben. Aber ich möchte, daß zwischen uns alles klar sei. Ich glaube, daß Frankreich seine Macht und seine Herrschaft für lange Zeit verloren hat und daß es lange Zeit verzweifelte Geduld und eine immer wache Auflehnung nötig haben wird, um das zur Entfaltung jeder Kultur unerläßliche Prestige

Juli 1943

Zweiter Brief

Ich habe Ihnen schon einmal geschrieben, und zwar im Ton der Gewißheit. Über fünf Jahre der Trennung hinweg habe ich Ihnen gesagt, warum wir die Stärkeren sind, nämlich dank dem Umweg, auf dem wir unsere Gründe gesucht haben, dank der

Ja, das alles habe ich Ihnen im Ton der Gewißheit geschrieben, in einem Zug und ohne nach Worten zu suchen. Ich hatte allerdings auch reichlich Zeit, darüber nachzudenken. Die Nacht ist dem Nachdenken günstig. Seit drei Jahren herrscht eine Nacht, die ihr über unsere Städte und Herzen gesenkt habt. Seit drei Jahren verfolgen wir in der Dunkelheit den Gedankengang, der heute in Waffen vor euch tritt. Jetzt kann ich Ihnen vom Geist sprechen. Denn die Gewißheit, die uns heute erfüllt, ist so beschaffen, daß alles seinen Ausgleich und seine Klarheit findet, daß der Geist sich mit dem Mut vermählt. Und ich nehme an, daß Sie, der Sie so leichthin vom Geist sprachen, ihn nun mit großer Überraschung aus so weiter Ferne zurückkehren und plötzlich beschließen sehen, seinen Platz in der Geschichte wieder einzunehmen. An diesem Punkt will ich mich Ihnen wieder zukehren.

Ich werde später noch darauf zurückkommen, daß Gewißheit des Herzens nicht gleichbedeutend ist mit Fröhlichkeit des Herzens. Das verleiht allem, was ich Ihnen schreibe, bereits seinen Sinn. Aber zuvor will ich meine Stellung Ihnen, Ihrem Andenken und unserer Freundschaft gegenüber ins reine bringen. Solange ich es noch vermag, will ich unserer Freundschaft zuliebe das einzige tun, was für eine zu Ende gehende Freundschaft getan werden kann: ich will ihr Klarheit verleihen. Auf das «Sie lieben Ihr Land nicht», das Sie mir manchmal zuwarfen und das mir nicht aus dem Gedächtnis will, habe ich Ihnen schon geantwortet. Heute möchte ich nur auf das ungeduldige Lächeln antworten, mit dem Sie das Wort Geist quittierten. «In all seinen Geistesgrößen», sagten Sie, «verleugnet Frankreich sich selber. Ihre Intellektuellen ziehen ihrer Heimat je nachdem die

Ich sehe, wie Sie hier wieder lächeln. Sie haben den Worten immer mißtraut. Ich auch, aber noch mehr mißtraute ich mir selber. Sie versuchten, mich auf die Bahn zu locken, die Sie selber eingeschlagen hatten und auf der der Geist sich des Geistes schämt. Schon damals folgte ich Ihnen nicht. Aber heute wären meine Antworten von mehr Gewißheit getragen. Was ist Wahrheit? sagten Sie. Zweifellos, aber wir wissen zumindest, was Lüge ist: das eben habt ihr uns gelehrt. Was ist Geist? Wir kennen sein Gegenteil, den Mord. Was ist der Mensch? Aber da gebiete ich Ihnen Einhalt, denn das wissen wir. Er ist jene Kraft, die schließlich die Tyrannen und Götter hinwegfegt. Er ist die Kraft der Selbstverständlichkeit. Die Selbstverständlichkeit des Menschseins haben wir zu bewahren, und unsere Gewißheit kommt heute daher, daß sein Schicksal und das unseres Landes miteinander verknüpft sind. Wenn nichts einen Sinn hätte, möchten Sie recht haben. Aber es gibt etwas, das Sinn behält.

Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß sich hier unsere Wege trennen. Wir hatten eine Vorstellung von unserem Land, die ihm seinen Platz inmitten anderer Größen, der Freundschaft, des Menschentums, des Glücks, unseres Verlangens nach Gerechtigkeit zuwies. Das führte uns dazu, streng mit ihm zu sein.

 

Lassen Sie mich indessen lieber folgende Geschichte erzählen. Irgendwo in Frankreich fährt eines Morgens früh ein von bewaffneten Soldaten bewachter Lastkraftwagen elf Franzosen aus einem Gefängnis, das ich kenne, zum Friedhof, wo sie erschossen werden sollen. Unter den elf befinden sich fünf oder sechs, die nicht von ungefähr dabei sind: eine Flugschrift, ein paar Verabredungen und – schlimmer als alles andere – die Ablehnung. Sie verharren unbeweglich im Innern des Gefährts, gewiß von Angst erfüllt, doch von einer gewöhnlichen Angst, wenn ich so sagen darf, jener Angst, die jeden Menschen angesichts des Unbekannten befällt, einer Angst, mit der der Mut fertig wird. Die anderen haben nichts verbrochen. Und das Wissen, daß sie irrtümlich oder als Opfer einer gewissen Gleichgültigkeit sterben, macht ihnen diese Stunde schwer. Unter ihnen ein Junge von sechzehn Jahren. Sie kennen das Gesicht unserer Halbwüchsigen, ich will nicht davon sprechen. Dieser hier ist von Angst besessen und überläßt sich ihr, ohne sich zu schämen. Setzen Sie nicht Ihr verächtliches Lächeln auf, er klappert mit den Zähnen. Aber ihr habt ihm einen Geistlichen mitgegeben, dessen Aufgabe es ist, den Männern die entsetzliche Zeit des Wartens zu erleichtern. Ich glaube sagen zu können, daß Männern, die man umbringen wird, ein Gespräch über das zukünftige Leben keine große Hilfe bedeutet. Es ist zu schwer, zu glauben, daß das

Die anderen schweigen. Man muß sich auch um sie kümmern. Der Pfarrer nähert sich ihrer stummen Gruppe und dreht dem Jungen einen Augenblick den Rücken zu. Der Wagen rollt mit einem leise schmatzenden Geräusch über die taunasse Straße. Stellen Sie sich die graue Stunde vor, den Morgengeruch der Männer, das Land, das man nicht sieht, sondern dank dem Ächzen eines Karrens, dank einem Vogelschrei erahnt. Der Junge schmiegt sich an die Plane, und sie gibt ein bißchen nach. Er entdeckt einen schmalen Durchgang zwischen dem Verdeck und der Karosserie. Er könnte hinausspringen, wenn er wollte. Der andere dreht ihm den Rücken zu, und die Soldaten vorne sind vollauf damit beschäftigt, sich im trüben Morgen zurechtzufinden. Er überlegt nicht, er zieht die Plane weg, schlüpft durch die Öffnung, springt. Kaum hört man, wie seine Füße den Boden berühren, wie eilige Schritte sich entfernen, dann nichts mehr. Die Erde verschluckt das Geräusch seiner Flucht. Doch das Klatschen der Plane, die feuchte Morgenluft, die in den Wagen dringt, veranlassen den Geistlichen und die Verurteilten, sich umzukehren. Eine Sekunde lang mustert der Priester die

 

Ich kenne Sie, Sie werden sich den Rest sehr gut ausmalen können. Aber Sie müssen wissen, wer mir diese Geschichte erzählt hat. Es war ein französischer Priester. Er sagte: «Ich schäme mich für jenen Menschen und bin froh, mir sagen zu dürfen, daß kein französischer Priester bereit gewesen wäre, seinen Gott in den Dienst des Mordes zu stellen.» Das stimmt. Aber jener Geistliche dachte wie Sie. Es schien ihm selbstverständlich, auch seinen Glauben dem Dienst seines Landes unterzuordnen. Bei euch sind selbst die Götter mobilisiert. Sie sind auf eurer Seite, wie ihr sagt, aber gezwungenermaßen. Ihr unterscheidet nichts mehr, ihr seid nur noch ein gespannter Bogen. Und jetzt kämpft

Denken Sie zurück. Angesichts meines Erstaunens über den plötzlichen Wutausbruch eines Ihrer Vorgesetzten haben Sie mir gesagt «Auch das ist richtig. Aber Sie verstehen das nicht. Den Franzosen fehlt eine Tugend: der Zorn.» Nein, das ist es nicht, aber wir Franzosen sind heikel, was die Tugenden anbelangt. Wir üben sie nur, wenn es not tut. Das verleiht unserem Zorn die Stummheit und die Kraft, die zu spüren ihr erst anfangt. Und mit dieser Art von Zorn, der einzigen, die ich an mir kenne, will ich zum Schluß mit Ihnen reden.

Denn ich habe es Ihnen schon gesagt: die Gewißheit bedeutet nicht die Fröhlichkeit des Herzens. Wir wissen, was wir bei diesem langen Umweg verloren haben, wir kennen den Preis, mit dem wir die bittere Freude bezahlen, in Einklang mit uns selbst zu kämpfen. Und weil wir ein ausgeprägtes Gefühl haben für das, was nicht wiedergutzumachen ist, enthält unser Kampf ebensoviel Bitterkeit wie Zuversicht. Der Krieg befriedigte uns nicht. Unsere Gründe waren nicht reif. Den Krieg ohne Uniform, den hartnäckigen, kollektiven Kampf, das wortlose Opfer hat unser Volk gewählt. Das ist der Krieg, den es sich selber gegeben und nicht von stumpfsinnigen oder feigen Regierungen empfangen hat, der Krieg, in dem es sich wiederfindet und in dem es für eine bestimmte Vorstellung kämpft, die es von sich selber hegt. Aber dieser Luxus kommt es entsetzlich teuer zu stehen. Auch hier wieder hat unser Volk ein größeres Verdienst als das Ihre. Denn seine besten Söhne sind es, die fallen. Dieser Gedanke peinigt mich am meisten. Der Krieg ist ein Hohn, der zugleich die Vorteile des Hohns in sich birgt. Der Tod schlägt überall und

Dezember 1943

Dritter Brief

Ich habe zu Ihnen bisher von meinem Land gesprochen, und vielleicht hatten Sie zu Beginn den Eindruck, meine Sprache habe sich geändert. Dem ist in Wirklichkeit nicht so. Nur geben wir den gleichen Worten nicht den gleichen Sinn; wir sprechen nicht mehr die gleiche Sprache.

Die Worte nehmen immer die Farbe der Handlungen oder der Opfer an, zu denen sie Anlaß geben. Und bei euch gewinnt das Wort Vaterland einen blutigen, blinden Widerschein, der es mir auf immer entfremdet, während wir das gleiche Wort mit der Flamme einer Erkenntnis begaben, wo der Mut größere Kraft erfordert, wo aber der Mensch sein Menschsein ganz erfüllt. Sie werden schließlich begreifen, daß meine Sprache sich wirklich

Das Bekenntnis, das ich Ihnen ablegen will, wird es Ihnen zweifellos am besten beweisen. Während dieser ganzen Zeit, da wir hartnäckig und schweigend nur unserem Land dienten, haben wir eine Idee und eine Hoffnung nie aus den Augen verloren, sie stets in uns lebendig erhalten: Europa. Allerdings haben wir seit fünf Jahren nicht mehr davon gesprochen. Und zwar weil ihr zuviel Geschrei darum machtet. Auch hier sprachen wir nicht die gleiche Sprache; unser Europa ist nicht das eure.

Aber bevor ich Ihnen sage, was es ist, will ich Ihnen zumindest versichern, daß sich unter unseren Gründen, euch zu bekämpfen (und euch zu besiegen), vielleicht kein tieferer befindet als unser Bewußtsein, nicht nur in unserem Land verstümmelt, in unserem lebendigsten Fleisch getroffen, sondern auch unserer schönsten Bilder beraubt worden zu sein, da ihr sie der Welt in einem hassenswerten und lächerlichen Zerrspiegel vorgeführt habt. Am unerträglichsten ist es, das entstellt zu sehen, was man liebt. Und um diesem Begriff von Europa, den ihr den Besten unter uns gestohlen und mit dem euch genehmen empörenden Sinn erfüllt habt, seine Frische und seine Wirksamkeit in uns zu erhalten, bedürfen wir der ganzen Kraft der besonnenen Liebe. So gibt es ein Adjektiv, das wir nicht mehr gebrauchen, seitdem ihr die Armee der Knechtschaft europäisch nennt, aber wir tun es, um eifersüchtig den Sinn rein zu erhalten, den es weiterhin für uns besitzt und den ich Ihnen auseinandersetzen will.

Ihr sprecht von Europa, aber der Unterschied besteht darin, daß für euch Europa ein Besitz ist, während wir uns von ihm abhängig fühlen. Ihr habt erst von dem Tag an so von Europa gesprochen, an dem ihr Afrika verloren hattet. Das ist nicht die richtige Art zu lieben. Der Boden, auf dem so viele Jahrhunderte ihre Zeugnisse hinterlassen haben, ist für euch nur ein Zwangsaufenthalt, während er für uns immer unsere schönste Hoffnung darstellte. Eure zu plötzliche Leidenschaft setzt sich aus enttäuschter Wut und Notwendigkeit zusammen. Dieses Gefühl gereicht niemand zur Ehre, und vielleicht verstehen Sie nun,

Ihr sagt Europa, aber ihr meint soldatenreiches Land, Getreidespeicher, dienstbare Industrien, gelenkten Geist. Gehe ich zu weit? Zumindest weiß ich dies eine: wenn ihr von Europa sprecht – selbst wenn ihr es am aufrichtigsten meint und euch von euren eigenen Lügen mitreißen laßt –, könnt ihr nicht umhin, an eine Schar gefügiger Nationen zu denken, die von einem Deutschland der Herren einer großartigen und blutigen Zukunft entgegengeführt wird. Ich möchte, daß Ihnen dieser Unterschied ganz deutlich wird: für euch ist Europa jener von Meeren und Bergen umgürtete, von Stauwehren durchzogene, von Bergwerken unterhöhlte, von Ernten strotzende Raum, in dem Deutschland eine Partie spielt, deren einziger Einsatz sein eigenes Schicksal ist. Für uns jedoch ist Europa jener Boden, auf dem sich seit zwanzig Jahrhunderten das erstaunlichste Abenteuer des menschlichen Geistes abspielt. Es ist jene einzigartige Arena, in der der Kampf des abendländischen Menschen gegen die Welt, gegen die Götter, gegen sich selber, heute den Höhepunkt seines wilden Wogens erreicht. Sie sehen, die beiden Auffassungen lassen sich nicht miteinander vergleichen.

Fürchten Sie nicht, daß ich die Themen einer alten Propaganda wieder gegen Sie ins Feld führe: ich berufe mich nicht auf die christliche Tradition. Das ist ein anderes Problem. Auch davon habt ihr zuviel geredet und euch dabei als Roms Verteidiger aufgespielt; ihr habt euch nicht gescheut, für Christus eine Werbetrommel zu rühren, die ihm seit dem Tag, da er den Judaskuß empfing, nicht mehr neu ist. Aber die christliche Tradition ist nur eine unter den Traditionen, die Europa geschaffen haben, und ich bin nicht befugt, sie euch gegenüber in Schutz zu nehmen. Dazu brauchte es die Veranlagung und die Neigung eines Gott hingegebenen Herzens. Sie wissen, daß dies bei mir nicht der Fall ist. Aber wenn ich mir erlaube, zu denken, daß mein Land im Namen Europas spricht und daß wir mit dem einen gleichzeitig auch das andere verteidigen, dann stehe auch ich in meiner Tradition, einer, die sowohl ein paar großen Individuen

Erinnern Sie sich: als Sie sich einmal über meine Empörung lustig machen wollten, sagten Sie: «Don Quichotte ist nicht stark genug, wenn Faust ihn besiegen will.» Darauf habe ich Ihnen erwidert, daß weder Faust noch Don Quichotte dazu geschaffen seien, einander zu besiegen, und daß die Kunst nicht dazu da sei, Böses in die Welt zu bringen. Sie liebten damals übertriebene Vergleiche und sagten weiter, man müsse wählen zwischen Hamlet und Siegfried. Zu jener Zeit wollte ich nicht wählen, und vor allem schien mir, das Abendland sei ausschließlich in diesem Gleichgewicht zwischen Kraft und Erkenntnis angesiedelt. Sie jedoch machten sich nichts aus Erkenntnis, Sie sprachen einzig von Macht. Heute sehe ich in mir selber klarer und weiß, daß auch Faust Ihnen nichts nützen wird. Denn wir haben uns in der Tat mit dem Gedanken abgefunden, daß in gewissen Fällen eine Wahl nötig ist. Aber unsere Entscheidung wäre nicht bedeutsamer als die eure, wenn sie nicht im Bewußtsein getroffen worden wäre, daß sie unmenschlich ist und daß die geistigen Werte ein unteilbares Ganzes bilden. Wir werden es später verstehen, zu einen, und das habt ihr nie verstanden. Sie sehen, ich komme immer wieder auf den gleichen Gedanken zurück: wir haben einen weiten Weg hinter uns. Aber wir haben diese Idee teuer genug bezahlt, um das Recht zu besitzen, sie nicht aufzugeben. Aus diesem Grunde sage ich, daß euer Europa nicht das richtige ist. Es hat nichts, das einen oder begeistern könnte. Das unsere ist ein gemeinsames Abenteuer, in dem der Geist weht, und das wir euch zum Trotz fortführen werden.

Ich habe nicht viel hinzuzufügen. Manchmal geschieht es, daß ich in jenen kurzen Ruhepausen, die die langen Stunden des gemeinsamen Kampfes uns vergönnen, unvermittelt an all die Orte

Aber in anderen Augenblicken, den einzig wahren, freue ich mich darüber. Denn all diese Landschaften, diese Bäume und diese Ackerfurchen, der älteste Erdboden, beweisen euch jedes Frühjahr, daß es Dinge gibt, die ihr nicht im Blut ersticken könnt. Mit diesem Bild kann ich aufhören. Es würde mir nicht genügen, zu denken, daß alle großen Toten des Abendlandes und dreißig Völker auf unserer Seite stehen: ich könnte der Erde nicht entbehren. Und so weiß ich, daß alles in Europa, Landschaft und Geist, euch in aller Ruhe, ohne wirren Haß, mit der bedächtigen Kraft des Siegers ablehnt. Die Waffen, über die der europäische Geist gegen euch verfügt, sind die gleichen, die auch diese unaufhörlich in Ernten und Blüten wiedergeborene Erde besitzt. Der Kampf, den wir führen, ist des Sieges gewiß, weil ihm die Hartnäckigkeit des Frühlings eignet.

April 1944