In seinem dreiundvierzigsten Lebensjahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.
– John Williams, Stoner
Eine Lichtlinie war den Boden entlanggekrochen, bis sie den Haufen aus Papierblättern erreichte. Das bedeutete, dass einer der letzten Tage dieses Sommers zu Ende ging oder auch begann. Er wusste das nicht mehr. Es gab eine Zeit, da prahlte Er damit, dass er immer und überall schlafen könne, er müsse nur die Augen schließen, und einen Moment später sei die tägliche Welt zu Ende. Nun aber hatte Er schon zwei Tage lang nicht geschlafen und fragte sich, ob er jene Fähigkeit jemals wiedererlangen würde. Die Blätter hatten sich über die letzten Stunden zu seinen Füßen angehäuft; sie lagen mal näher, mal etwas ferner, was von der Kraft abhing, mit der Er sie herausgerissen und weggeworfen hatte. Er wusste schon nicht mehr, ob er damit an diesem Tag oder am Vortag begonnen hatte, aber den Einfall hatte er für großartig gehalten: Er wollte jede zweite Seite aus allen Büchern reißen, die in der Wohnung verblieben waren, und diese dann wieder an ihren Platz stellen, als sei nichts geschehen. Sie hatte ihre Sachen geholt, als Er außer Haus war, obwohl er sie gebeten hatte, sie möge das zu einem Zeitpunkt tun, wenn sie beide in der Wohnung waren. Aber Sie – die schon immer besser wusste, was für ihn gut war oder was seinem Wesen am meisten entsprach – hatte ihm die Situation ersparen wollen, sie sich nebenbei auch selbst erspart, natürlich, und hatte ihre Sachen in seiner Abwesenheit abgeholt. Wer hatte noch gesagt, dass die Liebe ein heimlicher Dieb ist? Er konnte sich nicht erinnern, es war ihm auch egal. Allerdings hatte Sie nicht alle ihre Sachen mitgenommen – Er vermutete, Sie wusste noch nicht, wohin damit – und ihre Bücher neben den seinen in den Regalen stehen lassen. Er hatte die Idee einer gemeinsamen Bibliothek nicht für die beste oder sinnvollste gehalten, nicht aus einer übertriebenen Empfindlichkeit, was den Privatbesitz anging – obgleich Er in der Tat eifersüchtig über seine Habseligkeiten wachte –, sondern eher weil er wusste, dass er einen gewissen Hang hatte, sich die Bücher von anderen anzueignen. Selbstverständlich war Er kein Dieb. Aber ihm war aufgefallen, dass er bei einigen vorherigen Trennungen absichtslos in den Besitz von Büchern gekommen war, die seinen Freundinnen gehört hatten. Nicht viele, nicht einmal jene, die sie ihm geschenkt hatten – und die ihn viel später auf den Gedanken brachten, sie hätten ihn nie wirklich gekannt –, sondern Bücher, die ihnen gehörten und die Er nie zurückgegeben hatte. Ein Gedanke versöhnte ihn mit sich selbst, manchmal: Da sie das Fehlen gar nicht bemerkt, die Bücher nicht zurückgefordert, ihm auch nicht vorgeworfen hatten, sie einbehalten zu haben, konnte es nur daran liegen, dass sie diese nicht wirklich und auf eine grundsätzliche Weise brauchten, jedenfalls nicht so notwendig wie er, der sie ebenfalls keineswegs brauchte. Schlussendlich, angesichts des Ereignisses der Trennung und der schrecklichen Veränderungen, die diese mit sich brachte und noch weiterhin anstoßen würde, war kein einziges Buch notwendig, dachte Er zu diesem Zeitpunkt. Einmal jedoch, am Anfang ihrer Beziehung, hatte Sie ihn überraschend auf dem Rückweg vom Mittagessen an der Hand genommen und ihn in eine Buchhandlung geführt, an der sie gerade vorbeikamen; sie blieb vor einem der Regale stehen und betrachtete die Bücher mit diesem ernsten, konzentrierten Blick, den er schon einmal an ihr gesehen hatte und in den folgenden fünf Jahren immer mal wieder sehen – und lieben – würde; dann zog sie sechs, sieben Bücher aus den Regalen, drückte sie ihm wortlos in die Hand, er sollte sie kurz halten. Nachdem Sie gezahlt hatte und beide die Buchhandlung verließen, wies sie auf die Bücher und sagte: «Die brauchst du.» Nun hätte Er nicht mehr sagen können – das redete er sich ein –, warum Sie glaubte, er brauche diese Bücher, auch nicht, welche es gewesen waren, dabei erinnerte er sich genau. In der Tat erinnerte Er sich sehr gut an alles, und das stellte unter den gegebenen Umständen ein Problem dar. Die Hälfte der Seiten jener Bücher, die Sie ihm geschenkt hatte, lag bereits auf dem Boden, vom Rest getrennt durch diese Prozedur, jede zweite Seite herauszureißen, die ihm die geeignetste für eine Güterteilung schien: Wenn ich denn könnte, dachte Er, würde ich auch das Bett, den Tisch, jeden einzelnen Stuhl, die Regale, die Lampen, die Gläser, die Teller, die Spüle, die Pflanzen halbieren. Es müsste eine Form geben, auch die Erinnerungen aufzuteilen, damit ihm von allem, was sie gemeinsam gemacht hatten, was ihnen widerfahren war, nur die Hälfte bliebe, auf dass die Last leichter zu tragen sei. Natürlich wäre es besser gewesen, Sie hätte ihn gar nicht erst verlassen, aber das war nun mal geschehen, und Er, der sich irgendwann damit gebrüstet hatte, vor ihrem Auftauchen ein ausgedehntes Liebesleben geführt zu haben – obgleich er nur zwei Freundinnen gehabt hatte, und in beiden Fällen auch nicht sehr lange –, hatte auf einmal entdeckt, dass er nicht wusste, wie weitermachen, und dass ihm mit ihr auch die Gebrauchsanweisung dafür abhandengekommen war. Draußen gab es Straßen und Gebäude und Terrassen, die zu Beginn oder Ende dieses Tages, eines der letzten des Sommers, vor Wut funkeln mussten. Jenseits der schäbigen Neubausiedlungen musste es riesige leere Flächen geben, auch jene Wiesen, von denen die Dichter und die Verliebten sprachen, Er aber hielt das nicht für möglich und hegte auch keinerlei Hoffnung, all dies irgendwann noch einmal zu sehen. Er dachte an Sie, vielmehr spürte er sie; besser gesagt, Er spürte ihre Abwesenheit und die Art und Weise, wie diese seit dem Vortag auf ihm lastete, und dachte, wenn er ein Dieb wäre, ein berühmt-berüchtigter und überaus geschickter Dieb, dann würde er ihre Abwesenheit stehlen und sie im Meer versenken, damit keiner unter ihr leiden müsste, schon gar nicht er. Aber Er war nun mal kein Dieb: Er blätterte eine Seite um und riss die folgende heraus und machte so weiter, Buch um Buch, versuchte dabei, nicht an das zu denken, was er tat, wusste sich als Leidtragender eines zutiefst lähmenden Schmerzes, der ihm nicht einmal erlaubte, weiter zu weinen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich allein, redete allein, versuchte, sich selbst ins Gedächtnis zu rufen – was ihm nicht gänzlich gelang –, dass doch nicht alles, was nach ihrer beider Plan vereint bleiben sollte, entzweigegangen war, voneinander getrennt wie die Seiten, die Er aus den Büchern riss und die um ihn herum den Boden bedeckten, kurz bevor er sie aufsammeln und in den Müll werfen würde.
Sie war schon hellwach, als ihre Freundin die Wohnung verließ, durch die Tür ging und sie leise schloss; sie war schon sehr viel früher aufgewacht, in dem Augenblick, als D. sich an den Wohnzimmertisch setzte und zu frühstücken begann, dabei so tat, als sei Sie nicht da. Sie selbst hatte lieber vorgetäuscht, noch zu schlafen, sie hätten sonst miteinander reden müssen und wären schließlich auf die Ursache gekommen, weshalb sie dort war, in D.s Wohnung, und nun auf ihrem Sofa zu schlafen vortäuschte, dabei den Geräuschen ihrer Freundin lauschte, die ein ums andere Mal durchs Wohnzimmer ging, um sich für die Arbeit fertig zu machen. D. gehörte zu den Personen, die es einfach nicht schafften, ihre Wohnung zu verlassen, ohne an der Tür eine Kehrtwende einzulegen, um etwas Vergessenes zu holen.
Nachdem D. endlich verschwunden war, blieb Sie noch eine Weile zwischen den Bettlaken liegen. Sie hörte die Geräusche des Gebäudes und atmete tief in sich hinein. Am Nachmittag zuvor hatte Sie angekündigt, dass sie nicht zur Arbeit käme, und sich vorgenommen, mit der Suche nach einer neuen Wohnung zu beginnen, fühlte aber nun nicht die Kraft in sich, das anzugehen. Einer Gewohnheit folgend, die sie noch aus ihrer Jugendzeit beibehalten hatte, versuchte Sie, sich vorzustellen, wie ein anderer sie in diesem Augenblick sehen würde, am Anfang von etwas, das in diesem Moment nur nach Ende aussah. Wenn jemand sie jetzt beobachten könnte, dachte Sie, müsste er sie notgedrungen fragen, wie sie denn in diese Lage geraten war, was sie da machte auf dem Sofa einer portugiesischen Freundin, die den Namen einer Jägerin trug, zu Füßen einen Koffer, aus dem sie noch nichts ausgepackt hatte, warum sie sich selbst und zugleich einem anderen all diesen Schmerz zufügte. Warum hatte sie ihn verlassen? Wie bei allen Fragen gab es eine einfache und eine komplexe Antwort, aber keine von beiden gefiel ihr, und Sie zog es vor, nicht einmal die Frage zu denken, die allerdings nicht zu vermeiden war, wenn sie mit diesem kindlichen Spiel fortfahren wollte, sich mit den Augen eines anderen zu sehen, wie sie da lag im Wohnzimmer eines Apartments, das nicht das ihre war, und schwer atmete.
Als Sie endlich aufgestanden war, zögerte Sie den Gang auf die Straße weiter hinaus, wanderte lieber noch durch die Wohnung. Die kannte Sie gut, war sie doch schon bei anderen Gelegenheiten hier gewesen, dennoch schien es ihr, als erkunde sie die Wohnung zum ersten Mal, mit Befugnissen ausgestattet, über die sie bei den anderen Anlässen nicht verfügt hatte, als eine gewisse Höflichkeit sie daran hinderte, das zu tun, was sie jetzt gerade tat und was Sie immer, wenn sie in eine neue Wohnung kam, zu tun wünschte: Schubladen öffnen, in den Schränken herumschnüffeln, unter die Betten schauen; letztlich ging es darum, in den Gegenständen und in deren Anordnung etwas zu finden, das von den Besitzern sprach, als seien all diese Dinge Spuren eines Verbrechens, von dem nur Sie wusste. Das Verbrechen war natürlich die Identität, die versteckte oder verdeckte Persönlichkeit der Bewohner, deren zeitweilige Abwesenheit paradoxerweise die Gelegenheit zum Kennenlernen bot. Jene D., die aus den wenigen Gegenständen, die sie besaß, hervortrat, und die Sie schon mit einem Gang durch die Wohnung erfassen konnte, unterschied sich von jener, die sie kannte, der jungen und mehr oder weniger unbesonnenen Frau, die ein paar Jahre zuvor nach Madrid gezogen war, um an einer Liebesbeziehung festzuhalten, die jedoch bald darauf beendet war. Wer hat noch gesagt, dass Beziehungen, die an einem Ort funktionieren, die Tendenz haben, an einem anderen nicht zu funktionieren? Sie wusste es nicht mehr, aber darin lag eine etwas entmutigende Wahrheit, die D. womöglich im Vorhinein gekannt, aber mit dem Schulterzucken abgetan hatte, mit dem sie Ansichten, die ihr nicht behagten, oder Fehler, die sie selbst beging, quittierte. Diejenige D., die sich in den Gegenständen abzeichnete, welche sie seit der Trennung in dieser Wohnung versammelt hatte, war, so dachte Sie, eine andere. In ihren Dingen und deren Anordnung herrschte ein Imperativ der Ordnung und Symmetrie, der sich nicht mit der Art vertrug, wie sie sich andern gegenüber verhielt oder selbst über sich sprach, es war, als dienten ihr Ungestüm und die fröhliche Improvisation, mit der sie alles erledigte, zur Vertuschung des tiefen Bedürfnisses nach einer ungestörten Ordnung, nach einer klaren Anordnung der Dinge in dieser Wohnung; deren Gegenstände sprachen sehr eloquent davon, wer sie eigentlich war, sodass sie, wüsste sie davon, vielleicht nicht zuließe, dass jemand sie je betrat.
Sie fragte sich, ob die Wohnung, in der Er und sie bis zum Vortag gemeinsam gelebt hatten, wenigstens einen Teil ihrer eigenen Persönlichkeit spiegelte, wie es bei D. der Fall war, oder ob sie vielmehr die seinige offenbarte, oder, besser noch, die Existenz einer Persönlichkeit, die aus dieser Art von doppelgesichtigem Geschöpf erwuchs, das jedes Paar ist. Es war nicht die einzige Wohnung, in der sie in den fünf Jahren ihres Zusammenseins gelebt hatten, aber doch die erste, in der Sie sich für eine längere Zeitspanne als die vom Mietvertrag festgelegte gesehen hatte, was sie vor kurzem noch mit der – bedeutungsleeren – Wendung «für immer» hätte bezeichnen können. Sie wusste, dass diese Redewendung einen etwas anderen Sinn bekommen hatte als in der Vergangenheit, als ihre Arbeit und die seine, so unterschiedlich sie auch waren, zusammen doch ein halbwegs sicheres Refugium vor den Unwägbarkeiten des Arbeitslebens boten, auch Madrid Paare wie sie nicht aus seinem Inneren ausstieß, die hier und dort gewohnt hatten, bis sie diese Wohnung fanden, von der aus sie ein Stück Park sehen konnten und mehrere Straßen, einige Terrassen, auf denen nie jemand saß, die Sonne aber glänzte und blendete, wenn sie in einem Augenblick der Träumerei oder des Müßiggangs innehielten und darauf schauten. Sie fragte sich, ob Er in diesem Moment wohl auf die Terrassen blickte, mit zusammengekniffenen Augen, und wünschte, dass es ihm gutginge, oder wenigstens besser als ihr, auch wenn das, wie Sie wusste, unwahrscheinlich war. Sie dachte, sie müsse ihn vielleicht anrufen, und holte ihr Handy aus der Tasche, in die sie es am Vorabend gesteckt hatte: acht verpasste Anrufe von ihm und mehrere Nachrichten, die Sie beschloss, nicht zu lesen. Sie dachte darüber nach, was geschehen war, unter welchen Umständen und weshalb sie entschieden hatten – dabei hatte eigentlich nur Sie entschieden und ihm ihre Entscheidung auf eine Weise aufgezwungen, die sie selbst für gemein und traurig hielt –, nicht länger ein Paar zu sein, das doppelgesichtige Geschöpf, dieses Monstrum, das sie gewesen waren, zu zerlegen, sich endgültig zu trennen.
Er wusste nicht, warum sie sich getrennt hatten. In der Tat, je mehr er darüber nachdachte, desto schwieriger fiel ihm zu sagen, was vorgefallen war. Vielleicht hatte Sie die Entscheidung in diesem Sommer getroffen, an irgendeinem der Tage, an dem sie zurück in die Wohnung gekommen war, ihren Arbeitstag für ihn zusammengefasst und sich nach dem seinigen erkundigt hatte, sie beim gemeinsamen Kochen dann darüber stritten, wer vergessen hatte, das eine oder andere einzukaufen, lachten, später einen Film anschauten oder lasen, nebeneinander, im Bett oder auf dem Sofa im Wohnzimmer, ein letztes Mal am Tag ihre Social-Media-Accounts ansahen – hastig auf dem Mobiltelefon –, sich im Bad die Zähne putzten, wobei sie sich mit der elektrischen Zahnbürste, dem Mundwasser, dem Waschbecken abwechselten, sich dann ins Bett legten, und Er war, wie immer, als Erster eingeschlafen und hatte die Welt des Tages – und deren Probleme – ihr überlassen. Vielleicht – fuhr Er in Gedanken fort – war alles an so einem Tag geschehen, ohne bedeutende Vorkommnisse, auch ohne die Erwartung, Bedeutsames werde sich am kommenden Tag ereignen. Vielleicht war nichts anderes passiert, als dass Sie begriffen hatte – wie er schon vor einiger Zeit –, dass es nicht mehr als das gab, auch nicht geben würde, die Wiederholung von Banalem, das nicht verdiente, wiederholt zu werden, es sei denn, man adelte es dadurch, dass man es mit der Vorstellung verband, dies sei das Glück, und dass dieses eben so war oder sich dergestalt zeigte.
Natürlich war ebendies das Glück, oder doch das ihm Ähnlichste, was zu bekommen war, dachte Er; doch er konnte verstehen, ihr war das nicht genug. Am Anfang hatte alles einen Sinn, den schien es verloren zu haben, auch wenn vielleicht nur der Anschein von Sinn verlorengegangen war. Vielleicht war dies der Grund, dass Sie sich einen Liebhaber gesucht hatte, womöglich bei einer dieser Reisen, die sie regelmäßig unternahm. Öfters lieh Sie sich ein Auto aus und fuhr auf der Suche nach Inspiration stundenlang durch die Vororte, besuchte auch andere Städte, manche weiter entfernt, sodass sie über Nacht wegbleiben musste. Er hatte Sie einmal bei einem dieser Ausflüge begleitet und sie dabei diskret beobachtet, ihr Gesicht studiert, in dem sich ein Ausdruck von Aufmerksamkeit und Ungeduld festgesetzt hatte, ihre hellen Augen halb geschlossen, als wäre da etwas vor ihr – jenseits der Windschutzscheibe, weit hinten auf der Landstraße –, das sie blendete. Aber da war nichts, oder nichts, was Er hätte erkennen können, als hätten sie beide eine andere Art zu sehen, oder als ob nur Sie sähe und er blind wäre. Beim Fahren war Sie entschlossen und ungeschickt, ihre Hände flatterten über Hebel und Knöpfe, als fühlten die sich fremd für sie an und als wäre sie nicht ganz sicher, was sie da tat. Ihr Fahrstil war im Übrigen zwar verkrampft, aber vertrauenswürdig, und sie prahlte damit, nie einen Unfall gehabt zu haben, kein einziges Mal.
Die Inspiration bei diesen Fahrten, zu denen Sie ihn nie einlud, oder bei jenen längeren Reisen, die sie zu anderen Städten und in andere Länder führten, fand keinen Niederschlag in ihren Bauten, zumindest konnte Er das nicht sehen. Es war, als seien die Anregungen negativ gepolt, als betrachte sie die Häuser und Gebäude, speziell die in der Peripherie, als Beispiele dafür, was man nicht machen sollte, um einen Fehler zu vermeiden, der ihr andernfalls unterlaufen wäre. Er glaubte, die außerordentliche Originalität ihrer Arbeit bereits erkannt zu haben, als er sie zum ersten Mal zu sehen bekam; am Ende eines Abends, den sie gemeinsam in ihrem Apartment verbracht hatten, einem der ersten, hatte er sie gebeten, ihm ihre Arbeiten zu zeigen, und Sie hatte den Computer hochgefahren und ihm erlaubt, einige Pläne und die Fotos von Modellen zu studieren. Diese Gebäude sollten im Laufe jenes Jahres gebaut werden, Sie aber würde nie mit den Ergebnissen zufrieden sein, die sie nicht mehr unter Kontrolle hatte: Die Entwürfe waren in die Hände eines der drei Eigentümer des Studios, in dem sie arbeitete, übergegangen, und dieser Mann hatte Außendekor angebracht, den sie einmal als «mehr oder weniger geometrische Krakeleien eines blöden Kindes, das sich beim Unterricht langweilt» beschrieb und, bei einer anderen Gelegenheit, eindeutiger als «über Türen hängende Penisse und Hodensäcke alter Männer». Als er sie bat, ihm doch bei einem ihrer Ausflüge in die Peripherie eines dieser Gebäude zu zeigen, weigerte Sie sich, er hatte aber später die Bilder im Internet gesucht: Die Verzierungen stellten das dar, was das Publikum für die Handschrift des Architekten hielt, einer jener spanischen Planer, die bei weitem nicht so angesehen waren wie die berühmteren Kollegen, dafür aber Sachen baute, die sich nicht sofort in Ruinen verwandelten. Die Details erinnerten mitnichten an einen Hodensack, so fand er zumindest. Die originäre Kraft der Entwürfe, die Sie ihm an jenem Abend gezeigt hatte, war jedoch gänzlich verschwunden, und Er sollte das Fehlen dieser Kraft bei jeder der Bauten bemerken, die Sie in den folgenden Jahren entwarf, aber nicht ausführen konnte, die dann ihre Chefs im Architekturbüro ausführten, alles ältere Männer, die den rechten Winkeln anhingen und den sich wie beim Schielen überschneidenden Ebenen.
Wie lebte Sie damit? Vielleicht hatte er nicht genügend nachgefragt, absorbiert vom Schreiben seiner Bücher und den anderen Dingen, mit denen er sich beschäftigte, die alle eine Freiheit und Verfügbarkeit erforderten, für die er als Gegengewicht so etwas wie eine eiserne Ordnung, eine gewisse Vorausschaubarkeit von geselligen Ereignisse brauchte, was Ihr womöglich zuwider war. Immer, wenn Er daran dachte, spürte er, wie ihm die Luft wegblieb; seine Emotionen türmten sich zu einer großen Welle, die erst sichtbar vor ihm stand, ihn dann verschlang und mit ihrer Wucht zerlegte. Dennoch, er konnte nicht aufhören, daran zu denken, auf dem Boden oder im Bett liegend, oft im Dunkeln, Opfer eines physischen Schmerzes, von dem er wusste, er selbst löste ihn aus, und das, obwohl der Austausch von Gemeinplätzen, mit denen Sie Schluss gemacht hatte, nicht von ihm eingeleitet worden war, Gemeinplätze, die ihn zu einem anderen Zeitpunkt zum Lachen gereizt hätten. Sie hatte einfach gesagt: «Ich muss mit dir reden.» Kurz darauf aber hatte sie angefangen zu weinen: Er hatte immer gedacht, dass sie zwar weicher als er wirke, in Wirklichkeit aber härter war, in jenem Augenblick erkannte er, dass er sich geirrt hatte: Er war es, der weicher als Sie wirkte, tatsächlich aber härter war. Ein paar Stunden später war auch er ins Klischee abgeglitten, doch er bereute die Frage nicht deshalb, weil es sich um einen Gemeinplatz handelte, sondern wegen der Antwort, die Sie ihm gegeben hatte und die er lieber nicht gehört hätte. «Hast du einen anderen?», hatte er gefragt. Und Sie hatte mit Ja geantwortet.
Zunächst hatte Sie es ihm auf eine andere Weise sagen wollen. Sie saß vor dem Fernseher, so stellte sie sich das vor, und antwortete auf seine von der Küche aus gestellte Frage, ob sie etwas wolle: «Ja. Ich will von hier weg.» Er sollte derjenige sein, der nachfragte, oder besser noch, er sollte glauben, sie mache einen Witz, und lachend zusehen, wie sie ihre Sachen zusammenpackte, sollte die Tür hinter ihr unter Gelächter schließen und immer noch lachen, lang nachdem Sie seinem Blick entschwunden und in den Aufzug gestiegen war. Selbstverständlich war nichts davon möglich, aber in den vergangenen Wochen hatte sie sich in derartige Vorstellungen geflüchtet, all die Tage lang, an denen sie sich mit diesem Druck auf der Brust und dem Kloß im Hals und all den anderen Dingen herumschlug, die sie immer für Metaphern gehalten hatte und nicht für reale physische Erscheinungen, hervorgerufen von einem undeutlichen Wissen, das in dem einen oder anderen Moment zur Entscheidung reifen würde, das schon Entscheidung war und nur darauf wartete, dass Er davon erfuhr. Warum hatte Sie beschlossen, sich von ihm zu trennen? Einige Zeit später sollte eine Bekannte Statistiken anführen, die nach deren Meinung erklärten, was Sie entschieden hatte und warum sie es getan hatte. Sie aber würde solche Argumente zurückweisen, und das obwohl diese sich ihr gewissermaßen als Entschuldigung anboten, führten sie ihre Entscheidung doch auf ihr Alter, ihr Einkommen und ein gewisses Trägheitsmoment zurück, deutlichster Ausdruck davon, wie die Zeiten und die Dinge nun mal waren. Dennoch würde sie diese Argumente zurückweisen, da sie beschlossen hatte, ihre Verantwortung anzunehmen, ihre Entscheidung sollte aus dem gefolgt sein, was ihr widerfuhr, aus ihren Überzeugungen, was sie ja glaubte – auch aus ihren Wünschen, natürlich –, und nicht eine statistische Zwangsläufigkeit sein. Sie sollte, so dachte Sie, eine Folge dessen sein, was sie zum ersten Mal empfunden hatte, als das mit dem Vogel passierte.
An diesem Nachmittag vor zwei Tagen, als sie von der Arbeit heimkam, hatte er schon zwei Sessel vor dem größten Fenster der Wohnung bereitgestellt. Das machte er zuweilen, meistens zu Beginn des Sommers, um die Sonne zu genießen: Er mochte es, wenn sie ihn beim Lesen blendete und die Wärme sich über sein Gesicht breitete, bis hin zum Haaransatz, wenn sie ihn zudeckte, während sein Geist woanders war, als wäre die Sonne eine dieser Decken, unter die er sich als Kind zum Lesen verkroch, scheinbar allein in einer winzigen, aber ganz und gar eigenen Welt, zu der weder seine Eltern noch seine Brüder Zugang hatten. Ihr – die nicht so sehr wie Er die Sonne mochte, der er einen Sessel hinter den seinen zu stellen pflegte, damit ihre Beine im Sonnenlicht badeten, dieses aber nicht bis zu ihrem Gesicht gelangte, – kam es vor, als ob alle Entscheidungen, die Er traf, insbesondere die, Schriftsteller zu werden, die, lang bevor sie sich kennengelernt hatten, gefallen war, die Frucht oder die Verlängerung dieses kindlichen Wunsches nach Schutz und Abgeschiedenheit waren, eine Möglichkeit, weiterhin die Spiele der Kindheit zu spielen. Das hatte Sie ihm allerdings nie gesagt: Sie dachte, darauf angesprochen, hätte seine Antwort gelautet, dass alles, was wir in unserem Erwachsenenleben tun, eine Verlängerung oder eine Frucht dessen ist, was wir als Kinder waren. Einmal hatte Er zugelassen, dass sie ihn beim Schreiben beobachtete, und Sie war beeindruckt gewesen von diesem Ausdruck tiefster Konzentration, der sich auf seinem Gesicht einstellte, sobald er zu tippen begann. Mit einiger Regelmäßigkeit erhob er sich und holte eine Flasche Wasser aus der Küche oder ging zur Toilette. Gewöhnlich aber stand Er auf und setzte sich sogleich wieder, ohne zu wissen, warum er aufgestanden war und was er hatte holen wollen. Manchmal hob er auch den Kopf vom Bildschirm des Rechners, an dem er schrieb, und schaute um sich, als suche er etwas: Wenn dem so war, wenn er denn etwas suchte, so wusste Sie nicht, was es war; sie sah einfach nicht das, was er sah. Sie erfuhr nie, warum Er, nachdem er eine ganze Weile frenetisch getippt hatte, den Rechner schloss und das Experiment beendete. Vielleicht konnte Er nicht schreiben, wenn er sich beobachtet fühlte, dachte Sie. Wahrscheinlicher aber war, dass Er begriffen hatte, dass sie etwas beobachtet hatte, für das sie sich schämte, etwas, das Sie nicht mehr aus ihrem Gedächtnis tilgen konnte, jedes Mal, wenn er erzählte, dass er geschrieben hatte, oder jemand Sie nach seiner Arbeit fragte: ein kindliches Gesicht, das Gesicht eines kleinen Jungen, der die Lust, etwas zu erfinden und es die Leute glauben zu machen, allzu ernst nahm. Darüber hinaus gab es nichts anderes bei seiner Tätigkeit als Schriftsteller, dabei schrieb er, wie er das etwas pompös nannte, Nonfiction, was bedeutete, dass die Reichweite seiner Erfindungen eingeschränkt, ja kaum vorhanden war. Oder doch, es gab da auch dieses immer nur kurz währende Hochgefühl, wenn ein Buch beendet und erschienen war, und es gab die Reisen und den Überdruss, den er kurz darauf zu verspüren schien: Nach einer gewissen Zeit hatte er keinerlei Lust mehr darauf, dass jemand ihn auf seine Bücher ansprach, und wenn es denn einer tat, verfiel er in eine extreme Alarmbereitschaft, wie ein Tier, das sich zu lange an einer Wasserstelle aufgehalten hatte, einen Durst stillend, der ihm gar nicht bewusst gewesen war, und dem plötzlich klarwurde, dass es dabei seinen Hals den Raubtieren darbot.
Ein trockener, heißer Wind drang durch das Fenster und brachte die üblichen Geräusche des Viertels herein, Hupen, Gelächter, den Lärm der Hubschrauber, die vom Himmel aus Madrid überwachten und ihre ominösen Schatten auf Straßen und Gebäude warfen, seitdem jemand vor ein paar Jahren einen Anschlag verübt hatte. Sie lebten fern von den Krankenhäusern, aber zuweilen hörte man die Sirene eines Krankenwagens, der versuchte, gegen den Widerstand der anderen Autofahrer anzukommen, den der Touristen – die sich in Scharen durch die Innenstadt schoben, seitdem die Orte, wo sie die Ferien zu verbringen pflegten, zu teuer oder allzu gefährlich geworden waren – und der Fahrradboten, die sich wie Heuschrecken voranbewegten und eine Geruchsschleppe von Schweiß, Frustration, Pizzas oder dem, was die Leute sonst noch im Internet bestellten, hinter sich ließen. In wenigen Minuten würde die Sonne untergehen, und sie beide müssten sich eine andere Beschäftigung suchen oder woanders weiterlesen, vielleicht im Schlafzimmer, da aber kreuzte ein Schatten durchs Fenster und prallte gegen die gegenüberliegende Wand des Raums, flatterte nervös. Er stand auf, ihr fiel das Buch aus den Händen: Der Eindringling fand den Ausgang nicht mehr. Es war kein großer Vogel, sie konnte die Spezies nicht erkennen, und später sollte Sie sich nur daran erinnern, dass das Gefieder hell, von unbestimmter Farbe war, wie ein süßes Hefeteilchen, von Staubzucker bedeckt – aber er stieß ein schrilles, angstvolles Kreischen aus, während er gegen die Wände des Wohnzimmers prallte, kleine Federn verlor und Gegenstände zerschlug. Einmal landete er in der Küchenspüle und blieb dort einen Augenblick. Vielleicht, weil er auf der metallischen Oberfläche ausrutschte oder weil er sich im Becken sicher fühlte, sie wusste es nicht, doch ihm blieb nicht genug Zeit, sich dem Vogel zu nähern. Sogleich nahm der den Flug wieder auf, prallte an eine Lampe und dann an das Bücherregal. Sie hoffte, dass das Angebot des offenen Fensters eindeutig war und ihm erlauben würde, das Wohnzimmer zu verlassen, doch der Vogel schien für das Licht blind geworden zu sein. In seiner Verzweiflung lag etwas Gewalttätiges, ebenso Stolz und Kraft; ein Herz, das mit kleinen Schlägen hämmerte und bereit war, alles zu zerstören. Man müsse etwas tun, dachte Sie, doch Er bewegte sich nicht von der Stelle, und sie war gelähmt: Hätte sie sprechen können, hätte Sie nicht gemeint, dies in einer fremden, ihr unbekannten Sprache tun zu müssen, sie hätte ihn darauf hingewiesen, dass er den Weg nach draußen blockierte und der Vogel nie zum Fenster fliegen würde, solange er davorstand und ihm den Weg versperrte. Doch Sie sagte nichts, und Er kam nicht darauf, sich wegzubewegen, bis der Vogel zum letzten Mal gegen eine der Wände stieß und zu Boden fiel. Alles war in einer Zeitspanne geschehen, die ihr jedes Mal, wenn Sie sich daran erinnerte, überaus lang erschien, die tatsächlich aber kurz gewesen war, unbedeutend im Vergleich zu der Zeit, die sie beide zusammen waren, und dennoch entscheidend. Als er den ersten Schritt auf den Vogel zutat, der tot am Fuß der Bibliothek neben einer Steckdose lag, spürte sie überdeutlich das Gewicht von all dem, was sie in den vergangenen Monaten empfunden hatte, ein Bündel von Unsicherheiten, die sich langsam angesammelt hatten und ihre Gedanken, wenn sie in der Wohnung war, erfüllten, wenn sie daran dachte, dass alles unweigerlich so weitergehen würde, wie es war, ungeachtet dessen, wie gut es war, wenn man es objektiv beurteilte, dass das, was sie fühlte und was sie zuweilen lähmte, etwa wenn sie beide nach dem Abendessen das Geschirr spülten oder in dieser Art von Privatsprache redeten, die sie gemeinsam erschaffen hatten, in der es nicht einmal mehr nötig war zu sprechen, da die Weise, wie sie lebten, und die Art, wie sie sich einander angepasst hatten, jede verbale Auseinandersetzung ausschlossen, jede Ahnung von einem Gespräch, das nicht durch und durch zivilisiert und in etwa vorhersehbar gewesen wäre – außer bei einem Thema, von dem sie nicht einmal eingestehen konnte, es einige Wochen zuvor mit ihm diskutiert zu haben –, dass all dies benannt werden konnte und der riesengroße, dringende Wunsch war, aus dieser Wohnung zu verschwinden und nie zurückzukehren, nicht wegen ihm, den sie nun schon auf eine einfache und geradezu unvermeidliche Weise liebte, sondern wegen ihrer selbst, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass alles nie wieder anders sein würde, dass die Zeit, die noch blieb, bevor sie alt würde und stürbe, oder Er stürbe, ein Gedanke, der sie mit Grauen erfüllte, auf diese eingespielte, mittelmäßige Weise vergehen und sie verschlingen würde. Und es war dieser Moment – als er schon den Raum durchquert hatte, sich bückte und den Vogelkadaver aufhob –, da sie begriff, dass Sie ihn verlassen würde, dass sie noch am selben Tag mit ihm Schluss machen würde. Und dann sagte Sie ihm, dass sie reden müssten, aber ihre Stimme erschien ihr so fremd und das, was sie sagen wollte, so endgültig in seinen Konsequenzen, dass sie zu weinen begann. Sie konnte nicht weitersprechen.
Es gab da keinen, Sie war in keinen anderen verliebt, wusste, dass sie es für lange Zeit nicht sein würde, weshalb also hatte sie einen Geliebten erfunden? Sie wusste es nicht: Auf seine Frage hin hatte sie Ja gesagt, fast unwillkürlich, als verlange Er das von ihr. Vielleicht hatte sie es auch getan, um für sich selbst eine Erklärung zu finden und später anderen erzählen zu können, warum sie ihn nun verließ. Im Laufe der Zeit sollte Sie es für grausam und für einen Fehler halten, sie hätte ihm die Wahrheit sagen sollen und darauf hoffen, dass er sie verstünde, obwohl nicht einmal Sie selbst sich ganz und gar verstehen konnte. Sie dachte, sie schütze ihn damit, ihm eine Erklärung zu geben, so trivial diese auch scheinen mochte; gerade weil sie trivial war, meinte sie, würde ihre Erklärung ihn schützen, würde sein Selbstbild schützen und das, was Er glaubte, dass seine Beziehung zu ihr war oder gewesen war; schließlich und endlich verliebten sich Menschen, die einen Partner hatten, nun mal in andere Menschen, die ebenfalls einen Partner hatten, oder aber allein waren: Das passierte ständig, war vielleicht schmerzhaft, aber zumindest etwas, das man sagen konnte, was verständlich war, nicht wie das, was Sie fühlte, also dachte sie nicht weiter nach, oder nur einen Augenblick lang, und sagte, ja, sie habe einen anderen, und als sie ihn angelogen hatte, schloss sie die Augen, wie jemand, dem gerade das Glas aus der Hand gleitet, dem klar ist, dass er den Fall nicht aufhalten kann, und die Augen schließt, weil er nicht sehen muss, wie das Glas am Boden zerspringt, um zu wissen, dass es zu Bruch gegangen ist; das Geräusch genügt.
Er hatte Sie gefragt, wer der andere sei, aber sie verweigerte die Antwort. Er hatte sich vorgestellt, dass es einer von denen war, mit denen sie zusammenarbeitete, einer jener Architekten, mit denen sich zu verstehen sie vielleicht übertrieben bemüht war. Es konnte aber auch jemand sein, den Sie auf einer ihrer Fahrten kennengelernt hatte, bei einem der Ausflüge, von denen Sie ihm nichts außer einem Haufen Fotos mitbrachte, die sie ihm am Tag nach der Rückkehr als E-Mail zuschickte, damit er sie ansah, wenn er dazu Lust hatte, und vielleicht begriff, was sie gesehen hatte und warum. Auf irgendeine Weise hatte das Bild, das er sich in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Trennung von ihrem Geliebten machte, einen kompensatorischen Charakter, denn Er dachte, dieser Mann müsse ganz anders sein als er, vielleicht ebenso jung – dabei war keiner von ihnen mehr jung, bald vierzig, was, wie er meinte, ihm gleichgültig war und ihr ebenfalls, wenn auch etwas weniger –, doch mit einem anderen Beruf und einem ganz anderen Aussehen, ein Mann, der auf die eine oder andere Weise besser war, ein Typ mit Geld oder Perspektiven. Von alldem hatte er sehr konkrete Vorstellungen, die ihn außerordentlich beunruhigten, von denen er jedoch nicht absehen konnte; tatsächlich konnte er an nichts anderes denken, seitdem sie ihn verlassen hatte. Auf irgendeine Weise hatten sich all sein Schmerz und seine Wut von ihr auf diesen Unbekannten verlagert, der sie ihm genommen hatte; aus seiner Sicht war Sie verführt worden. Er hatte einige sehr konkrete Szenarien vor Augen, bei denen dies geschehen sein konnte, und bei keinem davon trug Sie irgendwelche Verantwortung. Zuweilen hasste er sie; zuweilen wünschte er auch, dass sie zu ihm zurückkäme, dass sie ihr amouröses Abenteuer beendete und wieder an seine Seite käme, in welchem Fall er Sie aufnehmen oder zurückweisen würde, das war ihm noch nicht ganz klar. Ein egoistischer und eitler Teil von ihm – ein Teil, den er dem anderen, dem Liebhaber, zuschrieb – erinnerte ihn regelmäßig daran, dass er noch ein Buch fertig zu schreiben hatte und das tun musste, bevor die ihm dafür eingeräumte Frist ablief: Es war Geld im Spiel, keine große Summe, aber doch die, die er für die nächsten Monate brauchte; ein anderer Teil von ihm jedoch fühlte nichts als Schmerz, einen Schmerz, der ihn verstummen ließ, ihn lähmte und daran hinderte, etwas anderes zu tun, als durch die Wohnung zu wandeln und zu staunen, wie wenig darin geblieben war nach ihrem Abgang, und darüber zu phantasieren, wie er all diesen leeren Platz füllen könnte, der metaphorisch, aber auch auf banale Weise wortwörtlich zu nehmen war; genau genommen gab es dann noch einen dritten Teil in ihm, und das war derjenige, der sich beim Leiden zusah und seinen Schmerz in der ihm möglichen Form ausdrückte, indem er sie wieder und wieder anrief und ihre Social-Media-Accounts in der Hoffnung durchsuchte, Sie würde darin ein Zeichen geben, für ihn oder die Welt, dass sie nicht glücklich war, dass sie einen Fehler begangen hatte, es aber noch nicht zu spät war, den wiedergutzumachen. Einer dieser drei Teile würde sich mit der Zeit durchsetzen, ganz bestimmt; aber er wusste nicht, wann und wie. Es gab nichts außer dieser trostlos weiten Wüstenei des Schmerzes, und die musste er durchqueren, sagte er sich. Allerdings würde er Monate dazu brauchen.
Außer ihm hatte den ganzen Vormittag über keiner angerufen, weshalb Sie dachte, dass die Handvoll gemeinsamer Freundinnen bereits von D. darüber informiert war, dass Sie und Er Schluss gemacht hatten. Sie fragte sich, was D. ihnen wohl gesagt hatte. Ihr selbst war es vergangene Nacht nicht gelungen, D. das zu erklären, und diese bat auch nicht darum. Als Sie D. angerufen hatte, um ihr zu sagen, sie habe mit ihm Schluss gemacht und sei dabei, die Wohnung zu verlassen, und dann fragte, ob sie ein paar Tage bei ihr unterkommen könne, hatte D. Ja gesagt und ihr noch mal die Adresse durchgegeben. Alles Übrige war ganz einfach und zugleich außerordentlich schwierig gewesen, wie Trennungen nun mal zu sein pflegen. Die auf die Trennung folgende Stunde hatte sie damit verbracht, ein paar Dinge und etwas Kleidung in einen Koffer zu packen, während Er weinend hinter ihr herlief und ihr jedes Mal, wenn sie in einem der Zimmer oder im Bad stehen blieb, Fragen stellte, auf die sie keine Antwort wusste. Später kochte sie ein paar Nudeln, aber Er wollte nicht essen, und Sie hatte auch keinen besonderen Appetit. Als sie den größten Teil der Nudeln in den Müll warf und diese als weißlicher, dampfender Berg auf den etwas farbenfroheren Obst- und Gemüseabfällen lagen, dachte Sie, dass sie zum ersten Mal einen Mann verließ. In allen vorherigen Fällen waren die Männer es gewesen, die ohne große Erklärungen und immer auf unvorhersehbare Weise die Beziehung abgebrochen hatten; mit einem hatte Sie auch nach der Trennung weiter Sex gehabt, immer wenn sie ihn traf oder er sie aufsuchte. Doch so etwas würde mit ihm nicht passieren: Sex hatte in ihrer Beziehung die übliche Verlaufskurve genommen, von der Regelmäßigkeit und leicht manischen Heftigkeit des Anfangs hin zu der Unregelmäßigkeit gegen Ende, als es nur dazu kam, wenn es nichts Besseres zu tun gab oder einer von beiden ein so dringendes Bedürfnis verspürte, dass er den anderen mitzureißen vermochte. Es war kein schlechter Sex – beide waren sie als Liebende einfallsreich und großherzig –, aber Sex war zwischen ihnen nie das Wichtigste gewesen. Hätte sie auf die Frage antworten müssen, was denn dann sie zusammengehalten hatte – wenn sie also tatsächlich die Frage hätte beantworten müssen, die sie eigentlich seit dem Moment zu beantworten suchte, als sie ihm sagte, dass sie beschlossen habe, die Beziehung zu beenden, und sich bemühte, ihm zu erklären, sich selbst zu erklären, was sie einmal gehabt hatten und warum oder wie es ihnen abhandengekommen war – hätte sie geantwortet, das sei nicht eine Sache allein gewesen, sondern mehrere, und dazu gehörten die Gespräche, die sie miteinander führten, seitdem sie sich, eher zufällig, kennengelernt hatten. Da war ein Feuerwerk, ein erregender Austausch von Gedanken, bei dem Er sich verhielt, wie nur wenige Männer sich bis dahin ihr gegenüber verhalten hatten, wie jemand,