Morgen haben wir andere Namen

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Inhaltsübersicht

 

– John Williams, Stoner

Vierundzwanzig Stunden

Eine Lichtlinie war den Boden entlanggekrochen, bis sie den Haufen aus Papierblättern erreichte. Das bedeutete, dass einer der letzten Tage dieses Sommers zu Ende ging oder auch begann. Er wusste das nicht mehr. Es gab eine Zeit, da prahlte Er damit, dass er immer und überall schlafen könne, er müsse nur die Augen schließen, und einen Moment später sei die tägliche Welt zu Ende. Nun aber hatte Er schon zwei Tage lang nicht geschlafen und fragte sich, ob er jene Fähigkeit jemals wiedererlangen würde. Die Blätter hatten sich über die letzten Stunden zu seinen Füßen angehäuft; sie lagen mal näher, mal etwas ferner, was von der Kraft abhing, mit der Er sie herausgerissen und weggeworfen hatte. Er wusste schon nicht mehr, ob er damit an diesem Tag oder am Vortag begonnen hatte, aber den Einfall hatte er für großartig gehalten: Er wollte jede zweite Seite aus allen Büchern reißen, die in der Wohnung verblieben waren, und diese dann wieder an ihren Platz stellen, als sei nichts geschehen. Sie hatte ihre Sachen geholt, als Er außer Haus war, obwohl er sie gebeten hatte, sie möge das zu einem Zeitpunkt tun, wenn sie beide in der Wohnung waren. Aber Sie – die schon immer besser wusste, was für ihn gut war oder was seinem Wesen am meisten entsprach – hatte ihm die Situation ersparen wollen, sie sich nebenbei auch selbst erspart, natürlich,

Sie war schon hellwach, als ihre Freundin die Wohnung verließ, durch die Tür ging und sie leise schloss; sie war schon sehr viel früher aufgewacht, in dem Augenblick, als D. sich an den Wohnzimmertisch setzte und zu frühstücken begann, dabei so tat, als sei Sie nicht da. Sie selbst hatte lieber vorgetäuscht, noch zu schlafen, sie hätten sonst miteinander reden müssen und wären schließlich auf die Ursache gekommen, weshalb sie dort war, in D.s Wohnung, und nun auf ihrem Sofa zu schlafen vortäuschte, dabei den Geräuschen ihrer Freundin lauschte, die ein ums andere Mal durchs Wohnzimmer ging, um sich für die Arbeit fertig zu machen. D. gehörte zu den Personen, die es einfach nicht schafften, ihre Wohnung zu verlassen, ohne an der Tür eine Kehrtwende einzulegen, um etwas Vergessenes zu holen.

 

Nachdem D. endlich verschwunden war, blieb Sie noch eine Weile zwischen den Bettlaken liegen. Sie hörte die Geräusche des Gebäudes und atmete tief in sich hinein. Am Nachmittag zuvor hatte Sie angekündigt, dass sie nicht zur Arbeit käme, und sich vorgenommen, mit der Suche nach einer neuen Wohnung zu beginnen, fühlte aber nun nicht die Kraft in sich, das anzugehen. Einer

 

Als Sie endlich aufgestanden war, zögerte Sie den Gang auf die Straße weiter hinaus, wanderte lieber noch durch die Wohnung. Die kannte Sie gut, war sie doch schon bei anderen Gelegenheiten hier gewesen, dennoch schien es ihr, als erkunde sie die Wohnung zum ersten Mal, mit Befugnissen ausgestattet, über die sie bei den anderen Anlässen nicht verfügt hatte, als eine gewisse Höflichkeit sie daran hinderte, das zu tun, was sie jetzt gerade tat und

 

Sie fragte sich, ob die Wohnung, in der Er und sie bis zum Vortag gemeinsam gelebt hatten, wenigstens einen Teil ihrer eigenen Persönlichkeit spiegelte, wie es bei D. der Fall war, oder ob sie vielmehr die seinige offenbarte, oder, besser noch, die Existenz einer Persönlichkeit, die aus dieser Art von doppelgesichtigem Geschöpf erwuchs, das jedes Paar ist. Es war nicht die einzige Wohnung, in der sie in den fünf Jahren ihres Zusammenseins gelebt hatten, aber doch die erste, in der Sie sich für eine längere Zeitspanne als die vom Mietvertrag festgelegte gesehen hatte, was sie vor kurzem noch mit der – bedeutungsleeren – Wendung «für immer» hätte bezeichnen können. Sie wusste, dass diese Redewendung einen etwas anderen Sinn bekommen hatte als in der Vergangenheit, als ihre Arbeit und die seine, so unterschiedlich sie auch waren, zusammen doch ein halbwegs sicheres Refugium vor den Unwägbarkeiten des Arbeitslebens boten, auch Madrid Paare wie sie nicht aus seinem Inneren ausstieß, die hier und dort gewohnt hatten, bis sie diese Wohnung fanden,

Er wusste nicht, warum sie sich getrennt hatten. In der Tat, je mehr er darüber nachdachte, desto schwieriger fiel ihm zu sagen, was vorgefallen war. Vielleicht hatte Sie die Entscheidung in diesem Sommer getroffen, an irgendeinem der Tage, an dem sie zurück in die Wohnung gekommen war, ihren Arbeitstag für ihn zusammengefasst und sich nach dem seinigen erkundigt hatte, sie beim gemeinsamen Kochen dann darüber stritten, wer vergessen hatte, das eine oder andere einzukaufen, lachten, später einen Film anschauten oder lasen, nebeneinander, im Bett oder auf dem Sofa im Wohnzimmer, ein letztes Mal am Tag ihre Social-Media-Accounts ansahen – hastig auf dem Mobiltelefon –, sich im Bad die Zähne putzten, wobei sie sich mit der elektrischen Zahnbürste, dem Mundwasser, dem Waschbecken abwechselten, sich dann ins Bett legten, und Er war, wie immer, als Erster eingeschlafen und hatte die Welt des Tages – und deren Probleme – ihr überlassen. Vielleicht – fuhr Er in Gedanken fort – war alles an so einem Tag geschehen, ohne bedeutende Vorkommnisse, auch ohne die Erwartung, Bedeutsames werde sich am kommenden Tag ereignen. Vielleicht war nichts anderes passiert, als dass Sie begriffen hatte –  wie er schon vor einiger Zeit –, dass es nicht mehr als das gab, auch nicht geben würde, die Wiederholung von

 

Natürlich war ebendies das Glück, oder doch das ihm Ähnlichste, was zu bekommen war, dachte Er; doch er konnte verstehen, ihr war das nicht genug. Am Anfang hatte alles einen Sinn, den schien es verloren zu haben, auch wenn vielleicht nur der Anschein von Sinn verlorengegangen war. Vielleicht war dies der Grund, dass Sie sich einen Liebhaber gesucht hatte, womöglich bei einer dieser Reisen, die sie regelmäßig unternahm. Öfters lieh Sie sich ein Auto aus und fuhr auf der Suche nach Inspiration stundenlang durch die Vororte, besuchte auch andere Städte, manche weiter entfernt, sodass sie über Nacht wegbleiben musste. Er hatte Sie einmal bei einem dieser Ausflüge begleitet und sie dabei diskret beobachtet, ihr Gesicht studiert, in dem sich ein Ausdruck von Aufmerksamkeit und Ungeduld festgesetzt hatte, ihre hellen Augen halb geschlossen, als wäre da etwas vor ihr – jenseits der Windschutzscheibe, weit hinten auf der Landstraße –, das sie blendete. Aber da war nichts, oder nichts, was Er hätte erkennen können, als hätten sie beide eine andere Art zu sehen, oder als ob nur Sie sähe und er blind wäre. Beim Fahren war Sie entschlossen und ungeschickt, ihre Hände flatterten über Hebel und Knöpfe, als fühlten die sich fremd für sie an und als wäre sie nicht ganz sicher,

 

Die Inspiration bei diesen Fahrten, zu denen Sie ihn nie einlud, oder bei jenen längeren Reisen, die sie zu anderen Städten und in andere Länder führten, fand keinen Niederschlag in ihren Bauten, zumindest konnte Er das nicht sehen. Es war, als seien die Anregungen negativ gepolt, als betrachte sie die Häuser und Gebäude, speziell die in der Peripherie, als Beispiele dafür, was man nicht machen sollte, um einen Fehler zu vermeiden, der ihr andernfalls unterlaufen wäre. Er glaubte, die außerordentliche Originalität ihrer Arbeit bereits erkannt zu haben, als er sie zum ersten Mal zu sehen bekam; am Ende eines Abends, den sie gemeinsam in ihrem Apartment verbracht hatten, einem der ersten, hatte er sie gebeten, ihm ihre Arbeiten zu zeigen, und Sie hatte den Computer hochgefahren und ihm erlaubt, einige Pläne und die Fotos von Modellen zu studieren. Diese Gebäude sollten im Laufe jenes Jahres gebaut werden, Sie aber würde nie mit den Ergebnissen zufrieden sein, die sie nicht mehr unter Kontrolle hatte: Die Entwürfe waren in die Hände eines der drei Eigentümer des Studios, in dem sie arbeitete, übergegangen, und dieser Mann hatte Außendekor angebracht, den sie einmal als «mehr oder weniger geometrische Krakeleien eines blöden Kindes, das sich beim Unterricht langweilt» beschrieb und, bei einer anderen Gelegenheit,

 

Wie lebte Sie damit? Vielleicht hatte er nicht genügend nachgefragt, absorbiert vom Schreiben seiner Bücher und den anderen Dingen, mit denen er sich beschäftigte, die alle eine Freiheit und Verfügbarkeit erforderten, für die er als Gegengewicht so etwas wie eine eiserne Ordnung, eine gewisse Vorausschaubarkeit von geselligen Ereignisse brauchte, was Ihr womöglich zuwider war. Immer, wenn Er daran dachte, spürte er, wie ihm die Luft wegblieb; seine Emotionen türmten sich zu einer großen

Zunächst hatte Sie es ihm auf eine andere Weise sagen wollen. Sie saß vor dem Fernseher, so stellte sie sich das vor, und antwortete auf seine von der Küche aus gestellte Frage, ob sie etwas wolle: «Ja. Ich will von hier weg.» Er sollte derjenige sein, der nachfragte, oder besser noch, er sollte glauben, sie mache einen Witz, und lachend zusehen, wie sie ihre Sachen zusammenpackte, sollte die Tür hinter ihr unter Gelächter schließen und immer noch lachen, lang nachdem Sie seinem Blick entschwunden und in den Aufzug gestiegen war. Selbstverständlich war nichts davon möglich, aber in den vergangenen Wochen hatte sie sich in derartige Vorstellungen geflüchtet, all die Tage lang, an denen sie sich mit diesem Druck auf der Brust und dem Kloß im Hals und all den anderen Dingen herumschlug, die sie immer für Metaphern gehalten hatte und nicht für reale physische Erscheinungen, hervorgerufen von einem undeutlichen Wissen, das in dem einen oder anderen Moment zur Entscheidung reifen würde, das schon Entscheidung war und nur darauf wartete, dass Er davon erfuhr. Warum hatte Sie beschlossen, sich von ihm zu trennen? Einige Zeit später sollte eine Bekannte Statistiken anführen, die nach deren Meinung erklärten, was Sie entschieden hatte und warum sie es getan hatte. Sie aber würde solche Argumente zurückweisen, und das

 

An diesem Nachmittag vor zwei Tagen, als sie von der Arbeit heimkam, hatte er schon zwei Sessel vor dem größten Fenster der Wohnung bereitgestellt. Das machte er zuweilen, meistens zu Beginn des Sommers, um die Sonne zu genießen: Er mochte es, wenn sie ihn beim Lesen blendete und die Wärme sich über sein Gesicht breitete, bis hin zum Haaransatz, wenn sie ihn zudeckte, während sein Geist woanders war, als wäre die Sonne eine dieser Decken, unter die er sich als Kind zum Lesen verkroch, scheinbar allein in einer winzigen, aber ganz und gar eigenen Welt, zu der weder seine Eltern noch seine Brüder Zugang hatten. Ihr – die nicht so sehr wie Er die Sonne mochte, der er einen Sessel hinter den seinen zu stellen pflegte, damit ihre Beine im Sonnenlicht badeten,

 

Ein trockener, heißer Wind drang durch das Fenster und brachte die üblichen Geräusche des Viertels herein, Hupen, Gelächter, den Lärm der Hubschrauber, die vom Himmel aus Madrid überwachten und ihre ominösen Schatten auf Straßen und Gebäude warfen, seitdem jemand vor ein paar Jahren einen Anschlag verübt hatte. Sie lebten fern von den Krankenhäusern, aber zuweilen

Eine Woche

Es gab da keinen, Sie war in keinen anderen verliebt, wusste, dass sie es für lange Zeit nicht sein würde, weshalb also hatte sie einen Geliebten erfunden? Sie wusste es nicht: Auf seine Frage hin hatte sie Ja gesagt, fast unwillkürlich, als verlange Er das von ihr. Vielleicht hatte sie es auch getan, um für sich selbst eine Erklärung zu finden und später anderen erzählen zu können, warum sie ihn nun verließ. Im Laufe der Zeit sollte Sie es für grausam und für einen Fehler halten, sie hätte ihm die Wahrheit sagen sollen und darauf hoffen, dass er sie verstünde, obwohl nicht einmal Sie selbst sich ganz und gar verstehen konnte. Sie dachte, sie schütze ihn damit, ihm eine Erklärung zu geben, so trivial diese auch scheinen mochte; gerade weil sie trivial war, meinte sie, würde ihre Erklärung ihn schützen, würde sein Selbstbild schützen und das, was Er glaubte, dass seine Beziehung zu ihr war oder gewesen war; schließlich und endlich verliebten sich Menschen, die einen Partner hatten, nun mal in andere Menschen, die ebenfalls einen Partner hatten, oder aber allein waren: Das passierte ständig, war vielleicht schmerzhaft, aber zumindest etwas, das man sagen konnte, was verständlich war, nicht wie das, was Sie fühlte, also dachte sie nicht weiter nach, oder nur einen Augenblick lang, und sagte, ja, sie habe einen anderen, und als sie ihn angelogen

Er hatte Sie gefragt, wer der andere sei, aber sie verweigerte die Antwort. Er hatte sich vorgestellt, dass es einer von denen war, mit denen sie zusammenarbeitete, einer jener Architekten, mit denen sich zu verstehen sie vielleicht übertrieben bemüht war. Es konnte aber auch jemand sein, den Sie auf einer ihrer Fahrten kennengelernt hatte, bei einem der Ausflüge, von denen Sie ihm nichts außer einem Haufen Fotos mitbrachte, die sie ihm am Tag nach der Rückkehr als E-Mail zuschickte, damit er sie ansah, wenn er dazu Lust hatte, und vielleicht begriff, was sie gesehen hatte und warum. Auf irgendeine Weise hatte das Bild, das er sich in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Trennung von ihrem Geliebten machte, einen kompensatorischen Charakter, denn Er dachte, dieser Mann müsse ganz anders sein als er, vielleicht ebenso jung – dabei war keiner von ihnen mehr jung, bald vierzig, was, wie er meinte, ihm gleichgültig war und ihr ebenfalls, wenn auch etwas weniger –, doch mit einem anderen Beruf und einem ganz anderen Aussehen, ein Mann, der auf die eine oder andere Weise besser war, ein Typ mit Geld oder Perspektiven. Von alldem hatte er sehr konkrete Vorstellungen, die ihn außerordentlich beunruhigten, von denen er jedoch nicht absehen konnte; tatsächlich konnte er an nichts anderes

Außer ihm hatte den ganzen Vormittag über keiner angerufen, weshalb Sie dachte, dass die Handvoll gemeinsamer Freundinnen bereits von D. darüber informiert war, dass Sie und Er Schluss gemacht hatten. Sie fragte sich, was D. ihnen wohl gesagt hatte. Ihr selbst war es vergangene Nacht nicht gelungen, D. das zu erklären, und diese bat auch nicht darum. Als Sie D. angerufen hatte, um ihr zu sagen, sie habe mit ihm Schluss gemacht und sei dabei, die Wohnung zu verlassen, und dann fragte, ob sie ein paar Tage bei ihr unterkommen könne, hatte D. Ja gesagt und ihr noch mal die Adresse durchgegeben. Alles Übrige war ganz einfach und zugleich außerordentlich schwierig gewesen, wie Trennungen nun mal zu sein pflegen. Die auf die Trennung folgende Stunde hatte sie damit verbracht, ein paar Dinge und etwas Kleidung in einen Koffer zu packen, während Er weinend hinter ihr herlief und ihr jedes Mal, wenn sie in einem der Zimmer oder im Bad stehen blieb, Fragen stellte, auf die sie keine Antwort wusste. Später kochte sie ein paar Nudeln, aber Er wollte nicht essen, und Sie hatte auch keinen besonderen Appetit. Als sie den größten Teil der Nudeln in den Müll warf und diese als weißlicher, dampfender Berg auf den etwas farbenfroheren Obst- und Gemüseabfällen lagen, dachte Sie, dass sie zum ersten Mal einen Mann