Der Wod

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2021

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Wolfgang Steiner/plainpicture; acilo/iStock

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ISBN 978-3-644-00688-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00688-1

Die wichtigsten Personen

Charlotte wirft während der Fahrt einen kurzen Blick auf ihren Sohn. Er ist kein Kind mehr, er stellt Fragen, lange schon, aber diesmal lässt er sich weder vertrösten noch abwimmeln, diesmal öffnet er in voller Fahrt seine Autotür und sagt: «Jetzt! Du erzählst es mir jetzt!», und Charlotte wechselt sofort die Spur, noch immer sägt Bob Dylan «How does it feel …» aus dem Autoradio, und Charlotte fährt auf den Pannenstreifen und dreht den Zündschlüssel und sagt in die Stille: «Also gut. Die Kartoffeln, an Lillis Geburtstag, und ich hab die Lilli im Übrigen so sehr geliebt, wie man eine Großmutter nur lieben kann, damals wenigstens, und mit den Kartoffeln an ihrem Geburtstag, da fängt es an, wenigstens für mich, und deshalb wohl auch für dich.»

 

Eine Schüssel voll Kartoffeln fällt vor Charlotte zu Boden und zerbricht. Nis, ihr Geheimdienst-Großonkel, etwas über sechzig, seine Anzüge erinnern stets an seine Karriere, Orden auf der Brust, feixt. Weiß zeichnet sich auf seinem roten Gesicht die alte Narbe ab, ein dicker weißer Striemen vom Auge bis zum Mundwinkel.

Der Karl, der Mönchs-Großonkel, starrt seinen älteren Bruder an, er hat nach der Schüssel mit den Kartoffeln gegriffen und

Eine kleine Bemerkung hat diese Eskalation aus heiterem Himmel ausgelöst, eine Bemerkung, die sich Charlotte erst Jahre später erschließt, als sie in einer anderen Stadt beim Geheimdienst-Großonkel Nis zu Besuch ist, aus Traurigkeitsgründen, die in ein paar Kapiteln klar werden, und dort auf dem Sofa sitzt und fragt.

«Jetzt mal ehrlich», fragt sie, «was hast du damals nur zum Onkel Karl gesagt?», und der Nis redet, er ist ein glänzender Unterhalter, nicht zu stoppen, ein wandelndes Geschichtsbuch am Ende seiner Seiten, schon die Randnotizen füllen locker einen Tag und eine halbe Nacht.

Manchmal murmelt seine Frau daneben im Rollstuhl, sie murmelt stets dasselbe: «Das ist auch nicht einfach gewesen, wie ich die Tochter auf der Brücke –», worauf sie jedes Mal abbricht, als wäre das Ende des Satzes zu schrecklich, um es auszusprechen.

Charlotte beginnt mitzuzählen: Achtzehnmal hat sie mit «Die Tochter auf der Brücke –» angefangen, vom Geheimdienstonkel siebzehnmal ignoriert, und Charlotte wundert sich wieder einmal, weshalb sie eigentlich diese zwei Töchter nie kennengelernt hat, die in einer Stadt nur eine Stunde von der ihren entfernt wohnen sollen.

Es gibt schottischen Whisky, und die Uhr schlägt halb zwei nachts, als Charlotte nach dem Konversationsstrom endlich aus der Wohnung wankt, sie erbricht sich, kaum ist die Tür hinter ihr zu, in ein Gebüsch, bevor sie ins Hotel weitertorkelt.

 

Weiß beschürzte Männer tauschen leer gegessene Schüsseln gegen volle aus, Damen in Hüten und Sommerkleidern parlieren mit Männern in Fräcken und diversen Uniformen, und draußen im Park steht das Orchester zu Lillis Ehren bereit, golden blitzen Instrumente, blau dahinter der Zürichsee.

Die Lilli hat eine Körpergröße von hundertfünfundfünfzig Zentimetern, und sie umfasst den Mönchs-Großonkel samt Bratenmesser, sie umarmt ihn, ihren kleinen Bruder, eigentlich Halb-, «Schhh, mein kleiner Karl, mein Karlchen, lass ihn doch, lass ihn einfach», und da beginnt der gesetzte Endfünfziger zu schluchzen, er schluchzt und keucht, er bekommt keine Luft mehr, und die Lilli, fünfundsiebzig Jahre alt an diesem Tag, kann ihren kleinen Bruder nicht mehr halten.

Das Messer fällt ihm aus der Hand, er krampft zu Boden, ihm wird dunkel, er zieht die Lilli mit. «Ach Kinners», sagt sie, und: «Karlchen, Mensch, Karlchen», sagt die ältere Schwester und hält ihn,

 

dabei ist er doch schon groß, vier Jahre alt, und die Lilli hält ihn, die schöne Lilli, die große Schwester, eigentlich Halb-, die aussieht wie sein Vater und wie er, hell und blond und lustig und vom

Aber jetzt ist seine Lilli nach Berlin gekommen, «zur Ausscheidung, falls es wieder ein großes Turnfest gibt», sagt der Vater einmal, als er ausnahmsweise mal nicht schon morgens in aller Herrgottsfrühe in der Druckerei steht, «die Lilli hat schon beim letzten in der vordersten Reihe geturnt!».

Eine riesige Ehre, und überhaupt sei die Lilli eine Kanone im Turnen, aber der Karl weiß: Die Lilli ist eine Kanone in allem. Und eigentlich ist sie nämlich seinetwegen nach Berlin gekommen, er sitzt auf ihrem Schoß und darf auf einer breiten Schotterstraße außerhalb der Stadt ans Steuerrad fassen.

Musik setzt ein, goldene Klänge schwellen, Trompeten und Fanfaren, die Lilli hat ein Auto bekommen, sie durfte zu ihrem achtzehnten Geburtstag den Führerschein machen, «wohl als Einzige in der ganzen Stadt», meint sie und lacht, hat sie mit zwanzig ein Auto bekommen, seine schöne große Schwester.

Der Karl darf steuern, und sie sagt: «Wenn ich älter bin, dann will ich genau so ein süßes Karlchen haben, wie du es bist», und dann singt sie, «Stumpfsinn, Stumpfsinn, mein Vergnügen, Stumpfsinn, Stumpfsinn, meine Lust!», in verschiedenen, extra blöden Stimmen.

Und er ist es, der ein Jahr später zu ihr in den Norden darf, als in der Wohnung in Berlin längst die Fenster mit dunklen Stoffbahnen und Wolldecken und Pappe verhängt sind und man in den Keller rennen muss, wenn wieder Flugzeuge tief fliegen, und sie fliegen oft, und die Mutter stößt ihn die Treppe hinunter, wenn er wieder nicht schnell genug ist und es wummert, und es wummert oft. Im Keller drücken sich der Nis und er an die Mutter, die sitzt da und hält die beiden, rechts und links, und keiner sagt ein Wort.

Einmal knallt es direkt neben ihnen, das ganze Haus bebt, der

Zuerst wird der Nis weggeschickt, weil es zu gefährlich wird für Kinder, sagt die Mutter. Er komme zu einem Bauern im Osten, und der Karl steht mit der Mutter am Bahnhof und sieht zu, wie sie den Nis zum Abschied küssen will, «Du wirst mir so fehlen, mein Großer», und: «Mach dich nützlich, arbeite recht fleißig und schau selber, was es zu tun gibt, ohne dass man dir was sagen muss!»

Der Nis macht ein hartes Gesicht und weicht ihrem Kuss aus. Er ist zehn und groß und kann für sich selber schauen, sagt er, und die Mutter meint, sie sei stolz auf ihn, schon so erwachsen. Der Nis dreht sich um und steigt ein.

Er hat dem Karl noch nicht einmal «Auf Wiedersehen» gesagt. Der Nis steht im Abteil am offenen Fenster, die Mutter streckt ihm die Hände entgegen. Der Nis nimmt sie nicht.

Und als der Zug abfährt, steht die Mutter da und winkt, mit beiden Händen, in der einen ein Taschentuch, aber der Nis hat sich wohl hingesetzt, jedenfalls schaut er nicht einmal zum Fenster heraus, und die Mutter winkt und winkt, und der Karl steht daneben, und erst als der Zug schon fast aus dem Bahnhof ist, streckt sich doch noch ein Kopf aus einem Fenster, es könnte der Nis sein, so genau sieht man das in der Ferne nicht.

Die Hände der Mutter sinken herab, der Karl will nach einer greifen, aber sie wischt sich damit über die Augen und steckt sie dann in ihre Manteltasche.

Helfen will der Karl der Mutter, jetzt, wo der Nis weg ist, wird sie schon sehen, wie viel Wäsche er in einem Mal hinunter zum Mangelraum tragen kann. Und das Schuhebinden hat er längst geübt, die Schnürsenkel verheddern sich nicht mehr, die Mutter hat das noch gar nicht bemerkt.

Schon am nächsten Morgen steht die Mutter auch mit dem Karl am Bahnhof, in den Norden, wo es sicherer ist, wird er geschickt, allein. Er will nicht einsteigen, er klammert sich an ihre Beine und schluchzt, der Schaffner pfeift gleich neben ihnen, «jetzt los, Jung, mach kein Theater, mach’s deiner Mutter doch nicht so schwer», bis er ihn an den Füßen hochhebt und die Mutter ihn um die Brust fasst. Der Karl windet sich, sie steigen mit ihm die Treppe des Zugs hoch und legen ihn ins Abteil, der Schaffner hält ihn fest, und die Mutter löst seine Hände und muss sich anstrengen dabei. Sie rennt aus dem Abteil, und der Karl ruft «Mutter!» hinter dem Schaffner hervor, aber der Schaffner hat Arme aus Eisen, eine ganze Weile lang.

«Lass uns mal das Fenster öffnen, min Lütt», sagt der Schaffner jetzt, «dann kannste noch winken.» Aber von der Mutter ist am Ende des Bahnsteigs nur noch der Rücken zu sehen. Sie winkt nicht, sie rennt, den Kopf gesenkt, und der Karl heult jetzt erst so richtig, der Schaffner lässt ihn, und er heult, bis er allein im Abteil einschläft auf den Sitzen, und

 

jemand ruft von weit her: «Hört auf zu spielen, hört auf!», dabei hatte der Karl gar nicht gemerkt, dass immer noch die Musik spielt, aber jetzt ist es still. Es ist auch dunkel.

Nur Charlotte sagt: «Das ist ein Herzinfarkt! Ein Herzinfarkt!», sie weiß nun endlich, was zu tun ist, «eine Ambulanz, jemand!», sie kniet sich neben den Mönchs-Großonkel und drückt rhythmisch auf seine Brust, Ah ha ha ha, stayin’ alive, stayin’ alive, zweieinhalbmal, dann zweimal in die Nase pusten, hat sie zum Glück soeben im Vorbereitungskurs für den Führerschein gelernt.

Daneben liegt die Lilli und starrt auf ihren Arm. Aus dem sprüht eine dünne rote Fontäne, das Bratenmesser von vorhin, und ihre Tochter Sünje steht daneben und starrt auf ihren Onkel

 

Dieser weiße Arm, auch jetzt nicht schlaff und nur etwas faltig, der vor Jahrzehnten jung und fest und bei aller Kleingliedrigkeit muskulös war, ein richtiger Turnerinnenarm, dieser Arm, der an jenem schrecklichen Abend damals die Sünje festhielt, hinter der Eingangstür genau dieses Hauses, dieses verhassten Hauses in allerbester Lage oberhalb des Zürichsees, während Lillis zweiter Mann, das Schwein – dass die Sünje heute überhaupt zu Lillis Feier gekommen ist, nur Charlotte zuliebe hat sie es in ihr verhasstes Elternhaus geschafft, und auch nur nach Absprache mit den Ärzten, «Geschiehtdirrecht geschiehtdirrecht geschiehtdirrecht», und wäre Lillis Arschlochmann, der Karol, nicht längst tot, friedlich eingeschlafen in seinem Sessel und nicht mehr aufgewacht, ein viel zu gnädiger Tod für das Schwein, wär der nicht tot, wäre die Sünje heute gar nicht gekommen. Und auch so nur ihrer Tochter zuliebe, Charlotte, die die Großmutter so liebt, obwohl die das nicht verdient, Charlotte, die nichts weiß und nichts wissen soll von dem ganzen Familiendreck, und nur nach Absprache mit den Ärzten und mit einer Haldol extra.

Die Tablette wirkt, die Sünje ist ganz ruhig, obwohl sie angeherrscht wird, Charlotte, die auf ihrem Großonkel Karl herumdrückt, schreit: «Druckverband, Mama, jetzt mach doch!», und die Sünje sieht den weißen Arm an und

 

ist jünger als Charlotte, die Sünje ist sechzehn, und Lillis Arme halten sie fest, umschlingen sie von hinten, während der Karol, die Sünje weigert sich, den Stiefvater zu nennen, ihr eine Ohrfeige verpasst, und die Sünje sieht ihn an und trifft mit ihrer Spucke

Da liegt die Sünje schon gekrümmt auf dem Boden, hält sich die Rippen, und die Mutter legt sich neben sie, die weißen Arme umschlingen sie schon wieder. «Du kannst dich doch nicht so wegwerfen», murmelt die Lilli dicht an ihrem Ohr, die Sünje kann den Atem der Mutter riechen, er riecht nach Weißwein, und spürt ihre nasse Wange, «kannst dich doch nicht so wegwerfen, wirf dich nicht so weg, bitte, du bist doch so schön, dein ganzes Leben …»

Der Karol stützt sich indes an der Wand ab, er atmet schwer, der Kotzbrocken, atmet mal wieder schwer, dieser Atem, der Sünje dreht sich der Magen um, Schmerz zieht durch ihre Körpermitte, Sünje hustet und stöhnt auf, jedes Husten jagt ihr Feuer zwischen die Rippen.

Der Karol löst sich von der Wand. Er schließt die Haustür doppelt zu, holt seine Aktentasche von der Garderobe, er setzt sich auf einen der Sessel in der Empfangshalle, nimmt einen Aktenordner aus der Tasche und zieht daraus mit chemischen Formeln übersäte Blätter, er spitzt langsam einen Bleistift und lässt die hauchdünnen Holzspäne demonstrativ neben seinen Sessel fallen. Die Lilli schnieft und lässt die Sünje schließlich los, um Schaufel und Kehrbesen zu holen, der dicke Aquamarinring glitzert dabei an ihren Händen, und der Karol sitzt in der Empfangshalle vor der Haustür, als würde nur er auf der Welt existieren, und dies nur, um brillanteste Formeln aufs Papier zu kratzen. Die Sünje steht stumm auf und schleicht sich gekrümmt die große Treppe hoch in ihr Zimmer im oberen Stock.

Etwas ist mit ihrer Rippe nicht in Ordnung, jeder Atemzug bereitet Schmerzen. Etwas ist auch mit ihrer Nase nicht in Ordnung, sie pocht dumpf. Woher die Lilli und der Karol wohl so genau wissen, mit wem sie sich trifft? Die Sünje zerbricht sich den Kopf,

Draußen ertönt das Knattern eines Motorrads. Sünje humpelt, so eilig sie kann, zum Fenster und gibt Tommy, ihrem schönen Tommy, mit Handzeichen zu verstehen, dass er sich verziehen soll. Gekrümmt steht sie am Fenster, und der Tommy steht unten vor der Auffahrt hinter dem eisernen Gitter am großen Tor, er zieht noch nicht mal den Helm vom Kopf, sondern schlägt nur das Visier hoch, kuckt hoch und beschattet seine Augen, während die Sünje ihre Pantomime aufführt.

Er nickt schließlich, deutet auf sich, deutet weg, er macht eine kreisende Bewegung und zeigt dann wieder auf die Sünje.

Er wird kommen, mit Verstärkung, er wird sie holen. Der Sünje entfährt ein Schluchzer. Sie bereut ihn sofort. Die Rippe. Die Sünje schließt ihre Tür ab, richtig mit Schlüssel, und legt sich mühsam in Seitenlage auf ihr Bett. Einige Zeit später klopft es zaghaft.

«Sünje. Sünjelein», fleht die Lilli vor ihrer Tür. «Es tut mir doch leid.» Die Sünje legt sich ihr Kissen übers Ohr, darauf bedacht, die Nase nicht zu berühren. Sie kann ihren eigenen Herzschlag in der Nase spüren. Sie liegt auf ihrer Seite und atmet flach, draußen wird es dunkel, es pocht in ihrer Nase, und es dröhnt, es dröhnt von draußen, sie sind gekommen, der Tommy ist gekommen und alle mit ihm, mindestens zehn, ein Gejohl ist vor der Tür, bald darauf krachen Schläge an der Haustür. «Ruf die Polizei!», schreit der Karol, dann ein Bersten, ein Klatschen, schwere Schritte auf der Treppe und schließlich vor ihrer Tür, die Klinke rattert, dann ein, zwei, vier dröhnende Fußtritte, und die Tür springt aus den Angeln.

«Was haben die mit dir gemacht?», fragt der Ueli. «Kannst du aufstehen?»

Die Sünje schüttelt ihren Kopf.

«Versuch, dich auf den Rücken zu drehen», sagt der Ueli, er zwängt seine Arme unter sie, die Sünje wird fast besinnungslos vor Schmerz, als er sie aufhebt und die Treppe hinunterträgt. Sie sieht den Karol still im Sessel sitzen, vor ihm stehen zwei Hells Angels, ein weiterer hält die Lilli in Schach, und Sünje denkt, wie klein die Lilli doch wirkt, wie ein weißer Vogel, so klein und hell und blond und hübsch und solch eine unfassbar blöde Kuh.

Das Letzte, was sie sieht, bevor sie aus dem Haus und durchs Tor getragen und behutsam im Seitenwagen einer Harley-Davidson verstaut wird, ist, wie die Lilli im Hauseingang die Arme nach ihr ausstreckt.

Dieselben Arme und Hände, die, sobald Sünje aus dem Haus ist, ein altes, zerschlissenes Buch aus dem Regal ziehen werden, die Lilli wird den Karol ignorieren, ihre Finger werden einen kleingefalteten Zettel aus dem Buchrücken fischen, auf dem eine Telefonnummer mit deutscher Vorwahl steht, wie auch die Worte «Äußerster Notfall» und in Anführungszeichen «Deckname: ‹Fuchs›» und «Passwörter: ‹Schwiegermutter› und ‹Konfitüre›».

Es klingelt zweimal, es knackt zweimal im Hörer, und eine Frauenstimme antwortet: «Kurzwarenhandlung Schmidt?»

«Könnte Herr Fuchs bitte dringend seine Schwester in der Schweiz zurückrufen?», sagt die Lilli, worauf die Frauenstimme gar nichts sagt und die Lilli hastig anfügt: «Seine, äh, Schwiegermutter hat Konfitüre eingemacht.» Die Frau legt wortlos auf.

Der Nis beginnt schon während Lillis Redeschwall zu kichern: «Hells Angels? Tatsache? Mensch, deine Kleine hat’s faustdick hintern Ohren!», und fragt, ob die Lilli denn auch einen Namen von dem Jungen wisse.

«Tommy», sagt die Lilli, ohne zu zögern, «genauso dürr und schmächtig, wie dein Mann das beschrieben hat, dunkelhaarig, blass, sieht kränklich aus, grünbraune Augen. Aber sein Bruder, Ueli, der ist richtig feist und groß. Nachnamen hab ich nicht.»

«Lässt sich vielleicht was tun», antwortet der Nis. «Könnte sogar interessant sein.»

Der Nis summt einen Takt, zwei Takte, er kichert: «Könnte sogar richtig Spaß machen, mir ist schon was eingefallen, zum Glück hast du ja einen Chemiker im Hause, gib mir mal den Karol», sagt der Nis, der Nis, der die Dinge eben gebacken kriegt, denkt die Lilli und atmet zum ersten Mal seit zwei Stunden richtig aus und hat in diesem Moment, ohne es zu ahnen, ein paar eigene Lebensträume versenkt, Tommys Schicksal besiegelt und der Sünje auf Dauer eins reingebrannt.

Die hat der kräftige Ueli auf seinen Armen aus dem Haus

 

die jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, zwar faltiger, aber noch immer weiß und kräftig, an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag daliegen, aus dem einen sprüht ein feiner Strahl Blut, die Lilli liegt da und starrt auf ihren Arm, und die Sünje steht stocksteif und denkt nichts als «Geschiehtdirrecht geschiehtdirrecht geschiehtdirrecht», und Charlotte, die auf ihrem Großonkel herumdrückt, dreht sich um und zischt: «Druckverband, Mama, jetzt mach!», wenn die Lilli jetzt verblutet, die geliebte Großmutter, nicht auszudenken, und dabei hat die Lilli noch nicht mal Charlottes Geschenk ausgepackt, es liegt noch immer glitzernd in einer samtgefütterten Schachtel.

Monatelang hat Charlotte daran gearbeitet, hat abends, nach ihrem Tagwerk, gefeilt und gesägt und gehämmert, mit einem Vergrößerungsglas auf dem Auge und zusätzlich zur Werkstattbeleuchtung sogar mit einer Stirnlampe auf dem Kopf, die wirft den kleinsten Schatten, sie hat die Steine gefasst und jede Fassung in Halbmillimeter-Abständen gerillt, sie hat die stilisierten floralen Muster zwischen den Gliedern nachgebildet.

Dass die das alles in den zwanziger Jahren überhaupt konnten, die hatten doch noch überhaupt nicht das Werkzeug dazu, und zum Glück kann Charlotte das Ganze gleich als Gesellenstück ihrer Lehrabschlussprüfung angeben, was wird die Lilli staunen, nein, weinen wird sie wohl vor Glück, wenn sie nicht vorher verblutet, wenn Charlottes Mutter nicht so strohdumm und nutzlos wie immer dasitzen würde. Charlotte spürt den altbekannten Hass in sich aufsteigen.

«Wer braucht auch einen?» – der Geheimdienstonkel hat sich an der Hausbar einen großen Whisky eingeschenkt und setzt sich, Glas in der einen Hand, Flasche in der anderen, auf einen Stuhl. «Auf jeden Fall», sagt die Sünje, und Charlottes Hals wird eng, sie muss aufpassen, dass sie den Mönchsonkel nicht zu sehr und zu schnell drückt, und

 

der Karl spürt unerträglichen Druck auf seiner Brust, ein Druck wie eiserne Ketten, um ihn ist es so dunkel, bis er hochgehoben wird. «Karlchen, Mensch, Karlchen», sagt seine Lilli in die Dunkelheit, «wach schön auf, min Lütt, kannst dich anlehnen, ich hab dich doch nur hochgehoben, ist alles gut, du bist bei uns, du bist im Norden angekommen, kleiner Schlafmütz.»

Die Lilli ist schön und jung und blond, hinter ihr im Zugabteil stehen ihre Mutter Meta, die erste Frau von Karls Vater, und deren Bruder, Onkel Richard. Die kümmern sich um sein schmales Kleiderbündel, und die Lilli trägt ihn bis zum Auto, «wie schön, dass du hier bist, min Lütt, wir werden so viel Spaß miteinander haben!». Die Lilli richtet das seidene Kopftuch, um ihre

«Nu kiek mal», sagt die Lilli und zeigt auf ein Gebäude. «Hier ist unsere Druckerei, im unteren Stock, und obendrüber ist die Setzerei, da müssen Männer mit guten Augen Buchstaben in Rahmen setzen, und es gibt für die fertigen Rahmen, die kann man nicht runtertragen, weil sie so schwer sind, sogar einen Fahrstuhl, den zeig ich dir bald. Und oben drüber schreiben wir, also ganz viele Leute, die für uns arbeiten, und manchmal auch der Onkel Richard selbst und manchmal auch ich, was die Leute dann in der Zeitung lesen können. Und kiek mal, hier» – die Lilli deutet auf ein großes Gebäude mit drei geschlossenen Rundbogentoren –, «da ist unser Fuhrpark, um die Zeitungen auszufahren in alle Orte der Umgebung, fast bis nach Hamburg, aber die haben ’ne eigene Zeitung, und bis nach Pommern und ganz bis oben an die See. Morgen zeig ich dir die Lieferwagen, und eine Fuhrkutsche steht da noch, mit der fahren wir mal aus, aber der Onkel Richard hat nur eine behalten, und zwei Rösser, weil’s ihm im Herzen weh tut, sie alle wegzugeben, aber mal sehen, wie lang …» Die Meta räuspert sich von hinten, und die Lilli schweigt mit einem Seitenblick auf den Onkel.

«Wie lang was? Ich will die Pferde sehen!», sagt der Karl, und die Meta meint von hinten: «Wirst du, klare Sache. Weißt du, wir brauchen die Pferde eigentlich nicht mehr, und die fressen nur.»

Der Onkel Richard ist in weitere gepflasterte Straßen

«Hier sind wir!», sagt die Lilli.

Daheim ist jetzt am Sternenplatz, es muss das größte Haus am schönsten Platz in ganz Lücknin und Lücknin muss die allerschönste Stadt im ganzen, schönen Norden sein, denkt der Karl. Vor der Treppe stehen zwei Frauen in schwarzen Gewändern mit weißen Schürzen, Kragen und Hauben. Sie knicksen, als die Lilli mit dem Karl aussteigt und mit ihrer Mutter an ihnen vorbeigeht.

Über der Tür zeigt ein Löwenkopf seinen Rachen. Der Karl hält sich an der Hand der Lilli fest, und die geht mit ihm die Treppe hoch, in einen großen Raum, wo sie warten, bis aus einer anderen Ecke eine der Frauen mit weißer Schürze herbeieilt. «Wir haben weniger Bedienstete jetzt», meint die Lilli, «sonst hätte hier jemand gewartet, statt dass wir warten müssen, bis die Friede durch den Dienstboteneingang angewackelt kommt, und Onkel Richard müsste auch mein Auto nicht selbst in die Garage fahren.»

Elfriede nimmt Karl das Jäckchen und die Schuhe ab und bringt ihm dafür ein paar Hausschläppchen. «Alte von mir», sagt die Lilli, «die Meta behält zum Glück alles. Schau mal, ob die passen.»

Sie passen genau. Die Lilli zeigt ihm sein Zimmer.

Ein eigenes Zimmer! Es hat Gardinen mit Sternmuster und weiße Bettwäsche mit Spitzenrändern, und neben dem Bett steht eine Kiste, darin Holzpferde und Zinnsoldaten und sogar eine kleine Kutsche, und die Lilli meint, damit könne er später spielen,

Der Karl darf später das ganze Abendessen über bei der Lilli auf dem Schoß sitzen, und ihre Mutter Meta, die danebensitzt, zerschneidet Kartoffeln und Karotten und ein kleines Stück Fleisch, die Lilli füttert ihn, «Da, mein Kleiner», dabei ist er doch schon fünf und kann längst mit Messer und Gabel essen.

Später setzt sich die Lilli an den Flügel und singt lustige Lieder, und der Karl glaubt, er habe noch nie eine so tolle Stimme gehört, so schön singt die Lilli, sie muss die allerschönste Stimme im ganzen schönen Norden haben, bis es nach dem Abendessen klingelt und kurz darauf das Zimmermädchen sagt, der Fritz sei da. Da bekommt die Lilli rote Wangen, packt ihre Handtasche, malt sich schnell mit Lippenstift den Mund rot, knallt dem Karl einen Kuss auf die Wange, dass es einen Abdruck gibt, und fliegt aus dem Zimmer. Erst da wird der Karl still, so weit weg von der Mutter und ohne die Lilli und nur mit der Meta am Tisch.

Der Karl hört die Lilli unten lachen, eine Männerstimme antwortet, die klingt holprig und eigentlich lustig, aber der Karl hasst die Stimme sofort, und dann hört er, wie die Tür geht und die Kurbel des Autos gedreht wird, und will hinterher. Aber die Meta sagt: «Nu, nu geh du mal in dein Zimmer und spiel mit deinen Pferdchen.» Da heult der Karl los, bis die Meta ihn auf ihren Schoß hebt und wiegt, und der Karl sinkt in warmes Fleisch, und sie meint, die Lilli käme ja wieder, «sie geht doch nur tanzen, heute ist beim Grafen von Wotzow auf dem Schloss ein Fest, da fehlt doch die Lilli nicht! Sie kommt heute Nacht schon zurück, wenn du morgen aufwachst, ist sie wieder da, nu heul doch nicht so, mein Lütter, ich hab dich doch auch lieb.»

«Ich lass dich doch nicht allein!», meint die Lilli am nächsten Morgen.

Der Karl ist in ihr Bett gekrochen, und sie hat ihn gelassen und

Später darf er sogar mit ihr und dem Fritz, der so holprig spricht – weil er aus der Schwitz kommt, sagt er –, mit auf das Segelboot auf dem Grünsee. Als die Lilli das Segel schlackern lässt und sie langsam über den See treiben, fragt der Karl, ob es in der Schwitz denn heiß sei.

Beide lachen, was dem Karl nicht gefällt, aber die Lilli meint: «Nee, in der Schweiz ist es eher kühl, dafür aber eng, mit nicht so einem weiten Himmel wie hier, sondern mit vielen grauen Bergen.»

Der Fritz: «Hee, die Berge sind aber auch schön!», und holt trotzdem sofort tief Atem – hier spannt sich der Himmel wirklich von einem Ende der Welt zum anderen, und weit ist hier alles, und mit breiten neuen Straßen erschlossen, seit jüngstem,

 

nicht wie in seinem Dorf am Juramassiv, wo noch der Dorfpfarrer und der Gemeindepräsident zu entscheiden haben, ob der Fritz nun über ein paar Kantonsgrenzen ans Technikum in Zürich darf oder nicht. So als Sohn von einem Schmied und als Neffe von einem Gießer und einem Metzger gibt es doch genug Handwerk zu lernen, was denn der Fritz da wolle, der habe es ja öppen schon noch hoch im Grind.

Und wie der Vatter vom Fritz bei seinem Bruder nach dem eigenen Tagwerk noch wurstet und dann die ganze Metzgerei putzt, damit er alle paar Wochen dem Pfarrer und dem

Wenn der Fritz mit schlechtem Gewissen um den Tisch schleicht und es knarrt, fahren beide auf: «Jesses!» und «s’Tagwerch!», der Fritz hat ein noch schlechteres Gewissen und will doppelt so hart arbeiten, aber immer stehen in den Büchern in der Bibliothek des Technikums Verweise auf andere Standardwerke, die aber in seinem Kanton nicht aufzufinden sind, und das Geld reicht trotz allem Uhrteilcheneindrehen nicht für die ganzen Bücher, und immer hockt schwarz im Rücken der Jura, und darauf hocken der Gemeindepräsident und der Pfarrer. Aber der Fritz schließt trotzdem mit Bestnote ab.

Und dennoch sagt ein Jahr später der Pfarrer, also gelohnt habe sich das alles ja nicht, er habe es immer gewusst, der Fritz hätte besser bei seinem Vatter als Schmied weitergemacht statt so hochfliegende Pläne, und das mit dem Schuster und dem Leisten, gell, das hätten sie jetzt davon bei der Wirtschaftslage, und die Lilli erklärt dem Karl auf dem See: «Weißt du, Karlchen, Arbeit

Der Fritz ist froh, dass er Geld nach Hause schicken kann, und überhaupt: Er hat gerade die Planung für eine Rüstungsfabrik abgeschlossen, er war damit nicht nur dank Lillis Onkel Richard in der Lokalzeitung im Norden, nein, reichsweit hat die Presse berichtet, die nächsten Projekte stehen an, es gibt zwar Rationierung und vereinzelt schlechte Nachrichten von der Front, das ja. Aber so, wie hier die Dinge angepackt werden, wie man hier etwas tun kann, wie sich die Grenzen nach außen verschieben! Da wird es Brücken brauchen, denn wenn auch eine Fabrik ein schöner Auftrag ist, so gehört Fritz’ Herz dem Bau von Brücken. Verbinden will er die neuen Regionen, über Seen werden sich seine Brücken elegant schwingen, über Schluchten werden die Hängekonstruktionen führen, nachts träumt der Fritz von Brücken in schwindelerregenden Höhen, die sich über die ganzen Berge daheim spannen, immer im Wissen, dass hier im Reich so etwas möglich ist. Hier geschieht etwas Größeres, hier hat man keinen Pfarrer und keinen Gemeindepräsidenten vor sich, die sich nichts als die nächste Wurst vorstellen können, und auch wenn ihn der Gauleiter Hildebrandt manchmal an die beiden erinnert, hat man hier dennoch Wind im Rücken, hier wird mit der großen Kelle für eine große Sache angerührt, und das Potenzial für einen talentierten Architekten, wenn erst der Endsieg kommt, ist schlicht: unermesslich.

Der Karl sagt: «Wenn der hier alles fertig gebaut hat, kann er ja dann zurück in seine Schwitz gehen», dann gehöre die Lilli wieder ihm allein. Und später würde er sie heiraten.

Wieder lachen die Großen, dem Karl gefällt das noch weniger als vorhin, die Lilli sagt: «Aber min Lütt, Brüder und Schwestern dürfen doch gar nicht heiraten», und der Karl mault: «Du bist doch nur meine Halbschwester.»

Nur der Fritz meint, so hell und heiter sei der Himmel hier auch nicht mehr, und er frage sich, ob er nicht mehr tun müsse für die große Sache, aber die Lilli sagt: «Lass doch.» Der Karl versteht ihn nicht – die Sonne scheint doch.

Der Fritz knöpft die Innentasche seines Sportsakkos auf und zieht ein Maulörgeli heraus, wie er das nennt, und spielt. Der Karl mit einem Korkring um den Bauch darf backbord seine Füße im Wasser baumeln lassen. Das Boot treibt bis nah zur Schilfinsel heran, wo Gänse auffliegen, und der Fritz spielt. «Hudigäckler» oder so ähnlich nennt er das, dem Karl wippen die Beine, ob er will oder nicht, und die Lilli sagt, diesmal zum Fritz: «So ein süßes Karlchen will ich auch mal haben!» Der Fritz lacht, gibt ihr einen Kuss und sagt: «Kriegst du», und der Karl sagt laut: «Du hast doch schon mich.»

«Na klar hab ich schon dich», meint die Lilli, «aber der Fritz will doch auch Vater werden von so ’nem tollen Karlchen, wie du es bist! Und von wegen Vater, unserer kommt im Übrigen bald zu uns, hat mir die Meta geflüstert, na, das wird was setzen für unsern Ollen.»

 

Tatsächlich wartet der Julius schon zwei Tage später vor dem Haus am Sternenplatz, der Vater vom Karl und vom Nis und auch der Vater von der Lilli – aber nicht mehr der Mann von der Meta, sondern schon lange der Mann von der Mutter vom Karl und vom Nis in Berlin, und drum mag die Meta ihn nicht mehr, sagt die Lilli, und der Karl wird ganz konfus, aber drum logiert der Julius auch nicht wie früher, lang ist’s her, mit der Meta und der Lilli im schönen Haus am Sternenplatz, sondern ist ins Haus des Künstlers am

Sie schmiegt sich warm in Karls Hand, der Kopf ist nach oben gerichtet. «Nein, nicht nach oben, der guckt nach vorn», sagt der Julius, als er zum ersten Mal seit langem wieder auf seinen Sohn trifft, «schau mal, der fliegt, das ist nämlich ein Engel», sagt der Julius und streicht dem Karl über den Kopf.

Der windet sich weg, schließlich lässt er sich nicht von jedem einfach so über den Kopf streichen, und der Vater ist in Berlin immer nur in der Werkstatt gewesen und kaum je in der Wohnung, dass der Karl sich eigentlich nur so verschwommen an ihn erinnert, und wenn die Lilli ihm nicht um den Hals gefallen wäre, hätte er gar nie gewusst, dass man Väter auch umarmen kann.

Aber er hat genau dieselben Augen wie die Lilli und er selber, und noch mehr lustige Fältchen drum herum als die Lilli, und deshalb nickt der Karl artig und sagt: «Danke», mit seinem Engel in der Hand, aber der Julius redet noch weiter, er sagt: «Schau dir das Gesicht dieses Engels an, ich verrate dir ein Geheimnis: Das ist das Gesicht einer berühmten Dichterin, und es ist kein Zufall, denn Dichten und Malen sind Zauberdinge, merk dir das gut, min Jung. Mit Dichten bringt man die Menschen zum Besseren und zum Schlimmsten, man bringt sie zum Weinen und zum Lachen und zum Lieben und zum Morden, es gibt keine größere Macht auf der Welt als die Macht der Wörter. Sagt man im rechten Moment das rechte, so rettet es einen, oder es verdirbt einen. Und fast genauso groß ist die Macht der Bilder. Die können einen packen und lassen nicht mehr los, sie können sich einem ins Auge brennen, dass man kaum mehr etwas anderes sieht, sie können aber auch trösten, durch ihre schiere Schönheit, die Bilder. Wörter und

Der Karl denkt sowieso, die Figur da sieht eher ein bisschen aus wie eine Fledermaus, wie die da ihren Umhang um sich zieht, sie könnte auch an den Beinen aufgehängt kopfüber nach unten baumeln.

«Na, beschützen mög er dich», sagt der Julius, leiser, dann klingt er aber gleich wieder aufgeräumt. «Los jetzt, wir gehen spazieren», sagt er, und die Lilli und der Karl müssen mit. Die Meta ist oben geblieben, die hat sich unten in der Halle des Hauses am Sternenplatz gar nicht blicken lassen.

Dem Karl ist der Blick vom Julius unangenehm, ständig schaut der ihn von der Seite an und gleich wieder weg, der Karl hält sich fest an der Lilli, und der Julius ist froh, dass der Karl da ist, der Jüngste, mit dem Jüngsten kann man rumkälbern, und man kann ihm Dinge schenken. Wie schrecklich scheu der Kleine doch ist, aber wenn der Blick des Jüngsten den seinen trifft, geht dem Julius das Herz auf, strahlend blau wie der eigene, mit weißen Pünktchen in der hellblauen Iris, sternförmig angeordnet, bevor ein dunklerer Ring die Iris umschließt, ganz genau seine Augen haben alle drei Kinder. Inmitten dieser schrecklichen Zeit sind ihm einige unbeschwerte Stunden mit dem Jüngsten und mit seiner famosen Tochter geschenkt, ein so unverhofftes Glück, und ungetrübt vom Nis, der arme Nis beim Bauern.

Den Julius durchzuckt ein Gewissensbiss. Der Junge kann ja rein gar nichts dafür, dass der Julius ihn kaum ansehen mag, den

 

zu dem ihn Basilius, Bruder Basilius in Berlin, per Brief eingeladen hat. Begonnen hat ja auch alles ganz normal, wie ein normaler Tempel einer ganz normalen Loge hat das ausgesehen, und die kennt und liebt der Julius seit seiner Jugend, als er, Sohn einer Münchner Traditionsdruckerei, zum allerersten Mal eingeladen wird, zu einem Adeptentreffen, erst Jahre später, als der Julius längst selber Meister vom Stuhl ist, weiß er, weshalb.

Der fünfzehnjährige Julius soll nämlich eines Nachmittags, das Jahrhundert hat gerade begonnen, wie immer nach dem Unterricht in Vaters Druckerei setzen helfen. Normalerweise sind es Bücher oder Plakate, doch heute ist es ein Pamphlet, handgeschrieben erhält es der Julius, der in der Schule gerade Shakespeare liest und schon den halben Faust auswendig kennt. Der Julius liest und geht schnurstracks zu seinem Vater.

Ob sie diesen Auftrag wirklich annehmen wollen?

Der Vater solle einmal nachdenken: die drahtlose Telegraphie! Die Luftfahrt! Blériots Flug über den Ärmelkanal! Die Brüder Wright in Deutschland! Erfindungen normaler Bürger, Bürger wie du und ich, Vater, keine Adligen! Die Zugreisen! Immer mehr Motoromnibusse und Automobile! «Die Welt kommt sich näher, Vater, und wir drucken Hetzschriften gegen das Wahlrecht? Gegen die Modernisierung?» Der Julius wird laut. «Wir sollten die richtigen Aufträge annehmen, auf der richtigen Seite stehen, das hier setze ich nicht!»

Der Streit bleibt nicht unbemerkt: Der dienstälteste Setzer tut

Und so stört den Julius einige Tage später wiederum beim Setzen etwas in der Innentasche seines Kittels, er schaut nach und findet einen handgeschriebenen, unsignierten Brief. Wenn er tieferes Wissen erfahren wolle, wenn er der Meinung sei, die Errungenschaften der Technik sollten frei zugänglich und nicht begrenzt sein durch nationalistische Grenzen, wenn er nach der Entfaltung des Geistes strebe, solle er hinter der Glyptothek flanieren, am siebten Tag des siebten Monats – übermorgen, denkt der Julius –, und zwar frühmorgens um vier Uhr, er solle die beiliegende Tablette nehmen, um den Schlaf zu verzögern, und tatsächlich findet der Julius in seiner Innentasche eine eingefaltete weiße Tablette. Er schluckt diese einen Tag später nach dem Abendbrot und bleibt tatsächlich hellwach bis um halb vier, um welche Zeit er sich aus der Wohnung über der Druckerei schleicht.

Und wie harmlos war das alles, denkt der Julius viel später, die ersten Einführungsrituale, wie harmlos, obwohl er zu Tode erschrickt, er hat nichts gehört, er hat vor der Glyptothek herumgelungert, enttäuscht schon, irgendwer scheint ihm einen Streich gespielt zu haben, und was tut er da überhaupt morgens um vier im Dunkeln, nachdem ihn irgendein Fresszettel rausgelockt hat – als ihm zwei maskierte Gestalten von hinten ein feuchtes Tuch gegen das Gesicht drücken. Der Julius zieht panisch Luft ein, wie aus Gummi scheinen ihm Beine und Arme, schwer und irgendwie, dem Julius fällt kein richtiges Wort ein, nur schnurpelig, seine Arme und Beine sind schnurpelig, er kichert.

Er wehrt sich nicht, als sie ihm einen Sack über den Kopf

Leichte Kopfschmerzen. Über sich sieht der Julius ein grob gemauertes Kreuzgewölbe. Er liegt auf einer Bahre. Fackeln an den Wänden erleuchten einen Gang, Chorgesang schallt von tiefen Stimmen.

Der Julius wuchtet seine Beine von der Bahre, sie sind unnatürlich schwer, und die Fackeln brennen unnatürlich hell. Er folgt Fackeln und Gesang, er geht durch einen ultramarinblauen Vorhang und findet sich in einem kleineren Saal wieder, weitere Vorhänge bedecken die Wände, zuvorderst steht ein Altar, auf welchem goldene Geräte leuchten, ein Kelch, ein Winkel, ein Zirkel, auch über ihm schimmert es golden, ein fünfzackiger Stern ist mit Blattgold an die Gewölbedecke gemalt, ein Stern, aus welchem Strahlen glühen, als wäre er die Sonne. Der Julius fühlt sich peinlich berührt in seiner normalen Kleidung, die anderen Männer, die da auf reich gepolsterten Stühlen sitzen, tragen Umhänge, Umhänge und Gesichtsmasken, sie singen, und der Julius steht blöd da und denkt: Soll ich umkehren? Umkehren, raus hier, es ist unheimlich.

Aber – sie haben mich eingeladen, mich persönlich.

Der Julius bleibt in der Mitte stehen, nicht wissend, dass er soeben die erste Prüfung bestanden hat. Der Gesang hört abrupt auf. Der Julius wird plötzlich eines maskierten Mannes direkt hinter ihm gewahr. Der Maskierte beginnt zu singen, er singt über freie Gesinnung, er preist jemandes Willen und Wesensstärke, und bis der Julius begreift, dass da über ihn gesungen wird, hat der Maskierte die Melodie längst an den Julius direkt gerichtet.

Der Julius, singt der Mann, habe zwei Antworten zur Auswahl, sie lauteten «das Erstere, Meister» oder «das Zweitere, Meister»,