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Pola Polanski

Ich bin Virginia Woolf

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Roman

Polanski, Pola : Ich bin Virgina Woolf. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2021

1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95771-285-1

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ePub-eBook: 978-3-95771-286-8

Lektorat: Diana Dressler
Korrektorat: Verlags-WG, Hamburg
Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, Hamburg
Umschlagmotiv: Pola Polanski, Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Größenwahn Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:
https://www.verlags-wg.de

© Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2021
Alle Rechte vorbehalten.
https://www.groessenwahn-verlag.de
Gedruckt in Deutschland

1
Hinter Glas

Inka Ziemer erwachte in einem kleinen Zimmer, in dem alles weiß war: die Decke, die Wände, das Bett und das Laken. Sie fragte sich, wo sie sein mochte. Das Fenster, hinter dem ein makellos blauer Himmel schien, war schwarz vergittert. Sie wollte nach ihrem Bauch tasten, doch ihre Arme waren festgeschnallt. Erschrocken hob sie den Kopf. Wo ihr Bauch hätte sein sollen, klaffte eine riesige Wunde. Mein Kind, dachte sie. Mein armes Kind. Man hat es mir gestohlen. Dann dämmerte sie wieder weg.

„Sie müssen Ihre Medikamente nehmen.“ Eine weiße Gestalt beugte sich über sie.

„Wo ist mein Kind?“

„Ihr Kind ist im Bauch, junge Frau.“

„Aber das Loch in meinem Bauch?“

„Beruhigen Sie sich, da ist nichts. Nur ein Fleck auf dem weißen Laken. Ich werde Ihnen jetzt eine Spritze geben. Dann können Sie weiterschlafen.“

Als sie die Augen wieder aufschlug, trieben Schneeflocken hinter dem schwarzen Gitter. Sie fühlte einen unerträglichen Druck in ihrer Blase, zerrte an ihren Fesseln und schrie. Endlich erschien die weiße Gestalt und beugte sich über sie.

„Wissen Sie, wo Sie sind? Wie heißen Sie?“

„Meine Mutter tanzte immer im Schnee.“

„Wo ist Ihre Mutter jetzt?“

„Ich weiß nicht. Ich muss dringend aufs Klo. Können Sie mich nicht losbinden?“

Der Arzt stutzte. Dann verstand er. „Das ist nur ein Verband. Sie haben sich gestern verletzt.“

Inka wollte sich aufrichten, sackte aber sogleich zurück in ihr Kissen.

„Warten Sie, ich bringe Ihnen eine Pfanne.“ Er ging zum Wandschrank und holte eine Aluminiumschüssel mit breitem Rand, die er ihr unter den Hintern schob. Endlich konnte sie pinkeln.

Jetzt sah sie ihn zum ersten Mal an und lächelte. Er sah gut aus. Wie Julian, mit seinen blauen Augen.

„Julian?“

„Nein. Ich bin nicht Julian. Ich bin Ihr Arzt und heiße Dr. Grießhaber.“

Inkas Stimme klang brüchig. „Nicht Julian?“ Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen

„Was ist mit Ihnen passiert? Beruhigen Sie sich. Ich kann Ihnen keine weitere Spritze geben, das würde nur Ihr Kind gefährden.“

„Mein Kind?“ Erstaunt hob sie die Augenbrauen.

Der Arzt lächelte mild. „Vorhin hatten Sie noch Angst, wir hätten Ihr Kind gestohlen, und nun wissen Sie nicht einmal, dass Sie eines erwarten?“

„Schwanger?“

„Das haben Sie zumindest gesagt. Wer ist denn dieser Julian?“

„Julian... Julian Meister.“

Das Gesicht des Arztes hellte sich auf.

„Sehr gut, jetzt haben wir einen Anhaltspunkt.“

„Aber du bist doch Julian!“

„Sie sind noch etwas durcheinander. Ich bin Ihr Arzt, und Sie sind hier in guten Händen.“

„Nein!“ Inka schüttelte energisch den Kopf. „Das kann nicht sein!“

„Sie sind gestern zu uns gekommen. Sie waren etwas verwirrt und wussten nicht, wie Sie heißen. Ich gebe Ihnen jetzt ein Medikament. Das hilft, Ihren Kopf zu ordnen.“

„Ich brauche kein Medikament. Ich bin in Ordnung.“

Er setzte sich zu ihr ans Bett und hielt ihr einen winzigen Plastikbecher an die Lippen. „Bitte, trinken Sie das.“

Sie wandte sich ab, doch der Arzt fasste sie sanft unter dem Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. Während er ihr etwas einflößte, dachte sie Julians Augen und schluckte es runter. Was von Julian kam, konnte nicht schlecht sein. Schließlich liebte er sie. Ihr Blick wanderte hinter das Gitter, wo er mit den weißen Flocken verschwamm.

Wieder wurde sie wach, und wieder war niemand da. Warum kam denn keiner, und wo blieb Julian? War er nicht eben noch hier gewesen, mit seinen blauen Augen, die immer hin und her schweiften, als ob sie sich alles Leben um ihn herum einverleiben wollten? Sie begann erneut zu schreien, und endlich öffnete sich die Tür. Der Arzt kam herein und setzte sich zu ihr.

„Wir haben keinen Julian Meister gefunden.“

„Aber du... du bist doch Julian!“ Ihr Gesicht verzerrte sich. „Du bist es doch!“

„Und wir haben noch immer keinen Anhaltspunkt, wer Sie sind. Niemand hat Sie als vermisst gemeldet. Können Sie sich wirklich nicht an Ihren Namen erinnern?

„Inka Ziemer“, presste sie heraus.

„Ziemer? So wie die Firma Ziemer?“

„Was für eine Firma?“

„Die Firma Ziemer exportiert Tierreste nach China. Sie ist ziemlich bekannt hier im Ort.“

Sofort stieg Inka ein süßlicher Geruch nach verwestem Fleisch in die Nase. „Könnte sein.“

„Wir werden es schon herausfinden.“

Später kam er erneut mit einem Plastikbecher und flößte ihr etwas ein, wovon sie gleich wieder einschlief und verrücktes Zeug träumte, an das sie sich schon nicht mehr erinnern konnte, als sie die Augen aufschlug. Da saß er wieder, Julian mit seinen schönen Augen, und sie fragte sich, warum er einen weißen Kittel trug.

„Und? Gut geträumt?“

„Ja.“ Sie strahlte ihn an.

„Also, ich habe mit Ihrem Bruder gesprochen. Sie sind tatsächlich Inka Ziemer. Ihr Bruder ist bei Ihnen zu Hause gewesen. Er hat mir gesagt, dass alle Wände mit gelben Memo-Zetteln beklebt sind. Können Sie mir sagen, wieso?“

„Ich habe einen Roman geschrieben.“

„Auf Zetteln?“ fragte er ungläubig.

„Wie geht es Nero und Tiberius?“

Der Arzt hob fragend die Augenbrauen.

„Meine Bartagamen. Hat er sie auch gut gefüttert?“

„Was in aller Welt sind Bartagamen?“

„Kleine Echsen. Ich hätte sie jetzt gerne bei mir. Sie sind so goldig.“

„Ich werde Ihren Bruder danach fragen. Ich glaube, Sie können sich wieder erinnern. Es scheint Ihnen besser zu gehen.“

„Mir geht es wunderbar.“

„Gut. Dann sollten Sie jetzt ein wenig aufstehen.“

Zitternd richtete sie sich auf, rutschte nach vorn auf die Bettkante und ließ die Beine baumeln. Sie legte die Hand auf ihre Bauchdecke und spürte mit einem Mal das Kind wieder. Vorsichtig stand sie auf und ging langsam ans Fenster.

Im Garten wandelt barfuß ein Geist durch schwarzes Gras. Der fahle Mond klatscht ihm sein Licht ins Gesicht. Ha! Er sieht aus wie der Heilige Sebastian! Ich greife nach seinem Leichentuch, das sofort zu Staub zerfällt. Durchs Gras rollt jetzt der Schädel meiner Mutter. Er trägt noch immer einen Blumenkranz.

Als Inka wieder zu sich kam, war sie allein im Zimmer. Langsam ging sie zur Tür ihres Gefängnisses, drückte auf die Klinke und siehe da, die Tür ging auf. Inka wunderte sich, war sie doch mindestens drei Tage lang hier eingesperrt gewesen.

Die Tür gab den Blick auf weitere Türen links und rechts des Ganges frei, und sie fragte sich, in welche Richtung sie gehen sollte. Plötzlich rannte eine Frau über den Flur und schrie ihr zu: „Vorsicht, da ist ein Terrorist im Raucherzimmer. Er wird uns alle abstechen!“

Inka schaute ihr konsterniert nach. Am Ende des Ganges, bei der Glastür mit der Aufschrift „Ausgang“, war der Ausflug der Frau zu Ende. Ein weiß gekleideter Riese versperrte ihr den Weg, legte den Arm um sie und brachte sie zurück auf ihr Zimmer.

Inka dachte angestrengt nach. Wo war sie hier gelandet? Sie ging den Flur entlang in die andere Richtung. Hinter einer Glastür mit der Aufschrift „Rezeption“ hantierten weiß gekleidete Frauen mit Schreibunterlagen und Pillen. Sie blieb stehen und fragte sich, was sie hier wollte, drehte um und ging in ihr Zimmer. Während sie auf dem Bett lag und an die Decke starrte, fiel es ihr wieder ein: Sie hatte um Stift und Zettel bitten wollen. In dem Moment überkam sie die Erinnerung, und Stück für Stück rollte sich die Vergangenheit vor ihr auf.

2
Pico del Teide

Als das Flugzeug mit einem Schlingern und Dröhnen nach Teneriffa abhob, las Inka in einem Buch über den Anti-Terror-Kampf, wohl wissend, dass da noch zwei andere Bücher in ihrer Tasche waren, die sie weit mehr schätzte als dieses Sachbuch. Diese Bücher waren für sie das Großartigste, was ein Schriftsteller jemals hervorgebracht hatte. Sie las nur deshalb gerade nicht in einem dieser Bücher, um sie sich für ihren Urlaub aufzusparen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihren Nachbarn, der einen Vollbart trug und in einem Buch über römische Geschichte las. Entweder ist er ein IS-Terrorist oder ein harmloser Student für klassische Archäologie, dachte Inka. Es war schon seltsam, wie sich die Modewelle Vollbart mit der Ästhetik des politischen Islam vermischte.

Während sie überlegte, wie viel Ungeziefer sich wohl in so einem Bart einnisten könne, fragte die Stewardess, ob sie etwas essen wolle. Inka verneinte, bestellte sich aber eine Coke Zero. Doch das war offensichtlich nicht die beste Entscheidung, denn schon nach ein paar Schlucken aus der Dose verspürte sie unweigerlich den Drang, aufs Klo zu müssen. Kreidebleich stand sie auf, taumelte durch den engen Gang und bekämpfte den Drang, indem sie die Backen fest zusammenkniff. Endlich konnte sie die Toilette öffnen und sich erleichtern. Später hatte ihr ein Arzt erklärt, sie hätte mit den Jahren eine Unverträglichkeit auf Süßstoff entwickelt, wodurch es zu anfallartigen Durchfällen kam.

Auf ihren Platz zurückgekehrt bemerkte sie, dass der Terrorist noch immer in seinem Buch las. Halb im Scherz dachte sie bei sich, dass das Buch sicher nur eine Tarnung war. Er war allein, hatte keine Familie und würde kaum nach Teneriffa fliegen, um dort Urlaub zu machen, sondern um sich im Strandgetümmel in die Luft zu sprengen. Aber man konnte natürlich auch das Gegenteil denken: Er war einer dieser Gutmenschen, die sich vegan ernähren und meinen, die gesamte Menschheit zu ihrer Weltanschauung bekehren zu müssen. Seine Familie würde später nachkommen. Seine Frau würde goldene Glitzerschühchen tragen, aus denen rot lackierte Zehennägel schauten, und sie hätte ihm zwei wunderschöne, gesunde Kinder geschenkt.

Sie drehte mit ihren schmalen Händen das Buch über den Anti-Terror-Kampf so, dass er das Cover lesen konnte. Aber er beachtete es überhaupt nicht. Also las sie weiter. Da stand doch tatsächlich, dass man die jüngsten Terroranschläge hätte vorhersehen und vielleicht sogar verhindern können. Denn sowohl der französische National-feiertag als auch die christlichen Weihnachten waren Symbole einer westlichen Kultur, die dem IS ein Dorn im Auge waren.

Nachdenklich nippte sie an ihrer Cola, worauf es in ihrem Magen sofort wieder zu rumpeln begann. Belustigt stellte sie sich vor, den Terroristen notfalls mit einer Gaswolke außer Gefecht zu setzen. Aber sie kniff lieber die Backen zusammen, so dass eines der Strasssteinchen aus ihrem auf das T-Shirt gebügelten Totenkopf in die aufgeschlagene Buchseite fiel und genau auf dem Wort „Weihnachten“ zu liegen kam. Das müsse Vorhersehung sein, dachte Inka, denn an Weihnachten wäre sie bereits tot. Tot wie Virginia Woolf, die in ihrem Handgepäck steckte, verpackt in einem der genialsten Bücher der Welt.

Das Flugzeug begann auf und ab zu hüpfen. Der Kapitän machte eine Durchsage, dass sie gerade durch ein Unwetter flogen. Um sich abzulenken, holte Inka wie auf jedem Flug das Hochzeitsfoto ihrer Eltern hervor, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Sie betrachtete ihre Maman, die mit leicht verzücktem Blick in den Himmel schaute, während Papá ihren Augen folgte, als ob er sich Sorgen mache, dass auch sie dorthin abdriften würde.

Seit ihrem Tod vor zehn Jahren wohnte Inka in der baufälligen Villa ihrer Eltern. Ihr drei Jahre älterer Bruder Rolande, der die Fabrik der Eltern weiterführte, hatte sich einen modernen Glaspalast hingestellt, was Inka jedoch nicht störte. Sie konnte immerhin von den monatlichen Auszahlungen ihres Bruders bequem leben, ohne arbeiten zu müssen. Sie gähnte und dachte, dass ihr Leben eigentlich recht langweilig sei. Obwohl sie seit zehn Jahren für Germanistik und Philosophie eingeschrieben war, hatte sie während der gesamten Zeit nur zwei Vorlesungen besucht. Was die Professoren da vorne von sich gegeben hatten, hatte sie dermaßen gelangweilt, dass sie lieber faulenzte, kiffte, oder sich auf Facebook herumtrieb. Doch das würde sich jetzt ändern, so viel stand fest. Denn in ihrem Gepäck befand sich niemand Geringeres als Virginia Woolf.

Das Flugzeug schlingerte erneut, was Inka nicht weiter beunruhigte. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Flugzeugabsturz zu sterben, war so gering wie die, einen Sechser im Lotto zu haben oder vom Blitz erschlagen zu werden. Und dass im Cockpit noch einmal so ein Verrückter sitzen würde wie dieser Germanwings-Pilot, war ebenso unwahrscheinlich. Irgendwo hatte sie gelesen, dass nur fünf Prozent der Bevölkerung einmal in ihrem Leben verrückt wurden.
Das Schlingern hörte auf, und der Terrorist erhob sich von seinem Sitz. Inka kam nicht umhin zu bemerken, dass er einen süßen Hintern hatte. Klein und knackig wie eine Kirsche. Sie stellte ihn sich ohne Bart und mit langen Haaren vor, denn auf solche Männer stand sie. Oder eben auf Frauen mit kurzen Haaren. So war das.

Der Shuttle-Bus kam beim Hotel an. In der Allee davor spuckten die chinesischen Kräuselmyrten blutige Blüten aus. Inka setzte ihren ausladenden, roten Hut ab und beschaute sich im Spiegel des Fahrers. Sie stellte fest, dass die Blüten, ihr Hut und ihre Haare den gleichen Farbton hatten, woraufhin sie fröhlich kicherte, ohne sich darum zu kümmern, dass die anderen Touristen sie anstarrten. Freudig und erwartungsvoll sprang sie in ihren Tchibo-Turnschuhen aus dem Kleinbus. Für sie war es der Beginn einer neuen Ära, denn jetzt hatte sie endlich Lust zu schreiben.

Im Hotelzimmer angelangt, öffnete Inka die Flasche Champagner, die als Willkommensgruß in der Zimmerbar stand, und kramte dann aus ihrem Koffer das Notizbuch hervor, in dem sie ihre Schreibversuche eintrug. Sie suchte jenen Text über den IS, welchen sie vor einem Jahr geschrieben hatte. Sie setzte sich auf den Balkon, zündete sich eine Zigarette an und las:

KRISTALLE

Es war einer dieser Tage, an denen ich nichts mit mir anzufangen wusste. Ich habe geschrieben, gegessen, Kaffee getrunken und etwas Sport gemacht, sonst gab es nichts. Später am Abend, als ich in den Nachrichten hörte, dass sich wieder ein Terrorist in die Luft gesprengt hatte, splitterte plötzlich mein Hirn in winzige Kristalle. Ich stand gerade in der Küche und wollte das Geschirr in die Spülmaschine räumen. Der Klang von zersplittertem Glas. Dabei hatte ich nichts zerbrochen. Ich hielt mir den Kopf, um die Eruption einzudämmen. Aber es half nichts. Die Splitter drängten vulkanartig nach oben. Um sie aufzufangen, hielt ich meinen Schädel über einen großen Topf, den ich gerade aus der Spülmaschine genommen hatte. Tatsächlich fielen alle Teile meines Hirns in kleinen Splittern in den Topf. Eine Stunde später hörte die Eruption auf, und ich stellte den Topf auf den Herd. Dann ging ich ins Bad und begutachtete meinen Schädel. Die Narbe, die ich vor dreißig Jahren bei einem Autounfall davongetragen hatte, und die fast verschwunden gewesen war, hatte sich wieder eitrig rot verfärbt. Ich ging zurück in die Küche. Die gallertartige, zähe Flüssigkeit waberte vor sich hin. Wie konnte es sein, dass durch einen IS-Bericht im Fernsehen mein Hirn eruptiert hatte? Ich verstand nichts mehr. Ich stellte die Kochplatte auf volle Stärke, gab etwas Fleischwürfel dazu und kochte mein Hirn dreißig Minuten lang. Als die Suppe fertig war, setzte ich mich, und löffelte die Suppe noch mal dreißig Minuten lang in mich hinein. Dann wurde ich müde und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen läutete es. Ich war noch nicht ganz wach, und die Sache mit der Hirnsuppe war ganz weit weg. Also wankte ich zur Tür und öffnete. Es war der Nachbar mit einem Päckchen, das für mich abgegeben worden war. Auf dem Karton prangte das Symbol der IS-Flagge. Trotzdem nahm ich das Päckchen an und lief damit durch das ganze Stadtviertel. Ich spürte, dass meine Narbe zu einer riesigen Wunde geworden war und mir war klar, dass jeder sehen konnte, wie Blut und Eiter herausliefen...

Sie ließ das Buch sinken, streckte die Beine aus und nahm einen großen Schluck Champagner direkt aus der Flasche. Ihr Blick schweifte zuerst über den Parkplatz, wo Motoren aufheulten, bis sie in der Ferne das aufgewühlte Meer mit seinen tanzenden Schaumkronen fixierte. Nun ja, als sie den Text geschrieben hatte, war sie bekifft gewesen, und einen besseren Text hatte sie seither nicht zustande gebracht. Als ob sich diese ganze Kifferei abgenützt hätte wie ein alter, abgerubbelter Waschlappen, den man nur noch als Putzlappen benützt.

Sie zückte ihr Handy und postete als Status:

Ich habe viel zu viele Zähne... jetzt schmeißen sie das Zeugs auf die Gleise...

Immerhin ein Satz. Mehr nicht. Aber vielleicht half der Champagner? Die halbe Flasche war schon leer, und in ihrem Kopf summte eine Melodie von Nick Cave: „God is in the House“, summte weiter und immer weiter, bis ihr der Gedanke kam, dass sie insgeheim vor ihrem Bruder Rolande hierher nach Teneriffa geflohen war. Ihr verhasster Bruder, der Maman und Papá mit ihrem ausladenden, exzentrischen Leben nie verstanden hatte. Der ihr ständig ein schlechtes Gewissen einredete, weil sie nicht arbeitete, der genauso straight war wie ihr Großvater, der die Firma ganz im Sinne der preußischen Tradition erfolgreich aufgebaut hatte. Nach dem Tod der Eltern war der erste Satz, den Rolande gesagt hatte: „So, jetzt möbeln wir die Firma wieder auf, die Maman und Papá zugrunde gerichtet haben.“ Danach hatte sie sich aus Protest ihr rotes Naturhaar knallrot gefärbt und in ihre ausgewaschenen Leggins mehrere Löcher gerissen, während Rolande sich beim besten Herrenausstatter in Stuttgart zehn dunkelblaue Anzüge maßschneidern ließ. Bis in die halbe Nacht hinein las sie in einer Biographie über Virginia Woolf und in deren Roman „Orlando“.