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Silo ist das Pseudonym von Mario Luis Rodríguez Cobos. Er wurde am 6. Januar 1938 in Mendoza, Argentinien geboren, wo er bis zu seinem Tode 2010 lebte. Seine Werke umfassen ein breites Spektrum, das von Philosophie über Psychologie, Soziologie, Mythologie bis hin zur Fiktion und Spiritualität reicht. Er ist u.a. Verfasser der Werke Der Innere Blick (1972), Die Innere Landschaft (1981) und Die Menschliche Landschaft (1988), die später in der Trilogie Die Erde menschlich machen (1989) veröffentlicht wurden. Später verfasste er Geleitete Erfahrungen (1988), Beiträge zum Denken (1988), Universelle Wurzelmythen (1990), Der Tag des geflügelten Löwen (1991), Briefe an meine Freunde (1993), Silo spricht (Vorträge 1969 – 1995), Wörterbuch des Neuen Humanismus (1996), Silos Botschaft (2002 und 2007) sowie Notizen zur Psychologie I – IV (1975 – 2006). Seine Schriften erschienen als Gesammelte Werke I und II erstmals 2002 in Mexiko. Er gilt als Gründer der international als Neuer Humanismus (oder auch Univer-salistischer Humanismus) bekannten Denkströmung sowie als Wegbereiter einer neuen Spiritualität, welche die auf Gewaltfreiheit basierende, gleichzeitige persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung hin zu einer „universellen menschlichen Nation“ fördert.

Universelle
Wurzelmythen

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Mitos Raíces Universales

im Verlag Editorial Planeta, Buenos Aires,

Argentinien, 1990

Copyright der spanischen Originalausgabe © 1990 Silo

Übersetzung aus dem Spanischen

Daniel Horowitz

in Zusammenarbeit mit Conny Heinrichmann sowie
Thomas Bütikofer, Christof Ender, Gustavo Joaquin,
Heike Steinbach und Ivetta Csongradi

Edition Pangea
Zürich - Berlin - Wien
Oktober 2020
www.editionpangea.ch

Copyright der deutschen Ausgabe:

© 2020 Pangea, Zürich
Gestaltung: Mariana Garcia
Design Umschlag gdi Kohl

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Printed in Hungary

ISBN 978-3-907127-13-1

eISBN 978-3-907127-14-8

Inhaltsverzeichnis

Vortrag des Autors

Universelle Wurzelmythen

Einleitung

I. Sumerisch-Akkadische Mythen

II. Assyrisch-Babylonische Mythen

III. Ägyptische Mythen

IV. Hebräische Mythen

V. Chinesische Mythen

VI. Indische Mythen

VII. Persische Mythen

VIII. Griechisch-Römische Mythen

IX. Nordische Mythen

X. Amerikanische Mythen

Anmerkungen

I. Sumerisch-Akkadische Mythen

II. Assyrisch-Babylonische Mythen

III. Ägyptische Mythen

IV. Hebräische Mythen

V. Chinesische Mythen

VI. Indische Mythen

VII. Persische Mythen

VIII. Griechisch-Römische Mythen

IX. Nordische Mythen

X. Amerikanische Mythen

Vortrag des Autors anlässlich
der Buchvorstellung

Centro Cultural de San Martin,
Buenos Aires, Argentinien
18. April 1991

 

Bevor ich mit meinem Kommentar zu Universelle Wurzelmythen beginne, möchte ich erläutern, aus welchen Beweggründen heraus ich dieses Werk verfasste und in welcher Beziehung es zu meinen früheren Werken steht.

Zuerst zu den Beweggründen.

Die Absicht, mit der ich an die Mythen der verschiedenen Kulturen herangegangen bin, ist mehr in der Sozialpsychologie als in den vergleichenden Religionswissenschaften, der Ethnologie oder der Anthropologie zu suchen. Ich fragte mich, warum sollten wir nicht die ältesten Ideenbildungssysteme untersuchen, da wir ihnen nicht direkt verpflichtet sind und deshalb viel mehr an Gesichtspunkten über uns selbst dazugewinnen können. Warum sollten wir uns nicht in eine Welt fremder Glaubensgewissheiten begeben, die mit Sicherheit auch andere Lebenseinstellungen begleiteten? Warum sollten wir uns nicht geistig so flexibel wie möglich machen, um mit Hilfe dieser Bezugspunkte zu verstehen, warum heutzutage unsere grundlegenden Glaubensgewissheiten hin-und herschwanken? Diese Gründe bewegten mich dazu, die mythischen Werke zu überprüfen. Bei unserem Versuch, an die Basis der Glaubensgewissheiten, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wirksam waren, zu gelangen, hätten wir als Leitfaden sicherlich auch die Geschichte der Institutionen, der Ideen oder der Kunst verwenden können, aber in keinem dieser Fälle hätten wir so unverfälschte und direkte Phänomene erhalten wie in der Mythologie.

Das anfängliche Projekt dieses Buches war, die Mythen der verschiedenen Völker darzulegen und sie so mit Kommentaren zu versehen, dass diese keine Störung oder Interpretation darstellen. Nach kurzem Weg stieß ich auf mehrere Schwierigkeiten. An erster Stelle musste ich meine Bestrebungen einschränken, da ich mich ja auf Texte berufen musste, deren historische Wahrheit verbürgt ist, während ich andere beiseitelassen musste, die älteres Material enthielten oder es kommentierten, die aber deshalb zahlreiche Mängel aufwiesen. Natürlich konnte ich dieses Problem nicht überwinden, auch wenn ich mich darauf beschränkte, die Quellentexte zu verwenden, auf deren Grundlage die betreffende Information bis zu uns gelangte. Andererseits konnte ich mich auch nicht auf die mündliche Überlieferung berufen, die von heutigen Forschern aus abgeschlossenen Kulturgemeinschaften herausgeholt werden. Zu dieser Ausschließung veranlasste mich die Beobachtung gewisser methodologischer Komplikationen, von denen ich anhand eines Zitates von Mircea Eliade ein Beispiel geben möchte. In Aspects du Mythe schreibt dieser Autor: „Verglichen mit den Mythen, die vom Ende der Welt in der Vergangenheit erzählen, sind diejenigen, die sich auf ein künftiges Ende der Welt beziehen, bei den Primitiven paradoxerweise wenig zahlreich. Lehmann weist darauf hin, dass diese Seltsamkeit vielleicht von der Tatsache herrührt, dass die Ethnologen diese Fragen bei ihren Befragungen gar nicht gestellt haben. Manchmal ist es schwierig, genau anzugeben, ob der Mythos von einer vergangenen oder einer künftigen Katastrophe handelt. Gemäß dem Zeugnis von E. H. Man glauben die Andamaner, dass nach dem Ende der Welt eine neue Menschheit auftauchen wird, die paradiesische Bedingungen genießen wird. Es wird dann weder Krankheiten noch Alter noch den Tod geben, und die Toten werden nach der Katastrophe wiederauferstehen. Nach R. Brown aber hätte E. H. Man wohl verschiedene Versionen dieses Mythos, die aus unterschiedlichen Informationsquellen stammten, miteinander verbunden. Brown präzisiert, dass es sich in Wirklichkeit um einen Mythos handelt, der vom Ende und von der Wiedererschaffung der Welt erzählt. Der Mythos aber bezieht sich auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft. Da – gemäß der Beobachtung Lehmanns – die andamanesische Sprache keine Zukunftsform besitzt, ist es schwierig zu entscheiden, ob es sich um eine vergangene oder künftige Begebenheit handelt.»

In diesen Beobachtungen von Eliade tauchen mindestens drei Diskussionspunkte auf, die von den Forschern bezüglich ein und desselben Mythos erörtert werden: 1. die Möglichkeit, dass die Fragen, die den Angehörigen der betreffenden Gemeinschaft gestellt wurden, schlecht formuliert waren; 2. dass die Informationsquellen nicht einheitlich sind und 3. dass die Sprache, in der die Information vorliegt, keine Zeitformen besitzt, die gerade dann nötig sind, wenn man versucht, einen zeitlichen Mythos zu verstehen.

Derartige Schwierigkeiten, zu denen noch viele andere dazukamen, hinderten mich also daran, die große Masse an Informationen auszunutzen, die uns die Feldforscher heute vorlegen. Demzufolge konnte ich weder die schwarzafrikanischen noch die ozeanischen noch die polynesischen und nicht einmal die südamerikanischen Mythen in meinen Entwurf einfließen lassen.

Während ich jedoch an den ältesten Texten festhielt, traf ich bezüglich der Dokumente auf ein großes Missverhältnis. Von der sumerisch-akkadischen Kultur z.B. erzählt das große und fast vollständige Gilgamesch-Epos, wogegen die restlichen Fragmente in keinem einzigen Fall an dessen Größe heranreichen. Die indische Kultur dagegen erdrückt uns geradezu mit ihrer Fülle an Werken. Um ein minimales Gleichgewicht zu erreichen, sah ich letztere nochmals durch, um aus ihr kleine »Musterstücke« herauszunehmen, um so ein Gleichgewicht zur sumerischakkadischen Kultur herzustellen. So verringerte ich auch das überreichliche Material anderer Völker, indem ich den sumerischakkadischen und assyrischbabylonischen Modellen folgte. So konnte ich zum Schluss der Leserschaft die meiner Meinung nach bedeutendsten Mythen von zehn verschiedenen Kulturen vorlegen.

Aus all dem Vorhergehenden muss ich anerkennen, dass ein sehr unvollständiges Werk entstanden ist, in dem es aber im Wesentlichen gelungen ist, einen sehr wichtigen Punkt im System der geschichtlichen Glaubensgewissheiten hervorzuheben. Ich beziehe mich dabei auf das, was ich „Wurzelmythos“ nenne. Darunter verstehe ich jenen Kern der mythischen Ideenbildung, der sich – trotz der Verformung und Veränderung der Szenerie, in der sich seine Handlung entfaltet und trotz der sich verändernden Namen und Figuren und ihrer zweitrangigen Merkmale – von Volk zu Volk fortgepflanzt hat und dabei seinen zentralen Handlungsablauf mehr oder weniger bewahrt hat und somit Universalität erreicht hat. Der Doppelcharakter von »Wurzel« und »Universalität«, den bestimmte Mythen besitzen, hat mir erlaubt, das Thema auf den Punkt zu bringen und jene herauszugreifen, die diese Bedingungen erfüllen. Das bedeutet nicht, dass ich die Existenz anderer Kerne nicht anerkenne und die ich in dieser zusammenfassenden Sammlung nicht vorgestellt habe. Ich glaube, dass ich damit auf die Frage nach den Beweggründen, dieses Buch zu verfassen, geantwortet habe. Überdies habe ich die Schwierigkeiten erwähnt, denen ich beim Versuch, die mir anfänglich gesetzten Ziele zu erreichen, begegnete. Aber es bleiben noch Punkte übrig, die geklärt werden sollten. Ich beziehe mich hier auf die zweite Frage, die wir zu Beginn gestellt haben, und zwar über die Beziehung, die dieses Werk zu meinen vorherigen Erzeugnissen besitzt.

Viele von euch haben sicherlich Der innere Blick und möglicherweise Die innere Landschaft und Die menschliche Landschaft gelesen. Ihr erinnert euch, dass diese drei Büchlein zu verschiedenen Zeitpunkten geschrieben worden sind und unter dem Titel Die Erde menschlich machen gemeinsam veröffentlicht wurden. Der in zwischen Prosa und Gedicht liegende Stil hatte mir erlaubt, eine stufenlose Verlagerung des Standpunktes zu vollziehen, der in einer traumhaften und persönlichen – mit Symbolen und Allegorien geladenen – Welt seinen Anfang nimmt und in einer Öffnung zum Zwischenmenschlichen, Gesellschaftlichen und Geschichtlichen endet. Tatsächlich lag dieser Schrift dieselbe Auffassung zugrunde, die auch in späteren Werken entwickelt wurde, auch wenn die Behandlung der Themen und die Stile unterschiedlich waren. In den Geleiteten Erfahrungen, einer Folge von kurzen Erzählungen, erlaubte ich mir, mehrere verschiedenartige Szenerien zu gestalten, in denen man unterschiedliche Probleme des alltäglichen Lebens Revue passieren ließ. Ausgehend von einem mehr oder weniger unwirklichen „Einstieg“ konnte sich der Leser durch Szenen bewegen, in denen er sich auf allegorische Weise mit seinen Schwierigkeiten konfrontierte. Anschließend baute sich ein literarischer „Kern“ auf, der die allgemeine Spannung der Szene vergrößerte. Dann ließ die Spannung nach und die Erzählung endete mit einem „Ausgang“ oder vielversprechenden Ende. Die zentralen Ideen der Geleiteten Erfahrungen sind Folgende: 1. So wie in den Träumen Bilder erscheinen, die allegorische Ausdrücke tiefer Spannungen sind, tauchen im alltäglichen Leben ähnliche Phänomene auf, denen man nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenkt: dies sind die Tagträume und die Abschweifungen, die – in Bilder umgewandelt – psychische Ladungen tragen, die für das Leben sehr wichtige Funktionen erfüllen. 2. Die Bilder erlauben es, den Körper in die eine oder andere Richtung zu bewegen, aber es handelt sich nicht nur um visuelle Bilder. Für jeden der verschiedenen äußeren Sinne gibt es entsprechende Bilder, die eine Öffnung des Bewusstseins zur Welt hin ermöglichen, indem sie die körperliche Tätigkeit in Gang setzen. Aber da es auch die inneren Sinne gibt, entstehen dementsprechende Bilder, deren Ladung in das Körperinnere geleitet wird und die dabei die dort auftretenden Spannungen verringern oder vergrößern. 3. Die ganze Biografie, d.h. das Gedächtnis einer Person, wirkt auch mittels der Bilder. Diese sind mit den verschiedenen Spannungen und gefühlsmäßigen Klimata, die im Laufe der Biografie „gespeichert“ wurden, verknüpft. 4. Diese Biografie ist ständig bei jedem von uns am Wirken, und deswegen nehmen wir bei jeder neuen Wahrnehmung die Welt, die sich uns darbietet, nicht passiv auf, sondern die biografischen Bilder wirken wie eine im Voraus gebildete „Landschaft“. Auf diese Weise führen wir täglich verschiedene Tätigkeiten aus, durch die wir die Welt mit unseren Tagträumen, Zwängen und unseren tiefsten Bestrebungen „überdecken“. 5. Die Handlung oder die Nicht-Handlung gegenüber der Welt ist eng mit dem Thema des Bildes verknüpft, so dass dessen Umwandlung auch ein wichtiger Schlüssel zur Verhaltensänderung ist. Indem es möglich ist, Bilder zu verändern und ihre Ladungen zu verschieben, kann man daraus folgen, dass sich in diesem Falle auch Verhaltensänderungen ergeben. 6. In den Träumen und Tagträumen, in den Kunstwerken und in den Mythen tauchen Bilder auf, die auf vitale Spannungen und auf die „Biografien“ von Individuen oder Völkern zurückzuführen sind. Diese Bilder bestimmen die Richtung sowohl individueller als auch kollektiver Verhaltensweisen. Diese sechs eben angeführten Ideen liegen den Geleiteten Erfahrungen zugrunde, und deswegen haben viele Leser in den Anmerkungen, die den Erzählungen folgen, Stoffe vorgefunden, die aus alten Legenden, Geschichten und Mythen stammen und neu verarbeitet wurden, auch wenn sie hier eine auf die Leser, die sich individuell oder in kleinen Gruppen mit diesen Erzählungen beschäftigen, bezogene Anwendung fanden.

Betrachten wir mein zuletzt erschienenes Werk Beiträge zum Denken. Niemandem entgeht, dass es im Stile eines philosophischen Essays geschrieben ist. In den beiden Abschnitten des Buches werden die Psychologie des Bildes (einer Quasi-Theorie des Bewusstseins) und in Historiologische Diskussionen das Thema der Geschichte untersucht. Die erforschten Gegenstände sind sicherlich sehr unterschiedlich, aber letzten Endes besitzen einerseits das Thema der „Landschaft“ und andererseits das der epocheabhängigen Vorprädikative – d.h. der zugrundeliegenden Glaubensgewissheiten – in beiden Abschnitten ihre Berührungspunkte. Man kann feststellen, dass Universelle Wurzelmythen in einer engen Beziehung zu den vorhergehenden Werken steht, obwohl hier einerseits die kollektiven Bilder hervorgehoben werden und andererseits ein neuerlicher Wechsel der Darstellungsweise stattfindet. Zu diesem letzten Punkt möchte ich hinzufügen, dass ich diesen Moment, in dem wir leben, nicht für eine systematische Darstellung und einen einheitlichen Stil geeignet halte. Ich glaube vielmehr das Gegenteil, nämlich dass diese Epoche nach Vielfalt verlangt, damit die neuen Ideen ihr Ziel erreichen können.

Universelle Wurzelmythen stützt sich auf dieselbe Auffassung wie die anderen Werke, und ich glaube, dass jedes neue Werk diese ideologische Kontinuität beibehalten wird, auch wenn es von verschiedenen Themen handelt und sich sein Stil oder seine Darstellungsweise ein weiteres Mal wandelt. Es scheint mir, dass ich nun die Motive, die Anlass zum vorliegenden Werk gegeben haben, sowie die Beziehungen, die es zu den früheren Erzeugnissen hat, zusammenfassend dargelegt habe.

Nachdem wir das Vorhergehende geklärt haben, können wir in das Thema der Wurzelmythen einsteigen.

Der Gebrauch des Wortes „Mythos“ war vielfältig. Schon mit Xenophanes vor 2500 Jahren begann seine Verwendung, um jene Ausdrucksformen von Homer und Hesiod zurückzuweisen, die sich nicht auf überprüfte oder annehmbare Wahrheiten stützten. Später stellte sich der „Mythos“ in Gegensatz zum „Logos“ sowie zur „Historia“, die ihrerseits über die Dinge Auskunft gaben oder wirklich geschehene Tatsachen erzählten. Stück für Stück wurde der Mythos desakralisiert und bedeutete mit der Zeit dasselbe wie Fabel oder Fiktion, selbst wenn die Geschichten von Göttern handelten, an die die Menschen noch glaubten. Die Griechen waren auch die Ersten, die versuchten, ein ausreichendes Verständnis dieses Phänomens zu erlangen. Einige gebrauchten dafür eine Art allegorischer Interpretationsmethode und erforschten die unter der mythischen Oberfläche liegenden Hintergründe. Auf diese Weise glaubten sie, jene phantastischen Erzeugnisse wären unentwickelte Erklärungen physikalischer Gesetze oder natürlicher Phänomene. Schon in der alexandrinischen Gnostik und in der Epoche der christlichen Patristik versuchte man, den Mythos auch als eine Allegorisierung bestimmter Wirklichkeiten zu verstehen, die damals der Seele – heute würde man sagen: der Psyche – eigen waren. Mit einer zweiten Interpretationsmethode versuchte man, in den Mythen die Geschichte zu finden, welche der Morgendämmerung der Zivilisation voranging. Hier waren die Götter lediglich vage Erinnerungen, in denen die antiken Helden aus ihrer Sterblichkeit emporgehoben wurden. Gemäß dieser Interpretation wurden bestimmte historische Tatsachen durch die Mythen übermäßig aufgewertet, obwohl diese historischen Geschehnisse in Wirklichkeit viel unbedeutender waren. Diese beiden Interpretationswege, die man anwendete, um den Mythos zu verstehen (selbstverständlich gab es auch noch weitere Methoden), gelangten bis zu uns. Beiden Fällen lag die Idee der »Verformung« der Tatsachen sowie der Verzückung, die diese Verformung in einem naiven Geist hervorruft, zugrunde. Sicherlich sind die Mythen von den großen griechischen Tragikern verwendet worden, und in gewissem Mass leitet sich die Form des Theaters aus der Darstellung mythischer Ereignisse ab, aber in diesem Fall war die Verzückung der Zuschauenden rein ästhetisch und bewegte sie aufgrund der künstlerischen Qualität und nicht, weil sie an diese Darstellungen glaubten. In der Orphik, dem Pythagorismus und den neuplatonischen Strömungen gewinnt der Mythos einen neuen Sinn: Es wurde ihm eine gewisse Macht zugeschrieben, im Geist derjenigen, die mit ihm in Kontakt kommen, Veränderungen zu bewirken. So strebten die Orphiker an, durch die Darstellung der mythischen Szenen eine „Katharsis“ herbeizuführen, eine innere Reinigung, die es ihnen letztlich erlaubte, zu einem höheren Verständnis auf der Ebene der Ideen und der Gefühle emporzusteigen. Wie man sehen kann, sind alle diese Interpretationen bis zu uns gelangt und zählen zu den Ideen, die sowohl von der Öffentlichkeit im Allgemeinen als auch von den Spezialisten ohne größeres Hinterfragen verwendet werden. Offen gesagt geriet der griechische Mythos im Abendland über lange Zeit hinweg in Vergessenheit, bis er in der Renaissance und später in der Epoche der europäischen Revolutionen aufs Neue zum Vorschein kam. Die Bewunderung für die Klassiker ließ die Gelehrten wieder zu den hellenischen Quellen zurückzukehren. Die Künste wurden durch sie beeinflusst und so setzte sich die Wirkung der griechischen Mythen fort. In einer weiteren Umformung prägten sie das Fundament der neuen Disziplinen, die das mensclhiche Verhalten untersuchen. Besonders die immer noch vom bereits untergehenden Neoklassizismus geprägte und in Österreich entstandene Tiefenpsychologie ist jenen antiken Strömungen verpflichtet, obwohl sie bereits von der Anziehungskraft des romantischen Irrationalismus erfasst wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass die Themen von Ödipus, Elektra usw. von den griechischen Tragikern übernommen wurden und mit ihrer Hilfe Erklärungen über die Funktionsweise des Geistes abgegeben wurden, wobei überdies kathartische Techniken zur dramatischen Wiederbelebung psychologischer Inhalte, die den orphischen Vorstellungen folgten, angewendet wurden.

Andererseits ist es angebracht, den Mythos von der Legende, der Sage, dem Märchen und der Fabel zu unterscheiden. In der Legende wird die Geschichte de facto durch die Tradition verformt. Die epische Literatur ist reich an Beispielen dieser Art. Bezüglich des Märchens meinen Autoren wie De Vries, dass dieses sich von der Legende abgrenzt, indem es folkloristische Elemente mit einbezieht, von denen die Erzählung dann gefärbt ist. Die Sage ihrerseits lehnt sich an das Märchen an, wobei sie fast immer einen tragischen Ausgang nimmt, während das Märchen zu einem glücklichen Ende führt. Auf jeden Fall beinhalten sowohl die pessimistische Sage als auch das optimistische Märchen oft desakralisierte mythische Elemente. Eine gänzlich unterschiedliche Gattung stellt die Fabel dar, die unter dem Mantel der Fiktion eine moralische Aussage verbirgt.

Diese elementaren Unterscheidungen dienen für unsere Zwecke dazu, die Unterschiede gegenüber dem Mythos, so wie wir ihn betrachten, darzustellen, und in dem wir die Gegenwart der Götter und ihres Wirkens sehen, auch wenn es sich in den Taten von Menschen, Helden oder Halbgöttern ausdrückt. Wenn wir also von Mythen sprechen, beziehen wir uns auf einen Bereich, der von der göttlichen Gegenwart, an die man glaubt, geprägt ist und von dem alle seine Bestandteile durchdrungen sind. Etwas ganz anderes ist es, sich auf dieselben Götter zu beziehen, aber jetzt in einer desakralisierten Atmosphäre, in der sich die Glaubensvorstellung z.B. in ein ästhetisches Genießen verwandelt hat. Dies führt zu einem großen Unterschied in der Darstellung der sich gerade in Mode befindlichen Mythologien – welche die antiken Glaubensgewissheiten auf eine veräußerlichte und formale Weise beschreiben – gegenüber der sakralisierten Darstellung vom „Inneren“ der Atmosphäre heraus, in welcher der Mythos erschaffen wurde. In unserer Arbeit haben wir uns für die zweite Haltung entschieden. Aus ihr leitet sich der Respekt gegenüber den Originaltexten ab, die wir nur im Falle von Lücken oder Verständnisschwierigkeiten vervollständigt haben. Wir haben aber immer durch verschiedene Schrifttypen und die entsprechenden Anmerkungen hervorgehoben, was nicht zum Originaltext gehört. In der Tat kommt das im vorliegenden Buch häufig vor. Wenn man dies als eine parallele Neuschöpfung interpretieren wollte, sage ich, dass die Leser und Leserinnen immer das Basismaterial im Auge haben sollten, das sich von dem aus unserer Feder stammenden Text unterscheidet.*

Um mit den Unterschieden fortzufahren, sollte ich erklären, dass wir weder auf die lebendige Religion – die ohne Zweifel die Mythen begleitete – noch auf die rituellen bzw. zeremoniellen Aspekte eingegangen sind. Wir haben uns nicht mit dem Christentum, dem Islam oder dem Buddhismus beschäftigt, sondern es hat uns genügt, einige tiefe Mythen des Judentums, des Hinduismus und des Zoroastrismus darzustellen, um den gewaltigen Einfluss zu verstehen, den ihre Bilder auf die ersten drei ausgeübt haben. So wird die Idee vom Wurzelmythos und seiner Universalität meiner Ansicht nach deutlich.

Aber in der zeitgenössischen Umgangssprache weist das Wort „Mythos“ auf zwei völlig unterschiedliche Wirklichkeiten hin. Einerseits auf die phantastischen Erzählungen über die Gottheiten verschiedener Kulturen, und andererseits auf die Dinge, an die stark geglaubt wird, die aber in Wirklichkeit falsch sind. Deutlich haben beide Fakten eines gemeinsam: die Idee, dass bestimmte Glaubensgewissheiten in den Menschen tief verwurzelt sind und dass jedes rationale Argument gegen sie nur schwer vorankommt. So überrascht uns die Tatsache, dass aufgeklärte Denker des Altertums an Sachen glauben konnten, die sich unsere Kinder als Märchen vor dem Einschlafen anhören. Der Glauben an die flache Erde oder den Geozentrismus verleiten uns zu einem mitleidigen Lächeln, wobei wir verstehen, dass solche Theorien nichts anderes als Mythen waren, die eine Erklärung der Wirklichkeit lieferten, über die das wissenschaftliche Denken sein letztes Wort noch nicht gesprochen hatte. Ähnlich ist es, wenn wir einige der Dinge betrachten, an die wir noch vor wenigen Jahren geglaubt hatten, und dann bleibt uns nichts anderes übrig, als wegen unserer Naivität zu erröten – während wir gleichzeitig von neuen Mythen gefangen werden, ohne zu bemerken, dass in uns gerade dasselbe Phänomen wieder geschieht.

In diesen Zeiten schwindelerregender Veränderung unserer Welt haben wir der entsprechenden Verschiebung mancher Glaubensgewissheiten bezüglich des Individuums und der Gesellschaft, die man bis vor weniger als fünf Jahren für bare Münze genommen hatte, beigewohnt. Ich sage „Glaubensgewissheiten“ anstelle „Theorien“ oder „Lehren“, weil mir daran liegt, den Kern der Vorprädikative hervorzuheben, d.h. der Vorurteile, die vor dem Aufstellen mehr oder weniger wissenschaftlicher Schemata wirken. Genauso, wie technologische Neuigkeiten von Ausrufen wie „Phantastisch!“ oder „Unglaublich!“ begleitet werden – was einem „mündlichen“ Applaus entspricht –, gewöhnen wir uns daran, das verbreitete „Unglaublich!“ zu hören, aber diesmal im Zusammenhang mit politischen Veränderungen, mit dem Zerfall ganzer Ideologien, mit Verhaltensweisen von Persönlichkeiten und Meinungsmachern und mit dem Verhalten von Gesellschaften. Aber dieses zweite „Unglaublich!“ stimmt nicht gerade mit der Gemütsbewegung überein, die angesichts des technischen Wunders zutage tritt, sondern es bringt vielmehr Überraschung und Kummer angesichts von Phänomenen zum Ausdruck, die man nicht für möglich gehalten hatte. So glaubte ein großer Teil unserer Zeitgenossen einfach, dass die Dinge anders wären und dass die Zukunft eine andere Richtung nehmen würde.

Wir müssen also erkennen, dass wir ständig Mythen ausgesetzt waren, was Auswirkungen auf die Lebenshaltungen sowie auf die Art und Weise, das Dasein anzupacken, gehabt hat. Ich muss darauf hinweisen, dass ich Mythen nicht als absolute Unwahrheiten verstehe, sondern ganz im Gegenteil als psychologische Wahrheiten, die mit der Wahrnehmung der Welt, in der wir leben, übereinstimmen können oder nicht. Und es gibt noch etwas: Solche Glaubensgewissheiten sind nicht bloße passive Schemata, sondern Spannungen und gefühlsmäßige Klimata, die sich – in Bilder umgesetzt – zu Kräften verwandeln, die den individuellen und kollektiven Handlungen eine Richtung geben. Unabhängig von der ethischen oder exemplarischen Wirkung, von der sie manchmal begleitet werden, besitzen gewisse Glaubensgewissheiten aufgrund ihrer eigenen Natur eine enorm richtungsgebende Kraft. Wir sind uns bewusst, dass der Glaube, der sich auf die Götter bezieht, bedeutende Unterschiede zu starken, desakralisierten Glaubensgewissheiten aufweist, aber trotz deren Unterschiede erkennen wir doch in beiden gemeinsame Strukturen.

Die schwachen Glaubensvorstellungen, mit denen wir uns im alltäglichen Leben bewegen, können leicht durch andere ersetzt werden, sobald wir erkannt haben, dass wir uns in der Wahrnehmung der Ereignisse geirrt haben. Wenn wir dagegen von starken Glaubensgewissheiten sprechen – jenen Glaubensvorstellungen, auf die wir unsere umfassende Interpretation der Dinge, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere irrationalen Wertmaßstäbe stützen – berühren wir die Struktur des Mythos, den wir nicht gründlich in Frage zu stellen bereit sind, da wir selbst zu stark von ihm betroffen sind. Wenn überdies einer dieser Mythen zusammenbricht, dann tritt eine tiefe Krise ein, bei der wir uns wie vom Winde verwehte Blätter fühlen. Diese persönlichen oder kollektiven Mythen steuern unser Verhalten und von ihrer tiefgehenden Wirkung können wir nur gewisse Bilder bemerken, die uns in eine bestimmte Richtung lenken.

Jeder geschichtliche Moment besitzt starke grundlegende Glaubensgewissheiten, seine kollektive mythische Struktur, die – sakralisiert oder nicht – dem Zusammenhalt der menschlichen Gruppen dient, ihnen Identität verleiht und ihnen die Beteiligung innerhalb eines gemeinsamen Bereiches ermöglicht. Die grundlegenden Mythen einer Epoche in Frage zu stellen bedeutet, sich einer irrationalen Reaktion unterschiedlicher Intensität auszusetzen, je nach der Stärke der Kritik und je nachdem, wie tief die betroffene Glaubensgewissheit verwurzelt ist. Aber logischerweise lösen sich die Generationen zeitlich ab und die geschichtlichen Momente ändern sich. So beginnt das, was in einer früheren Zeit zurückgewiesen wurde, jetzt langsam Anklang zu finden, und zwar auf ganz natürliche Weise, so als wäre es die offensichtlichste Wahrheit.

Heute den großen Mythos des Geldes