Wie weit muss eine Mutter gehen, um ihr Kind zu schützen?
1939: Die jüdische Pianistin Eva sucht in Prag verzweifelt nach einem Weg, ihre Tochter Miriam vor den heranrückenden Deutschen in Sicherheit zu bringen. Als letzter Ausweg bleibt ihr, sie mit einem Kindertransport nach London zu schicken. Doch wie wird ihr Kind die Reise ins Ungewisse überstehen?
In England bemüht sich die Britin Pamela, der kleinen Miriam ein Zuhause zu geben, muss aber gleichzeitig um ihre eigene Familie fürchten. Während beide Mütter erst glauben, das zu verlieren, was ihnen das Liebste ist, finden sie inmitten der Kriegswirren die Hoffnung auf Glück.
»Eine warmherzige Geschichte über Liebe, Verlust und die Kraft der Menschlichkeit.« Kathryn Hughes
Über Gill Thompson
Gill Thompson studierte Kreatives Schreiben an der Chichester University. Beim Schreiben wird sie oft von wahren Begebenheiten inspiriert, besonders die Schicksale von Kindern während des Zweiten Weltkrieges liegen ihr am Herzen. Thompson lebt mit ihrer Familie in West Sussex und arbeitet dort als Englischdozentin.
Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.
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Das Kind von Gleis 1
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil II
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Teil III
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Anmerkung der Autorin
Dank
Impressum
Für Leonie und Corinne
von eurer euch liebenden Grandma
Wenn Verstehen unmöglich ist, dann ist Wissen notwendig, denn was geschehen ist, könnte wieder geschehen.
Primo Levi
Eva schob ihren Klavierschemel zurück, die Stunde war beendet. Doch als sie die Noten in ihre Mappe stecken wollte, bedeutete Professor Nowotny ihr mit einer Handbewegung, noch zu bleiben.
»Nur eine Minute, meine Liebe. Ich möchte, dass du die Noten eines neuen Stücks mit nach Hause nimmst.« Er durchsuchte den gefährlich schiefen Turm der Notenhefte auf seinem Klavier.
Eva warf einen Blick auf die Wanduhr, die halb fünf zeigte, und hoffte, er würde das Gesuchte bald finden. Im Probenraum wurde es bereits dämmrig, in den Ecken nistete sich Dunkelheit ein. Nervös legte sie die Fingerspitzen auf die vergilbten weißen Tasten des Klaviers. Als sie das vertraute, kühle Elfenbein spürte, wurde sie ruhiger.
»Ah, hier ist es.« Nowotny schnaufte vor Anstrengung. »Hector Berlioz. Eine Villanelle aus Les Nuits d’Été. Eines seiner weniger bekannten Werke.« Er schaltete die Deckenlampe ein, die Dunkelheit verflog.
»Eine Villa … nelle?«, fragte Eva. Der Begriff war ihr neu, die Zeitnot schlagartig vergessen.
Nowotny winkte sie von dem Klavierschemel fort. Eva stellte sich an seine Seite. Sie wollte ihn beim Klavierspiel beobachten.
»Ein italienisches Lied.« Nowotny ließ sich auf dem Schemel nieder. »Es ist eine Ode an den Frühling und eine neue Liebe. Also sehr schön für ein junges Mädchen.« Er setzte die Brille auf, die an einer Kordel um seinen Hals hing, und nahm sie wieder ab. »Im nächsten Jahr findet im Rudolfinum ein Konzert zu Ehren Berlioz’ statt. Ich dachte, die Villanelle könnte dein erster Soloauftritt werden.«
Eva öffnete den Mund, um ihn zu korrigieren, und schloss ihn wieder, als er ungeduldig mit der Hand wedelte.
»Die Kinderwettbewerbe zählen nicht.«
Kinderwettbewerbe? Hatte sie nicht jeden von ihnen gewonnen? Sogar der prestigeträchtige Antonín-Dvořák-Preis für junge Künstler war darunter gewesen. Ein Bild blitzte vor ihr auf. Darauf hob sie strahlend ihre Trophäe, einen schweren Notenschlüssel aus Messing, hoch. Im Geist hörte sie den tosenden Beifall.
Nowotny stellte das Notenheft auf. »Ich spiele dir etwas daraus vor. Bitte schlag die Seiten für mich um.« Wieder setzte er die Brille auf.
Eva trat näher an ihn heran und bezwang ihre Ungeduld, doch inwendig flehte sie ihn an, ihr nur einige Takte vorzuspielen.
Nowotny war ein strenger Lehrmeister, aber sie sagte sich immer, dass er das nur war, weil er an ihr Talent glaubte und sie zu Höchstleistungen antreiben wollte. Und sie war auch stets bereit, ihr Bestes zu geben, doch nun zeigte die Uhr bereits zwanzig vor fünf, und ausgerechnet an diesem Tag durfte sie nicht zu spät nach Hause kommen.
»Wenn du darauf achtest, hörst du, wie die Liebenden durch den Wald gehen und wilde Erdbeeren pflücken.«
Bei dem Wort »Liebenden« errötete Eva. Manchmal sprach Nowotny mit ihr, als wäre sie nicht erst sechzehn Jahre alt. Doch als er zu spielen begann, hörte sie tatsächlich leichte Schritte, und ihr war, als spürte sie eine frische Frühlingsbrise.
Sie schaute auf die Noten, dann auf Nowotnys Finger, die die Noten zu einer lebhaften Melodie umwandelten. Fröhlich und neckend.
Für Eva waren Noten von jeher wie Menschen gewesen. Miteinander verbundene Achtelnoten – die kurzen – erschienen ihr wie Jungen, die mit dünnen Beinen und zu groß wirkenden Fußballschuhen über einen Bolzplatz tobten. Oder wie eine Gruppe Männer und Frauen, die eine Lúčnica tanzten, die Arme auf den Rücken miteinander verschränkt. Die Viertelnoten waren Lehrer, die steif und aufrecht vor einer Klasse standen, die langen halben Noten berühmte Generäle, die eine Armee ohne große Worte beherrschten. Wäre sie selbst eine Note, wäre sie eine ganze – vielleicht sogar eine Doppelganze, allein und kraftvoll, umgeben von Stille.
Mit einer schwungvollen Geste beendete Nowotny die Villanelle und überreichte Eva die Noten. »Das ist deine Hausaufgabe. Fang heute Abend damit an.« Das Frühlingsversprechen wurde von der zunehmenden Dämmerung des Herbsttages verschluckt, gleich würde die Sonne untergehen. Evas Magen verkrampfte sich.
Sie stopfte die Notenblätter in ihre Mappe und streifte ihre Jacke über. »Vielen Dank, Professor Nowotny. Ich werde die Villanelle üben.«
»Darum bitte ich. Ich erwarte, dass du sie mir in der nächsten Stunde fehlerlos vorspielen kannst.«
Eva griff nach dem Türknauf. Noch einmal huschte ihr Blick zur Wanduhr. Kurz vor fünf. Die Villanelle hatte zu lange gedauert. Sie würde wie ein Pfeil nach Hause fliegen müssen.
»Auf Wiedersehen, meine Liebe.«
»Auf Wiedersehen, Professor! Vielen Dank für die Stunde.«
Nowotny deutete eine Verneigung an. Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich auf seinem kahlen Schädel. Eva schlüpfte durch die Tür.
Draußen klemmte sie die Notenmappe unter ihren Arm und rannte durch die Straßen, bis sie keuchte und ihre Brust schmerzte. Doch Berlioz’ Villanelle ging ihr nicht aus dem Sinn, ihre Schritte nahmen den Takt des Stücks auf. In Gedanken lief sie mit einem Jungen, der ihr Liebster war, durch einen Wald, hinaus aus der Enge der Stadt. Sie hörte den Gesang der Vögel, roch den Duft der Walderdbeeren. Sie spürte den Atem des Jungen auf ihrer Wange, und als sie stehen blieben, seinen Mund auf ihren Lippen. Die Farbe ihres vom Laufen geröteten Gesichts vertiefte sich, als sie sich vorstellte, wie er sich an sie drängte.
Erst als ihr Kaffeegeruch in die Nase stieg, verflogen ihre Träumereien und sie wusste wieder, wo sie war – am Café Imperial, einem der großen, traditionsreichen Kaffeehäuser der Stadt. Aus dem Augenwinkel nahm sie die Gäste hinter den Fenstern wahr, schattenhafte Gestalten, die Tassen an ihre Münder führten, sich gestikulierend unterhielten und rauchten. Wie schön es wäre, dort mit Freunden an einem Tisch zu sitzen und zu plaudern, statt wie gehetzt durch die Straßen zu jagen.
Zwischen den Häusern schienen die letzten blassen Sonnenstrahlen auf. Im Geist sah Eva ihre Mutter. Die Hausarbeit würde beendet sein, die Challa unter dem Spitzendeckchen liegen, ein frisch gebackener Hefezopf mit glänzender Eierlasur. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter die Sabbatkerzen in dem silbernen, auf Hochglanz polierten Leuchter schon angezündet.
Ihr Vater, in schwarzem Anzug und Gebetsmantel, würde den Kidduschbecher mit süßem Wein füllen und den Segen für die Töchter vor sich hin murmeln, den er später mit einer Hand auf Evas Kopf sprechen würde.
Der Ewige lasse dich werden wie Sara, Riwka, Rachel und Lea.
Er segne und behüte dich.
Er lasse dir Sein Angesicht leuchten und sei dir gnädig.
Er wende dir Sein Angesicht zu und gebe dir Frieden.
Hätte Eva Brüder, würde ihr Vater den Herrn bitten, sie wie Ephraim und Manasse werden zu lassen, zwei alttestamentarische Brüder, die miteinander in Einklang gelebt hatten. Doch ihre Eltern hatten nur Eva, ihr geliebtes Kind.
Eva lief an der Moldau entlang. Über dem Fluss stieg der erste Abendnebel auf. Normalerweise beendete Nowotny die Klavierstunde pünktlich, dann konnte sie den gut beleuchteten Straßen folgen, die zur Josefstadt führten, dem jüdischen Viertel von Prag. Doch so viel Zeit hatte sie nicht mehr. Falls sie rechtzeitig nach Hause kommen wollte, musste sie den kürzeren Weg über den Alten Jüdischen Friedhof nehmen.
Am Friedhofstor angekommen, blieb sie unschlüssig stehen. Sollte sie es wagen? Sie dachte daran, wie oft ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, sich abends an die Hauptstraßen zu halten, die hell und voller Menschen waren. Sie wären der längere, aber auch der sicherere Weg.
Eva betrachtete die schmalen, gewundenen Pfade, die an den Grabsteinen entlangführten. Es waren alte Steine, die so dicht zusammenstanden, als hätte man die Gräber in Eile und ohne Plan ausgehoben, statt sie wie auf modernen Friedhöfen in ordentlichen Reihen anzulegen.
Der Wind fuhr durch die Bäume und ließ die Zweige zittern. Um ihr aufgeregt schlagendes Herz zu beruhigen, stellte Eva sich vor, sie würde im Rudolfinum auf einem glänzenden, schwarzen Steinway-Flügel spielen und das Publikum im dunklen Konzertsaal lausche ihr andächtig.
Sie drückte gegen das schwere, dunkle Eisentor, das leise quietschend nachgab. Vielleicht war das ein Zeichen, dass sie die Abkürzung durch den Friedhof nehmen sollte.
Sie dachte an die Villanelle, wollte mit der Frühlingsmelodie die Furcht vertreiben und glitt durch die Pforte.
Auf dem Pfad, dem sie folgte, hatte der Abendtau das von den Bäumen abgefallene Herbstlaub feucht werden lassen. Kriechpflanzen hefteten sich mit winzigen Kletten an Evas Strümpfe, sie versuchte sie abzuschütteln. Rennen konnte sie nicht mehr, dazu standen die Grabsteine zu dicht zusammen. Trotzdem versuchte sie, so schnell wie möglich vorwärtszukommen, und lauerte mit geschärften Sinnen, ob von irgendwoher Gefahr drohte.
Hohe Rosskastanien und Ahornbäume schirmten sie vom letzten Tageslicht ab. Die verwitterten hebräischen Inschriften auf den Grabsteinen waren nicht mehr zu erkennen. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass in einigen Gräbern mehr als zehn Tote bestattet waren, die, um Platz zu sparen, alle aufeinanderlagen. Trotz ihrer warmen Jacke überlief Eva ein Schauder.
Sie hatte ungefähr die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als sie glaubte, Schritte und raues Gelächter zu hören.
Sie erstarrte. »Ist da jemand?«, fragte sie unsicher.
Keine Antwort. Doch ihr war, als könnte sie zwischen den Grabsteinen eine helle Jacke erkennen. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.
»Hallo? Ist da jemand?«, fragte sie noch einmal.
Eine Gestalt in Uniform löste sich aus den Bäumen – ein junger Mann von siebzehn oder achtzehn Jahren. Das blonde Haar fiel ihm in die Stirn.
»Wen haben wir denn da?«, fragte er spöttisch und lüstern zugleich. »Ist das eine junge Dame?«
Eva zog ihre Jacke enger um sich, ihr Herz schlug ihr nun bis zum Hals.
Ein zweiter junger Mann trat zwischen den Bäumen hervor. Und dann ein dritter. Eva wandte sich ab, doch in dem Moment tauchten zwei weitere Jungen auf. Alle fünf waren nur wenig älter als sie und trugen zu kurzen schwarzen Hosen hellbraune Blousons mit roten Armbinden, darauf das schwarze Hakenkreuz der deutschen Nationalsozialisten.
Eva fragte sich, ob ihre Mutter eine Situation wie diese vor Augen gehabt hatte, als sie ihr verbot, abends durch diesen Friedhof zu laufen. Sie hatte ihr jedes Mal versprochen, es nicht zu tun, insgeheim aber gedacht, dass die Sorge ihrer Mutter übertrieben und für Eltern typisch sei. Doch seit Kurzem hatte auch sie beim Anblick uniformierter, deutschstämmiger Jungen, die an den Straßenecken herumlungerten, sich etwas zuraunten und auf den ein oder anderen Passanten deuteten, Unbehagen empfunden. Ebenso wie die fünf, die sie umringten, gehörten sie zur sogenannten Hitlerjugend und waren wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Eva spürte die Bedrohung, die von den Jungen ausging, und vor Angst wurde ihr Mund trocken. Nun wünschte sie, sie hätte auf ihre Mutter gehört und den langen Weg genommen.
Einer der Jungen trat zu ihr. »Ein hübsches Mädchen wie du braucht doch keine Angst zu haben.«
Eva befahl sich, nicht zurückzuweichen. Doch als sie Luft holte und um Hilfe rufen wollte, hielt der Junge ihr den Mund zu.
Eva warf den anderen flehende Blicke zu.
Der Druck auf ihrem Mund ließ nach. Die Hand schwebte in der Luft, konnte jeden Moment wieder zudrücken.
»Was für eine schöne Jacke.« Die Hand des Jungen senkte sich und strich über ihren Arm. Eva roch seinen sauren Atem und verzog das Gesicht.
Langsam knöpfte er die Jacke auf.
Die anderen Jungen sahen zu.
»Haltet sie fest.«
Als er ihr die Jacke ausziehen wollte, wehrte Eva sich, doch ein anderer packte sie und hielt sie fest.
Der erste Junge streichelte Evas Wange, fuhr mit dem Finger an ihrem Kinn entlang, über ihren Hals, bis hinunter zum Schlüsselbein. Er zog an ihrer Goldkette. Eva verfolgte sein Tun wie gelähmt.
»Was für eine schöne Kette«, sagte er leise.
Wollte er sie stehlen? Aus Gründen, die Eva selbst nicht verstand, zog sie die Kette unter ihrem Blusenkragen hervor und umklammerte den Anhänger, den goldenen Davidstern, der von ihrer Bluse verdeckt worden war.
Der Junge löste ihre Finger von der Kette und betrachtete den Anhänger im dämmrigen Abendlicht.
Nicht weit entfernt ging eine Friedhofslaterne an.
Eva spürte, wie er die Kette enger um ihren Hals zog, und unterdrückte einen Schmerzenslaut.
»Ein Judenstern. Wie interessant.« Der Junge sah Eva an, richtete seine Worte jedoch an seine Kameraden. Die brachen in höhnisches Gelächter aus.
Abrupt ließ er die Kette los. »Das Mädchen ist nichts für mich.« Mit hartem Gesichtsausdruck stieß er Eva von sich. »Otto kann sie haben.« Er winkte den Kleinsten aus der Gruppe zu sich.
Eva hatte den Atem angehalten, nun atmete sie langsam aus. Ob sie es schaffen würde, zu fliehen? Der Junge, der offensichtlich der Anführer war, hatte sich von ihr abgewandt. War das ihre Chance, an ihm vorbeizukommen? Sie machte sich bereit, loszustürmen, doch begleitet von spöttischen Kommentaren wurde Otto zu ihr geschubst. Der Kreis um sie schloss sich wieder.
Otto war nicht nur klein, sondern auch schmächtig, das Haar so blond, dass es beinahe weiß wirkte, die Wimpern so hell, dass man sie kaum erkennen konnte.
Wäre sie allein mit ihm gewesen, hätte Eva mit ihm gekämpft. Sie war kein Feigling. Sie hätte ihn getreten, geschlagen und bespuckt, bis er von ihr abgelassen hätte. Doch gegen fünf Jungen auf einmal kam sie nicht an.
Auf der Suche nach einer Waffe griff Eva hinter sich und berührte einen Grabstein. Ihre Hoffnung war, dass Besucher des Grabs dort Steine hinterlassen hatten, wie es Tradition war. Doch da lag nichts.
»Los, Otto, oder hast du Angst?« Der Anführer der Gruppe lehnte sich gegen einen Grabstein und musterte Otto verächtlich.
»Jetzt mach, Otto, oder sollen wir uns hier den Hintern abfrieren?«
Eva verstand jedes Wort. Alle Juden in der Josefstadt sprachen Deutsch. Ihre Brust verkrampfte sich.
»Bitte tut mir nichts. Ich muss nach Hause, meine Eltern warten auf mich.« Wie hoch und dünn ihre Stimme klang. Wie hilflos.
Otto wirkte unentschlossen. Vielleicht gelang es ihr, sein Ehrgefühl zu wecken oder ihn auf andere Art umzustimmen. Sie könnte ihm erklären, dass sie zur Feier des Sabbats nach Hause müsse. Womöglich ließe er sie dann gehen.
Doch als die anderen Jungen begannen, Otto zu hänseln und vor ihrem Schritt Gesten mit der Hand machten, die Eva nicht richtig verstand, reagierte er auf die Provokationen. Seine Augen wurden schmal, seine Lippen spitzten sich. Und dann spuckte er ihr ins Gesicht.
Eva ließ den Speichel über ihre Wange rinnen, wagte es nicht, ihn abzuwischen.
Er riss ihre Kette ab und warf sie fort. Die Jungen johlten.
Einer von ihnen zerrte Eva mit einem einzigen brutalen Ruck die Bluse herunter. Sie hörte, wie der zarte Seidenstoff zerriss.
Grobe Hände packten Eva, zerfetzten gierig ihre Strümpfe, ihre Gesichter nur noch schweißglänzende Fratzen, die Luft erfüllt von ihrem Bieratem. Dann stimmten sie ein Lied an, ein ekelhaftes Trinklied, das sie wild durcheinandergrölten.
Eva schlang die Arme um ihren Oberkörper, wollte sich schützen und ihre Blöße bedecken, doch einer der Jungen zog ihre Arme fort.
Jemand stieß brutal gegen ihre Brust, und Eva ging zu Boden.
Die Jungen zogen den Kreis um sie enger.
Später, als sie wieder zu sich kam, war der klagende Ruf einer Eule das Erste, was sie hörte.
Sie tastete über die kalte, feuchte Erde, roch das modrige Laub. Als Nächstes stieg ihr der animalische Geruch ihres eigenen Blutes in die Nase. Sie rollte ihren geschundenen Körper zu einem Ball zusammen, versuchte, den Gestank auszublenden und das hysterische Lachen des Jungen namens Otto zu vergessen.
Die Zeit für den Sabbatsegen war längst verstrichen. Evas Eltern saßen bestimmt am gedeckten Tisch und fragten sich voll Sorge, wo ihre Tochter geblieben war, die doch wusste, dass gute Juden an diesem Abend bei Sonnenuntergang im Haus sein mussten.
Pamela robbte unter das Bett ihres Sohnes und hörte gedämpft, dass ihr Mann unten nach ihr rief. Sie streckte ihre Hand etwas weiter, spürte das Ziehen in ihrer Schulter und angelte die Socke hervor. Dann schob sie sich zurück und stand auf.
»Ich komme.« Sie schüttelte die Socke aus, konnte nicht fassen, wie viel Staub sich darauf gesammelt hatte. Und wie war sie überhaupt ganz hinten unter das Bett gelangt? Aber wenigstens hatte Will nun ein weiteres vollständiges Paar. Er selbst hätte sich nie die Mühe gemacht, danach zu suchen.
Pamela rollte die beiden Socken zu einem Ball zusammen, verstaute ihn in der Reisetruhe und rief: »Es ist alles gepackt, Hugh.«
Sie hörte ihren Mann die Treppe hinaufpoltern.
»Will sitzt schon im Auto«, sagte er und hob die Truhe an. »Verdammt, Pamela, was um alles in der Welt ist da drin?«
Pamela nahm den zweiten Tragegriff und folgte ihrem Mann. »Die Schule wollte, dass Will bereits jetzt seine Kricket-Ausrüstung mitbringt. Das Training der Jungen beginnt gleich nach den Ferien.«
Sie hatten die teure Ausstattung neu kaufen müssen. Für die Kleidung waren sie zu Harrods gefahren. Als ihr Sohn dort in weißem Flanell aus der Umkleidekabine kam, tat er, als wolle er Hugh einen Ball zuspielen, und Hugh tat, als schlüge er ihn zurück.
Pamela sagte sich ständig, wie gut es war, dass Will die kräftige Statur seines Vaters geerbt hatte und ebenso sportlich wie er war. Anfangs hatte sie befürchtet, die anderen Jungen auf der Cheam School könnten ihren Sohn schikanieren, aber Will kam zurecht. Dank seiner sportlichen Fähigkeiten wurde er sowohl von den Schülern als auch den Lehrern geschätzt.
Es war nicht ganz einfach, die schwere Truhe die Treppe hinunterzubugsieren. Ein ums andere Mal schlug sie gegen Pamelas Knie, und sie dachte, eine Laufmasche würde ihr jetzt gerade noch fehlen – aber noch war kein verräterisches Reißen zu spüren. Zudem war ihr Kleid wadenlang, solange sie stand, würde man eine Laufmasche kaum erkennen. Davon abgesehen würden sie sich nicht lange in der Schule aufhalten. Sie würde Will zum Abschied nur kurz drücken, Tränen waren verboten, und dann würde er nach den langen Ferien zu seinen Freunden gehen wollen. Sie und Hugh würden still und ein wenig schwermütig zurückfahren.
Unten an der Treppe übernahm Hugh die Reisetruhe und versuchte, sie über die Schwelle der Haustür zu zerren. »Wo ist Kitty?«, erkundigte er sich nach ihrem Hausmädchen.
»In der Küche, sie bereitet das Essen vor. Heute Abend kommen die Pallisers, hast du das vergessen?«
An den Tagen, an denen sie Will zurück zur Schule fuhren, lud Hugh häufig für abends Gäste ein. Pamela nahm an, dass er sich auf diese Weise von seinem Trennungsschmerz ablenken wollte.
»Sie könnte uns trotzdem helfen.«
»Das schaffen wir auch allein.« Wieder nahm Pamela den zweiten Griff, und gemeinsam mit ihrem Mann schleppte sie die Truhe zum Wagen.
Es war Pamela unangenehm, Kitty zusätzlich zur Hausarbeit Aufträge zu erteilen. Zwar war ihr klar, dass eine Dienstbotin keine Freundin war, dennoch widerstrebte es ihr, einer Frau etwas zu befehlen, sie äußerte lieber Bitten. Früher bei ihr zu Hause hatten sie und ihre Geschwister ihrer Mutter geholfen. Sie hatten gar nicht genug Geld gehabt, um Dienstboten einzustellen – und selbst wenn das Geld vorhanden gewesen wäre, hätten die Leute in ihrer Nachbarschaft sie mit einem Dienstmädchen für hochgestochen gehalten.
Hugh knallte die Heckklappe zu. Pamela ließ sich bei Will auf dem Rücksitz nieder und legte einen Arm um ihn. Er schmiegte sich an sie. Pamela schluckte gerührt. Ihr graute vor dem Tag, wenn Will sie nicht mehr umarmen und ihr nicht mehr gestatten würde, ihm über das dichte, dunkle Haar zu streichen. Zurzeit konnte es noch geschehen, dass er sich abends, wenn er müde war, auf dem Sofa an sie kuschelte. Einmal, als er dachte, sie sähe es nicht, hatte er sogar seinen Daumen in den Mund gesteckt. Hugh hätte ihn dafür gescholten. Du solltest dich schämen, hätte er gesagt. Ein Junge in deinem Alter, der sich wie ein Baby benimmt. Pamela ließ Will gewähren. Es reichte aus, wenn er sein Bedürfnis nach Trost und Geborgenheit in der Schule unterdrücken musste.
Will war elf Jahre alt und kurz vor der Pubertät. Das nächste Mal würde er in den Osterferien nach Hause kommen und wieder ein Stück gewachsen sein. Sie musste seine Zärtlichkeiten auskosten, bald würde es sie nicht mehr geben.
Will löste sich von ihr und blickte aus dem Fenster.
»Alles klar?«, fragte Pamela.
Er wandte sich zu ihr um und nickte.
»Freust du dich auf das neue Trimester?«
»Ziemlich. Dann bin ich wieder bei meinen Freunden und kann mal hören, was sie alles zu Weihnachten bekommen haben.«
Hugh und Pamela waren Quäker oder Mitglieder der »Religiösen Gesellschaft der Freunde«, wie man sie auch nannte. Sie feierten kein Weihnachten. Pamela war sicher, für Will war es nicht einfach, die großartigen Geschenke seiner Freunde neidlos zu verkraften. Das war eines der Probleme dabei, ihn nicht auf eine Schule der Quäker geschickt zu haben.
»Wie schön.« Pamela drückte Wills Schulter. »Wahrscheinlich willst du ihnen auch deine neue Kricket-Ausrüstung vorführen.«
Will lachte. »Mum, jeder bei uns in der Schule hat die.«
»Ach so.« Pamela rang sich ein Lächeln ab.
»Bei deinem nächsten Besuch musst du mir zeigen, was für neue Tricks du beim Training gelernt hast«, sagte Hugh über die Schulter.
»Darauf kannst du wetten.«
»Auf die Tage freue ich mich jetzt schon«, sagte Pamela. »Bis dahin sind es nur noch vier Wochen.«
»Sag bloß, du zählst die Wochen.«
Pamela blickte in das heitere Gesicht ihres Sohnes, sah die geröteten Wangen, die glänzenden Augen. Natürlich zählte sie die Wochen, Tage, Stunden bis zu seinem nächsten Besuch. Immerzu tat sie es.
Später, als sie wieder zu Hause war, stieg Pamela die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu Wills Zimmer. Muffige, abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Schon jetzt wirkte der Raum verwaist, gerade als hätte Will hier nicht vier wundervolle Ferienwochen verbracht.
Sie nahm den alten, gestreiften Flanellschlafanzug ihres Sohnes und faltete ihn sorgfältig zusammen. Er war Will zu klein geworden, für die Schule hatten sie ihm neue Kleidung kaufen müssen.
Kitty würde den Schlafanzug waschen und dann zerschneiden wollen, um aus den Einzelteilen Staubtücher zu machen. Pamela beschloss, ihn ihr noch nicht zu geben.
Schon jetzt vermisste sie ihren Sohn. Tränen traten in ihre Augen und liefen über ihre Wangen. Sie schluckte krampfhaft und ging ins Bad, um die Spuren auf ihrem Gesicht zu überpudern.
Anschließend lief sie nach unten, um nach Kitty zu sehen. Das Abendessen hatten sie bereits vor Tagen durchgesprochen: Es würde Hühnergeschnetzeltes in Rahmsoße geben, Spinat, Kartoffeln und zum Nachtisch Birne à la condé.
Pamela hatte sich absichtlich für ein einfaches Menü entschieden. Irgendetwas in ihr störte sich an aufwendigen Gerichten – erst recht, wenn Freunde zu Besuch kamen, die wie die Pallisers Geldprobleme hatten. Sie hatten ihre Köchin entlassen müssen, Josephine kochte nun selbst. Es war Pamela peinlich, dass es mit Hughs Karriere aufwärtsging, wohingegen ihre Freunde finanziell zu kämpfen hatten. Sie wollte ihnen etwas Gutes anbieten, ohne sie zu beschämen.
Kitty stand am Herd und rührte den Inhalt eines Topfes um. Auf dem großen Küchentisch hinter ihr reihten sich mit militärischer Präzision ausgerichtete Schalen, Teller und Schüsseln, daneben das ausgenommene Huhn und die Schüssel Birnen.
»Alles klar?«, fragte sie.
»Ja, Ma’am. Alles unter Kontrolle.«
»Vielleicht solltest du das Huhn kochen, eine Brühe zubereiten. Das würde mir morgen als Mittagessen reichen.« So hatten sie es früher zu Hause gehalten. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass sie von einem Suppenhuhn drei Tage lang zehren konnten, obwohl sie zu sechst gewesen waren. Sicher, am dritten Tag musste man Glück haben, um in der wässrigen Masse aus Perlgraupen und Gemüse noch eine Fleischfaser zu entdecken, aber war das so schlimm gewesen?
»Gerne.« Kitty drehte am Schalter der Herdplatte. Das Blubbern der Suppe ließ nach.
»Kann ich irgendetwas tun?«
Kitty sah sich in der Küche um. »Sie könnten die Tischkarten schreiben.«
»Richtig. Das mache ich sofort.« Pamela machte kehrt, um die Karten an ihrem Sekretär im Salon zu schreiben, und glaubte, in ihrem Rücken einen erleichterten Seufzer zu hören.
Als sie am Abend vor Hugh stand, um ihm seine dunkle Seidenkrawatte zu binden, fragte sie sich zum gefühlt hundertsten Mal, wie aus dem scheuen Quäkerjungen, den sie einst im Gebetsraum kennengelernt hatte, ein so erfolgreicher, selbstbewusster Mann hatte werden können. Inzwischen schien er die Genügsamkeit, die zu seiner Erziehung gehört hatte, mit jedem Karriereschritt im Foreign Office ein wenig mehr zu vergessen und die extravagante Lebensart seiner Kollegen – die teure Kleidung und die kostspieligen Mahlzeiten – mit erschreckender Leichtigkeit zu übernehmen. Sogar die Konzerte und Opern, bei denen sie sich zeigen mussten, schien er zu genießen. Pamela gefielen diese Veranstaltungen ebenfalls, wie sie sich mitunter verschämt eingestand.
Sie trat an den Spiegel und strich über ihr blaues Seidenkleid. Es war eine gedeckte Farbe, der Schnitt einfach. Schmuck trug sie nicht. Dennoch sah sie mehr wie eine Dame der Gesellschaft aus als wie jemand, der in den bescheidensten Verhältnissen aufgewachsen war.
Sie hob ihr Kinn und tupfte etwas von ihrem Chanel-Parfum auf ihren Hals. Hatten sie und Hugh sich so leicht vom Geld verführen lassen? Sie arbeitete für das Hilfswerk der Quäker, sammelte Kleidung und Nahrung für notleidende Kinder in Europa und wurde beinahe täglich daran erinnert, dass es zahllosen Menschen schlechter ging als ihr und Hugh. Ihre Hoffnung war, dass sie mit Hughs steigendem politischen Einfluss mehr für mittellose Familien auf dem Kontinent tun konnte.
Während des Essens mit ihren Freunden drehte sich die Unterhaltung ausschließlich um Finanzielles – die Wall Street, den Goldstandard, die Haushaltsreform der Regierung. Es fiel Pamela schwer, sich auf die Themen zu konzentrieren. Stattdessen sorgte sie sich, ob das Huhn nicht vielleicht zu salzig war oder die Kartoffeln zu weich waren, vergewisserte sich, dass Kitty ihren Gästen Wein nachschenkte und Hugh nicht zu viel trank.
Als sie seinerzeit begannen, Abendessen zu geben, hatten sie und Hugh lange über die Frage, ob sie Alkohol anbieten durften, diskutiert. Quäker lehnten den Konsum von Alkohol ab, doch Hugh war der Auffassung, dass sie ihren Gästen nicht ihre Sitten aufzwingen sollten. Pamela hatte ihm nur widerstrebend zugestimmt. Es behagte ihr auch nicht, dass Hugh mittlerweile sowohl zu Hause als auch in Gesellschaft ohne die geringsten Skrupel trank.
Als Kitty für die Männer Portwein brachte, atmete Pamela auf. Sie und Josephine setzten sich zum Kaffee ins Wohnzimmer.
Während des Essens war Josephine auffallend schweigsam gewesen. Pamela schenkte ihr Kaffee ein und reichte ihr die Tasse. »Ist es noch immer nicht besser?«, fragte sie vorsichtig.
Früher hatte man Pamela ihre Herkunft aus dem Londoner East End angehört, doch mittlerweile sprach sie ebenso kultiviert wie ihre Freundin, es war ihr bereits zur zweiten Natur geworden. Und wieder war etwas von dem, was einmal zu ihr gehört hatte, verloren gegangen. Doch Hugh hatte ihr erklärt, wie wichtig es sei, sich anzupassen.
Josephine schüttelte den Kopf. »Wenn Philip nicht bald eine vernünftige Arbeit findet, wirst du uns von den Lebensmitteln abgeben müssen, die du für die ausländischen Kinder sammelst.« Ihre Miene wurde bitter.
Mit einer unsanften Bewegung stellte Pamela die Kaffeekanne ab. »Du weißt, dass wir jederzeit bereit sind, euch zu helfen.«
»Ja, natürlich.« Ihre Freundin seufzte. »Trotzdem frage ich mich, warum du so viel für die Kinder in Europa tust. Es gibt auch englische Kinder, die Not leiden.«
Pamela schenkte sich Kaffee ein. »Quäker denken nicht in Nationalitäten. Für uns sind alle Menschen gleich. Und wenn jemand in Not ist, versuchen wir zu helfen.«
»Sehr lobenswert«, murmelte Josephine und nahm einen Schluck Kaffee.
Pamela lächelte gezwungen. Sie wusste, dass die Pallisers gegen ihre Hilfsaktionen außerhalb Englands waren, doch sie würde nicht davon ablassen, ganz gleich, was andere davon hielten.
Sie wechselten das Thema und begannen über ihre Kinder zu sprechen. Josephine und Philip hatten einen Sohn und zwei Töchter. James, der Junge, war ebenfalls auf der Cheam, allerdings eine Klasse über Will. Gott sei Dank hatten sie ihn nicht von der Schule nehmen müssen, James hatte ein Stipendium. Hin und wieder holten sie oder die Pallisers beide Jungen vor den Ferien ab und fuhren sie hinterher zurück, außer zu Beginn eines neuen Schuljahrs, wenn sie zu viel Gepäck hatten.
Die Mädchen besuchten die Sarum Hall School in Hampstead, auch wenn es für die Eltern schwierig war, die Schulgebühren zu bezahlen. Pamela beneidete Josephine darum, dass sie ihre Töchter morgens zu Fuß zur Schule bringen und am Nachmittag abholen konnte. Sie fand es schön, wenn man abends zusammen mit den Kindern essen und, wenn sie schliefen, noch einmal nach ihnen schauen konnte. Man sah das vom Schlaf zerwühlte Haar, hörte sie atmen, konnte sie trösten, wenn sie schlecht geträumt hatten. Sie durfte nicht daran denken, dass Will nachts unter einer grauen Wolldecke fror und in einem kalten Schlafsaal auf einer durchgelegenen Matratze einzuschlafen versuchte. Je höher die Schulgebühren, desto spartanischer schien die Unterkunft der Schüler zu sein. Doch sie hatten nun einmal entschieden, Will in ein Internat zu geben – oder zumindest Hugh hatte es getan.
Die Pallisers verabschiedeten sich vor Mitternacht, wofür Pamela ihnen dankbar war.
Erleichtert legte sie im Schlafzimmer ihr Korsett ab und streifte ein Flanellnachthemd über. Dann ließ sie sich an ihrem Toilettentisch nieder und trug ihre Cold Cream auf.
Hugh hatte sich im Bett aufgesetzt und blätterte in einer zerknitterten Ausgabe der Times.
»Ist mit Josephine alles in Ordnung?«, kam seine Stimme hinter der Zeitung hervor.
»Ich denke schon.« Pamela bürstete ihr Haar. Als Kind hatte ihr Haar bis über ihren Rücken gereicht, und sie hatte es jeden Abend hundert Mal gebürstet. Das tat sie nun nicht mehr. Mittlerweile trug sie es in kurzen Wellen, die ihr Gesicht rahmten. Würde sie es länger bürsten, wäre die teure Dauerwelle, die sie sich machen ließ, ruiniert. Sie lockerte ihr Haar mit den Fingern. »Ich glaube, dass sie den Gürtel enger schnallen müssen.«
»Das hat Philip auch gesagt. Armer Kerl.«
Pamela stieg ins Bett und schob sich unter der Zeitung in Hughs Händen hindurch an seine Brust. »Aber Josephine hat wenigstens das Glück, ihre Töchter bei sich zu haben.«
Hugh faltete die Zeitung zusammen und ließ sie zu Boden fallen. Er legte einen Arm um Pamela und zog sie an sich. »Ich weiß, wie sehr du Will vermisst, aber Cheam ist gut für ihn. Dort lernt er die richtigen Leute kennen.«
Pamela rückte ein wenig von ihm ab. »Die ›richtigen Leute‹? Es gibt keine aufrechteren Menschen als uns Quäker. Nach der Cheam schicken wir ihn auf die Leighton Park. Dann ist er endlich auf einer Quäkerschule.«
Hugh ließ sie los und schüttelte sein Kopfkissen auf. »Die Pallisers hoffen, dass James es mit einem Stipendium aufs Marlborough College schafft. So etwas sollten wir auch in Erwägung ziehen.«
Pamela legte sich zurück. »Ich dachte, wir wären uns einig. Du warst doch auch gern auf der Leighton Park.«
»Ja, aber mein Vater hat nicht im Foreign Office gearbeitet.«
Pamela konnte den Portwein in seinem Atem riechen. Offenbar hatte er mehr als ein Glas getrunken. »Hast du nie Angst, dass wir unserem Glauben untreu werden?«
Hugh schloss die Augen und schwieg für so lange Zeit, dass Pamela annahm, er sei eingeschlafen. Doch dann murmelte er: »Im Herzen bin ich noch immer Quäker. Viele von uns arbeiten in der Regierung. Von innen heraus können wir mehr Gutes tun als von außen.«
Pamela drehte sich zu ihm um und wollte etwas antworten, doch nun war er tatsächlich eingeschlafen.
Tapeten mit Beflockung waren Eva zuwider. Die Musterung, die wie Samt aussehen sollte und mit den Jahren von fettigen Fingern abgerieben wurde, der fürchterliche Glanz des Untergrunds, das Spießertum derer, die sich für eine solche Tapete entschieden, um vornehm zu wirken, all das ging ihr gegen den Strich.
Im Licht der Morgendämmerung schimmerte der goldfarbene Untergrund der Tapete grünlich und erinnerte Eva an Galle. Um die Farbe nicht sehen zu müssen, schloss sie die Augen. Schlafen konnte sie nicht mehr.
Wieder hatte sie ihren Albtraum gehabt. Selbst nach drei Jahren waren die Bilder noch so lebendig wie an dem Tag des Geschehens, und in ihren Ohren hallte das höhnische Gelächter der Jungen nach.
Josef schlief noch und schnarchte. Es klang wie ein Röcheln, vielleicht war er tatsächlich krank. Am vergangenen Abend hatte er verkündet, dass er sich erkältet habe, die Beschwerden jedoch mit wissenschaftlicher Präzision eine »Virusinfektion der oberen Atemwege« genannt. Ihr Mann bekam keine normale Erkältung.
Wie sehr sich ihr Leben seit jener Nacht auf dem Alten Jüdischen Friedhof verändert hatte … Manchmal konnte sie es selbst nicht glauben. Von dem Mädchen, das damals nach dem Klavierunterricht nach Hause eilen wollte, war sie mittlerweile endlos weit entfernt. Sie führte einen Haushalt, war die Ehefrau eines viel älteren Mannes. So hatte sie sich ihre Zukunft früher nicht vorgestellt. Doch nach jener schrecklichen Nacht war für sie nichts mehr wie zuvor gewesen.
Vorsichtig legte sie sich auf die Seite. Seltsamerweise hob sich dabei ihr Magen. Auch ihre Eingeweide fühlten sich merkwürdig an, formlos, beinah flüssig. Hatte sie am vergangenen Abend überhaupt etwas gegessen? Doch, das hatte sie. Bei der Erinnerung an das schwere Rindsgulasch, das sie einen halben Tag lang zubereitet und gerührt hatte, wurde ihr übel. Aber Josef hatte es geschmeckt. Er hatte beim Essen geschmatzt, sie für ihre Kochkunst gelobt, davon geredet, dass rotes Fleisch gut für den Eisenhaushalt sei. Eva hatte kaum etwas zu sich genommen, nur so viel, um für einen Moment den metallischen Geschmack in ihrem Mund loszuwerden, an dem sie seit Tagen litt.
In der Hoffnung, dass sie sich im Sitzen besser fühlte, richtete sie sich auf. Doch nun wurde ihr schwindelig, und sie lehnte sich gegen das hölzerne Kopfteil des Betts.
Erneut schloss sie die Augen. Bald würde Josef nach seinem Frühstück verlangen. Auch wenn er krank war, mangelte es ihm nicht an Appetit.
Eigentlich müsste sie jetzt auf Zehenspitzen ins Bad schleichen, ihr langes Leinennachthemd ausziehen, die uralten Wasserhähne dazu bringen, mehr als nur ein Rinnsal zu produzieren, und sich rasch waschen. Danach würde sie ins Schlafzimmer zurückkehren und sich unter den einfachen Röcken und Blusen in ihrem Kleiderschrank etwas für den Tag aussuchen.
Plötzlich war ihr, als umschmeichelte Seide ihre Haut, glitten die zartesten Strümpfe über ihre Beine. Sie verjagte die Erinnerung an frühere Zeiten, schließlich hatte sie sich geschworen, nicht mehr an das zu denken, was hätte sein können. Die schlimmste aller Erinnerungen verdrängte sie ebenfalls nach Kräften.
Langsam wurde auch Josef wach. Er brauchte immer lange, bis er richtig da war, an diesem Morgen noch länger.
Er räusperte sich, hustete und schien Schleim hinunterzuschlucken. Als Nächstes gab er klägliche Laute von sich. Offenbar wollte er sie auf die Schwere seiner Krankheit aufmerksam machen.
»Guten Morgen, Josef«, sagte Eva.
»Guten Morgen.« Seine Stimme triefte vor Selbstmitleid.
»Wie geht es dir?«, fragte Eva pflichtschuldig und gab sich Mühe, interessiert und fürsorglich zu klingen.
Er strich sich graue Strähnen aus dem Gesicht. »Fühl mal meine Stirn«, verlangte er griesgrämig. »Ich glaube, ich habe Fieber.«
Eva tat wie geheißen und spürte die dünne Schweißschicht auf seiner Haut. »Möglich. Oder dir ist einfach zu warm.«
Als sie die Wohnung einrichteten, hatte Josef auf schweren goldfarbenen Vorhängen bestanden, daher war es in ihrem Schlafzimmer oft warm. Doch die Vorhänge sollten zu der scheußlichen Tapete passen. Eva war zu schwach und matt gewesen, um sich dagegen zu wehren.
Als sie Josef heiratete, war sie siebzehn Jahre alt gewesen. Nun waren sie seit zwei Jahren ein Ehepaar, es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
»Bring mir bitte das Fieberthermometer, Liebling.«
Eva war nun so übel, dass sie kaum aufzustehen wagte. Doch sie musste ihr Unwohlsein vor ihrem Mann verbergen, sonst würde er sich noch leidender geben und behaupten, auch er habe sich eine Magengrippe zugezogen.
Schwankend überquerte sie den Flur zum Bad, nahm das Fieberthermometer aus dem Schränkchen über dem Waschbecken und kehrte zu ihrem Patienten zurück. Sie schüttelte das Thermometer, um den Quecksilberpegel zu senken.
Josef zog ein Taschentuch aus der Tasche seiner Schlafanzugjacke, schnäuzte sich und betrachtete den Schleim, den er hervorgeholt hatte.
Eva drehte sich der Magen um. Sie schaffte es gerade noch, das Thermometer zwischen Josefs bleiche Lippen zu schieben, bevor sie ins Bad stürzte und das Wenige, was sie am Abend gegessen hatte, in die Toilette erbrach.
Einen Moment lang blieb sie noch über die Porzellanschüssel gebeugt, dann erhob sie sich auf wackligen Beinen, spülte ihren Mund aus und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Anschließend nahm sie die Dose Eukalyptussalbe aus dem Badezimmerschränkchen. Sie würde Josef bitten, sich etwas davon unter die Nase zu reiben, um seine Atemwege zu befreien. Auf die Weise konnte er nicht riechen, dass sie sich übergeben hatte, konnte ihr keine Fragen stellen und sich selbst die nächste Krankheit einbilden.
Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, sah Josef ihr mit Leidensmiene entgegen. Das Thermometer steckte noch in seinem Mund. Eva zog es heraus und hielt es ins Licht.
»Wie viel?«, fragte er kraftlos.
»Nicht sehr viel. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
Josef schob sich höher und stieß sich an dem Kopfteil des Betts. »Ich habe gestern schon gespürt, dass ich krank werde. Du glaubst nicht, wie furchtbar meine Atemwegsinfektionen sind.«
Eva presste die Lippen zusammen und reichte ihm die Salbe.
»Kannst du mir eine heiße Zitrone machen, Liebling? Und mir eine Zeitung besorgen? Dann kann ich mich ein wenig ablenken.« Mit unsteter Hand hielt er die Salbe zuerst unter das eine, dann das andere Nasenloch und inhalierte. »Ruf auch im Institut an. Vielleicht lässt Frau Kratz dich ihr Telefon benutzen. Sag Doktor Swoboda, ich sei zu krank, um zu arbeiten. Er weiß, dass es mir nicht gut geht, und wird es verstehen.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg.« Eva rang sich ein Lächeln ab. »Aber wahrscheinlich dauert es eine Weile, bis ich zurück bin. Für die Zitronen muss ich zum Markt laufen.«
Sie öffnete den Kleiderschrank, nahm Unterwäsche, einen braunen Rock, eine hellgrüne Bluse sowie Strümpfe aus dem Kleiderschrank und zog sich im Bad an. Im Flur schlüpfte sie in feste Schnürschuhe und griff nach ihrem Einkaufskorb. Rouge lehnte Josef ab, daher hatte sie nichts, um ihre Blässe zu kaschieren. Vielleicht bekäme sie bei einem flotten Marsch durch die Luft etwas Farbe ins Gesicht.
»Auf Wiedersehen, Josef.« Sie entriegelte die schwere Wohnungstür.
»Beeil dich, Liebling«, antwortete er mit schwacher Stimme und hustete übertrieben.
Als Erstes erledigte Eva den Anruf vom Telefon ihrer Nachbarin aus. Danach, auf dem Weg die Straße hinunter, ging es ihr etwas besser, wahrscheinlich dank der frischen Luft. Dennoch fand sie es seltsam, dass sie sich gerade noch elend gefühlt hatte, und nun fast nichts mehr davon zu spüren war. Offenbar hatte sie sich doch nicht den Magen verdorben.
Mit einem Mal erinnerte sie sich an das, was ihre Mutter ihr vor Jahren erzählt hatte: »Als ich mit dir schwanger war, hatte ich ständig unter Übelkeit zu leiden. Das Merkwürdige war, dass ich mich besser gefühlt habe, sobald ich mich übergeben hatte. Zum Schluss habe ich mich fast schon darauf gefreut, mich zu erbrechen.«
Eva blieb stehen und ging die vergangenen Wochen durch. An Pessach hatte sie zum letzten Mal Monatsbinden gebraucht. Sie erinnerte sich noch an ihre Krämpfe. Sie waren bei ihren Eltern gewesen, hatten am festlich gedeckten Tisch gesessen. Ihr Vater hatte über dem Wein den Kiddusch gesprochen. Das war vor sechs Wochen gewesen. Eva strich über ihren Bauch. Konnte sie tatsächlich schwanger sein? Später, wenn Josef schlief, würde sie ihrer Mutter von ihrem Verdacht schreiben.
Der Gedanke an die liebevolle Sorge ihrer Mutter, an die aufscheinende Hoffnung in ihren braunen Augen ließ Evas Herz höherschlagen. Sie hatte gedacht, sie würde an irgendeiner Krankheit leiden, stattdessen bekam sie vielleicht ein Kind.
Eva stellte sich vor, wie wundervoll es wäre, ein Baby zu haben. Ein neues Leben. Vielleicht würde es die Erinnerungen auslöschen, die sie immer wieder heimsuchten.
Auf dem Markt lief sie an den Obstständen entlang, suchte dicke Zitronen mit dünner Schale aus, die sich gut ausdrücken ließen. Sie waren teuer, wie alles dieser Tage. Im Geist begann sie für ihr ungeborenes Kind ein Wiegenlied zu komponieren, malte sich aus, ihr Baby in den Armen zu halten, und spürte, wie sich ihr Lebensmut regte.
Allerdings fiel es Eva schwer, sich Josef als Vater vorzustellen, diesen bedrückten Mann mittlerer Jahre, der nur dann rational dachte, wenn es um seine wissenschaftliche Arbeit ging.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie das Kind gezeugt hatten. Hatten sie in den vergangenen Wochen Leidenschaft füreinander empfunden? Es musste ein Abend gewesen sein, an dem er sich nicht eingebildet hatte, krank zu sein, und sie nicht lethargisch auf dem Sofa gesessen hatte.
Nun fiel es ihr wieder ein: Es war gleich nach Pessach gewesen, als sie wieder rein war. Sie hatten Wein getrunken, gelacht und sich einer ungewohnt heftigen Begierde überlassen.
Dennoch machte Eva sich nichts vor. Die Ehe, die sie führte, hatte nichts mit den romantischen Träumen zu tun, die sie als junge Klavierschülerin gehegt hatte. Doch Josef war ein guter Mann, der ihr auf seine Art zugetan war. Dafür sollte sie ihm dankbar sein. Für das, was damals geschehen war, konnte er nichts.
Sie versuchte, sich ihr Kind vorzustellen. Bei dem Gedanken an einen kleinen Jungen, dem wie Josef die schwarze, bestickte Kippa auf dem Kopf herumrutschte, musste sie lächeln. Womöglich würde das Kind ebenso wie sein Vater eine Vorliebe für Fakten haben, es könnte aber auch musikalisch werden wie sie. Vielleicht würde es Josef von seiner Hypochondrie heilen. Oder aber er würde noch ängstlicher werden.
Eva überlegte, ob sie ihrem Mann sagen sollte, dass sie schwanger sein könnte. Doch dann würde er jeden ihrer Bissen auf ihren Nährwert prüfen und die Größe sowie das Gewicht des Fötus immer wieder neu berechnen.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und beschloss, die Nachricht noch eine Weile für sich zu behalten – zumindest so lange, bis Dr. Aronowitsch ihren Verdacht bestätigt hatte. Aber eigentlich hatte sie keinerlei Zweifel mehr.
Sie bog in ihre Straße ein, spürte die warme Frühlingsluft und fragte sich, ob ihr dieses neue Leben, das sie in sich trug, tatsächlich helfen könnte, die Vergangenheit zu begraben.
Wie vorwurfsvoll Professor Nowotny sie angesehen hatte, als sie ihm seinerzeit erklärte, sie werde die Villanelle weder im Rudolfinum noch jemals an einem anderen Ort vortragen. Währenddessen hatte sie sich bemüht, ihren Seelenschmerz zu bezwingen, dieses qualvolle Gefühl, nicht mehr üben zu können, nicht mehr die Freude zu erleben, die sie bei ihrem Klavierspiel durchströmte.
Aber am schlimmsten waren das Entsetzen und die anschließende Traurigkeit ihrer Eltern gewesen.
Liebevoll und doch ganz und gar vergeblich hatten sie versucht, Eva in den Wochen nach dem Überfall zu heilen. Ihre Mutter hatte ihr Hühnerbrühe gekocht, Kuchen gebacken, sie mit kleinen Leckerbissen zum Essen bewegen wollen, aber Evas Kehle war wie zugeschnürt gewesen. Ihr Vater hatte sie immer wieder in die Arme genommen. Eva hatte die gepeinigten Blicke ihrer Eltern registriert. Auch ihre Hoffnungen waren zerschlagen worden.