Stevens dient als Butler in Darlington Hall. Er sorgt für einen tadellosen Haushalt und ist die Verschwiegenheit in Person. Niemals würde er auch nur ein Wort über die merkwürdigen Vorgänge im Haus verlieren – er stellt sein Leben voll und ganz in den Dienst seines Herrn. Auch die vorsichtigen Annäherungsversuche von Miss Kenton, der Haushälterin, weist er zurück. Viele Jahre erfüllt er seine Pflicht, dann wagt er zum ersten Mal einen Ausbruch aus seiner Welt und begibt sich auf eine Reise, die ihn mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Im Angesicht eines Großbritannien im Wandel blickt er auf sein Leben zurück und muss sich die Frage stellen, welchen Preis er für Korrektheit und Gehorsam zahlen musste.
Kazuo Ishiguros stilistische Souveränität und seine Fähigkeit, das Unausgesprochene hinter den Worten sichtbar werden zu lassen, machen diesen Roman zu einem Meisterwerk der modernen Literatur.
»Ganz gleich, welches literarische Gewand und welche historische Epoche Kazuo Ishiguro auch wählt, die Romane dieses Schriftstellers berühren unsere Zeit in ihrem Innersten.« – Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Will man beschreiben, warum die Romane des englischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.« – Die Zeit
KAZUO
ISHIGURO
Was vom Tage
übrig blieb
Roman
Aus dem Englischen von Hermann Stiehl
Mit einem Vorwort von Salman Rushdie und Kazuo Ishiguros Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2017
BLESSING
Titel der Originalausgabe:
THE REMAINS OF THE DAY
Originalverlag: Faber & Faber, London
Originaltitel der Vorlesung
zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2017:
MY TWENTIETH CENURY AND OTHER SMALL BREAKTHROUGHS
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
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Neuausgabe 03/2021
Copyright © 1989 by Kazuo Ishiguro
Copyright © 2012 des Vorworts by Salman Rushdie,
aus dem Englischen von Sabine Herting
Copyright © 2017 der Vorlesung zur Verleihung
des Nobelpreises für Literatur by Die Nobelstiftung;
Autor des Textes: Kazuo Ishiguro
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München
Herstellung: Gabriele Kutscha
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-28075-8
V001
www.blessing-verlag.de
VORWORT
von Salman Rushdie
Ich habe sehr bewusst versucht, für ein internationales Publikum zu schreiben«, sagt Kazuo Ishiguro zu Was vom Tage übrig blieb in seinem Interview mit der Paris Review (»The Art of Fiction«, No. 196). »Eine der Möglichkeiten, von der ich meinte, damit könne es mir gelingen, war, mich eines englischen, weltweit bekannten Mythos anzunehmen – in diesem Fall dem des englischen Butlers.«
»Jeeves hatte einen großen Einfluss.« Dies ist ein unerlässlicher Kniefall. Kein literarischer Butler kann je dem Gravitationsfeld von Wodehouse’ schillerndem Reginald, dem »gentleman’s gentleman« par excellence, entkommen, der so oft Bertie Woosters gefährdeten Schinkenspeck rettet. Aber selbst in Wodehouse’ Kanon steht Jeeves nicht allein. Hinter ihm lässt sich die eher fragwürdige Figur des Dieners von Lord Emsworth entdecken, Sebastian Beach, der sich in der Anrichtekammer von Schloss Blandings ein heimliches Gläschen genehmigt. Und weitere Butler – Meadowes, Maple, Mulready, Purvis – strömen in die Wodehouse-Welt hinein und wieder hinaus, nicht alle sind Säulen der Redlichkeit. Der englische Butler, der sprechende Schatten, ist wie alle guten Mythen vielschichtig und widersprüchlich. Es drängt sich der Gedanke auf, Gordon Jacksons Darstellung des stoischen Hudson in der Fernsehserie Upstairs, Downstairs (Deutsch: Das Haus am Eaton Place) aus den Siebzigerjahren könnte für Ishiguro ebenso wichtig gewesen sein wie Jeeves: der Butler als Grenzgestalt zwischen der »oberen« und der »unteren« Welt, »Mr Hudson« für das Personal, schlicht »Hudson« für die Herrschaften, denen er dient.
Nun, da die Beliebtheit einer anderen Fernsehserie, Downtown Abbey, eine neue Generation mit der Bizarrerie des englischen Klassensystems vertraut gemacht hat, liefert Ishiguros kraftvoller, unaufdringlicher Eintritt in diese untergegangene Zeit – um, wie er sagt, das Porträt eines »vergeudeten Lebens« zu zeichnen – einen heilsamen, entzauberten Gegenpart zu der weniger skeptischen Herangehensweise von Julian Fellowes’ TV-Drama. Was vom Tage übrig blieb zerstört auf seine ruhige, nahezu verstohlene Art das Wertesystem der ganzen Upstairs-Downstairs-Welt.
(Es sollte erwähnt werden, dass Ishiguros Butler in seiner Art wie Jeeves eine vollkommen fiktive Figur ist. So, wie Wodehouse eine Welt, die außer in seiner Fantasie niemals existierte, unsterblich machte, so projiziert auch Ishiguro seine Vorstellungskraft in einen nur spärlich dokumentierten Bereich. »Ich war überrascht«, sagt er, »wie wenig Hausangestellte über Hausangestellte geschrieben haben, gemessen an der Tatsache, dass ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung dieses Landes bis zum Zweiten Weltkrieg als Bedienstete beschäftigt war. Es war erstaunlich, dass nur so wenige von ihnen gedacht hatten, ihr Leben sei es wert, aufgeschrieben zu werden. Darum ist das meiste von Was vom Tage übrig blieb … frei erfunden.«)
Die Oberfläche von Was vom Tage übrig blieb ist fast vollkommen ruhig. Stevens, ein Butler, der seine besten Jahre hinter sich hat, verbringt eine Ferienwoche mit dem Automobil in Westengland. Er gondelt umher, genießt die Ausblicke und trifft auf eine Reihe freundlicher Landbewohner, die einem englischen Film aus den Fünfzigerjahren entsprungen zu sein scheinen, wo die niederen Stände vor feinen Leuten mit ordentlich gebügelten Hosen und flachen Vokalen die Mütze ziehen und sich ihnen gegenüber respektvoll benehmen. Ja, tatsächlich, es ist der Juli 1956 – der Monat, in dem Nassers Verstaatlichung des Suezkanals die Suezkrise heraufbeschwor –, aber solche zeitgeschichtlichen Aspekte beeinflussen den Text kaum. (Ishiguros erster Roman Damals in Nagasaki spielt im Nagasaki der Nachkriegszeit, doch die Bombe wird so gut wie nicht erwähnt. Was vom Tage übrig blieb ignoriert Suez, obwohl dieses Debakel das Ende eines Großbritannien bedeutet, dessen Niedergang ein zentrales Thema des Romans ist.)
Es geschieht nicht viel. Der Höhepunkt von Mr Stevens’ kleinem Ausflug ist sein Besuch bei Miss Kenton, der früheren Haushälterin in Darlington Hall, dem großen Haus, mit dem Stevens noch immer als »Teil des Inventars« verbunden ist, obwohl Lord Darlingtons Besitz auf einen jovialen Amerikaner namens Farraday übergegangen ist, der die verwirrende Neigung zum Scherzen zeigt. Stevens hofft, Miss Kenton davon überzeugen zu können, nach Darlington Hall zurückzukehren. Seine Hoffnungen zerschlagen sich. Er macht sich auf den Heimweg. Kleinste Ereignisse; aber warum trifft man den alternden Diener gegen Ende seiner Ferien dann an der Pier von Weymouth, wo er vor einem vollkommen Fremden zu weinen anfängt? Warum fällt es Stevens, als ihm der Fremde empfiehlt, er solle die Beine hochlegen und seinen Lebensabend genießen, so schwer, einen so vernünftigen, wenn nicht gar banalen Rat anzunehmen? Was hat ihm das, was von seinem Tage übrig bleibt, so zunichtegemacht?
Knapp unter der harmlosen Oberfläche des Romans dreht sich ein Wirbel, der so gewaltig wie behäbig ist. Denn in Wirklichkeit ist Was vom Tage übrig blieb eine brillante Zersetzung der fiktionalen Modi, von denen der Roman anfangs abzustammen scheint. Tod, Veränderung, Leid und Unheil dringen in die unschuldige Wodehouse-Welt ein. (Wodehouse lässt selbst den Oswald-Mosley-ähnlichen, der Schwarzhemden-Bewegung angehörenden Roderick Spode – und keine Figur, die dieser Autor jemals erschaffen hat, kommt einem üblen Charakter so nahe – auf komische Weise pathetisch erscheinen, wenn er »mit seinen Halbmasthosen« herumstolziert, wie Bertie sagt.) Die von der Zeit ausgehöhlten Bande zwischen Herr und Diener sowie die Codes, nach denen beide leben, sind nicht länger verlässliche Absolutheiten, sondern eher Quelle ruinöser Selbsttäuschung; selbst die glücklichen Landbewohner, die Stevens auf seiner Reise kennenlernt, erweisen sich als Verfechter von Nachkriegswerten wie Demokratie und Individual- und Kollektivrechten, die Stevens und seinesgleichen in einen tragikomischen Anachronismus verwandelt haben. »Du kannst keine Würde haben, wenn du ein Sklave bist«, bekommt der Butler in einem Cottage in Devon zu hören, doch für Stevens hat Würde immer bedeutet, sein Ich dem Beruf und sein Schicksal dem seines Herrn zu unterwerfen. Wie ist denn unsere wahre Beziehung zur Macht? Dienen wir ihr, oder besitzen wir sie? Die außergewöhnliche Leistung von Ishiguros Roman ist es, die großen Fragen zu stellen – Was ist »Englishness«? Was ist Größe? Was ist Würde? –, er stellt sie mit Feinfühligkeit und Humor, ohne dabei die starre Geisteshaltung, die ihnen zugrunde liegt, zu verschleiern.
Die wahre Geschichte hier ist die eines Mannes, den die Vorstellungen zerstören, auf denen er sein Leben aufgebaut hat. Stevens befasst sich sehr mit »Größe«, die für ihn so etwas wie Zurückhaltung bedeutet. Die Größe der britischen Landschaft liegt, so glaubt er, im Fehlen des »ungehörigen demonstrativen Charakters«, den afrikanische oder amerikanische Sehenswürdigkeiten seiner Meinung nach aufweisen. Es war sein Vater, ebenfalls Butler, der für ihn diese Idee von Größe verkörperte; doch genau dieser zwischen Vater und Sohn stehende Begriff löste eine Sprachlosigkeit über Gefühle und tiefe Feindseligkeiten aus, an denen ihre Liebe zerbrach.
Aus Stevens’ Sicht hat die Größe eines Butlers »entscheidend zu tun mit der Fähigkeit eines Butlers, niemals die berufliche Identität preiszugeben, die ihn erfüllt«. Das steht in Verbindung mit »Englishness«. Kontinentaleuropäer und Kelten gäben keine guten Butler ab wegen ihrer Neigung, bei der geringsten Provokation »schreiend herumzurennen«. Doch Stevens Sehnsucht nach dieser Art Größe hat seine einzige Chance, die Liebe zu finden, vernichtet. Sich hinter seiner Rolle versteckend, brachte er Miss Kenton vor langer Zeit mit dem Auto weg, in die Arme eines anderen Mannes. »Warum, warum, warum müssen Sie sich immer nur so verstellen?«, fragt sie ihn voller Verzweiflung und entlarvt, dass seine Größe eine Maske, eine Feigheit, eine Lüge ist.
Stevens’ größte Niederlage ergibt sich als Konsequenz aus seiner tiefsten Überzeugung – dass sein Herr zum Wohl der Menschheit handle und seine eigene Ehre darin bestehe, ihm zu dienen. Aber Lord Darlington ist ein Nazikollaborateur, ein Irregeleiteter, und gerät schließlich in Verruf. Stevens, ein kleiner Petrus, verleugnet ihn mindestens zweimal, aber fühlt sich für alle Zeiten von der Ächtung seines Herrn befleckt. Darlington geht ebenso wie Stevens an seinem persönlichen Moralkodex zugrunde. Seine Missbilligung der einem Gentleman nicht gemäßen Härten den Deutschen gegenüber im Versailler Vertrag treibt ihn seinem Schicksal als Kollaborateur entgegen. Ishiguro zeigt uns, dass Ideale ebenso gründlich korrumpieren können wie Zynismus.
Im Vergleich zum Buch beschönigt die Verfilmung von Was vom Tage übrig blieb die Figur des Lord Darlington. Einfühlsam mit einer gewissen, allmählich brüchig werdenden Überheblichkeit dargestellt, wirkt er eher wie ein Narr denn wie ein Schurke, eher bemitleidens- als tadelnswert. Ishiguros Roman ist da weniger zweideutig, seine Darstellung vom Flirt des britischen Adels mit dem Nazitum ist nicht gefühlig gefärbt. Stevens erweist sich bei diesem Thema als wenig verlässlicher Erzähler, denn er findet Rechtfertigungen für Seine Lordschaft – »Lord Darlington war kein schlechter Mensch. Er war wirklich kein schlechter Mensch« –, doch der Leser hat hier einen klareren Blick als der Butler und kann solche Rechtfertigungen nicht gelten lassen.
Lord Darlington zumindest wählte seinen eigenen Weg. »Was mich betrifft, so kann ich nicht einmal das für mich in Anspruch nehmen«, klagt Stevens. »Sehen Sie, ich habe vertraut … Ich kann nicht einmal sagen, dass ich meine eigenen Fehler gemacht hätte. Wirklich – man muss sich das fragen –, welche Würde liegt überhaupt darin?« Sein ganzes Leben war ein törichter Fehler, und seine einzige Verteidigung gegen den Schrecken dieser Erkenntnis ist dieselbe Fähigkeit zur Selbsttäuschung, die ihm zum Verhängnis wurde. Es ist ein grausames, schönes Ende einer schönen, grausamen Geschichte.
Mit Was vom Tage übrig blieb wandte sich Ishiguro von den japanischen Schauplätzen seiner ersten beiden Romane ab und zeigte, dass seine Sensibilität nicht an einem bestimmten Ort verwurzelt, sondern beweglich und wandelbar ist. »Als ich anfing, Was vom Tage übrig blieb zu schreiben«, erzählte er der Paris Review, »stellte ich fest, dass der Kern dessen, was ich schreiben wollte, nicht an einen bestimmten Ort gebunden war … Für mich liegt das Wesentliche nicht im Schauplatz.« Wo dieses Wesentliche denn ansonsten liege? »Ohne eine Psychoanalyse zu machen, kann ich das nicht sagen. Sie sollten nie einem Autor glauben, wenn er Ihnen sagt, warum er auf gewisse Themen immer wieder zurückkommt.«
Was vom Tage übrig blieb
Zum Gedenken an
Mrs Lenore Marshall
PROLOG: JULI 1956
Darlington Hall
Es wird immer wahrscheinlicher, dass ich tatsächlich jene Reise unternehme, die meine Fantasie bereits seit einigen Tagen mit einer gewissen Ausschließlichkeit beschäftigt. Eine Reise, die ich, das sollte ich hinzufügen, allein unternehmen werde, in Mr Farradays bequemem Ford, eine Reise, die mich, soweit ich das jetzt schon ermessen kann, durch einige der schönsten Gegenden Westenglands führen und mich immerhin fünf oder sechs Tage von Darlington Hall fernhalten wird. Die Idee zu einer solchen Reise geht, wie ich vielleicht erwähnen sollte, auf einen höchst liebenswürdigen Vorschlag zurück, den Mr Farraday persönlich mir eines Nachmittags vor fast vierzehn Tagen machte, als ich gerade die Porträts in der Bibliothek abstaubte. Ich stand, wenn ich mich recht erinnere, gerade auf der Trittleiter und entstaubte das Porträt des Viscount Wetherby, als mein Dienstherr mit einigen Büchern hereinkam, die er offenbar ins Regal zurückzustellen beabsichtigte. Als sein Blick auf mich fiel, nahm er die Gelegenheit wahr, mich davon zu unterrichten, dass er gerade endgültig beschlossen habe, im August und September für einen Zeitraum von fünf Wochen in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Nach dieser Mitteilung legte mein Dienstherr die Bücher auf einen Tisch, setzte sich auf die Chaiselongue und streckte die Beine aus. Und da war es dann, dass er zu mir heraufsah und sagte:
»Übrigens, Stevens – ich erwarte nicht, dass Sie sich, während ich weg bin, die ganze Zeit hier im Haus vergraben. Nehmen Sie doch den Wagen, und fahren Sie für ein paar Tage irgendwohin. Sie sehen aus, als könnten Sie eine kleine Abwechslung gebrauchen.«
Da dieser Vorschlag gänzlich unerwartet kam, wusste ich nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich erinnere mich, meinem Dienstherrn für seine Aufmerksamkeit gedankt zu haben, aber aller Wahrscheinlichkeit nach drückte ich mich nicht sehr präzise aus, denn er fuhr fort:
»Ich meine das ernst, Stevens. Ich glaube wirklich, Sie sollten mal ausspannen. Für das Benzin komme ich auf. Ihr Burschen, ihr seid ja geradezu eingesperrt in diesen großen Kästen, damit alles klappt, wie sollt ihr da je Zeit finden, euch in eurem schönen England umzusehen?«
Es war nicht das erste Mal, dass mein Dienstherr eine solche Frage aufwarf; es scheint sich sogar um ein Problem zu handeln, das ihn ernstlich beschäftigt. Bei dieser Gelegenheit nun, als ich dort oben auf der Leiter stand, fiel mir eine Erwiderung des Inhalts ein, dass die Angehörigen unseres Berufsstandes, obzwar wir im touristischen Sinne nicht sehr viel von der Landschaft oder besonders pittoresken Örtlichkeiten zu Gesicht bekämen, doch mehr als die meisten anderen von England »sähen« durch unsere Position in Häusern, in denen die bedeutendsten Persönlichkeiten des Landes verkehrten. Natürlich hätte ich Mr Farraday diese Überlegung nicht mitteilen können, ohne zu einer längeren Rede anzusetzen, die vielleicht anmaßend geklungen hätte. Ich begnügte mich deshalb damit, lediglich festzustellen:
»Es war mir vergönnt, Sir, im Laufe der Jahre innerhalb dieser Mauern das Beste von England zu sehen.«
Mr Farraday schien diese Bemerkung nicht zu verstehen, denn er fuhr fort: »Ich meine es wirklich ernst, Stevens. Es ist nicht in Ordnung, wenn sich jemand nicht in seinem eigenen Land umsehen kann. Folgen Sie meinem Rat, sehen Sie zu, dass Sie mal für ein paar Tage rauskommen.«
Wie man sich denken kann, nahm ich Mr Farradays Vorschlag an diesem Nachmittag nicht ernst, da ich in ihm nur einen weiteren Beweis für die mangelnde Vertrautheit eines Amerikaners mit dem erblickte, was man in England gemeinhin zu tun pflegt und was nicht. Der Umstand, dass meine Einstellung zu ebendiesem Vorschlag im Verlauf der darauffolgenden Tage eine Änderung erfuhr, ja, dass die Vorstellung eines Ausflugs in die Westprovinzen in meinen Gedanken immer breiteren Raum einnahm, ist zweifellos – und warum sollte ich das verschweigen – wesentlich dem Eintreffen von Miss Kentons Brief zuzuschreiben, ihrem ersten seit fast sieben Jahren, wenn man die Weihnachtsgrüße nicht mitrechnet. Aber ich muss sofort verdeutlichen, was ich damit sagen will: Dass nämlich Miss Kentons Brief eine gewisse Kette von Überlegungen auslöste, die mit beruflichen Angelegenheiten hier in Darlington Hall zu tun hatten, und ich möchte betonen, dass es der Gedanke an diese beruflichen Angelegenheiten war, der mich dazu führte, den freundlich gemeinten Vorschlag meines Dienstherrn erneut zu bedenken. Aber das sollte ich vielleicht noch näher erläutern.
Es ist so, dass ich während der letzten Monate bei der Ausübung meiner Dienstpflichten für eine Reihe kleiner Versehen verantwortlich war. Diese Versehen waren ohne Ausnahme an sich äußerst trivial, doch ich glaube, man wird verstehen, dass diese Entwicklung für jemanden, der es nicht gewohnt ist, dass ihm solche Versehen unterlaufen, recht beunruhigend war, und so begann ich, hinsichtlich ihrer Ursache alle möglichen düsteren Erwägungen anzustellen. Wie das so oft in solchen Situationen geschieht, war ich für das Offensichtliche blind – das heißt, bis mir mein Nachsinnen über die eigentliche Bedeutung von Miss Kentons Brief die Augen öffnete: Die Wahrheit war, dass die kleinen Versehen der jüngsten Zeit einzig und allein auf einen mangelhaften Personalplan zurückzuführen waren.
Es ist natürlich Aufgabe jedes Butlers, beim Erstellen eines Personalplanes die größte Sorgfalt walten zu lassen. Wer wüsste zu sagen, wie viele Auseinandersetzungen, ungerechtfertigte Anschuldigungen, unnötige Entlassungen, wie viele jäh abgebrochene hoffnungsvolle Karrieren der Nachlässigkeit eines Butlers bei der Ausarbeitung des Personalplanes zuzuschreiben sind? Ich darf sogar behaupten, mich im Einklang mit jenen zu befinden, die die Fähigkeit, einen guten Personalplan zu erstellen, für den Eckstein des Könnens eines achtbaren Butlers halten. Ich selbst habe im Laufe der Jahre viele Personalpläne erarbeitet, und man wird es mir nicht als Unbescheidenheit auslegen, wenn ich sage, dass nur sehr wenige davon einer Verbesserung bedurften. Wenn also im vorliegenden Fall der Personalplan zu beanstanden ist, trifft keinen anderen die Schuld als mich. Freilich ist es nur gerecht, darauf hinzuweisen, dass meine Aufgabe diesmal ungewöhnlich schwieriger Natur war.
Vorgefallen war Folgendes: Nachdem die Transaktionen abgeschlossen waren – Transaktionen, in deren Verlauf das seit zwei Jahrhunderten im Besitz der Familie Darlington befindliche Anwesen in andere Hände überführt wurde –, hatte Mr Farraday wissen lassen, dass er nicht sogleich hier seinen Wohnsitz nehmen, sondern noch weitere vier Monate mit der Abwicklung von Geschäften in den Vereinigten Staaten zu tun haben werde. Inzwischen sei ihm jedoch sehr viel daran gelegen, dass das Dienstpersonal seines Vorgängers – über das er nur höchstes Lob gehört habe – weiter in Darlington Hall bleibe. Das Personal, auf das er sich bezog, war natürlich nur jener Rumpfstab von sechs Personen, welche die Verwandtschaft von Lord Darlington weiterbeschäftigt hatte, damit sie sich vor dem Beginn und während der Dauer jener Transaktionen um das Haus kümmerten; und ich muss zu meinem Bedauern berichten, dass ich nach Abschluss der Verkaufsverhandlungen wenig tun konnte, um Mr Farradays Wunsch zu entsprechen, insofern sich alle bis auf Mrs Clements andere Stellungen suchten. Als ich meinem neuen Dienstherrn schrieb, um ihm von dieser bedauerlichen Situation Mitteilung zu machen, erhielt ich aus Amerika die Anweisung, eine neue, »eines großen alten englischen Hauses würdige« Dienerschaft zu verpflichten. Ich bemühte mich sogleich, Mr Farradays Wünschen zu entsprechen, aber bekanntlich ist es heutzutage keineswegs einfach, neues Personal mit einer zufriedenstellenden Qualifikation zu finden. Zwar war es mir möglich, auf Mrs Clements’ Empfehlung Rosemary und Agnes einzustellen, weiter jedoch war ich noch nicht gediehen, als ich – während seines kurzen ersten Besuchs in unserem Land im Frühling des vergangenen Jahres – meine erste dienstliche Besprechung mit Mr Farraday hatte. Bei dieser Gelegenheit – es war in dem eigenartig leer wirkenden Arbeitszimmer von Darlington Hall – schüttelte mir Mr Farraday zum ersten Mal die Hand, aber wir waren einander natürlich nicht gänzlich unbekannt; abgesehen von der Personalfrage hatte mein neuer Dienstherr bei mehreren anderen Anlässen Gelegenheit gehabt, sich bestimmter Talente zu bedienen, die zu besitzen ich mich glücklich schätzen kann, und sie, so wage ich zu behaupten, für zuverlässig befunden. Aufgrund dessen fühlte er sich offenbar sofort in der Lage, in einer geschäftsmäßigen und vertrauensvollen Weise mit mir zu sprechen, und am Ende unserer Begegnung hatte er mir die Verfügung über eine nicht unbeträchtliche Geldsumme übertragen zur Deckung der Kosten, die eine ganze Reihe von Vorbereitungen für seine bevorstehende Wohnsitznahme verursachen würde. Es war – und darauf wollte ich hinaus – während dieses Gesprächs, dass ich die Rede auf die Probleme bei der Einstellung geeigneter Kräfte in unseren heutigen Zeiten brachte, worauf Mr Farraday nach kurzem Nachdenken folgende Bitte an mich richtete: Ich solle nach bestem Ermessen einen Personalplan ausarbeiten – »eine Art Dienstbotenturnus«, wie er es ausdrückte –, der es ermögliche, das Haus mit den derzeitigen vier Angestellten zu führen, das heißt mit Mrs Clements, den beiden Mädchen und mir. Das könne bedeuten, meinte er, dass einige Teile des Hauses »eingemottet« werden müssten, er hoffe aber, fuhr er fort, meiner Erfahrung und meinem Geschick werde es gelingen, solche Einschränkungen auf ein Minimum zu reduzieren. Ich erinnerte mich daran, einmal siebzehn Angestellte unter mir gehabt zu haben, und ich wusste, dass hier in Darlington Hall noch vor gar nicht so sehr langer Zeit achtundzwanzig Dienstboten beschäftigt gewesen waren, sodass die Vorstellung, einen Personalplan zu entwerfen, demzufolge das gleiche Haus mit nur vier Angestellten geführt werden sollte, gelinde gesagt, entmutigend schien. Obzwar ich alles tat, um mir nichts anmerken zu lassen, muss etwas von meiner Skepsis doch zu spüren gewesen sein, denn Mr Farraday fügte wie zur Beruhigung hinzu, sollte es sich als nötig erweisen, könne eine weitere Person eingestellt werden. Aber er wäre mir sehr verbunden, wiederholte er, wenn ich es »mit vier Leuten mal probieren« könnte.
Nun habe ich, wie viele von uns, eine natürliche Abneigung gegen allzu einschneidende Veränderungen. Kein Verdienst liegt indes darin, sich, wie manche dies tun, an die Tradition um ihrer selbst willen zu klammern. Im Zeitalter der Elektrizität und der modernen Heizungssysteme ist es nicht mehr erforderlich, so viel Personal in Dienst zu haben, wie es noch vor einer Generation vonnöten war. Mehr noch, ich frage mich sogar seit einiger Zeit, ob die Beibehaltung überflüssigen Personals lediglich um der Tradition willen – mit dem Ergebnis, dass Dienstboten unzuträglich viel freie Zeit zur Verfügung haben – bei dem raschen Absinken des beruflichen Niveaus nicht eine entscheidende Rolle spielt. Zudem hatte Mr Farraday deutlich zu verstehen gegeben, dass er nur sehr selten so große Gesellschaften zu geben gedachte, wie Darlington Hall sie früher so häufig gesehen hatte. Ich machte mich also mit einigem Engagement an die Aufgabe, die Mr Farraday mir gestellt hatte; ich verbrachte viele Stunden über der Arbeit an dem Personalplan und dachte wenigstens noch einmal so viele Stunden darüber nach, während ich meinen anderen Pflichten nachging oder noch wach lag, nachdem ich mich abends zurückgezogen hatte. Wann immer ich glaubte, einen guten Einfall gehabt zu haben, überprüfte ich ihn auf Fehler und beleuchtete ihn kritisch von allen Seiten. Schließlich brachte ich einen Plan zustande, der, wenn auch vielleicht nicht ganz das, was Mr Farraday verlangt hatte, doch, den sicheren Eindruck hatte ich, der menschenmöglich beste war. Fast alle wichtigen Teile des Hauses konnten in Funktion bleiben: Die ausgedehnten Dienstbotenunterkünfte – einschließlich des hinteren Flurs, der zwei Vorratsräume und der alten Waschküche – und der Gästeflur oben im zweiten Stock würden außer Betrieb genommen werden, während alle Haupträume im Erdgeschoss und eine großzügige Anzahl von Gästezimmern geöffnet blieben. Freilich würden wir vier dieses Programm nur mit Unterstützung tageweiser Aushilfen bewältigen; mein Personalplan sah daher die Hinzuziehung eines Gärtners vor, der einmal in der Woche kam, im Sommer zweimal, und zweier Reinemachefrauen, die sich beide zweimal die Woche einzufinden hatten. Der Personalplan würde außerdem für uns vier Festangestellte eine radikale Umstellung in den gewohnten Pflichten bringen. Die beiden Mädchen würden sich aller Voraussicht nach ohne große Mühe den veränderten Umständen anpassen, aber ich tat alles, um sicherzustellen, dass Mrs Clements möglichst wenig von den Umstellungen betroffen war, und ging dabei so weit, selbst eine Anzahl von Pflichten zu übernehmen, die schwerlich zum eigentlichen Aufgabenbereich eines Butlers gehören.
Selbst jetzt würde ich nicht so weit gehen, von einem schlechten Personalplan zu sprechen, denn schließlich setzt er einen Stab von vier Personen in den Stand, ein erstaunlich weites Feld abzudecken. Aber zweifellos wird mir jeder bestätigen, dass die allerbesten Personalpläne diejenigen sind, die einen gewissen Spielraum enthalten für solche Tage, an denen ein Bediensteter erkrankt oder aus dem einen oder anderen Grund nicht ganz auf der Höhe ist. Was diesen speziellen Fall betraf, war mir natürlich eine außergewöhnliche Aufgabe gestellt, aber ich hatte es dennoch nicht versäumt, Spielräume vorzusehen, wo immer dies möglich war. Ich war mir insbesondere bewusst, dass ein eventueller Widerstand seitens Mrs Clements’ oder der zwei Mädchen gegen die Übernahme von Aufgaben außerhalb ihres bisherigen Pflichtenkreises sich noch verstärken würde, sollten sie den Eindruck haben, dass ihr Arbeitspensum merklich zugenommen hatte. Ich hatte deshalb während der Tage, in denen ich um die Erstellung des Personalplanes rang, ein beträchtliches Maß an Überlegung darauf verwandt sicherzustellen, dass Mrs Clements und die Mädchen, wenn sie erst ihre Abneigung gegen die Übernahme dieser »eklektischeren« Rollen überwunden hatten, die neue Aufteilung der Pflichten stimulierend und keineswegs belastend finden würden.
Ich fürchte jedoch, dass ich in dem Bemühen, mich der Unterstützung Mrs Clements’ und der Mädchen zu versichern, vielleicht mit nicht ganz der gleichen Strenge meine eigenen Grenzen eingeschätzt habe, und obwohl meine Erfahrung und übliche Vorsicht verhinderten, dass ich mir an Arbeit mehr zuteilte, als ich tatsächlich bewältigen konnte, habe ich vielleicht in meinem Fall nicht an den erforderlichen Spielraum gedacht. Es kann deshalb nicht überraschen, dass diese Unterlassung sich – wenn auch über mehrere Monate hinweg – in solchen kleinen, aber aufschlussreichen Fehlern und Versehen manifestiert. Ich glaube, dass sich die Angelegenheit letztlich auf einen einfachen Nenner bringen lässt: Ich hatte mir selbst zu viel zugemutet.
Man mag sich darüber wundern, dass ein solch offenkundiger Mangel eines Personalplanes so lange meiner Aufmerksamkeit hatte entgehen können, doch man wird zugeben müssen, dass dergleichen häufig geschieht bei Angelegenheiten, die man über einen längeren Zeitraum hinweg ständig bedacht hat; man erkennt den wahren Tatbestand erst, wenn man durch ein äußeres Ereignis zufällig darauf gestoßen wird. So war es auch in diesem Fall: Das Eintreffen des Briefes von Miss Kenton nämlich, in dem sich trotz langer, eher nichtssagender Passagen eine unverkennbare Sehnsucht nach Darlington Hall ausdrückte und – dessen bin ich ganz sicher – aus dem andeutungsweise das Verlangen sprach, hierher zurückzukehren, zwang mich dazu, meinen Personalplan mit neuen Augen zu sehen. Erst da ging mir auf, dass es in der Tat einen wichtigen Aufgabenbereich für ein weiteres Mitglied der Dienerschaft gab, ja, dass diese nicht besetzte Position mit meinen jüngsten Schwierigkeiten in unmittelbarem Zusammenhang stand. Und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Miss Kenton mit ihrer großen Liebe zu diesem Haus und ihrer beispielhaften fachlichen Qualifikation – von der Art, wie man sie heute kaum noch findet – genau der Faktor war, der mich in die Lage versetzen würde, einen befriedigenden Personalplan für Darlington Hall zu erstellen.
Nachdem ich die Situation in dieser Weise analysiert hatte, dauerte es nicht lange, bis ich wieder über den freundlichen Vorschlag nachdachte, den mir Mr Farraday einige Tage zuvor gemacht hatte. Denn mir war bewusst geworden, dass sich die in Aussicht genommene Reise mit dem Auto auf praktische Weise mit dienstlichen Angelegenheiten verknüpfen ließ, insofern ich auf meiner Fahrt Miss Kenton besuchen und so persönlich in Erfahrung bringen konnte, ob sie wirklich den Wunsch hatte, wieder in Darlington Hall tätig zu sein. Ich sollte hervorheben, dass ich Miss Kentons letzten Brief mehrmals gelesen habe, und es ist ganz unmöglich, dass ich mir das Vorhandensein solcher Andeutungen ihrerseits nur einbilde.
Dennoch konnte ich es einige Tage lang nicht über mich bringen, Mr Farraday gegenüber auf die Angelegenheit zurückzukommen. Es gab verschiedene Aspekte, über die ich glaubte, mir Klarheit verschaffen zu müssen, ehe ich weitere Schritte unternahm. Da war zum Beispiel die Frage der Kosten. Denn selbst unter Berücksichtigung des freundlichen Angebots meines Dienstherrn, für das Benzin »aufzukommen«, mochten die Kosten einer solchen Reise noch immer eine erstaunliche Höhe erreichen, wenn man solche Dinge wie Unterkunft und Mahlzeiten sowie etwaige kleine Erfrischungen in Betracht zog, die ich unterwegs zu mir nehmen würde. Dann war da die Frage des angemessenen Anzugs für eine solche Reise und ob es sich lohnte, Geld in eine neue Garnitur Kleider zu investieren. Ich bin im Besitz einer ganzen Reihe sehr schöner Anzüge, die mir im Laufe der Jahre freundlicherweise überlassen wurden von Lord Darlington selbst und von verschiedenen Gästen dieses Hauses, die Grund hatten, mit dem Standard der Bedienung hier zufrieden zu sein. Viele dieser Anzüge sind vielleicht zu elegant für die Zwecke der in Aussicht genommenen Reise oder aber heutzutage zu sehr aus der Mode. Aber da ist ein Anzug, den mir Sir Edward Blair 1931 oder 1932 überließ – damals praktisch neu und fast perfekt im Sitz –, der sich für die Abende im Gesellschaftsraum oder Speisesaal der Gasthöfe eignen könnte, in denen ich jeweils absteigen würde. Was mir jedoch fehlt, das sind passende Reisekleider – das heißt Kleider, in denen ich mich am Steuer eines Wagens sehen lassen könnte –, wenn ich nicht jenen Anzug nehme, den mir Lord Chalmers während des Krieges vermachte und der mir zwar zu klein ist, im Farbton aber als ideal gelten kann. Ich rechnete schließlich aus, dass meine Ersparnisse alle entstehenden Kosten decken und darüber hinaus für den Kauf neuer Kleider ausreichen würden. Ich hoffe, man hält mich, was letzteren Punkt betrifft, nicht für ungebührlich eitel; es ist indes nicht möglich vorherzusehen, wann eine Situation entsteht, in der man zu erkennen geben sollte, dass man von Darlington Hall kommt, und es ist wichtig, in solchen Augenblicken seiner Position entsprechend gekleidet zu sein.
Während dieser Zeit versäumte ich auch nicht, sorgfältig die Straßenkarte und die entsprechenden Bände des Werkes von Mrs Jane Symons über die Schönheiten Englands zu studieren. Wer mit Mrs Symons’ Büchern – es sind sieben Bände, die sich mit den einzelnen Regionen der Britischen Inseln befassen – nicht vertraut ist, dem möchte ich sie wärmstens empfehlen. Sie wurden während der Dreißigerjahre geschrieben, aber vieles darin dürfte auch heute noch gültig sein – ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass deutsche Bomben die Landschaft derart merklich verändert haben sollten. Mrs Symons war übrigens vor dem Krieg häufig zu Gast in diesem Haus; sie zählte sogar, was das Personal betraf, zu den beliebtesten Gästen, wegen der dankbaren Anerkennung des guten Service, die zu zeigen sie sich nie scheute. In jenen Tagen hatte ich, angeregt durch meine natürliche Bewunderung für die Dame, zum ersten Mal in ihren Bänden in der Bibliothek geblättert, wann immer ich eine freie Minute hatte. Ja, ich erinnere mich, dass ich, kurz nach Miss Kentons Abreise nach Cornwall im Jahre 1936 – ich selbst war noch nie in diesem Teil Englands gewesen –, oft Band III von Mrs Symons’ Werk aufschlug, den Band, der dem Leser die Schönheiten Devons und Cornwalls vorstellt, illustriert durch Fotos und – was für meine Begriffe noch reizvoller war – durch eine Vielzahl künstlerischer Skizzen von dieser Region. Auf diese Weise hatte ich mir eine gewisse Vorstellung von der Gegend machen können, in die Miss Kenton ihrer Ehe wegen gezogen war. Doch das war, wie gesagt, in den Dreißigerjahren, als Mrs Symons’ Werke, soviel mir bekannt ist, landauf, landab in allen Haushalten bewundert wurden. Ich hatte die Bücher seit vielen Jahren nicht mehr in der Hand gehabt, bis die jüngsten Ereignisse mich nun dazu brachten, den Band über Devon und Cornwall abermals aus dem Regal zu ziehen. Ich vertiefte mich erneut in die wunderbaren Beschreibungen und Illustrationen, und man begreift vielleicht meine wachsende Erregung bei dem Gedanken, dass ich jetzt womöglich selbst mit dem Kraftfahrzeug eine Reise durch ebendiese Gegenden unternehmen würde.
Zum Schluss blieb mir kaum etwas anderes übrig, als die Sache Mr Farraday gegenüber noch einmal zur Sprache zu bringen. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass die Idee, die er zwei Wochen zuvor gehabt hatte, nur eine Laune des Augenblicks gewesen war und er inzwischen nichts mehr davon hielt. Doch nach den Eindrücken, die ich während der letzten Monate von Mr Farraday gewonnen hatte, ist er keiner jener Gentlemen, die zu Inkonsequenz neigen, jenem Charakterzug, der bei Dienstherren besonders unangenehm auffällt. Es bestand kein Grund zu der Annahme, er werde meinem in Aussicht genommenen Ausflug mit dem Auto nicht genauso positiv gegenüberstehen wie zuvor – oder sein Angebot, für das Benzin »aufzukommen«, nicht wiederholen. Dennoch überlegte ich sorgsam, welches die günstigste Gelegenheit sein könnte, um auf die Angelegenheit zu sprechen zu kommen, denn würde ich auch, wie schon gesagt, Mr Farraday keinen Augenblick lang der Inkonsequenz verdächtigen, so schien es immerhin sinnvoll, das Thema nicht zu erwähnen, wenn andere Dinge ihn beschäftigten oder ablenkten. Eine Ablehnung unter solchen Umständen mochte nicht die wahre Einstellung meines Dienstherrn zu der Angelegenheit widerspiegeln, aber ich konnte diese nicht noch einmal vorbringen, war mir erst eine Zurückweisung zuteilgeworden. Ich war mir darüber im Klaren, dass ich den richtigen Moment abwarten musste.
Ich kam zu dem Schluss, dass der günstigste Moment des Tages der war, wenn ich im Salon den Nachmittagstee servierte. Mr Farraday ist dann gewöhnlich gerade von einem kurzen Spaziergang zurück, sodass er selten intensiv mit seiner Lektüre oder Korrespondenz beschäftigt ist wie zumeist am Abend. Ja, wenn ich den Nachmittagstee bringe, scheint Mr Farraday sogar geneigt, ein Buch, in dem er gerade gelesen hat, oder eine Zeitung aus der Hand zu legen, sich zu erheben und vor den Fenstern die Arme zu recken, wie in Erwartung eines Gesprächs mit mir.
Ich glaube, meine Einschätzung, was den richtigen Zeitpunkt betraf, war durchaus vernünftig; dass es dann doch ein wenig anders kam als erwartet, geht einzig und allein auf eine Fehleinschätzung ganz anderer Art zurück. Ich maß nämlich dem Umstand nicht genügend Bedeutung bei, dass Mr Farraday zu dieser Tageszeit eine Konversation der leichten, humorvollen Art bevorzugt. Da ich von einer solchen Stimmung bei Mr Farraday hätte ausgehen müssen, als ich ihm gestern Nachmittag den Tee brachte, und da ich mir seiner Neigung bewusst war, mir gegenüber in solchen Augenblicken eher einen scherzenden Ton anzuschlagen, wäre es gewiss klüger gewesen, Miss Kenton überhaupt nicht zu erwähnen. Aber man wird vielleicht, da ich etwas zur Sprache brachte, was schließlich eine großzügige Gefälligkeit meines Dienstherrn war, von meiner Seite den Wunsch verstehen, dabei durchblicken zu lassen, dass es für mein Anliegen auch ein achtbares berufliches Motiv gab. So kam es, dass ich es nicht bei der Nennung einiger der von Mrs Symons in ihrem Buch geschilderten Sehenswürdigkeiten beließ, als ich begründete, weshalb ich für meine Autoreise die westlichen Gegenden vorzöge, sondern den Fehler beging zu erwähnen, dass eine frühere Haushälterin von Darlington Hall in dieser Gegend wohnhaft sei. Eigentlich hatte ich wohl beabsichtigt, Mr Farraday darzulegen, dass ich auf diese Weise eine Möglichkeit würde erkunden können, die sich als die ideale Lösung unserer derzeitigen kleinen Probleme hier im Haus erweisen möge. Erst nachdem ich Miss Kenton schon erwähnt hatte, wurde mir bewusst, wie völlig unangemessen es gewesen wäre weiterzusprechen. Ich war mir nicht nur Miss Kentons Wunsch nicht sicher, sich dem Dienstbotenstab hier anzuschließen, sondern ich hatte natürlich auch seit jener ersten Begegnung mit Mr Farraday vor über einem Jahr die Frage zusätzlichen Personals nicht mehr angesprochen. Weiterhin laut meine Vorstellungen von der Zukunft Darlington Halls zu äußern wäre, gelinde gesagt, anmaßend gewesen. Ich vermute also, dass ich recht unvermittelt innehielt und ein wenig verlegen aussah. Auf jeden Fall benutzte Mr Farraday die Gelegenheit, um ein verschmitztes Lächeln aufzusetzen und mit einiger Bedächtigkeit zu sagen: »Sieh da, Stevens – eine Freundin. Und das in Ihrem Alter.«
Dies war eine höchst peinliche Situation, eine, in die Lord Darlington einen Bedienten nie gebracht hätte. Doch damit will ich nichts Abschätziges über Mr Farraday angedeutet haben; er ist schließlich Amerikaner, und seine Art ist oft sehr anders. Er wollte mich keinesfalls verletzen, das steht außer Frage, aber man wird leicht ermessen können, wie unangenehm die Situation für mich war.
»Ich hätte Sie nie für einen solchen Frauenhelden gehalten, Stevens«, fuhr er fort. »Das hält wohl jung, nehme ich an. Aber – nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen zu einem so zweideutigen Rendezvous Hilfestellung leisten soll.«
Natürlich fühlte ich mich versucht, Motivationen von der Art, wie mein Dienstherr sie mir zuschrieb, sofort und energisch abzustreiten, aber ich erkannte noch rechtzeitig, dass ich damit auf Mr Farradays Köder angebissen hätte und die Situation nur noch peinlicher geworden wäre. Ich blieb deshalb weiter verlegen stehen und wartete darauf, dass er mir die Erlaubnis erteilte, die Fahrt zu unternehmen.
So peinlich diese Momente für mich waren, möchte ich doch nicht den Eindruck erwecken, als machte ich in irgendeiner Weise Mr Farraday einen Vorwurf. Er ist keinesfalls ein unfreundlicher Mensch; er fand gewiss lediglich Gefallen an jenem scherzenden Ton, der in den Vereinigten Staaten ohne Zweifel Zeichen eines guten, freundlichen Verhältnisses zwischen Dienstherrn und Bedienstetem ist und der dort etwas Sportliches hat. Ich sollte sogar, um alles in die rechte Perspektive zu rücken, betonen, dass gerade ein solch scherzender Ton seitens meines Dienstherrn kennzeichnend für unser Verhältnis während all dieser Monate war – obschon ich gestehen muss, dass ich weiterhin recht unsicher bin in der Frage, inwieweit ich auf diesen Ton eingehen soll. In der Tat habe ich mich zu Beginn meiner Dienstzeit unter Mr Farraday ein paarmal sehr verwundert über Dinge, die er zu mir sagte. Zum Beispiel hatte ich einmal Anlass, ihn zu fragen, ob ein Herr, der zu Gast erwartet wurde, wohl in Begleitung seiner Gattin kommen werde.
»Gott steh uns bei, falls sie mitkommt«, erwiderte Mr Farraday. »Vielleicht könnten Sie sie uns vom Leib halten, Stevens. Sie könnten doch mit ihr in einen dieser Ställe auf Mr Morgans Farm gehen. Beschäftigen Sie sie irgendwie in all dem Heu. Sie ist vielleicht Ihr Typ.«
Einen Augenblick lang begriff ich nicht recht, was mein Dienstherr meinte. Dann wurde mir bewusst, dass er irgendeine Art von Scherz machte, und ich bemühte mich, angemessen zu lächeln, obschon ich vermute, dass eine Spur meines Erstaunens, um nicht zu sagen Schreckens, meinem Gesichtsausdruck noch anzumerken war.