Stefan Bollmann
Der Atem der Welt
Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96416-5
E-Book: ISBN 978-3-608-12103-2
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Für Christiane
Und – hören Sie! Ich würde mich getrauen, den orthodoxen Satz zu vertheidigen, daß Goethe’s Geist eigentlich zum Naturforschen angewiesen war: Goethe’s Geist zergliederte; im Werther die Liebe, im Wilhelm Meister das Leben, in den Dramen Geschichte und Leben. Überall Sistematik, Ordnung, Logik in Vers und Prosa … Er arbeitet durch den Schacht der Gefühle zur Klarheit hinaus. Daher die Erscheinung, daß er den Leser so bewältigt, weil er fast mathematisch Alles beweist; da hängt Glied an Glied fest und aus der Kette ist kein Entrinnen möglich. Diese Eigenschaften sind aber alle die des Forschers. Ich verehre Goethe als Dichter, doch scheint es mir eine Ablenkung seines Geistes, der wir freilich mehr danken, als dem geradesten Wege manches selbst ausgezeichneten Geistes, daß er dichtete, während er zum Forschen am organisiertesten war. … Und – beweist er meine Ansicht nicht durch sein Leben selbst? Im letzten Drittheile seines Lebens forschte er der Natur nach, und wie einst die Liebe, das Leben, oder die Geschichte, so wurde jetzt die Farbe, die Pflanze oder ein Knochen das Objekt.
Der Naturforscher Kaspar Maria von Sternberg 1837, nach Aufzeichnungen von Ludwig August Frankl
Denk nicht, sondern schau!
Ludwig Wittgenstein
Wer Mitte der 1790er Jahre in Weimar weilte, dem konnte es passieren – so wird erzählt –, dass sie oder er einem Mann im fortgeschrittenen Alter und mit deutlich hervortretendem Bauchansatz begegnete, der beim Spazierengehen wild mit den Armen ruderte. Darauf angesprochen, was er damit bezwecke, erklärte er, dass diese Art der Fortbewegung an die der Tiere erinnere und mithin naturgemäßer sei. Nie um alles in der Welt würde er sich etwa unterstehen, mit einem Stock zu gehen.
Es kann aber auch sein, dass Karl August Böttiger(1), der boshafte Direktor des Weimarer Gymnasiums, diese Geschichte nur in die Welt gesetzt hat,[1] um dem allgemeinen Erstaunen darüber Ausdruck zu verleihen, dass der Dichter – denn ein Dichter war besagter Mann – sich schon wieder mit lauter Absonderlichkeiten abgab. Etwa mit einem »bis zur Affektation getriebenen Attachment an die Natur«, wie ein Autorenkollege das nannte, oder der Idee, dass wir erst Pflanzen und Tiere waren und ganz ungewiss sei, was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wie sich eine Dame(1) der Gesellschaft ausgedrückt hatte, zu einer Zeit, als sie noch die platonische Geliebte des Dichters gewesen war.[2]
Der Dichter war kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, vor gut fünf Jahren aus Italien heimgekehrt, von wo ihn schon niemand mehr außer dem Herzog Carl August(1) zurückerwartet hatte. Carl August war nicht nur sein Dienst- und Schirmherr, sondern seit Goethes Anfängen in Weimar mit ihm in einer alle gegenseitigen Irritationen überdauernden Männerfreundschaft verbunden.
Nach seiner zweijährigen Abwesenheit hatte Goethe in vielfacher Weise von sich reden gemacht – nach dem allgemeinen Urteil der Weimarer Gesellschaft vornehmlich negativ. Erst hatte er sich eine heimliche, völlig unstandesgemäße Geliebte zugelegt, die im Landes-Industrie-Comptoir des Unternehmers Friedrich Justin Bertuch(1) künstliche Blumen herstellte, und mit der er schon bald in wilder Ehe zusammenlebte, sogar einen Sohn zeugte. Dann hatte er Römische Elegien und Venezianische Epigramme gedichtet, wobei sich die letzteren von den ersteren nicht nur in Versmaß und -form unterscheiden, sondern vor allem dadurch, dass sie sich noch anstößiger ausnahmen. Und nun schien er sich nicht genug austauschen zu können mit diesem jungen Oberbergrat(1), der noch um einiges jünger war als seine Geliebte, von dem jedoch alle Welt ahnte, dass er homosexuell war, und mit dem gemeinsam er die seltsamsten Experimente unternahm – nicht nur in Weimar selbst, sondern auch in der nahen Universitätsstadt Jena. Da wurden etwa präparierte Froschschenkel auf eine Glasplatte gelegt und deren Nerven- und Muskelenden mit verschiedenen metallischen Leitern verbunden. Beugte man sich mit dem Gesicht und dem Mund darüber, kam es zum Erstaunen aller zu so heftigen Zuckungen, dass der Froschschenkel von der Platte herabflog. Mit dem Hauch des eigenen Atems schien man das Froschbein in Bewegung versetzen zu können. »Das Experiment sieht einem Zauber ähnlich, indem man bald – Leben einhaucht, bald den belebenden Odem zurücknimmt!«, meinte der junge Oberbergrat, der durch und durch Naturwissenschaftler war und sogar bekannte, nicht existieren zu können, ohne zu experimentieren.[3] Und auch Goethe zeigte sich beeindruckt: »Wie merkwürdig ist, was ein bloßer Hauch … thun kann!«[4]
Der Oberbergrat war Alexander von Humboldt(2), Absolvent der berühmten Bergakademie in Freiberg und laut Friedrich Schiller(1), dessen Freundschaft mit Goethe damals gerade begann, »in Deutschland gewiss der vorzüglichste in seinem Fache«. Er übertreffe »an Kopf vielleicht noch seinen Bruder, der gewiß sehr vorzüglich ist«.[5] Goethe und der Allervorzüglichste sind sich zum ersten Mal im Winter 1794/95 in der Universitätsstadt Jena begegnet, annähernd fünf Jahre, bevor Alexander von Humboldt(3) mit seinem Aufbruch in die Tropen als Entdeckungsreisender die Welt erobern und Geschichte schreiben sollte. Gleich kam man ins Gespräch über Naturwissenschaften, über Geologie, Botanik, Anatomie, Physiologie. Es war tiefe Sympathie auf den ersten Blick, unverständlich für alle, die in dem Jüngeren nur den »nackten schneidenden Verstand« sehen wollten, dem Älteren hingegen aus der Seele zu sprechen meinten, wenn sie verkündeten, die Natur müsse »angeschaut und empfunden werden, in ihren einzelnsten Erscheinungen, wie in ihren höchsten Gesetzen«.[6]
Das klingt zwar bis heute nach Goethe, stammt aber ebenfalls von Schiller(2). Dieser fand Alexander von Humboldt(4) schon bald gar nicht mehr so vorzüglich, nicht zuletzt weil er in ihm einen Konkurrenten in seiner Freundschaft zu Goethe witterte. Andererseits unterschätzte er die Bedeutung, die sein Freund Naturforschung und Naturwissenschaft, Beobachtung und Experiment beimaß.
Goethe ist zeitlebens nicht müde geworden, Humboldts(5) immense Kenntnisse, sein lebendiges Wissen, seinen Forscherdrang und seine Vielseitigkeit zu rühmen. Der junge Oberbergrat war vielleicht der einzige Mann, dem der Weimarer Geheime Rat sich zumindest teilweise unterlegen fühlte. Immer noch vom eigenen Lebenstempo und seiner raschen Auffassungsgabe überzeugt, pflegte der auf die Fünfzig zugehende Goethe trocken zu bemerken, die Leute hielten mit ihm nicht Schritt; wenn sie glaubten, er weile noch in Weimar, sei er schon längst in Erfurt angekommen. Mit Humboldt(6) aber bekam er es mit einem jungen Mann zu tun, dessen Sturmlauf ihn das Staunen lehrte: »Man könnte in acht Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt«, äußerte er sich gegenüber Carl August(2), als Alexander von Humboldt(7) einmal mehr in seiner Nähe weilte.[7]
Ermuntert durch ihn begann Goethe, im Januar 1795 den Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie zu verfassen – anders als der umständliche und spezialistisch klingende Titel vermuten lässt, eine grundlegende Skizze seiner Morphologie, Zentrum seines naturwissenschaftlichen Denkens. Jeden Morgen um sieben Uhr trat der junge Medizinstudent Max Jacobi(1) zu einem ersten Diktat an sein Bett, bevor Goethe dann um acht Uhr durch »tiefsten Schnee«, wie er sich erinnert, zur Jenaer Universität eilte, um dort gemeinsam mit Alexander von Humboldt(8) und dessen Bruder Wilhelm(1) einer Vorlesung des Anatomen Justus Christian Loder(1) über Bänderlehre beizuwohnen, die durch die Anwesenheit von so viel Prominenz fast den Charakter eines gesellschaftlichen Ereignisses bekam.[8] Loder war stolz, gerade für diese Vorlesung sechs Leichen für Demonstrationen zur Verfügung zu haben. Sie seien zwar »alle hart gefroren«, würden »sich aber nach und nach … auftauen lassen«, hatte er Goethe im Vorhinein frohgemut angekündigt. Und hinzugefügt: Fast wünschte er, der Tod wäre ihm und den anderen Medizinern immer so günstig.[9] Im Anschluss an den Vortrag von Loder fuhr Goethe dann häufig mit dem Diktat fort. Dabei habe sich auch Alexander von Humboldt(9) eingefunden, berichtet er, und gleichsam mitgedacht und mitgeschrieben an dem gerade entstehenden Konzept, als er seine »Ideen fast alle aphoristisch« von sich gab.[10]
Aber auch Alexander von Humboldt(10) profitierte von der Freundschaft mit Goethe. Als die beiden sich im Winter 1794/95 kennenlernten, war er ein so ehrgeiziger wie hochbegabter Experimentalwissenschaftler. Er stand an der Spitze einer Generation junger Forscher, die sich zunehmend auf Messungen verließen, dabei wenig Rücksicht auf Tradition und ethische Bedenken nahmen, aber große Erfolge vorzuweisen hatten. Nicht zuletzt durch spektakuläre, selbst den eigenen Körper nicht schonende Versuchsanordnungen verstand er es, in einzelnen Disziplinen wie der Physiologie, der Botanik oder der Geologie zu glänzen. Doch Humboldts(11) Ehrgeiz ging weiter: Er suchte nach einer leitenden Idee, unter der sich die einzelnen Disziplinen zu einer Art Metawissenschaft zusammenfassen ließen. Sie sollte es ermöglichen, die Erscheinungen der Natur in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu verstehen. Und da war die Begegnung mit Goethe ein großer Glücksfall.
Denn Goethe kannte sich in allen diesen Wissenschaften bestens aus und hatte sich zum Zeitpunkt der Begegnung mit Alexander von Humboldt(12) in jeder einzelnen bereits Meriten erworben. Zudem hatte er schon 1785, also noch vor seiner Italienreise, als er den Zwischenkieferknochen beim Menschen entdeckte, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lektüre von Spinoza(1) von der »Übereinstimmung des Ganzen«[11] zu sprechen begonnen – einer umfassenden Harmonie der Natur. Damit war zwar keineswegs geklärt, wie alles zusammenhing, was ihn als Naturforscher interessierte, und unter welchem Gesichtspunkt die Verknüpfung der Einzeldisziplinen geschehen sollte, aber er hatte ein Suchbild entworfen, mit dem sich nach einer übergeordneten Fragestellung fahnden ließ.
Humboldt(13) wäre ohne Goethe zweifellos ein guter Wissenschaftler geworden, er hätte seine Feldforschungen betrieben, Messungen angestellt, Daten gesammelt, sie zusammengetragen und der staunenden Öffentlichkeit davon erzählt, dass in fremden Weltgegenden alles anders und doch irgendwie gleich sei. Aber er hätte nicht jenen untrüglichen Blick für Zusammenhänge ausgebildet, den alle Welt an ihm bewunderte, diesen Ehrgeiz, das Chaos der einzelnen empirischen Erkenntnisse zu einem organischen Ganzen zu gestalten, das er dann später mit einem alten Begriff »Kosmos« nennt.
Humboldt(14) selbst hat nach seiner Rückkehr aus Amerika darauf aufmerksam gemacht, wie viel er den wenigen und kurzen, aber äußerst intensiven und folgenreichen Begegnungen mit Goethe in den Jahren 1794 bis 1797 verdankte. Überall sei er auf seiner Reise »von dem Gefühl durchdrungen« worden, »wie mächtig jene jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethe’s Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war«, schreibt er im Mai 1806. »Liegen auch grosse Bergmassen und Meere, ja, was höher und tiefer noch ist, die Vergegenwärtigung einer fast schauderhaft lebendigen Natur zwischen jener Zeit und dieser«, so konnte die Begegnung mit dem Fremden doch an ältere Vorstellungen anknüpfen, »und in den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur Ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Thieren und in des Menschen schwellender Brust.«[12]
Das sind so schöne wie rätselhafte Worte. Nach damals geläufiger Vorstellung existierten drei Reiche der Natur: das Reich der Steine, das Reich der Pflanzen und das Reich der Tiere, zu dem auch die Menschen gezählt wurden. Wie die drei Reiche zusammenhingen, ob sie durch Abgründe voneinander getrennt waren, aufeinander aufbauten oder sogar in Wirklichkeit Bestandteile eines einzigen Reiches waren, wurde viel diskutiert. Goethe selbst hatte dazu nach seiner Rückkehr aus Italien einen so reflektierten wie gewichtigen Beitrag geliefert. Humboldt(15) jedenfalls scheint alle drei Reiche als Ausdruck und Bestandteil eines letztlich umfassenden Ganzen zu begreifen. Dass mit diesem Ganzen nichts anderes als unser Heimatplanet gemeint ist, geht aus seiner Formulierung »von Pol zu Pol« eindeutig hervor. Die Erde bildet den gemeinsamen Boden und ihre Atmosphäre das gemeinsame Dach der drei Reiche. Alles Leben auf ihr steht in engstem Zusammenhang, und schon die Steine und noch der Mensch haben daran Anteil.
Diese weitreichenden Gedanken gehen in der Tat im Wesentlichen auf Goethe zurück. Wie er in seinem Tagebuch vermerkt, tauschte er sich im März 1797 mit Alexander von Humboldt(16) über die Bildung der Gebirge aus.[13] Humboldt(17) war zu der Überzeugung gelangt, dass die Schichtung und Lagerung des Gesteins allgemeingültigen, erdumspannenden Gesetzmäßigkeiten folgen. Goethe erinnerten diese Spekulationen an seinen alten Plan, einen »Roman über das Weltall« zu schreiben. Das war Anfang der 1780er Jahre gewesen, als seine vielfältigen Naturerfahrungen sich allmählich in die Richtung eigener Forschungen entwickelt hatten. Eine entscheidende Rolle dabei hatten die Bergwerkbesichtigungen gespielt, die er anfangs im Auftrag des Herzogs(3), später immer stärker aus eigenem Antrieb unternommen hatte. In den Berg einfahren, das bedeutete zu dieser Zeit, auf Leitern, sogenannten Fahren, in engen, feuchten Schächten in die Tiefe zu klettern. In den Stollen selbst dann konnte man sich nur gebückt oder kriechend vorwärtsbewegen. Es war die Erkundung einer geheimnisvollen Welt unter dem Erdboden, auf dem wir so selbstverständlich wie sicher zu stehen meinen. Mit jedem Meter, den Goethe unter Tage stieg, tauchte er auch tiefer in die geheimnisvolle Vergangenheit der Erde ein und entdeckte dabei, dass auch das scheinbar Unbelebte und Unveränderliche auf lange Zeiträume hin beweglich und lebendig ist.
Daraus hatten sich Forschungen und Spekulationen über die Entstehung und Bildung unseres Heimatplaneten ergeben und damit zusammenhängend auch das besagte Romanprojekt. Der Titel, den Goethe ihm gab, kann allerdings in die Irre führen. Aus den Texten, die er dafür verfasst hat, geht hervor, dass es sich um einen Roman weniger über das Universum als über den »Erdkörper« und seine Bewohner handeln sollte, angefangen von den ältesten Gesteinsformationen bis hin zum Menschen. »Sie müssen noch eine Erdfreundinn werden«, schrieb er Charlotte von Stein(2), als er sie 1780 in seinen Plan einweihte, es sei gar zu schön.[14] Der Roman sollte das Werk eines Erdfreundes für Erdfreundinnen und Erdfreunde werden und er sollte mit der Darstellung der Erde und ihrer Geschichte auch den »Erdling« Mensch zum Thema machen. Der Mensch sei mit seinem Wohnort so nah verwandt, heißt es in einem Brief Goethes an seinen Weimarer Freund Knebel(1), »daß die Betrachtung über diesen auch uns über den Bewohner aufklären muß«.[15] Wollen wir wissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehören, so müssen wir die Erde erforschen, an deren Leben wir teilhaben. Noch auf seiner Italienreise hatte Goethe Material zu diesem bislang nicht aufgegebenen Projekt gesammelt.
Nun, unter den lebendigen und leidenschaftlichen Ausführungen Alexander von Humboldts(18), stand Goethe der alte Plan wieder vor Augen. Jener dagegen zeigte sich von den visionären Konzepten des Älteren beeindruckt. Goethe war ihm bei dem Vorhaben, Gesetzmäßigkeiten zu finden, die für die Erde insgesamt galten, vorausgeeilt. Mehr noch: Er hatte längst gefunden, wonach Humboldt die ganze Zeit suchte: Der Konvergenzpunkt seiner disparaten Forschungen war ein ganzheitliches Bild der Erde, ihrer Gestalt und Geschichte. Im Rückblick meint Humboldt(19), das zentrale Erkenntnisinteresse seiner Amerikaexpedition habe darin bestanden, Fakten zur Erweiterung einer Wissenschaft zu sammeln, »die noch kaum skizziert und ziemlich unbestimmt Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie genannt wird«.[16]
Dabei kam es weniger auf die genaue Bezeichnung als auf den Umstand an, dass bei Goethe wie bei Humboldt(20) die Erde ins Zentrum ihrer Erkundungen und ihres Erkenntnisinteresses rückte. Hier liefen die Fäden ihrer vielfältigen Beobachtungen und Forschungsvorhaben zusammen. In Goethes Fall reichten sie von der Geologie und Botanik bis hin zur Morphologie und zu ersten Ansätzen einer Meteorologie und Atmosphärenphysik. Selbst seine Farbenlehre sah Goethe in diesem Zusammenhang. Um 1800 war eine solche umfassende Perspektive alles andere als selbstverständlich, und so ist sie auch weitgehend unbeachtet geblieben. Bei Goethe wie auch bei Alexander von Humboldt(21) bereitet sich vor, was wir heute etwa Erdsystemforschung nennen. Die Bedeutung, die die Erde in ihrem Denken hat, geht dabei allerdings über bloße Wissenschaft hinaus: Insbesondere für Goethe war sie kein toter Planet, sondern glich einem lebendigen Organismus, der die ihn umhüllende Atmosphäre ein- und ausatmet, so wie die auf der Erde wohnenden Lebewesen das mit der sauerstoffgesättigten Luft tun, die sie umgibt und die sie zum Leben brauchen.
Goethe hatte als junger Mann die Erfahrung gemacht, dass nur gewinnen kann, wer sich auf das Kräftespiel der Natur einlässt. Der Mensch gehörte zur Erde; nur die Natur verlieh ihm die Kräfte, die er brauchte, um sein Leben zu meistern. Verlor er hingegen den Kontakt zur Erde, so war er über kurz und lang selbst verloren. 1783 war der erste Ballon gestartet, der erwärmte Luft zum Auftrieb nutzte. Die Gebrüder Montgolfier(1)(1) schrieben damit Geschichte – es war nichts weniger als der Beginn der Luftfahrt. Bald schon füllte man die Ballons mit Wasserstoff statt mit heißer Luft, so der Pariser Physiker Jacques Alexandre César Charles(1), dessen »Charlière« Ende August 1783 ihren Jungfernflug hatte – anfangs noch unbemannt oder mit Tieren als Passagieren. Goethe selbst hatte sich an Versuchen beteiligt, Ballone »auf Montgolfierische Art« steigen zu lassen, wähnte sich im Rückblick sogar der Entdeckung und Entwicklung der Heißluftballone ganz nahe, was stark übertrieben war. Das gilt aber kaum für die zeitkritische Überlegung, die er in diesem Zusammenhang anstellt. Sie hat seitdem nicht an Aktualität verloren, im Gegenteil. »Wie es vor alten Zeiten, da die Menschen an der Erde lagen, eine Wohltat war, ihnen auf den Himmel zu deuten und sie aufs Geistige aufmerksam zu machen«, schreibt er 1785 an Knebel(2), »so ists jetzt eine größere sie nach der Erde zurückzuführen und die Elastizität ihrer angefesselten Ballons ein wenig zu vermindern.«[17] Auch dazu sollten die Erdwissenschaft und der geplante Roman beitragen.
Bis heute trägt das Bild Goethes als Naturforscher ambivalente Züge. Einen ersten Höhepunkt erreichte das bereits zu Lebzeiten mit der Veröffentlichung der umstrittenen, gegen Newton(1) polemisierenden Farbenlehre, die immerhin sein umfangreichstes Werk ist, und setzte sich nach seinem Tod verstärkt fort. Einerseits schien die Zeit über ihn, seine Art zu forschen und die Ergebnisse seiner Forschung hinwegzugehen, wie viele meinten. Andererseits hielt er dem rasanten Fortschritt der Wissenschaft den Spiegel vor und wies auf den Preis hin, den dieser hatte. Neben einem ganzheitlichen Verständnis von Natur steht auf den vorderen Rängen dieser Verlustliste auch der »Wechseleinfluss«, wie Goethe sich ausdrückte, von Naturforschung und Selbsterforschung. Goethes großartige Idee war: Je besser wir die Natur verstehen lernen, desto besser lernen wir auch uns selbst als Lebewesen kennen, denn wir sind selbst Natur. Die gesamte Geschichte der Erde von der Entstehung der Atmosphäre über den Landgang der Pflanzen und Wirbeltiere bis zu Eiszeiten, zu deren Mitentdecker Goethe zählt, hat mitgewirkt an unserer Existenz und Entwicklung. Schiller(3) nannte das eine »wahrhaft heldenmäßige Idee«, den Menschen »genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen«.[18] Goethe, weniger idealistisch und auch weniger heroisch gesinnt, sprach eher von der Durcharbeitung seines armen Ich, die ihm auf keinem anderen Wege als dem der Naturforschung zuteilwerde.[19]
Während wir uns inzwischen damit angefreundet haben, Goethes Person und seine literarischen Werke in ihrem Zeitcharakter zu verstehen und erst auf dieser Grundlage nach ihrer Aktualität für die Gegenwart zu fragen, nehmen wir gewöhnlich seine naturwissenschaftlichen Schriften von dieser historischen Betrachtungsweise aus. Wir befragen sie unmittelbar daraufhin, was an ihnen wahr oder falsch ist, was als widerlegt oder als noch haltbar gelten kann. Diese Vorgehensweise entspricht zwar dem Selbstverständnis der Naturwissenschaften, verwehrt uns aber ein tieferes Verständnis dessen, was Goethe da eigentlich gemacht und gedacht hat, als er fünfzig Jahre seines Lebens Naturforschung betrieb. Wie wir sehen werden, erschließen sich große Teile von Goethes naturwissenschaftlichen Interessen, Bemühungen und Überlegungen nur vor dem Hintergrund der Naturforschung seiner Zeit, ihrer Vorgehensweise wie ihres Selbstverständnisses. Erst wenn man Goethes Forschungen in diesen historischen Kontext zurückversetzt und ihren Zeitcharakter ernst nimmt, lässt sich auch verstehen, was daran noch für uns relevant ist.
Goethe hat es im Alter ein »schönes Glück« genannt, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchlebt zu haben, und es für einen »großen Vorteil« gehalten, »gleichzeitig mit großen Entdeckungen gewesen zu sein«. Ein Schema des Anfang Siebzigjährigen parallelisiert skizzenhaft die eigene Biographie mit der dynamischen Entwicklung der Naturforschung zwischen 1750 und 1820, als die Grundlagen sowohl der Elektrizitätslehre als auch der modernen Biologie und Chemie gelegt wurden.[20] Man mag sich fragen, welches Bild wir wohl von Goethe hätten, wenn er diese Skizze ausgeführt hätte, womöglich sogar in einem Parallelunternehmen zu seiner Autobiographie der ersten fünfundzwanzig Lebensjahre und erweitert um die Geschichte seiner botanischen und anatomischen Studien sowie der Farbenlehre. Aber selbst wenn daraus lediglich ein großer autobiographischer Aufsatz entstanden wäre, würde das unser Bild von Goethe sichtlich verändern. »Ja, wenn ich gescheit gewesen wäre, hätte ich dies getan«, soll Goethes Reaktion gewesen sein, als Karoline von Wolzogen(1) dem schon alten Mann vorschlug, ein populäres Buch nach der Art von Charles Bonnets Betrachtung über die Natur zu schreiben, »wo alle Fortschritte des Naturstudiums unsrer Zeit benutzt wären«.[21]
Diese Biographie ist auch ein Versuch, das Unterlassene nachzuholen. Goethe nur als Dichter zu verstehen, heißt zwar nicht, ihn grundsätzlich misszuverstehen, aber die Hälfte auszublenden. Immer wieder hat Goethe betont, das von ihm auf dem Gebiet der Naturbeobachtung und Naturforschung Geleistete sei dem, was er als Schriftsteller in die Waagschale zu werfen habe, mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, jedenfalls wichtiger. Man tut das bis heute als kokettierendes Selbstmissverständnis des Dichters ab. Aber dahinter steht ein so einseitiges wie fragwürdiges Goethe-Bild, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat, als der Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gezogen wurde. Goethe galt den meisten seither als Schöngeist mit einem Naturspleen, über den eine verständnisvolle Nachwelt in der Regel gnädig hinwegzusehen bereit war.
Statt Goethe nachträglich die Kompetenz als Naturforscher abzusprechen oder ihn zum Ahnherrn eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels wie der Evolutionstheorie zu erklären, stellt diese Biographie Goethe gewissermaßen wieder auf die Füße, wogegen die anderen in der Regel nur den Kopf oder das Herz betrachten. Lange schon bevor sich Goethe als Naturforscher betätigt, ist er Naturerfahrender, und er bleibt dies auch als Naturforscher. Seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Natur liegt stets der erfahrende Umgang mit ihr zugrunde, wie er prinzipiell jedem zugänglich ist. Dazu gehören der Waldspaziergang genauso wie sich auf eine Wiese zu legen, dem Wind zu lauschen und den Wolken hinterherzuschauen; einen Berg zu besteigen oder nackt in einem abgelegenen See zu schwimmen; auf allen Vieren durch Höhlen zu kriechen oder selbst Blumen und Gemüse zu ziehen; Pflanzen und Tiere zu beobachten und auf weglosen Pfaden, bei Wind und Wetter die Wildheit auch gezähmter Natur zu erleben. Goethe hat dies alles und noch viel mehr am eigenen Leib erfahren, wie man früher sagte. Und er hat auch den eigenen Körper als Natur erlebt, als Hort sinnlicher Freuden und Leiden und als höchst sensitives Instrument der Erfassung natürlicher Wahrheiten.
Goethes Leben ist eine Geschichte der Erfahrung der Natur. Erfahrung der Natur war für ihn nicht eine Angelegenheit unter vielen, sondern so etwas wie die geheime Mitte alles seines Tuns, das Schreiben eingeschlossen. Darin liegt eine weitere Aktualität Goethes: dass er die Erforschung der Natur an ihre konkrete Erfahrung bindet, und zwar nicht unter Laborbedingungen, sondern an der frischen Luft. Und dass er uns dabei vormacht, wie eine Erforschung der Natur aussehen könnte, der es vorderhand nicht um ihre Beherrschung und Verwertung geht, sondern die uns mit Staunen und Respekt erfüllt.
Zum Kritiker von Naturzerstörung wurde Goethe erst spät in seinem Leben, ganz ausdrücklich etwa im Schlussakt des zweiten Teils des Faust, als bereits absehbar war, dass die beginnende Industrialisierung zu einer Umgestaltung der Natur in großem Maßstab führte. Goethes Verhältnis zur Natur war positiv: Früh in seinem Leben entdeckte er die Natur als eine Ordnung, die größer ist als er selbst. Er sah sich selbst als Teil der Natur – eine Erfahrung, deren Tragweite wir nach dem Durchgang durch den Prozess der Industrialisierung mit einem Resultat wie dem des Klimawandels erst zu ermessen beginnen und deren Verständnis wir uns langsam zurückerobern. Zugleich machte er die Erfahrung, dass die Natur in Zeiten der Krise und des Umbruchs Orientierung bieten kann – nicht als Urzustand, den wir wiederherzustellen versuchen, sondern als das, was bleibt, was in allem ist und sich nicht selbst vernichtet.
[22][23](1)(3)kein[24]