Bis zum Mond und zurück

Dani Atkins

Bis zum Mond
und zurück

Roman

Aus dem Englischen von
Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Dani Atkins

Dani Atkins, 1958 in London geboren und aufgewachsen, lebt heute mit ihrem Mann in einem Dorf im ländlichen Hertfordshire. Sie hat zwei erwachsene Kinder. Mit ihren gefühlvollen und dramatischen Liebesgeschichten erobert sie nicht nur die SPIEGEL-Bestsellerliste, sondern auch stets die Herzen der Leserinnen.  

 

Bislang sind folgende Romane der Autorin erschienen:

Die Achse meiner Welt

Die Nacht schreibt uns neu

Der Klang deines Lächelns

Sieben Tage voller Wunder

Das Leuchten unserer Träume

Sag ihr, ich war bei den Sternen

Wohin der Himmel uns führt

Heller als alle Sterne

Kapitel 1

Alex

Hätte er es nur gewusst, hätte er alles anders gemacht. Er hätte sie fester umarmt, hätte sie länger geküsst, sie einfach festgehalten und nicht mehr losgelassen. Hätte er es doch nur gewusst …

Doch in der sonnendurchfluteten Küche hatten seine Lippen ihre nur gestreift, als würden in den nächsten Jahrzehnten noch tausend weitere Küsse folgen. Als könnten sie sich immer noch küssen, wenn ihr Haar von Silberfäden durchzogen war, während sein Haar immer dünner und sein Bauch dicker wurde.

Er hatte sich gerade gebückt, um den Orangensaft aufzuwischen, den Connor verschüttet hatte, da kam Lisa in die Küche und sah, wie der Saft auf den schwarz-weißen Fliesenboden tropfte und ihr Sohn in Tränen auszubrechen drohte. Connors Unterlippe zitterte.

»Niemand ist böse auf dich, Großer. Es war doch nur ein Versehen.« Alex schaute seine Frau an, und in seinem Blick war zu lesen, was er nicht aussprach. So was meine ich, wenn ich sage, er ist zu sensibel.

Ihre kornblumenblauen Augen erwiderten: Er ist erst sechs Jahre alt, und er kommt mit solchen Situationen eben nicht gut klar. Lass es einfach gut sein.

»Warte, ich mach das«, hatte Lisa gesagt und zu Alex’ Erleichterung nach dem Lappen gegriffen, während die Saftlache sich immer weiter ausbreitete.

Alex hatte an ihr hochgeschaut, angefangen bei den Stilettos mit den roten Sohlen, von denen ihr am Ende des Tages die Zehen schmerzen würden, bis hinauf zu dem beigefarbenen Etuikleid. Es war das perfekte Outfit für eine Frau, die bei einer Messe in London einen Vortrag halten würde, aber weniger gut geeignet, wenn man klebrige Saftpfützen in der Küche beseitigen musste.

»Den Rest mach ich, Schatz, ich schaff das schon.« Er sah auf seine Uhr und verschwendete damit weitere wertvolle Sekunden, in denen er das Gesicht seiner Frau hätte betrachten können. »Beeil dich lieber, sonst verpasst du noch deinen Zug.«

Er hatte recht gehabt, und doch hatte sie gezögert. Hatte sie ihn damals gespürt, den Augenblick, in dem der Sand aus dem oberen Teil der Sanduhr zu rieseln begann?

»Du nimmst den um 7:48 Uhr, oder?«

Lisa hatte genickt und mit einer einzigen Bewegung sowohl ihre Laptoptasche als auch ihren Autoschlüssel ergriffen.

»Ich würde so gern mitfahren, Mummy! Ich will die Modelle vom Mond und von den Planeten angucken.«

Lisa ging neben Connors Stuhl in die Hocke. Alex mochte es, dass sie das immer machte, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sprechen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Diese Gewohnheit wollte er eigentlich übernehmen, doch er vergaß seinen guten Vorsatz ständig.

»Ich weiß, mein Schatz. Aber ich werde dort so mit diesem langweiligen Vortrag beschäftigt sein, dass wir gar keine Zeit hätten, uns gemeinsam all die tollen Ausstellungsstücke anzusehen. Nächstes Jahr dann«, flüsterte sie und küsste ihren Sohn auf den zerzausten, rotblonden Haarschopf. »Nächstes Jahr fahren du und ich gemeinsam zur Astronomiemesse. Mit dem Zug. Und wir schauen uns dort den ganzen Tag lang alles an, jeden einzelnen Stand. Nur du und ich.« Lisa legte sich die französisch manikürten Finger aufs Herz. »Versprochen.«

Alex sah fort, um ein Schmunzeln zu verbergen, denn er wusste nur zu gut, wie aufgeregt seine dreiunddreißigjährige Frau darüber war, dass sie diesen langweiligen Vortrag halten durfte. Sie hatte ihn Abend für Abend geübt, mit Alex auf dem Bett sitzend, den Laptop zwischen ihnen, und hatte ihm von schwarzen Löchern, Supernovas und den Tiefebenen auf dem Mond erzählt, und das mit einer Leidenschaft, die ihn mit Stolz erfüllte, solch eine kluge und schöne Frau zu haben.

Er kannte ihren Vortrag inzwischen beinahe so gut wie sie selbst. »Das wird der Hammer«, hatte er ihr gestern Abend gesagt, sich zu ihr hinübergebeugt und vorsichtig ihren Laptop zugeklappt.

»Aber ich muss noch …«, protestierte sie, verstummte aber, als er sie küsste. »Na gut«, sagte sie seufzend und glitt mit ihren Händen unter den Saum seines T-Shirts, um seine Rückenmuskeln zu erkunden. »Ich kann ja schließlich improvisieren.«

»Drück mir die Daumen«, sagte Lisa jetzt und erhob sich scheinbar mühelos, trotz ihrer Wolkenkratzer-High-Heels, in denen sie nur wenige Zentimeter kleiner war als er. Sie ging zu ihm, um ihn zu umarmen, und hüllte ihn in eine hauchfeine Wolke des Parfums ein, das sie nur zu besonderen Anlässen trug. Und heute war tatsächlich ein besonderer Tag für sie; das sah er ihr an den Augen an, die vor Aufregung glänzten.

Er drückte sie an sich, und ihm wurde auf eigenartige Weise eng ums Herz, als sich ihre vertrauten Rundungen an ihn schmiegten wie die eine Seite eines Yin-Yang-Symbols an die andere. Schließlich ließ er sie los, mit einem Widerstreben, das er sich nicht erklären konnte.

»Hals- und Beinbruch«, sagte er und stahl sich einen letzten Kuss von ihr, ehe sie ging.

Aus dem Flur war noch ihr Lachen zu hören, dann verschwand sie durch die Haustür. »Hals- und Beinbruch«, das waren an diesem Morgen seine letzten Worte zu ihr gewesen.

 

Connor gefiel es offenbar, zur Abwechslung mal von Elternteil Nummer zwei versorgt zu werden, dem eindeutig schwächeren Kandidaten für diesen Job, weil Alex doppelt so lange brauchte wie Lisa, um ihn schulfertig zu machen. Alex fand trotzdem, dass er eigentlich Extrapunkte dafür verdiente, wie er auf Connors Beteuerungen reagierte, seine Zahnbürste schmecke »komisch«, und wie er den fehlenden Schuluniformschuh fand, der sich auf rätselhafte Weise unter Connors Kopfkissen verirrt hatte.

Obwohl sie schon längst im Wagen hätten sitzen und auf dem Weg hätten sein sollen, nahm sich Alex die Zeit, seinem Sohn den blank geputzten schwarzen Schuh zuzubinden, während der Junior die Beine baumeln ließ.

»Alles okay, Großer? Dich bedrückt doch nichts wegen der Schule, oder?«

Connor hörte auf, mit den Füßen zu zappeln, und Alex wurde etwas nervös. Sein Sohn war ein stiller, intelligenter Junge, ein Kind, das bei den Lehrkräften beliebt war, aber von anderen Kindern eher gemieden wurde. In der Schule hatte er ein paar Freunde, aber Alex und Lisa hatten ihn auch schon ganz allein am Rand des Spielplatzes darauf warten sehen, dass man ihn abholte.

Alex wünschte, Lisa hätte heute nicht den frühen Zug nehmen müssen, denn in solchen Dingen war sie viel besser als er. Seit dem Moment, als die Hebamme ihr das Neugeborene in den Arm gelegt hatte, hatte es zwischen seiner Frau und ihrem Sohn ein unzerstörbares Band gegeben. Alex hatte sich zwar nie ausgeschlossen gefühlt, aber er wusste, dass Connor seine Mutter mehr brauchte als ihn. »Das wird sich alles ändern, wenn er lernen muss, wie man sich rasiert, einparkt oder ein Mädchen um ein Date bittet«, hatte Lisa gesagt. »Da kannst du dann glänzen, Schatz.«

Weil nichts dergleichen unmittelbar bevorstand, hatte er immer noch das Gefühl, ein riesiges »Anfänger«-Schild auf dem Rücken zu tragen; Lisa hingegen meisterte die Elternprüfung mit Bravour.

»Mein Bauch fühlt sich komisch an«, sagte Connor und rieb sich die Magengegend.

»Als ob du dich übergeben müsstest?«

»Nein. Nur so, wie wenn ich was Ekliges gegessen hab.«

Seine Worte beschrieben ganz treffend das merkwürdige Gefühl, das Alex vorhin in der Küche auch gehabt hatte. Er legte Connor etwas unbeholfen die Hand auf die Stirn, so, wie er es bei Lisa schon hundertmal zuvor gesehen hatte. Soweit er es beurteilen konnte, schien sein Sohn kein Fieber zu haben.

»Wir können es in der Schule ja Mrs Anderson sagen, und wenn du dich später nicht gut fühlst, kann ich jederzeit kommen und dich abholen, was meinst du? Ich arbeite heute von zu Hause aus.«

Als Alex zum zweiten Mal prüfte, ob Connors Sicherheitsgurt geschlossen war, überlegte er immer noch, ob er Lisa anrufen und sie in der Sache um Rat fragen sollte. War es richtig, Connor zur Schule zu bringen, obwohl ihm schlecht war? Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Wahrscheinlich stand Lisa jetzt schon auf dem Bahnsteig, aber wenn er ihr sagte, dass Connor sich krank fühlte, würde sie die Messe garantiert sausen lassen und sofort heimkommen, um bei ihrem Sohn zu sein. Alex schüttelte entschlossen den Kopf. Lisa hatte lange und hart auf eine solche berufliche Anerkennung hingearbeitet, und er wollte ihr diesen großen Moment nicht wegen etwas so Belanglosem wie seinem oder Connors »komischem« Gefühl im Bauch nehmen. Sie würden schon einen Tag lang ohne sie zurechtkommen.

 

»Natürlich, wir behalten ihn im Auge. Aber solche Beschwerden verschwinden auch oft wie von Zauberhand, sobald die Kinder dann hier mit ihren Freunden zusammen sind.«

Alex schaute zu Connor, der allein an einem niedrigen Tisch saß, einen prall gefüllten Behälter mit Stiften und ein Blatt Papier vor sich. Mehrere Kinder rannten im Klassenzimmer herum wie die Wilden; andere beugten sich über Kisten mit Bausteinen, Büchern und Sachen zum Verkleiden. Connor war das einzige Kind, das sich hingesetzt hatte.

»Er ist ein sehr lieber kleiner Junge«, sagte Mrs Anderson freundlich. Dann musste sie zwei Kinder trennen, die nach Alex’ Einschätzung in einigen Jahren wohl Kandidaten für Sozialstunden sein könnten. »Ehrlich gesagt könnte ich in der Klasse noch ein paar mehr Schüler wie Connor gebrauchen, Mr Stevens«, gestand sie lachend.

Als er zu seinem Sohn ging, um sich zu verabschieden, fühlte Alex sich wieder einmal wie ein Riese in Liliput. Er ging an Stühlen vorbei, die so niedrig waren wie Melkschemel, und an Tischen, die ihm nur bis zu den Knien reichten. Connor hatte sich tief über das Papier gebeugt, sein Haar war völlig zerzaust. Hatte Alex ihn gekämmt, bevor sie aufgebrochen waren? Er musste es wohl vergessen haben.

Glücklicherweise fiel Alex noch ein, dass Abschiedsküsse nur im Schutz des Autos, nicht in der Öffentlichkeit erlaubt waren, also strich er bloß kurz über Connors ohnehin schon verstrubbeltes Haar. »Ich geh dann mal, Großer.«

Connor schaute vom Blatt hoch, auf dem er mit dicken Wachsstiften gemalt hatte. Es war ein Bild, wie Alex es schon unzählige Male zuvor gesehen hatte. Verschiedene Versionen davon hingen im Zimmer seines Sohnes an der Wand, andere waren mit Magneten an der Kühlschranktür befestigt, neben Lisas Einkaufszettel. Wieder einmal hatte Connor den Mond zu Papier gebracht, aber nicht so, wie ihn ein Kind in seinem Alter normalerweise darstellen würde. Das war kein strahlend blauer Himmel mit gelber Sonne, Mond und Sternen und auch keine Kugel mit albern lächelndem Gesicht, sondern der echte Mond mit Schatten, Vulkanen und realistisch abgebildeten Kratern.

Connor hatte nicht nur die vollen Lippen und die unglaublich langen Wimpern seiner Mutter geerbt, sondern auch ihre Liebe zur Astronomie. Kein Wunder, dass er enttäuscht war, nicht mit Lisa auf die Messe fahren zu dürfen.

 

Alex ging schnell zum Parkplatz der The Meadows Primary School, sein Wagen war der letzte, der dort noch stand. Knapp vor den ersten dicken Regentropfen, die vom bedrohlich dunklen, bleifarbenen Himmel zu fallen begannen, schaffte er es ins Fahrzeug. Er hatte länger als gedacht mit Connors Klassenlehrerin gesprochen – als er das Autoradio anmachte, waren die Neun-Uhr-Nachrichten schon fast vorbei. Während der Nachrichtensprecher für den späten Vormittag örtlich starke Schauer ankündigte, schaltete Alex die Scheibenwischer an.

»Ach, wirklich?«, murmelte er und fuhr durch Pfützen, die bereits tief genug waren, dass jeder zu dicht vorbeilaufende Fußgänger von oben bis unten nass gespritzt worden wäre, wenn er nicht aufpasste. Wenigstens saß Lisa jetzt bestimmt im warmen und trockenen Zug. Wahrscheinlich ging sie zum x-ten Mal ihren Vortrag durch, dachte Alex und musste schmunzeln.

Würde sie es nach all den Wochen, die sie sich auf die Messe vorbereitet hatte, wohl langweilig finden, das Kinderbuch über Astronomie weiterzuschreiben, an dem sie die letzten acht Monate gearbeitet hatte? Erneut musste er schmunzeln, denn er wusste, dass Lisa dieses Projekt mit der gleichen Leidenschaft anging wie alles, was sie anpackte.

Obwohl noch ein paar Kapitel fehlten, hatte er bereits die Seite mit der Widmung entdeckt, zufällig, als er am Vortag etwas auf ihrem Schreibtisch gesucht hatte. Früher hätte er sich dafür geschämt, dass ihm beim Lesen Tränen in die Augen getreten waren: Für Alex und Connor, die ich liebe und für die ich bis zum Mond und zurück fliegen würde. Aber das war sein altes Ich gewesen, vom Typ harter Möchtegernmacho, den Lisa binnen eines Herzschlags durchschaut hatte. Irgendwie hatte sie immer gewusst, dass sich unter der harten Schale ein Mann verbarg, in den sie sich würde verlieben können. Und zum Glück war das dann auch so gekommen, denn bevor Lisa in sein Leben getreten war, war dieses so eintönig gewesen wie eine Sepiafotografie im Vergleich zu der bunten Version, die er jetzt genoss.

Wir sollten das heute Abend feiern, kam es Alex plötzlich in den Sinn, und er ärgerte sich, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein. Im umgekehrten Fall hätte Lisa ganz sicher schon eine große Überraschungsparty für ihn geplant und bereits alle ihre gemeinsamen Freunde eingeladen. Es war zu spät, um dergleichen noch auf die Beine zu stellen, aber sie konnten zumindest zu dritt essen gehen, zum Beispiel zu dem Italiener, den sie so mochte.

Er musste nur wissen, wann sie wieder zurück sein würde. Als er sich ihre letzten Gespräche in Erinnerung rief, konnte er sich allerdings nicht entsinnen, dass sie ihm eine Uhrzeit genannt hatte. Doch er konnte sie ja unter einem Vorwand anrufen und die Frage beiläufig stellen. Als er jedoch den Knopf am Lenkrad drückte, um den Sprachassistenten zu aktivieren, wusste er bereits, dass Lisa die Lüge wie immer sofort durchschauen, aber auch vorgeben würde, nichts zu ahnen, und völlig überrascht tun würde. Sie kannten einander so gut, es war, als hätten sie irgendwann während der vergangenen neun Jahre aufgehört, zwei Individuen zu sein, und wären irgendwie zu einer Einheit verschmolzen.

»Lisa anrufen«, befahl er seinem Handy und warf währenddessen einen Blick auf die Uhr. Sie saß gewiss noch im Zug, würde also mit ihm sprechen können.

Nur konnte sie es eben nicht.

»Hallo.« Ihre Stimme drang aus allen Lautsprechern.

»Hallo, Schatz, ich bin’s. Ich wollte nur wissen, ob …«

»Tut mir leid – ich kann Ihren Anruf gerade nicht entgegennehmen. Sie wissen, was zu tun ist. Ich rufe Sie so bald wie möglich zurück.«

Alex fühlte sich merkwürdig niedergeschlagen, weil er sie nicht erreicht hatte, was verrückt war, da er sie ja noch vor anderthalb Stunden gesehen hatte. Er betrachtete seinen Ehering aus Platin und grinste bitter. Mit der Ansage hast du mich aber drangekriegt, Baby, dachte er und schüttelte den Kopf.

»Ich wollte dir nur noch mal viel Glück wünschen, Liebling. Ich hoffe, alles läuft gut. Melde dich, wenn du mal eine freie Minute hast.« Er wollte den Anruf schon beenden, da beschlich ihn ein unerwartetes Gefühl, ein merkwürdiger Schauder lief ihm Wirbel für Wirbel den Rücken hinunter. »Ich liebe dich, Lisa«, fügte er hastig hinzu.

Kapitel 2

Molly

Es war einmal …«

Ich legte eine Pause ein, allerdings nicht, um die Spannung zu steigern, denn ich wusste aus Erfahrung, dass das in einem Raum voller Sechsjähriger unnötig war. Es geschah aus demselben Grund, weshalb ich neuerdings auf jedem Treppenabsatz stehen blieb, weshalb einem Bus nachzurennen nicht mehr vorkam und weshalb mein Badezimmerschränkchen mit Medikamenten statt Kosmetika vollgestopft war. Hätte ich noch eine letzte Bestätigung gebraucht, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, dann war es die Tatsache, dass ich nicht mal einen Satz zu Ende bringen konnte, ohne Atemnot zu bekommen.

Vierundzwanzig Augenpaare schauten zu mir auf. Ausnahmsweise zappelte niemand herum, ärgerte seinen Nachbarn oder redete, wenn er nicht reden sollte. Sie saßen im Schneidersitz auf ihren Matten und warteten geduldig darauf, dass ich weitererzählte. Es würde meine letzte Aktion als ihre Klassenlehrerin sein, und die Bedeutung des Augenblicks war ihnen bewusst. Sie waren noch jung – zu jung, um das Wort Kardiomyopathie aussprechen zu können, geschweige denn, es zu verstehen –, und doch gingen sie mit der Situation wesentlich besser um als viele Erwachsene.

»Werden Sie sterben, Miss?« Die Kinder scheuten sich nicht, diese Frage zu stellen, ganz im Gegensatz zu meinen Kollegen. Allerdings war mir aufgefallen, dass die anderen Lehrkräfte an der Green Hills Primary School mit Besorgnis verfolgten, wie mein einst rosiger Teint immer mehr zu der Farbe von Pergament verblasste und meine Lippen eine bläuliche Färbung annahmen, die sich auch mit rosa Lippenstift nicht mehr überdecken ließ, ganz gleich, wie viel ich auftrug.

Wie die meisten Leute Anfang dreißig hatte ich mich noch nie groß mit meiner eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt, bis vor anderthalb Jahren ein Virus mein Leben auf den Kopf gestellt hatte. Es verfolgte seine ganz eigenen Ziele, und dadurch wurde mein sorgfältig ausgeklügelter Fünfjahresplan von meinem eigenen Körper über den Haufen geworfen.

Meine Familie hat mich schon immer für dickköpfig gehalten, womit sie wahrscheinlich recht hatte, denn ich missachtete monatelang stillschweigend den Rat der Ärzte, dass es an der Zeit war, mit der Arbeit aufzuhören. Es brauchte ein Kind, das auf dem Schulhof hinfiel, sich blutige Knie und ein verstauchtes Handgelenk holte und das ich nicht hochheben konnte, bis ich es endlich einsah. Die, die am meisten darunter litten, dass ich meine Grenzen nicht wahrhaben wollte, waren zugleich diejenigen, die mir am wichtigsten waren: die Kinder.

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Mit perfektem Timing kam ich in genau dem Moment zum Ende, als die Schulglocke läutete.

Wenn es für Sechsjährige an der Zeit ist, nach Hause zu gehen, erinnert das meist an eine Mischung aus Gefängnisausbruch und Winterschlussverkauf. Aber überraschenderweise stürmte heute niemand wie verrückt zur Tür. Stattdessen stellten sie sich ordentlich in einer Reihe auf – etwas, wozu ich sie sonst nie hatte bewegen können. Jedes einzelne Kind in meiner Klasse wartete geduldig, bis es dran war, mich zum Abschied zu umarmen. Kein Arbeitszeugnis hätte mir mehr bedeuten können. Wenn das tatsächlich mein letzter Augenblick als Grundschullehrerin war, dann war dies ein wundervolles Abschiedsgeschenk.

 

Mit den Stiefeln hatte es angefangen. Sie waren neu, unglaublich stylish, aus butterweichem, karamellfarbenem Leder und passten wie angegossen. Immer wenn ich den Reißverschluss hochzog, vergaß ich praktischerweise den horrenden Preis, den ich dafür bezahlt hatte. Sie gaben mir ein gutes Gefühl. Trotz der eher flachen Absätze waren sie schick und bestens geeignet für die Arbeit.

Doch als ich sie eines Morgens anzog, schien der Reißverschluss plötzlich zu klemmen. Ich erinnere mich noch, wie ich mit gerunzelter Stirn versuchte, ihn Stück für Stück hochzuziehen. Angesichts des hohen Preises der Stiefel sollte er doch wesentlich länger halten als nur zwei Wochen. Nachdem ich es schließlich geschafft hatte, einen zu schließen, erging es mir mit dem zweiten ähnlich. Ich vergaß das Ganze – zumindest für die nächsten zehn Stunden.

Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, sank ich gegen die Eingangstür, die ich hinter mir geschlossen hatte, und wurde wieder mal von einem Hustenanfall geschüttelt. Im Flurspiegel erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht. Ich sah schrecklich aus und klang noch schlimmer. Wie jemand, der jahrzehntelang den Warnhinweis auf der Zigarettenschachtel ignoriert hat – dabei hatte ich noch nie in meinem Leben geraucht.

Es war wenig überraschend, dass ich mir etwas eingefangen hatte, und normalerweise war es für mein Immunsystem kein Problem, mit den Infekten fertigzuwerden, die kleine Kinder so gern mit unbewusster Großzügigkeit weitergaben. Doch diesen Husten wurde ich einfach nicht los. Die Rippen taten mir weh, und ich fand kaum noch Schlaf. Flach zu liegen machte es noch schlimmer, aber selbst mit den Kissen von Toms nun unbenutzter Bettseite fand ich keine Ruhe.

Jetzt wollte ich nur noch in meine Jogginghose schlüpfen und mich aufs Sofa werfen. Die Treppe hinaufzusteigen war wie einen Berg zu erklimmen, und obwohl es nur um dreizehn Stufen ging, musste ich auf halbem Weg stehen bleiben, um meiner Lunge eine Pause zu gönnen.

Ich stieg aus meinem Kleid und ließ es auf dem Schlafzimmerteppich liegen, weil mir die Kraft fehlte, es zum Wäschekorb zu bringen. Tom wäre von der Unordnung nicht begeistert gewesen, aber seit einem halben Jahr bereitete mir das kein Kopfzerbrechen mehr.

Ich setzte mich aufs Bett und beugte mich vor, um die Stiefel zu öffnen. Der Reißverschluss gab keinen Millimeter nach. So schlecht er sich heute Morgen hatte schließen lassen, so schwer ließ er sich nun öffnen. Nach fünf Minuten hartnäckigem Zerren war er nicht einmal halb unten. Die Anstrengung verschlimmerte den Husten noch, und als ich mich schließlich wieder aufrichtete, war meine Stirn von einem feinen Schweißfilm bedeckt.

Ich zog so fest, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn die Stiefel kaputtgegangen wären. Als ich es schließlich geschafft hatte, sie auszuziehen, bewegte ich die Füße, streckte die Beine aus und nahm sie genauer in Augenschein. Nach der ganzen Zerrerei sahen meine Knöchel irgendwie dick und geschwollen aus. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich bei meinen aufgeschwemmt aussehenden Extremitäten, »morgen trage ich was Bequemeres.«

So fing alles an.

Am nächsten Morgen waren die Knöchel kaum abgeschwollen, und nach der Husterei der letzten Nacht spürte ich beim Einatmen einen Druck auf der Brust. Dem Internet (das ich zu mitternächtlicher Stunde konsultiert hatte, weil an Schlaf nicht zu denken war) entnahm ich, dass man, wenn man länger als drei Wochen unter Husten litt, zum Arzt gehen sollte. »Nur noch eine Woche«, versprach ich meinem verschwommenen Spiegelbild im Bad, »dann mache ich dem Husten mit Antibiotika den Garaus.« Damals wusste ich noch nicht, dass die Uhr schon in dem Moment tickte.

Bevor ich meinen Morgenmantel anzog, trat ich auf die Badezimmerwaage und stutzte entsetzt, als ich die Zahl auf der Digitalanzeige sah. Drei Kilo mehr. Ich hatte in weniger als einer Woche sechs Pfund zugenommen? Wie war das möglich? Ich konnte praktisch spüren, wie sich über meinem Kopf eine düstere Wolke bildete, während ich ins Schlafzimmer ging, um mich anzuziehen. Zugegeben, seit Tom nicht mehr da war, hatte ich nicht mehr so oft gekocht wie früher, und ja, das Take-away-Essen war zu einer festen Gewohnheit geworden, aber das erklärte doch nicht eine solche Gewichtszunahme, oder?

Wie auf Autopilot schob ich zwei Scheiben Brot in den Toaster, dann überlegte ich es mir anders und nahm mir stattdessen etwas Obst und einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Nicht, dass ich in den letzten beiden Wochen viel Appetit gehabt hätte – das machte die Extrapfunde umso ärgerlicher.

Der Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass ich in Gang kommen musste. Ich packte meine Sachen zusammen und spähte durch den feinen Nieselregen auf die Straße hinunter. Weil ich es am Tag zuvor nicht geschafft hatte, einen Parkplatz in der Nähe meines Hauses zu ergattern, stand mein Wagen mehrere hundert Meter weit weg. Die Umhängetasche auf meiner Schulter kam mir so schwer vor, als sei sie mit Goldbarren gefüllt. Ich musste zweimal stehen bleiben, einmal, um die Tasche zurechtzurücken, das zweite Mal beunruhigenderweise, weil ich völlig aus der Puste war. Als ich meinen Wagen schließlich erreicht hatte, war ich gezwungen, mir einzugestehen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich langsam ertrinken.

Ich rief mit zitternden Fingern zuerst die Schulleiterin der Green Hills Primary School an, dann meine Hausarztpraxis. Ich hatte Glück. Gerade hatte ein anderer Patient seinen Termin abgesagt, und falls ich innerhalb von zehn Minuten da sein konnte, würde die Ärztin mich gleich drannehmen. Vielleicht schaffe ich es danach noch zur Arbeit, dachte ich, als ich mir einen Weg durch den frühmorgendlichen Verkehr bahnte.

Die Ärztin war neu, Polin und überaus gewissenhaft. Ihr Akzent machte es mir schwer, sie zu verstehen, aber ihr Gesichtsausdruck, als ich in die Praxis schlurfte – wie jemand, der fünfzig Jahre älter war, als der Computer ihr verriet –, sprach Bände. Nach der Untersuchung erklärte sie mir alles langsam und deutlich, und doch begriff ich nicht, was sie mir sagen wollte.

»Ich möchte, dass Sie ins Krankenhaus gehen.«

»Sie meinen, Sie überweisen mich an einen Facharzt?«, fragte ich und wunderte mich, warum sie den Kopf schüttelte.

»Nein. Ich meine, noch heute. Sofort. Haben Sie jemanden dabei, im Wartezimmer? Jemanden, der Sie fahren kann?«

Angesichts des Engegefühls in meiner Brust war ich überrascht, dass die Angst darin noch Platz fand, aber irgendwie hatte sie es geschafft, hineinzukriechen wie eine entschlossene Schlange.

»Nein. Ich … ich bin allein hier. Kann ich nicht einfach selbst ins Krankenhaus fahren?«

Sie schüttelte den Kopf und griff bereits nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch. »Ich fürchte, das wäre nicht ratsam, Miss Kendall – äh … Molly. Ich halte es für das Beste, Ihnen einen Krankenwagen zu rufen.«

Lungenentzündung. Wahrscheinlich ist es eine Lungenentzündung. Die Worte der Ärztin spulten sich auf der Fahrt zum Krankenhaus wie ein stummes Mantra wieder und wieder in meinem Kopf ab. Eine Lungenentzündung war schlimm, keine Frage, aber ich war jung und gesund. Mithilfe von Antibiotika und Bettruhe sollte ich mich rasch davon erholen.

Man schleuste mich im Nullkommanichts durch die Triage, und ich war naiv genug, das für ein gutes Zeichen zu halten. Erst als der Notarzt mir erklärte, dass ich auf die kardiologische Intensivstation kommen würde, wurde mir klar, dass ich mich in ernsthaften Schwierigkeiten befand. Meine Gedanken wirbelten durcheinander; es kam mir vor wie ein schrecklicher Albtraum, aus dem ich hoffentlich jeden Moment erwachen würde. Stattdessen wurde es immer schlimmer. Ich begriff es selbst erst richtig, als ich meine Mutter anrief.

»Hey, Mum, ich bin’s.«

»Molly?«, fragte sie ungläubig, nicht, weil sie Zweifel hatte, mit wem sie sprach – es gab niemanden sonst auf der Welt, der sie »Mum« nannte –, aber ich hätte eigentlich in diesem Moment eine Klasse quirliger Sechsjähriger unterrichten sollen.

Eine einzelne Träne lief mir über die Wange, als ich mich fragte, wann und ob ich das je wieder tun würde.

»Gerate bitte nicht in Panik, Mum, aber ich bin im Krankenhaus.«

Vor meinem inneren Auge hatte ich gesehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich und sie den Hörer so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel sich weiß färbten.

»Warum? Was ist passiert?«

»Sie sagen …« Ich hatte mehrmals krampfhaft geschluckt, als mir salzige Tränen in den Mund liefen. »Sie sagen, ich habe eine Herzschwäche.«

 

Zum letzten Mal räumte ich das Klassenzimmer auf. Ab morgen würde dieser Raum ganz dem Vertretungslehrer gehören, der für den Rest des Schuljahrs übernahm, und ich kam nicht umhin, einen Anflug von Neid auf ihn zu empfinden, weil er die Reise beenden würde, die ich vor sieben Monaten mit diesen Kindern angetreten hatte.

Als ich fertig war, richtete ich mich langsam auf und atmete ein letztes Mal die vertrauten Gerüche ein, um sie mir einzuprägen. Einer davon, der immer ganz hinten im Raum hing, würde mir allerdings nicht fehlen.

»Ich schätze, wir müssen uns fürs Erste verabschieden«, sagte ich feierlich zu Gerald, der Wüstenrennmaus. Das Klassenmaskottchen schaute kurz von seinem nicht enden wollenden Marathon im Laufrad auf. In Mäusejahren gerechnet, gehörte Gerald schon zu den Senioren, und ich hatte mir viel zu lange den Kopf darüber zerbrochen, wie schwer es die Klasse nehmen würde, wenn er nicht bis zum Jahresende überlebte. Die Ironie, die darin lag, dass ich mich eher um meine eigene Lebensdauer hätte sorgen sollen statt um Geralds, entging mir nicht.

»Vielleicht bist du ja noch da, wenn ich zurückkomme«, sagte ich und gab ihm zum Abschied ein Stück Möhre. »Falls ich zurückkomme«, fügte ich leise hinzu.

»Natürlich kommst du zurück.«

Lächelnd drehte ich mich zu der Frau um, der die Stimme mit dem unverkennbaren australischen Akzent gehörte.

»Ohne dich ist der Laden hier nicht mehr der gleiche.«

Kyra Davies, Lehrerin der 6. Klasse und eher eine Freundin als eine Kollegin, kam mit dynamischen Schritten zu mir. Mit ihren langen, widerspenstigen blonden Haaren und dem durchtrainierten, sonnengebräunten Körper sah sie aus, als sollte sie eher mit einem Surfbrett unter dem Arm irgendeinen Strand entlanglaufen. Rein äußerlich hätten wir nicht gegensätzlicher sein können: Ich hatte kastanienbraunes Haar, war kleiner und kurviger und hatte einen hellen Teint, der partout nicht braun werden wollte. Aber der Hauptunterschied war, dass Kyra kerngesund aussah.

Ohne ein weiteres Wort ging sie zu meinem Schreibtisch, auf dem zwei Kartons mit Abschiedsgeschenken vom Kollegium und von den Schülerinnen und Schülern standen. »Sollen die ins Auto?«, fragte sie und hob sie mit einer Leichtigkeit hoch, die ich früher für selbstverständlich gehalten hatte.

Ich nickte dankbar, und sie klemmte sich einen Karton unter jeden Arm.

Ich blieb an der Türschwelle kurz stehen, dann knipste ich das Licht aus. Zu gehen, obwohl ich gar nicht gehen wollte, war weit schmerzlicher als erwartet.

»Du hast so vieles bewirkt«, sagte Kyra sanft. »Diese Kinder werden dich nie vergessen.«

Ich wollte ihr widersprechen, ihr sagen, dass das nicht der Grund für meine Traurigkeit war, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Denn vergessen zu werden, keine Spur zu hinterlassen, als hätte es mich nie gegeben, genau das war die Angst, die mich nachts zu später Stunde umtrieb. Sie machte mir mehr zu schaffen, als die Herzkrankheit es je gekonnt hätte. Ich hatte geglaubt, diese Furcht tief in mir begraben zu haben, aber anscheinend war sie für diejenigen, die mir am nächsten standen, trotzdem mehr als offensichtlich.

Kapitel 3

Alex

Alex und Lisa teilten sich ein Arbeitszimmer im ersten Stock ihrer modernen Stadtvilla. Es war das vierte Zimmer, gedacht für Baby Nummer zwei, wann auch immer dieses Familienmitglied beschließen würde, zu ihnen zu kommen. Der Altersabstand zwischen Connor und dem geplanten Neuankömmling würde zugegebenermaßen größer ausfallen, als sie sich gewünscht hätten.

»Meinst du, wir sollten mal jemanden konsultieren?«, hatte Lisa gefragt, ganz vorsichtig, denn sie wusste um Alex’ Abneigung gegen medizinische Eingriffe. Es war mehr als nur eine leicht ablehnende Haltung gegenüber Ärzten, es war eine echte, irrationale Phobie vor weißen Kitteln, die er im Alter von fünfunddreißig Jahren längst hätte ablegen oder deren Bewältigung er zumindest hätte in Angriff nehmen sollen. Woher das Ganze rührte, blieb ein Rätsel, Alex konnte es nicht auf irgendeinen Vorfall in seiner Kindheit zurückführen. »Du warst schon immer komisch, wenn’s um Krankenhäuser ging«, hatte sein älterer Bruder Todd zu ihm gesagt. »Schon als kleiner Junge.« Vielleicht, dachte Alex, war es wirklich an der Zeit, die Sache anzugehen.

Er warf einen kurzen Blick auf sein Telefon, während er vor dem Laptop auf dem Schreibtisch darauf wartete, dass sich das Dokument öffnete, an dem er arbeiten wollte. Keine Nachricht von Lisa, und inzwischen war es zu spät, um es noch einmal zu versuchen. Sie war jetzt sicher schon auf der Messe und beschäftigt, tauschte sich mit früheren Kollegen aus und stimmte sich auf den Vortrag ein.

Er schickte ihr stattdessen eine kurze WhatsApp-Nachricht und legte das Handy dann beiseite, um sich in seine Arbeit zu vertiefen. Die PR-Firma, die er vor acht Jahren gegründet hatte, bekam bei Unternehmenskunden allmählich die Aufmerksamkeit, die er sich erträumt hatte, und der Pitch, an dem er gerade arbeitete, konnte zu einem Vertragsabschluss führen, der die Firma auf ein ganz neues Level bringen würde.

Zwei Stunden später beschwerten sich seine schmerzenden Nackenmuskeln über die mangelnde Bewegung. Er riss sich vom Schreibtisch los, denn es war Zeit für eine Kaffeepause. Lisas Arbeitsplatz in der anderen Zimmerecke war weit unordentlicher als seiner, auf dem Tisch standen Planetenmodelle, gerahmte Fotos von ihm und Connor, außerdem lag dort ein Papierstapel, der sich immer haarscharf an der Grenze zur Unbeherrschbarkeit bewegte. Ein Windstoß, und Lisa hätte Wochen gebraucht, um ihr nächstes Buchkapitel aus heruntergeladenen und ausgedruckten Kochrezepten und unzähligen uralten To-do-Listen zusammenzuklauben. Alex schmunzelte, denn seine Frau war in jedem der Gegenstände dort auf dem Schreibtisch präsent, vom angebrochenen Tütchen Fruchtgummis bis zum jüngsten Pappmascheemodell, das sie mit Connor gebastelt hatte.

Alex ging die Holztreppe hinunter. Für den Fall, dass die Schule anrief, hatte er das Telefon mitgenommen – allerdings hoffte er, dass das, was auch immer seinem Sohn heute früh zu schaffen gemacht hatte, mittlerweile wieder vergessen war. Während der Kaffee durchlief, rief Alex beim Italiener an und reservierte einen Tisch für den Abend. Es war zwar etwas spät für Connor, der am nächsten Morgen Schule hatte, aber heute war für die Familie Stevens ein wichtiger Tag, der gebührend gefeiert werden sollte.

Alex schaute zu, wie der Kaffee langsam in die Kanne rann, was ihn einen Moment lang unangenehm an einen medizinischen Tropf erinnerte. Das Haus erschien ihm ohne seine beiden weiteren, lebhafteren Bewohner ungewöhnlich still, und weil er sich etwas ablenken wollte, griff Alex nach der Fernbedienung. Um diese Zeit lief wahrscheinlich wieder eine von diesen Immobiliensendungen oder eine Werbung, die die Frage aufwarf, ob man seine Lieben in seinem Testament schon angemessen berücksichtigt hatte. Wie er erheitert feststellte, hatte er richtig geraten; genau solch ein Spot wurde gerade in der Werbepause gesendet. Alex stellte den Ton aus und drehte sich wieder zur Arbeitsplatte um, wo die Kaffeemaschine röchelte. Er füllte seinen Becher wie immer randvoll, sodass er unweigerlich Kaffee verschütten würde.

Die Tasse in der einen, die Fernbedienung in der anderen Hand, wollte er gerade den Fernseher ausschalten, als er in der oberen rechten Bildschirmecke ein rotes Banner mit der Aufschrift »Eilmeldung« sah. Es war warm in der Küche, dank der gut funktionierenden Fußbodenheizung, aber von einem Moment auf den anderen hatte Alex das Gefühl, er wäre durch die Eisdecke eines zugefrorenen Sees gebrochen. Das Bild war grobkörnig, wahrscheinlich aus einem Hubschrauber aufgenommen, oder vielleicht von einer Drohne. Aber man konnte das Ausmaß der Zerstörung trotzdem gut erkennen. An den Eisenbahngleisen warteten unterschiedlichste Rettungsfahrzeuge. Nur zwei Waggons standen noch, die anderen waren aus den Schienen gesprungen und auf die Seite gekippt, verformt und ineinander verkeilt. Der Anblick erinnerte an eine Spielzeugeisenbahn, die von einer riesigen Hand beiseitegefegt worden war.

Alex’ Finger wollten ihm nicht mehr gehorchen, er drückte dreimal den falschen Knopf, bis der Ton endlich wieder da war. Der Unfall konnte überall in England passiert sein, sagte er sich, versuchte zugleich aber hektisch, anhand der Aufnahmen auszumachen, wo sich das Unglück ereignet hatte. Der Fernseher dröhnte in der ansonsten stillen Küche, während Alex die Ticker-Nachrichten las, die unter den Livebildern durchliefen. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Inzwischen wurden von offizieller Seite mindestens vier Todesfälle bestätigt. Nichts auf den Bildern machte den Ort des Unglücks für ihn identifizierbar; er sah bloß Felder, auf denen überall Wrackteile verstreut lagen.

Alex spürte ein Brennen in den Augen, erlaubte sich aber nicht, zu blinzeln, weil er nichts Wichtiges übersehen wollte, etwas – irgendetwas –, das ihm Gewissheit geben konnte, dass diese furchtbare Tragödie andere Familien betraf, aber nicht seine. Es war ein egoistischer Gedanke, das war ihm bewusst, doch er konnte ihn nicht unterdrücken und lauschte angestrengt dem Bericht des Sprechers, während das Blut in seinen Ohren rauschte.

»Wir sehen ein weiteres Mal die Bilder des tragischen Zugunglücks von heute früh. Bisher sind nur wenige Details bekannt, aber wir wissen, dass es zahlreiche Verletzte gibt und viele Fahrgäste noch in den Waggons eingeschlossen sind. Der Zug war um 7:48 Uhr in Norwich losgefahren und auf dem Weg nach …«

Der Kaffeebecher fiel Alex aus der Hand und zerschellte auf dem schwarz-weißen Fliesenboden, von dem er heute früh noch Connors verschütteten Orangensaft aufgewischt hatte. Er hörte ein leises, verzweifeltes Stöhnen und dachte zuerst, es käme aus dem Fernseher, nur um erschüttert festzustellen, dass es ihm selbst entwichen war.

Den Blick immer noch wie gebannt auf den Bildschirm gerichtet, griff er nach seinem Handy und ging hektisch seine Kontaktliste durch, wählte Lisas Nummer und hörte das Freizeichen. Ihre Worte erlösten ihn einen Augenblick lang aus seinem Albtraum, doch dann wurde ihm zum zweiten Mal an diesem Tag klar, dass es nur die Mailboxansage war.

»Lisa«, sagte er, und selbst seine Frau hätte seine Stimme wohl nicht erkannt. »Lisa, ist alles in Ordnung? Ich habe gerade in den Nachrichten von einem Unglück erfahren. Bitte sag mir, dass mit dir alles okay ist. Ruf mich an. Bitte, Schatz, ruf mich an!«

Er beendete die Verbindung.

Das Telefon legte er nicht mehr weg, behielt es fest in seiner schweißfeuchten Hand, doch das verfluchte Ding wollte einfach nicht klingeln. Auf dem Fernsehbildschirm wurde jetzt eine Nummer eingeblendet, wie er es bei vielen anderen Unglücksfällen schon gesehen hatte – die Nummer, von der jeder hoffte, sie niemals wählen zu müssen.

Für Angehörige von Personen, die heute Morgen möglicherweise mit diesem Zug unterwegs waren, wurde folgende Notfallnummer eingerichtet.

Alex’ Finger zitterten heftig, als er in der Küchenschublade einen Stift suchte und keinen fand, bloß einen von Connors Wachsstiften. Er wagte es nicht, den Blick auch nur eine Sekunde vom Bildschirm abzuwenden, und riss ein Blatt Papier so heftig von der Kühlschranktür, dass der Magnet durch die Küche flog. Das Bild seines Sohnes mit der Telefonnummer zu verunstalten erschien ihm falsch, aber alles, was während der letzten fünf Minuten geschehen war, war falsch gewesen.

Seine ersten beiden Versuche, die Nummer zu wählen, gingen schief. Es war, als hätten ihn seine motorischen Fähigkeiten verlassen. Sein Hirn hingegen arbeitete auf Hochtouren; blitzartig jagten Szenen und Bilder durch seinen Kopf, und sie waren von einer so furchtbaren Klarheit, dass er nur inständig hoffen konnte, sie wären nicht real.

Sieben Mal hörte er das Freizeichen, bevor jemand abnahm, und bei jedem Mal hatte er das Gefühl, innerlich ein bisschen mehr zu sterben. Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung klang ruhig und professionell, aber inzwischen war Alex derart in Panik, dass ihn nichts mehr beruhigen konnte.

»Langsam, bitte«, sagte der Mann beschwichtigend. Alex gab sich alle Mühe, aber sein Herz und seine Gedanken rasten, und er hatte schreckliche Angst.

»Sie glauben also, dass Ihre Frau in dem Zug saß, der heute Morgen verunglückt ist?«

Alex hätte vor lauter Frust fast geflucht. Natürlich glaubte er das! Weshalb hätte er diese Nummer sonst wählen sollen? »Ja. Ja«, sagte er und fiel dem Mann ins Wort, bevor der weitersprechen konnte. »Lisa Stevens. Sie hat auf jeden Fall den Zug um 7:48 Uhr nach London genommen. Wissen Sie, ob es ihr gut geht?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen, und alles in der Küche schien stillzustehen. Das war der Augenblick, von dem Alex wusste, er würde sich für den Rest seines Lebens daran erinnern.

»Es tut mir leid, Mr Stevens. Sie ist nicht auf unserer Liste.«

»Was soll das heißen? Ist sie dann unverletzt? Geht es ihr gut?«

Trotz des professionellen Tons konnte Alex auch Mitgefühl in der Stimme des Mannes hören. »Der Name Ihrer Frau steht nicht auf der Liste, die uns die Bahnpolizei zur Verfügung gestellt hat, doch wie Sie sich vorstellen können, ändert sich die Lage von Minute zu Minute. Wir erhalten laufend neue Informationen über weitere Fahrgäste.«

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Alex verzweifelt. Ihm liefen Tränen über die Wangen, und er versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass er weinte.

»Haben Sie versucht, Ihre Frau auf dem Handy zu erreichen, falls sie eins dabeihat?«

»Das war das Erste, was ich getan habe«, antwortete er halb schluchzend, halb schreiend. »Ent… Entschuldigung. Ich habe ihr heute früh eine Nachricht geschrieben, aber sie ist nicht als gelesen markiert, und sie nimmt nicht ab und antwortet nicht auf meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Außerdem, wenn es ihr gut gehen würde, hätte sie mich sofort kontaktiert! Sie würde nicht wollen, dass ich mir solche Sorgen mache.«

»Ich kann gut verstehen, dass Sie sehr besorgt sind. Ich werde Ihnen die Namen und Telefonnummern der drei Krankenhäuser durchgeben, in denen die Verletzten behandelt werden. Sie können dort direkt nachfragen, ob sie eingeliefert wurde. Und bitte nehmen Sie nicht das Schlimmste an, nur weil Ihre Frau nicht ans Telefon geht. In Fällen wie diesem kommen den Menschen oft persönliche Gegenstände abhanden. Wir haben jetzt Ihre Kontaktdaten. Wenn wir irgendwelche Neuigkeiten über Ihre Frau erhalten, rufen wir umgehend zurück.«

Alex schaffte es gerade noch rechtzeitig in die Toilette im Erdgeschoss. Das letzte Mal, als er sich hatte übergeben müssen, hatte es an dem vermutlich zu großzügig bemessenen Anteil Tequila gelegen, mit dem Lisa ihnen ein paar Margaritas gemixt hatte. Er war damals genauso aus der Gästetoilette gewankt wie jetzt, nur war er diesmal nicht betrunken, und Lisa wartete nicht in der Küche auf ihn, lächelnd und mit einer Entschuldigung und einem kühlen Lappen, den er sich auf die Stirn legen konnte. Sie war … Sie war … Er wusste nicht, wo sie war, verdammt noch mal, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, er würde wieder zurück zum WC laufen müssen. Aber die Schwäche, sich vor lauter Angst zu erbrechen, konnte er sich jetzt nicht erlauben. Er musste Anrufe erledigen.

Logischerweise hing er bei jedem der Krankenhäuser unerträglich lange in der Warteschleife. Und als sich die Leute endlich meldeten, sagten sie alle das Gleiche. Niemand war unter dem Namen seiner Frau eingeliefert worden.

Nach dem dritten Anruf stand Alex schwankend in der Küche. Waren das gute Neuigkeiten oder schlechte? All seine Gesprächspartner hatten betont, dass die Lage sich fortwährend änderte und nach wie vor am laufenden Band Rettungswagen in die Notaufnahme kamen. »Und was soll ich jetzt machen?«, hatte er gefragt. »Rufen Sie später wieder an«, lautete die Antwort.

Der Fernseher lief noch immer, der Ton auf Flüsterlautstärke heruntergedreht. »Warten Sie einen Augenblick«, sagten alle, wenn er wieder anrief. Machten die Witze? Wie konnte er warten, wo doch die Frau, die ihm alles bedeutete, in ihrem System unauffindbar war, vielleicht verletzt war, vielleicht … Nein, er wollte sich das nicht vorstellen, trotzdem krümmte er sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, weil der Newsticker im Fernsehen nun die schreckliche Neuigkeit verkündete, dass die Zahl bestätigter Todesfälle inzwischen auf acht gestiegen war.

 

»Hey, Alex, warum rufst du denn mitten am Tag an?«

Alex hatte seine Schwägerin Dee gleich vom ersten Augenblick an gemocht, als Todd sie ihm damals vorgestellt hatte, aber im Moment wollte er nicht mit ihr sprechen.

»Ist Todd da?«

Wie sie allein diesen drei Worten entnehmen konnte, dass etwas Furchtbares passiert sein musste, war ihm ein Rätsel, aber sie hatte offensichtlich besonders feine Antennen.

»Was ist passiert?«

Er brachte kein Wort heraus. Und er hatte das Gefühl, er würde das, was er sagen wollte, nur einmal sagen können. »Bitte, Dee, gib mir Todd.«

Am anderen Ende der Leitung waren Geräusche und Stimmen zu hören, gefolgt von sich nähernden Schritten.

»Alex?« Die Besorgnis in der Stimme seines älteren Bruders war unverkennbar, und vielleicht war das der Grund, weshalb Alex abermals weinte, obwohl er gehofft hatte, die Tränen zurückhalten zu können.

»Es ist wegen Lisa«, flüsterte er heiser. »Es gab einen Unfall.«

»Was? Bei der Messe?«

Todd war verwirrt, und plötzlich wusste Alex, dass er die Worte, die ihn zu ersticken drohten, nicht würde aussprechen können. »Mach die Fernsehnachrichten an«, sagte er kraftlos und lehnte sich an die Küchenwand.

Er hörte, wie seine Schwägerin aufschrie, dann ein Geräusch, als würde jemand mit der Hand ein Schluchzen ersticken.

»O Gott«, sagte Todd mit zittriger Stimme.

»Ich kriege von den zuständigen Stellen keine Informationen! Vielleicht wurde sie in eines von drei Krankenhäusern gebracht, oder sie steckt noch im Zug fest oder sie … oder sie …« Er würde diesen Satz niemals beenden können.

»Was machen wir denn jetzt, um Himmels willen?«

Genau deshalb hatte Alex angerufen. Weil Todd immer derjenige gewesen war, der den Durchblick hatte, der instinktiv wusste, was als Nächstes zu tun war. Alex war, wie er selbst zugab, ein Hitzkopf gewesen, als sie beide noch jünger waren. Erst eine gewisse wunderschöne junge Frau mit einer Liebe zur Astronomie, zu Büchern und zu ihm hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er heute war.

»Du hast doch gerade ein paar Tage Urlaub. Meinst du, du kannst Connor heute Nachmittag von der Schule abholen? Ich muss da hin.«

»Wohin?«

»Zu den Krankenhäusern. Beim Unglücksort. Ich weiß nicht … Ich muss Lisa finden.«

»Puh. Langsam, mein Lieber. Atme erst mal tief durch.«

»Ich kann nicht! Nicht, bis ich weiß, dass mit Lisa alles in Ordnung ist.«

Todds Stimme klang jetzt stark gedämpft, Alex wusste, dass sein Bruder das Mobilteil mit der Hand abdeckte, während er mit Dee sprach.

»Okay, hör zu, wir machen Folgendes. Dee wird zu Connors Schule fahren, ihn abholen und mit zu uns nehmen. Connor kann mit Maisie spielen, bis du wieder da bist – bis du und Lisa, bis ihr wieder da seid«, korrigierte er sich sofort. Doch Alex hatte den Lapsus bemerkt.

Todd fuhr in einem Ton fort, der keinen Widerspruch duldete: »Aber ich lasse dich auf keinen Fall allein da hin. Warte noch zwanzig Minuten, dann hol ich dich ab. Wir fahren gemeinsam.«

Alex hatte nicht mitbekommen, wie seine Knie nachgegeben hatten, aber es musste passiert sein, denn er war an der Wand hinab auf den Boden gesunken.

»Danke. Danke. Danke.«

»Bleib stark, Bruderherz. Ich bin schon unterwegs.«