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Buch

Jim Henson hat nicht nur die weltberühmten »Muppets« geschaffen, sondern revolutionierte auch das Fantasygenre auf der Leinwand: Sein Film »Der dunkle Kristall« (1982) besitzt Kultstatus, was die Serienmacher von Netflix unlängst dazu bewogen hat, die Vorgeschichte des Meisterwerks zu erzählen. Der Serienhit »Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands« basiert auf der auf Deutsch noch unveröffentlichten Fantasy-Saga von J.M. Lee. Darin erzählt er die Geschichte des Gelfling-Mädchens Naia: Sie versucht, ihren verschwundenen Bruder zu finden, der einer schrecklichen Intrige zum Opfer gefallen ist. Dabei deckt Naia ein entsetzliches Verbrechen auf, welches die Welt Thra für immer verändern wird.

Alle Bände der »The Dark Crystal«-Saga:

Der dunkle Kristall 1. Ära der Schatten

Der dunkle Kristall 2. Zeit der Lieder

Der dunkle Kristall 3. Nacht der Gezeiten

Der dunkle Kristall 4. Stunde der Flammen (in Vorbereitung)

Der Autor

J. M. Lee verbrachte seine Jugend in Minnesota, wo er in dem Glauben aufwuchs, mit Tieren sprechen und das Wetter beherrschen zu können. Am College interessierte er sich für vergleichende Filmwissenschaft, Drehbuchschreiben sowie Shakespeare und schloss sein Studium an der University of Minnesota im Fach Linguistik mit Schwerpunkt japanischer Phonetik ab. Er lebt in Minneapolis. Für die Netflix-Serie »Der dunkle Kristall. Ära des Widerstands« lieferte Lee mit seinen Romanen die Vorlage und fungierte als Berater und Drehbuchautor.

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Roman

Ins Deutsche übertragen
von Susanne Gerold

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Tides of the Dark Crystal«
bei Grosset & Dunlap, New York, 2018.

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Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e. V.
für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft,
Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Penguin Workshop, an imprint of Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC.

Illustrations © by Brian Froud and Cory Godbey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: © Max Meinzold, München, nach einer Originalvorlage von Penguin Workshop

Umschlagillustration: Brian Froud © 2016 The Jim Henson Company

™ & © The Jim Henson Company. JIM HENSON’S mark & logo, THE DARK CRYSTAL mark & logo, characters and elements are trademarks of The Jim Henson Company. All Rights Reserved

LO · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27270-8
V001

www.blanvalet.de

Wir verbanden uns in Gedanken, und als sie zum unsichtbaren Kristall sangen, lehrte ich sie, das Beben der Felsen zu spüren.

Die Welt des Dunklen Kristalls

Kapitel 1

Die Welt der Taglichtler war unerträglich hell.

Sogar nachts wirkte das Lächeln der Schwestern übertrieben, besonders wenn die Sterne sie umgaben. Und während des Tages überfluteten dann die Drei Brüder den Himmel mit Licht. Amri konnte nur hoffen, dass seine Augen sich mit der Zeit daran gewöhnen würden.

Bis es so weit war, trug der Grottan-Gelfling seine Kapuze und versuchte, sein Gesicht im Schatten zu halten, während er seinen Begleitern durch den sonnengetüpfelten Bergwald folgte. Sein Blick wanderte über die von Moos und Gras bedeckte Erde, die das steinerne Skelett der Berge wie ein Fell überzog und deren Feuchtigkeit in seine Sandalen sickerte.

Inmitten all der Helligkeit sah Amri eine Bewegung im Wald. Was auch immer vor ihnen lauerte, war so weit entfernt, dass sie es zwar sehen, aber nicht hören konnten. Wurden sie beobachtet?

Er streckte die Hand aus und zupfte Kylan am Ärmel. Der Spriton-Junge ging direkt vor ihm und schlug mit einem Stock das Gestrüpp auf ihrem Pfad beiseite. Er hatte sich eine Rolle mit einer selbst gezeichneten Karte unter den freien Arm geklemmt. Um seinen Hals hing seine Firca, eine y-förmige Knochenflöte.

»Kylan«, flüsterte Amri. Vielleicht war sein Freund in der Lage, mit seinen grünen Taglichtler-Augen mehr zu erkennen. »Siehst du etwas? Da, rechts von uns. Unter den Bäumen!«

»Wo?« Kylan senkte instinktiv die Stimme und richtete seine Ohren nach vorn und hinten, angestrengt auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen von Gefahr.

»Was flüstert ihr beiden da?«

Naia tauchte bei ihnen auf. Sie war schon weiter oben auf dem Hügel gewesen, hatte dann aber kehrtgemacht, als sie bemerkt hatte, dass die anderen beiden stehen geblieben waren. Es überraschte Amri nicht, dass sie so geräuschlos zurückgekehrt war. Mit dem Dolch in der Hand, in tarnfarbenbraunes Leder gekleidet und die Dreadlocks zu einem lockeren Knoten zurückgebunden, wirkte sie durch und durch wie eine Drenchen-Kriegerin.

Irgendwo in der Nähe knackte ein Zweig. Amri zog das Schwert, das an seiner Hüfte hing, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er es benutzen sollte. Naia ging in die Hocke, gerade als sechs große weiß-graue Tiere nur einen Steinwurf von ihnen entfernt zwischen den Bäumen auftauchten. Die Beine waren lang und schlank, sodass die pelzigen Körper der großohrigen Kreaturen weit oben zwischen den Zweigen zu sehen waren. Die Tiere murmelten leise miteinander und ließen ihre Rüssel vorschnellen, um den süßen Saft zu kosten, der von den winterlichen Bäumen tropfte.

Kylan entspannte sich und wischte sich über die Stirn. »Wilde Landschreiter. Und ich hatte schon befürchtet, die Skekse hätten uns gefunden.«

Amri starrte die an ihnen vorbeiziehenden Landschreiter an und versuchte, jede Einzelheit der wundersamen Kreaturen in sich aufzunehmen. Naia betrachtete ihn mit einem amüsierten Lächeln.

»Also, so interessant kann das Hinterteil von Landschreitern doch gar nicht sein«, neckte sie ihn.

»Für dich vielleicht nicht. Ich dagegen habe noch nicht einmal das Vorderteil eines Landschreiters gesehen …«

»Da ist was dran.« Sie kicherte leise. »Na gut, kommt jetzt. Wir müssen weiter.«

Naia und Kylan schritten voran und mühten sich durch das Dickicht, ohne einen zweiten Blick auf die Landschreiter zu werfen, die im Wald verschwanden. Amri überraschte das nicht. Schließlich war dies ihre Welt. Die Spriton, Kylans Clan, hatten die Landschreiter sogar zu ihrem Totemtier gemacht. Selbst Naias Clan, die Drenchen von Sogg, lebten unter freiem Himmel und hatten Kontakt mit der Welt draußen – wenn sie es wollten. Amri hingegen war in einer Höhle tief in den Grottan-Bergen geboren worden und hatte die Welt der Taglichtler lediglich auf kurzen, verbotenen Streifzügen erforscht, die er nur nachts hatte unternehmen können.

Naia marschierte mit unverwüstlichem Elan voran, den Blick stets konzentriert und entschlossen nach vorn gerichtet. Als sie die Kuppe eines kleinen bewaldeten Hügels erreichten, wich das Grün strahlendem Weiß. Ein kalter Wind wehte herab, der nach Salz und Kristallen roch; Schnee und Frost überzogen die Rinde der Bäume und sämtliche Blätter. Das kalte weiße Zeug verstärkte die strahlende Helligkeit des Tages, aber Amri musste zugeben, dass es wunderschön war. Er bückte sich, um die nassen Kristalle zu berühren, und drückte den Schnee in seiner Hand zu einem schmelzenden Klumpen zusammen.

Auf Kylans Schulter ertönte eine dünne Stimme, die nach Glöckchen und Flüstern klang. »Die Frostgrenze bedeutet, dass wir fast da sind.«

In den Falten von Kylans Kragen kauerte eine blau schimmernde Kreatur mit acht nadeldünnen Beinen. Tavra hatte ihren Gelfling-Körper verloren – den Körper einer Vapra-Soldatin mit durchscheinenden Flügeln und geübten Händen, die das Schwert geschwungen hatten, das nun in Amris tollpatschigem Griff nutzlos hin und her schwankte. Sie lebte jetzt im Körper einer Kristallspinne.

Amri schob das Schwert zurück in die Scheide, um nicht versehentlich jemanden damit zu verletzen.

»In Ha’rar?«, fragte er. Er war neugierig darauf, die Hauptstadt der Gelflinge und ihre legendäre Zitadelle zu sehen.

»An unserem Ziel«, erwiderte Tavra.

»Ich dachte, Ha’rar ist unser Ziel«, sagte Kylan und hob eine Augenbraue.

Amri konnte Tavras kleines Spinnengesicht nicht erkennen, aber die Ungeduld in ihrer Stimme war nicht zu überhören: »Letzten Endes, ja. Aber wir können nicht einfach in die Zitadelle stürmen.«

»Warum nicht?«, fragte Amri. »Müssen wir uns erst anmelden oder so was?«

Naia warf einen Blick zurück über die Schulter und nickte zustimmend, während sie weiter den Berghang hinaufstapfte. »Wenn es sein muss, werde ich uneingeladen in die persönlichen Gemächer von All-Maudra Mayrin stürmen«, sagte sie. »Sie muss erfahren, was mit den Skeksen los ist, und zwar schnell. Rian müsste auch dort sein. Wenn wir ihn finden und der All-Maudra das Glasfläschchen mit der Essenz zeigen können, wird sie die Wahrheit nicht abstreiten können.«

»Es geht nicht darum, dass wir eine Einladung brauchen, Naia«, sagte Tavra. »Seit Kylan unsere Botschaft vom Geheiligten Baum der Grottan losgeschickt hat, waren wir allein in der Wildnis. Wir haben keine Ahnung, ob irgendjemand die Botschaft bekommen hat, und noch viel weniger wissen wir, ob man sie glaubt.«

Amri erschauerte. Was sie getan hatten, war gewaltig gewesen, erst recht, wenn die pinkfarbenen Blüten mit der bildergenähten Botschaft tatsächlich sämtliche sieben Gelfling-Clans erreicht hatten. Und genau darum war es schließlich gegangen – so schnell wie möglich an so viele wie möglich eine Warnung zu senden, damit nie wieder so etwas geschehen würde wie das, was in den Grottan-Höhlen passiert war.

Naia wurde langsamer und blieb schließlich stehen; sie seufzte und stemmte die Hände in die Hüften. Alle drei Gelflinge verhielten sich still, sodass sie Tavras Stimme hören konnten, obwohl der Wind durch die verschneiten Kiefern pfiff.

»Naia, Kylan, Amri. Ich weiß, dass ihr nach Ha’rar wollt. Was die Skekse getan haben und noch immer tun, ist ein entsetzliches Verbrechen und muss aufhören. Aber die Gelflinge haben seit Generationen unter der Herrschaft der Skekse gelebt. Es ist nicht leicht, die Dinge zu ändern. Die Leute werden unsere Namen und Gesichter kennenlernen. Aber wir werden genauso wie Rian als Verräter gelten. Nicht als Helden. Deshalb müssen wir vorsichtig sein, sogar bei meiner Mutter. Man muss das Wetter verstehen, damit man nicht unbeabsichtigt in einen Schneesturm marschiert.«

»Du glaubst, deine Mutter könnte sich auch dann noch auf die Seite der Skekse stellen, wenn sie das Glasfläschchen mit der Essenz sieht?«, fragte Amri. Die Vorstellung war entmutigend. »Selbst wenn sie sieht, was in Domrak geschehen ist – was mit dir geschehen ist?«

»Bei unserer bevorstehenden Aufgabe haben wir es nur zur Hälfte mit einer Glaubenssache zu tun«, erwiderte Tavra.

Naias Elan ließ sichtlich nach, und ihre grünen Ohren legten sich an.

»Na schön«, sagte sie. »Was sollen wir dann also tun?«

»Wir könnten uns als Podlinge verkleiden und in die Zitadelle schleichen«, schlug Amri vor, bemüht, die Stimmung zu heben. Es war anstrengend, immer so ernst zu sein. »Die All-Maudra von den Dachsparren aus ausspionieren. Oh, ich vermute, Podlinge wären keine besonders guten Kletterer.«

Naia lachte, und sogar Kylan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Tavra hatte wie immer keinen Sinn für Humor, wenn es um diese Dinge ging.

»Folgt dem Geruch des Meeres«, sagte sie. »Wenn ihr die Laternen der Seefahrer seht, folgt ihnen die Klippe hinunter bis zum Ufer.«

Während sie die Richtung einschlugen, die Tavra ihnen gewiesen hatte, verlor sich der aus Erde bestehende Pfad in Felsgestein und wurde von weiterem Schnee überdeckt. Die Klippen und Berge schimmerten und glitzerten wie geglätteter Kristall, der das strahlende Blau des Himmels widerspiegelte. Amri hatte noch nie das Meer gerochen. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Aber die Böe aus salzhaltiger Luft, die plötzlich über ihren Pfad wehte, war unverkennbar.

»Es riecht, als käme es von dem Berghang da drüben«, sagte er.

Naia nickte und ließ den Blick die Felswand hinauf- und hinunterwandern.

»Ziemlich steil«, stellte sie fest. Amri war anderer Ansicht, aber Felsen waren ja auch sein Spezialgebiet. Vielleicht sein einziges Spezialgebiet. Doch es spielte keine Rolle; wenn seine Freunde ihm nicht folgen konnten, war es sinnlos, dass er die Felswand hochkletterte. Und das galt für ihre ganze Reise.

»Es gibt einen Durchgang«, sagte Tavra. »In dieser Richtung.«

Sie stapften durch den Schnee in den Schatten, den die Klippe warf. Einen herrlichen Moment lang musste Amri die Augen nicht zukneifen, aber die Freude währte nicht lange. Ein Lichtstrahl fiel durch die Bäume. Sie folgten ihm und fanden binnen weniger Augenblicke einen niedrigen Tunnel, der durch den Fels führte. Amri strich mit den Fingern über die Tunnelwand, während sie ihn entlanggingen.

»Du bist so glatt, als wenn du poliert worden wärst«, sagte er zu dem Stein und blieb dabei ein paar Schritte hinter den anderen zurück. Naia und Kylan waren mehr daran interessiert, den Ausgang zu erreichen. Er drückte die Hand gegen die glatte Oberfläche, fühlte ihre Kälte und schloss die Augen. »Was hat dich gemacht? Hm?«

»Sprichst du mit der Tunnelwand?«, rief Naia ihm über die Schulter zu. Sie und Kylan standen am Ende des Tunnels. Ihre Silhouetten waren das Einzige, was das grelle Tageslicht ein wenig abschwächte. »Komm schon, Kriechfuß!«

Amri seufzte und tätschelte die Felswand zum Abschied. Er eilte den Tunnel entlang und stöhnte, als er auf dem eisigen Pfad ausrutschte. Normalerweise wäre der Tunnel kein Problem für einen Grottan wie ihn, der an Höhlen und Felsen gewöhnt war, aber die Sandalen, die er trug, machten ihn unbeholfen. Kriechfuß, in der Tat.

Als er das andere Ende des Tunnels erreichte und neben Naia und Kylan stehen blieb, sah er nichts als Blau. Unter ihnen erstreckte sich ein endloser Ozean, dessen Oberfläche die Struktur von lebendem Granit hatte. Das Tunnelende gähnte wie ein Mund, und der steile Felspfad, der sich nach unten zur Küste wand, war seine Zunge. Hier gab es keinen Schnee. Stattdessen glitzerte und wirbelte dichter silberner Nebel, aus dem nur die Spitzen von ein paar hohen Bäumen ragten, die an der Küste wuchsen. Der Nebel musste zu Schnee gefroren sein, als er über die Bergkette gezogen war, vermutete Amri. Der Nebel, dem das Silbermeer seinen Namen verdankte.

Kylan legte den Kopf schräg, als er einen seltsamen Felsen entdeckte, der sich direkt außerhalb der Tunnelmündung befand – so nah, dass er ihn beinahe mit seiner linken Hand berühren konnte. Vom Felsen starrte sie eine aus dem Stein gemeißelte Figur an – eine Meereskreatur mit Flossen. Ihre Augen bestanden aus Juwelen, in denen sich die goldene Flamme der Laterne spiegelte, die aus ihrem Maul hing.

»Die Laterne des Seefahrers«, sagte Tavra, als wäre damit alles gesagt.

»Wer sorgt dafür, dass die Laternen brennen?«, fragte Amri. Er kniete bei der Skulptur und sah ihr in die alten, leuchtenden Augen.

»Das weiß niemand. In einem alten Lied heißt es, dass ein Wassergeist die Laternen anzündet, um Kindlinge ins Meer zu locken. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich Reisende um sie kümmern. Wie auch immer, ihr Licht hat Seeleute und Reisende viele Hundert Trigonen lang geführt und sie die Küste entlang bis Ha’rar geleitet … Kommt jetzt. Wir gehen diesen Steinweg hinunter, schließlich haben wir zwei Jungen dabei.«

Amri wechselte einen Blick mit Kylan. Der Spriton zuckte mit den Schultern und begann mit dem langen Abstieg, genau wie die Spinne an seinem Kragen es gesagt hatte. Amri konnte sehen, dass Naias schwarzblaue Flügel zuckten, als sie den Blick über die Klippe hinweg in die klare Luft oberhalb des Nebels richtete.

»Du könntest nach unten gleiten, und wir treffen dich dort wieder«, schlug er vor.

Sie lächelte. »Und du könntest locker die Klippe runterklettern, wenn du die Schuhe ausziehen würdest, da bin ich mir sicher. Der arme Kylan wäre dann ganz allein mit Tavra …« Sie zwinkerte und fügte hinzu: »Ich bin Felswege gewöhnt. Wir werden zusammen gehen.«

Es wäre schön gewesen, Flügel zu haben, auch wenn die Vorstellung, frei in der Luft zu schweben, ein wenig furchterregend war. Amri war fester Boden lieber, selbst wenn der Pfad unter seinen Sandalen aus lockeren Kieseln bestand. Als er mit einem Fuß ausrutschte, packte Naia seine Hand, um zu verhindern, dass er über die Kante fiel. Sie half ihm, sich wieder aufzurichten, und er seufzte.

»Tut mir leid«, sagte er, während seine Ohren verlegen nach hinten zuckten. Niemand von den anderen schien die gleichen Probleme zu haben, aber sie waren auch alle an Sandalen gewöhnt. Die waren ein Taglichtler-Ding. Naia lächelte nur und sah ihn verständnisvoll an.

»Tritt mit den Fersen zuerst auf«, sagte sie. »Und halte den Rücken gerade. Das wird dir helfen, das Gleichgewicht zu halten.«

Er versuchte es, und gemeinsam folgten sie Kylan. Mit den Fersen zuerst aufzutreten fühlte sich unnatürlich an. Gefährlich, als würde er jeden Moment auf etwas Scharfes treten. Mit den Zehen zuerst aufzutreten war sinnvoller, wenn man barfuß in den Höhlen umherlief, wo jeder Schritt sich als scharfkantig und schmerzhaft erweisen konnte. Aber genau deshalb gab es die Sandalen.

»Mir ist es am Anfang genauso gegangen«, fügte Naia hinzu. »Damals, als ich Sogg gerade verlassen hatte. Aber du wirst dich daran gewöhnen. Du machst das jetzt schon viel besser als am Anfang.«

Amri versuchte, sich vorzustellen, wie Naia sich zum ersten Mal an Schuhe gewöhnt hatte. »Und trotzdem … es reicht, ein einziges Mal auszurutschen, um ins Meer zu fallen. Und jede Wette, so weit im Norden ist das Wasser so kalt wie der Kuss einer Vapra«, sagte er lächelnd. Naia kicherte leise, dann wurde ihr klar, dass sie noch immer seine Hand hielt. Sie ließ los, und seine Handfläche fühlte sich an der Stelle, wo sie ihn berührt hatte, kalt an. »Und wie viele Vapras hast du schon geküsst?«

Amri hatte noch nie irgendjemanden geküsst, und schon gar nicht die einzige Vapra, der er jemals begegnet war. Die außerdem zufällig eine Spinne war.

»Oh, viele«, sagte er. »Sehr viele.«

Als sie schließlich beim Meer unten ankamen, taten Amri die Kniegelenke weh. Hier, wo das Land in einem felsigen Ufer endete, an das die Wellen des Ozeans brandeten, wurde der Wald lichter. Die vom Meer angeschwemmten Steine waren rund und glatt und schwarz, silbern und blau gefärbt. Amri hätte sich gern gebückt und die Hände zwischen ihnen vergraben, die Augen geschlossen und ihren Geschichten gelauscht, aber seine Freunde gingen bereits weiter. Kylan deutete auf ein weiteres Laternen-Monument vor ihnen, einen goldenen Punkt inmitten des silbernen Nebels.

Etwas Kleines, Pinkfarbenes flatterte vorbei. Amri fing die Blüte mit einer Hand, und Erinnerungen breiteten sich in seinem Geist aus. Ein Wald voller Schatten und Geflüster und einem schrecklichen Monster. Ein großer Baum im Dunkelwald, der Oleyka-Staba genannt wurde – der Wiegenbaum – und vor Qual aufschrie, als seine Wurzeln im Boden auf Gift stießen. Die wilden roten Augen des Skeks-Jägers, der Kylan und Naia verfolgte – sein Bekenntnis in jener schrecklichen Nacht, dass das Geschrei der Skekse in der Burg bestätigte: dass sie einen Weg gefunden hatten, den Gelflingen die Essenz zu entziehen und daraus ein lebensspendendes Elixier zu machen. Den Gelflingen, die den Skeksen viele Trigonen lang mit unbeirrbarer Loyalität gedient hatten.

Amri öffnete die Hand und ließ die Blüte frei, bevor die Bilder Wurzeln schlagen und voll und ganz erblühen konnten. Er musste all die schrecklichen Erinnerungen nicht noch einmal sehen.

»Sie haben es tatsächlich bis zur Küste geschafft«, sagte Naia und sah der davonschwebenden Blüte nach. »Ich frage mich, ob sie wirklich bis nach Ha’rar gekommen sind.«

Amri versuchte, auch die Erinnerungen davonfliegen zu lassen und sie durch das zu ersetzen, was sich direkt vor ihm befand: Naia, die unerschrocken lächelte. Die im Dunkelwald Oleyka-Staba geheilt und seinen Schmerz besänftigt hatte. Die sich den Skeksen furchtlos entgegengestellt und das verfinsterte Herz von Thra gesehen und überlebt hatte.

»Das hoffe ich«, sagte Amri. »He, Kylan! Warte!«

Kylan wurde langsamer, während er in den Nebel starrte, der vom Meer heranrollte. Als Amri und Naia zu ihm aufschlossen, tauchte ein schemenhafter Umriss auf – ein Schiff, das an einem großen Baum festgebunden war, der aufs Wasser hinausragte. Es war lang und schmal, und drei scharlachrot, tiefblau und purpurn gefärbte Rah- und Lattensegel verteilten sich wie die Flossen eines stacheligen Fischs über seinen Rumpf.

»Ist das jemand, den du kennst?«, flüsterte Naia. »Hast du uns deshalb hierhergebracht?«

In Tavras Stimme schwang eine für sie untypische Erleichterung mit.

»Ja. Geht weiter, bitte.«

Amri blieb stehen, sah hinaus aufs Wasser. Er dachte an den Wassergeist, von dem Tavra gesprochen hatte – dem, der die Laternen anzündete. Es war zweifellos nur ein Lied, das erzählt wurde, um die Kindlinge vom gefährlichen Wasser fernzuhalten. Aber im Wasser lauerten echte Kreaturen, wie in jedem anderen Teil der Welt. Amri versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, und folgte seinen Freunden.

Sie kletterten den Ast entlang, an dem das Schiff angebunden war, nutzten ihn als Steg und hüpften nacheinander hinunter auf das schwankende Deck. Amri hätte beinahe wieder das Gleichgewicht verloren. Er hasste es, Schuhe zu tragen, aber er kam schnell zu dem Schluss, dass er es noch mehr hasste, Schuhe auf einem Schiff zu tragen.

»Glaubst du, sie werden dich wiedererkennen?«, fragte Naia. Sie schien keinerlei Probleme damit zu haben, auf dem schwankenden Schiff das Gleichgewicht zu halten, vermutlich, weil sie in einem Sumpf aufgewachsen war. »Ich habe immer noch dein Perlendiadem, und Amri hat dein Schwert, falls wir etwas brauchen, um deine Identität zu beweisen.«

Die Tür zur Kajüte öffnete sich genau in dem Moment, als Naia die Hand hob, um anzuklopfen. Eine Sifa mit dichten, windzerzausten roten Haaren stand im Türrahmen. Sie war jung, etwa in Tavras Alter, und trug einen schweren Seefahrermantel, der mit verknoteten Seilen und Schärpen bestickt war. An ihrem Gürtel hingen schimmernde Ketten mit Edelsteinen, die auch in ihre roten Zöpfe geflochten waren.

Ihr Blick ging direkt zu Kylans Schulter.

»Onica«, sagte Tavra mit stockender Stimme. »Ich …«

Ohne zu zögern, streckte Onica die Arme aus und nahm die winzige Spinne sanft in ihre Hände. Sie hielt Tavra dicht vor sich, und ihre meerblauen Augen füllten sich mit Tränen.

»Tavra«, sagte sie. »Den Sonnen sei Dank. Du lebst.«

Kapitel 2

Onicas Kajüte war kaum groß genug für alle fünf. Sie war der einzige Raum auf Deck, allerdings konnte Amri eine Luke sehen, die nach unten führte. Überall auf dem Boden lagen rote und blaue Kissen verstreut, die mit schimmernden Fäden und Perlen bestickt waren. Bündel aus wohlriechenden Kräutern hingen von der Decke und wiegten sich leise im Rhythmus des schwankenden Schiffs. Stark geschmolzene Kerzen erhellten das dunkle Zimmer, und ein runder Tonofen an der hinteren Wand zog auch den letzten Rest Kühle aus der Luft und wärmte sie. Das rosafarbene Glas der Bullaugenfenster verlieh dem unaufhörlichen Nebel etwas Fernes, sodass er nichts weiter als ein Nebelschleier zu sein schien.

Onica schlängelte sich zwischen den herunterhängenden Kräutern und Blumen hindurch wie ein Fisch durch Seetang. Sie hielt Tavra immer noch in einer Hand. Mit der anderen stellte sie ein Gefäß mit Wasser auf die Herdplatte.

»Bitte setzt euch«, sagte sie. »Wo immer ihr Platz findet.«

Amri fand ein Kissen, das zu seinem Hintern passte, und ließ sich schwer darauf sinken; er hoffte, dass das unbehagliche Gefühl von Wasser unter seinen Füßen bald nachlassen würde. Aber Tavra hatte sie hierhergebracht, und wenn sie dachte, dass es hier sicher war, würde er sich nicht beklagen. Das taten die anderen beiden schließlich auch nicht.

Onica räumte in der Mitte des kleinen Raums den Fußboden frei. Unter den Kissen und Decken kam ein lederner Henkel zum Vorschein, den sie packte und herumdrehte. Dann zog sie an ihm, bis sich ein Rechteck aus Planken hob. Amri beugte sich etwas vor, um unter die Platte sehen zu können, die jetzt von darunterliegenden hölzernen Zahnrädern unterstützt nach oben kam. Schließlich rastete die Platte ein, und der Fußboden hatte sich in einen Tisch verwandelt. Die Welt der Taglichtler war voller Überraschungen.

Während Onica sich wieder dem Wassergefäß widmete, hüpfte Tavra von der Hand ihrer Freundin auf den Tisch. Mit ihrem silberblauen Körper und den schwarzen Beinen wirkte sie wie aus Glas. Auf ihrem Hinterleib befand sich ein Symbol, das Kylan dort hineingeritzt hatte, als er ihre Seele durch Bildernähen in den Körper der Spinne versetzt und ihr damit das Leben gerettet hatte.

»Onica ist schon sehr lange meine Freundin«, erklärte sie.

»Seit wir jung und naiv waren«, fügte Onica hinzu und brachte ihnen zwei Tassen mit Ta, die sie auf den Tisch stellte. »Die Tochter der All-Maudra schleicht sich raus aus dem Palast, um bei der Laterne der Seefahrer eine Sifa zu treffen … Es war ein ziemlicher Skandal.«

Onica brachte zwei weitere Tassen und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Amri trank begierig einen Schluck Ta. Er war würzig, sein Geschmack durch süße Blüten ausgewogen. Umhüllt von der Wärme in Onicas Kajüte, vergaß er beinahe das Meer und seine sich pausenlos verlagernden Wellen.

»Köstlich«, sagte er. »Was ist das für ein Gewürz?«

»Feuerstaub, von den Korallen an der Küste der Sifa abgekratzt … hier, nimm ein wenig. Es gibt reichlich davon in Cera-Na.« Onica fand in ihrem Vorrat ein kleines Säckchen und gab es Amri, der es in seine Gürteltasche zu den anderen Päckchen und Bündeln stopfte, die er unterwegs aufgelesen hatte. »Aber sei vorsichtig, nimm nicht zu viel. Feuerstaub schmeckt ziemlich intensiv.«

»Woher wusstest du das mit Tavra?«, fragte Naia. Kylan warf ihr einen Blick zu, und sie ruderte zurück. »Ich bin Naia. Tavra hat mich gesucht, als mein Bruder …«

»Gurjin, ja«, sagte Onica. »Der heldenhafte Freund von Rian aus Steinwalden. Und du musst Kylan der Liedererzähler sein, der eure Botschaft durch Bildernähen mit den pinkfarbenen Blütenblättern des Geheiligten Baums der Grottan verbunden hat … und du bist Amri.«

Einfach nur Amri, wie immer. Er würde bald herausfinden müssen, wie man es schaffte, sich einen Namen zu machen.

»Woher weißt du das alles …« Amri verstummte und versuchte, sich seine Frage selbst zu beantworten. Die Kräuter, die über ihren Köpfen hingen, verströmten Gerüche, die so vielseitig und unterschiedlich waren wie die Farben und Formen ihrer Blätter. Einige waren dünn und nadelig, die stammten aus dem Norden, andere breit und flach, die kamen aus den Sümpfen des Südens. Liebevoll arrangierte Bündel aus getrocknetem Räucherwerk ruhten neben dem Tonofen, und an den Wänden hingen hölzerne Mandalas, in welche die drei Brüdersonnen, die drei Schwestermonde und andere Himmelsgestalten geschnitzt waren.

»Du bist eine Fernträumerin«, sagte Amri. »Eine Zeichendeuterin.«

Onica lächelte. »Fernträumen und Zeichendeuten sind zwei verschiedene Dinge, aber ich vermute, ich habe beides getan.«

»Onica hat schon immer von Dingen geträumt«, sagte Tavra. »Dingen, die weit weg von hier waren, zeitlich und räumlich.«

Onica nippte an ihrem Ta, und ihr Lächeln verschwand. »Nur flüchtige Eindrücke. Selten mehr als das. Aber ich habe euch alle beim Geheiligten Baum gesehen. In Träumen habe ich gesehen, wie du die Firca gespielt und dadurch eure Erinnerungen an die Blüten genäht hast. Ich habe gesehen, wie du den Wiegenbaum geheilt hast, Naia, und von ganz oben aus der Burg des Kristalls gesprungen bist, als deine Flügel gesprossen sind. Und Amri, die Grottan …«

Ihr Gesicht war so mitfühlend, dass Amri sich wand und Röte seinen Hals hinaufwanderte.

»… sind stark und widerstandsfähig!«, beendete er den Satz. »Ganz zu schweigen davon, dass sie grundsätzlich gutmütig sind.«

Onica nickte langsam. Sie versuchte nicht, ihre Gedanken zu beenden, oder ihrem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen. Niemand von ihnen musste daran erinnert werden, was den Grottan zugestoßen war, die auf schreckliche Weise tief in den Höhlen von Grot vom Spinnenvolk besiegt worden waren. Mitgefühl würde weder helfen, Domrak, das Grottan-Dorf, wieder aufzubauen, noch konnte es die verlorenen Leben zurückbringen.

Tavra, deren Spinnenkörper nur ein weiterer Beweis für die Drangsale war, unter denen sie auf ihrer Reise nach Norden gelitten hatten, bemerkte Amris Unbehagen und räusperte sich.

»Onica«, sagte sie; ihre dünne Stimme erfüllte den ganzen Raum. Sie drehte sich um, sodass sie das Sifa-Mädchen ansehen konnte, berührte eine von Onicas Fingerspitzen sanft mit einem ihrer Kristallbeine. »Wir müssen erfahren, was in Ha’rar geschehen ist. Bevor wir dorthin gehen und als Verräter gefangen genommen werden … oder Schlimmeres passiert. Kannst du in die Feuer und den Rauch sehen und uns sagen, ob es irgendetwas Wichtiges zu wissen gibt?«

Natürlich! Wenn Onica tatsächlich eine Fernträumerin war, konnte sie vielleicht das geheime Flüstern von Thra hören. Vielleicht würden die Schattenlieder sie warnen, wenn in Ha’rar und am Hof der All-Maudra Gefahr lauerte. Amri war gespannt auf Onicas Antwort, hoffte, dass sie Ja sagen würde. Er hatte so etwas noch nie miterlebt, und er wollte lernen, welches Räucherwerk sie benutzte. Welche Kräuter und Beschwörungen.

»Ja, natürlich«, sagte Onica. »Finden wir heraus, was wir sehen können.«

Onica erhob sich und wählte eins der vielen Hundert Kräuterbündel, die von der Decke hingen. Sie drückte es mit dem Ende gegen eine der Kohlen, die im kleinen Herd weiß glühten. Als das Bündel zu glimmen anfing, blies sie es aus und ließ den Rauch in einer dünnen silbernen Linie durch den Raum ziehen. Sie legte das Bündel in eine Steinschale, die sie mitten auf den Tisch stellte. Dann setzte sie sich Naia gegenüber hin und legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Tischplatte. Sie bewegte die Finger in einer an Amri und Kylan gerichteten einladenden Geste, es ihr gleichzutun und jeweils eine Hand von ihr zu nehmen. Naia nahm wiederum deren Hände, sodass alle vier miteinander verbunden waren.

»Schließt eure Augen«, sagte Onica. »Öffnet euren Geist. Wie beim Bilderströmen, aber hierbei geht es nicht um Bilder der Vergangenheit. Wir sind verbunden. Ihr und ich. Durch das Herz, das in der Brust der Welt schlägt. Durch das blaue Feuer, das durch unsere Gelfling-Körper strömt. Durch die Erde. Durch den Wind. Durch das Wasser. Durch das Feuer.«

Amri schloss die Augen. Dieser erste Teil war einfach. Das Bilderströmen mit einer Fremden hingegen war nicht so leicht. Er versuchte, sich zu beruhigen, sich zu entspannen. Sich daran zu erinnern, dass er Onica zwar gerade erst kennengelernt hatte, Tavra ihr aber vertraute. Und zwar so sehr, dass sie sie zu Onica gebracht hatte, statt zu ihrer eigenen Mutter. Amri holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Er merkte nicht, dass seine Handfläche, die er gegen die von Naia drückte, feucht wurde, bis sie seine Hand kurz und ermutigend drückte.

Als Onica wieder etwas sagte, klang ihre Stimme leiser, wie die unheimliche Stille vor einem Sturm.

»Ihr dürft alle eine Frage stellen«, sagte sie, aber er war sich nicht sicher, ob er ihre Stimme wirklich hörte oder ob sie nur in seinem Geist erklang. »Thra wird antworten, wie auch immer.«

Dann begann das Bilderströmen.

Es war wie ein Lied ohne Klang. Ein bedeutungsvoller Blick, der mit geschlossenen Augen ausgetauscht wurde. Das Gefühl, einen anderen Gelfling einfach dadurch zu verstehen, indem man es wusste, weil es diese Verbindung gab, bei der der Geist von zweien sich zu einem verband, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wurde. Nur waren es dieses Mal nicht nur zwei Gelflinge. Es war der Geist von Amri und der von Naia. Der von Kylan und von Onica. Sogar Tavra hatte sich in ihrem Spinnenkörper dazugesellt. Er konnte sie mit seinem inneren Auge spüren, ja sie beinahe sehen. Den wunderschönen und majestätischen Silberling mit den langen, seidigen Haaren.

Die Welt torkelte, als wäre das Schiff gekentert, und Amri packte Naias Hand fester. Es lag nicht am Meer; vielmehr war es der plötzliche Schauder, den er stets verspürt hatte, wenn er in den Höhlen von Grot von Felsabsätzen gesprungen war. Die kurze Ungewissheit angesichts der Gefahr, umhüllt von Vertrauen.

Fragt, sagte Onica. Aber vielleicht war es auch gar nicht Onica.

Sie alle zögerten. Onica hatte gesagt, dass sie jeweils eine Frage zur Verfügung hatten. Eine Frage, die sie Thra stellen konnten, der Welt, die ihnen das Leben gab. Amri hatte keine Ahnung, was für eine Frage er stellen sollte, und wie es schien, ging es den anderen genauso.

Kylan sprach schließlich als Erster. Hat unsere Botschaft Ha’rar erreicht? Haben die Gelflinge so weit weg vom Baum das gesehen, was ich auf die Blätter genäht habe?

Und plötzlich flogen sie.

Hoch über dem Küstennebel, der aussah, als würde ein wogender Umhang aus silbernem Fell oder Federn gegen das Ufer schwappen. Gebirge zogen sich am Rand entlang, auf der Meeresseite grün und auf der anderen schneeweiß. Amri spürte noch immer Naias Hand in seiner; sie packte jetzt genauso fest zu wie er. Er konnte sie nicht sehen, sah auch Kylan oder Onica oder Tavra nicht. Er konnte noch nicht einmal sich selbst sehen, als der Wind in Böen gegen sie stieß, sie in nördliche Richtung einem strahlenden weißen Licht entgegenwehte. Getragen von der rauen Umarmung des Windes, rasten sie auf das Licht zu. Als würden sie auf einer der abertausend pinkfarbenen Blüten des Geheiligten Baums reiten 

Nein, sie waren dazu geworden. Sie waren die Blüten, wehten in kleinen Grüppchen in wilden pinkfarbenen Wirbeln über den Himmel. Dies war die Bilderstrom-Erinnerung der pinkfarbenen Blüten, die vom Geheiligten Baum von Grot weggeweht worden waren. Jener Blüten, an die Kylan mithilfe seiner magischen Firca eine Botschaft genäht hatte, um die Nachricht vom Verrat der Skekse in aller Welt zu verbreiten.

Die Berge öffneten sich nach links und rechts – nach West und Ost, da sie von Süden kamen –, ihre steil abfallenden Flanken wirkten wie Flügel aus facettiertem Eis und Kristall. Sie schützten ein tief verschneites Dorf aus strohgedeckten Häusern, die durch gewundene Steinpfade miteinander verbunden waren.

Die Blüten haben es tatsächlich geschafft, den ganzen Weg bis nach Ha’rar zurückzulegen, sagte Kylan. Seine körperlose Stimme war trotz Wind und Licht gerade noch zu hören. Unsere Botschaft …

Die Blüten waren überall. Leuchtend pinkfarben vor dem reinen weißen Schnee, schäumend auf den Wogen des Silbermeers, die gegen den Kai brandeten. Sie schmückten die Kuppeldächer der Häuser der Silberlinge, tanzten durch die steingepflasterten Straßen und über die vereisten Flüsse, die sich auf ihrem Weg zur Nordküste unter Brücken und Gehwegen hindurchwanden. Wenn die Vapra von Ha’rar die verzauberten Blüten berührten, sahen sie Kylans Bilderstrom. Hörten sie die Nachricht, die er hineingenäht hatte.

Kylan hatte sein Lied den Blüten erzählt und diese dann auf die Reise geschickt. Aber Amri und seine Freunde hatten bisher noch keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie die Botschaft aufgenommen wurde. Bilderströmen war immer wahr, aber normales Bilderströmen fand durch die Übertragung von Hand zu Hand statt. Es wurde nicht von Blüten übertragen. Würden die Gelflinge ihnen glauben?

Geflüster drang an Amris Ohren:

Das kann unmöglich sein. So etwas würden die Skekse uns niemals antun …

Aber ist dies nicht der Beweis? Es ist ein Bilderströmen, wenn auch ein seltsames …

Während sie als Blüten durch Ha’rar flogen, berührten sie die Wangen und Handrücken vieler Vapra, landeten auf Handflächen oder schmiegten sich in silberne Locken. Manche wurden von dem Bilderstrom berührt. Andere warfen die Blüten einfach weg oder verbrannten sie voller Furcht. Noch andere teilten den Bilderstrom mit ihren Familien, während andere die Gerüchte zu den Stufen der Zitadelle trugen, wo sie darauf warteten, von der All-Maudra zu erfahren, was sie von alldem zu halten hatten. Aber durch den verwirrten Zweifel, die leisen Gerüchte, drang immer wieder ein machtvoller Gedanke. Aus misstrauischen Herzen kommend, verhärtete er sich wie Stein. Das ist ein Trick von Rian, diesem Verräter. Er versucht, uns gegen die Herren Skekse aufzuhetzen.

Glaubt seine Lügen nicht.

Amri spürte das schwere Gewicht der Enttäuschung, als Kylan aufseufzte.

Genau das habe ich befürchtet, sagte der Liedererzähler.

Gib nicht gleich auf, entgegnete Amri. Deine Bemühungen waren nicht vergebens. Viele müssen uns glauben. Sonst würde es keine Gerüchte geben.

Die Vision verblasste, und Amri nahm wieder wahr, wie Onicas Schiff unter ihm schwankte, roch den Rauch des Kräuterbündels, der in seine Nase stieg. Sie hielten sich noch immer an den Händen, und Onica sagte erneut:

»Fragt.«

Dieses Mal sprach Tavra: »Was ist mit meiner Mutter und meinen Schwestern?«

Ihre Mutter. All-Maudra Mayrin, von den Skeksen auserwählt, als Botschafterin der sieben Gelfling-Clans der Burg des Kristalls zu dienen. Und ihre drei Töchter, von denen Tavra eine war. Ihre Frage hätte selbstsüchtig wirken können, wäre sie von jemand anderem gekommen, aber für Prinzessin Katavra war sie von äußerster Wichtigkeit.

Die Winde des Bilderströmens erstarben, bis sie einfach nur im leeren Raum schwebten, die Welt sich ohne sie drehte. Zeit verging, doch ob sie vorwärts oder rückwärts lief, konnte Amri nicht sagen. Dann erschauerten die Wellen des Bilderstroms, bewegten sich erneut, aber dieses Mal in eine andere Richtung. Höher und höher glitten sie, wirbelten durch Ha’rar und stiegen an der Fassade der Zitadelle empor. Gelangten durch ein Fenster und in ein Zimmer aus Eis und weißem Stein. Es war Nacht, ein Abend irgendwann in der Vergangenheit. Die Blüten ihres Bewusstseins trieben hinein und sanken auf den weichen Stoff, der über einem kleinen Tisch drapiert war. Andere Blüten hingen an den spinnwebzarten Vorhängen, lagen auf dem Toilettentisch, wo die All-Maudra ihre Juwelen und anderen Schmuck aufbewahrte.

Ganz in der Nähe unterhielten sich drei Gelflinge. Zwei waren eindeutig Schwestern, Vapra, in Weiß und Silber gekleidet, mit langen hellen Haaren und einem silbernen Diadem auf dem Kopf. Eine war in Amris Alter; auf ihrer Wange waren Tintenflecke zu sehen. Die zweite war älter und trug einen Mantel aus fließendem Gespinst. Amri sah Tavras Abbilder: die glatte Stirn, silberne Haare. Ihre Schwestern, eine jünger, eine älter.

Der dritte Silberling war ihre Mutter, All-Maudra Mayrin. Sie konnte niemand anderes sein, mit der silbernen Krone auf dem Kopf. Eine Stimme wie Schnee, das Gesicht runzlig und ernst.

Keine von ihnen beachtete die Blüten, die der Wind hereingeweht hatte. Die Blüten, deren Erinnerungen Amri und seine Freunde in diesem merkwürdigen Bilderströmen erlebten.

»Seladon. Brea. Dieses ewige Gezänk führt zu nichts!«, schalt All-Maudra Mayrin ihre Töchter. Zumindest die beiden, die anwesend waren. Sie konnte nicht ahnen, dass ihre dritte Tochter, die ausgeschickt worden war, um die Verräter Rian und Gurjin zu finden, und dabei verschollen war, diesen Augenblick später einmal sehen würde.

Die jüngere Schwester ballte die Hände zu Fäusten.

»Ich habe es dir gesagt! Ich habe ein Zeichen gesehen, in …«

»Für solche Dinge habe ich keine Zeit, Brea!« In diesem Augenblick klang sie wie jede andere Mutter auch, die von ihrer widerspenstigen Tochter einfach nur genervt war. Dann endlich bemerkte sie die Blütenblätter und wedelte ein wenig verzweifelt in ihre Richtung. »Der Zeremonienmeister und der General werden bald hier sein. Ich habe schon genug damit am Hals, die Gerüchte über diese pinkfarbenen Blüten zu erklären. Es geht nicht, dass du zu den Sifa rennst und mich mit ihrer Fernträumerhexerei ablenkst!«

»Aber …«

»Brea, hör auf! Niemand wird dir glauben«, blaffte Seladon. Die grausamen Worte hallten durch das Zimmer, und sogar Amri zuckte zusammen, auch wenn dieser Augenblick schon lange von der Zeit verschlungen worden war. Brea blickte zu Boden; sie hielt die Hände noch immer zu Fäusten geballt.

»Tavra hätte mir geglaubt«, flüsterte sie, und der Bilderstrom verblasste. Als sie die Erinnerung verließen, spürte Amri die Gegenwart von Tavra noch stärker als zuvor.

Brea ist auf der Suche nach Antworten zu den Sifa gegangen, statt zu deiner Mutter?, fragte Kylan.

Brea ist jung, aber sie ist nicht dumm. Wenn sie Grund hatte, meiner Mutter zu misstrauen, dann sollten wir das auch tun. Möglicherweise ist die All-Maudra nicht so bereit, Krieg gegen die Skekse zu führen, wie wir gehofft haben, antwortete Tavra mit ihrer harten Stimme.

Selbst wenn All-Maudra Mayrin nicht Breas Mutter gewesen wäre, war sie immer noch ihre Maudra. Das Oberhaupt ihres Clans. Es schien merkwürdig, dass Brea ihrer eigenen Mutter nicht genügend traute, um mit ihren Angelegenheiten zu ihr zu gehen … andererseits fragte sich Amri, nachdem er die Antwort der All-Maudra mitbekommen hatte, ob Brea nicht recht daran getan hatte, stattdessen die Sifa aufzusuchen.

Es überraschte ihn nicht allzu sehr, aber er behielt seine Geringschätzung für sich. Die Vapra und ihre All-Maudra hatten es Trigon um Trigon dem Grottan-Clan überlassen, sich in den Höhlen abzumühen. Natürlich würde die All-Maudra davor zurückscheuen, ihren silbernen Mantel zu beschmutzen, wenn sie sich mit den Skeksen anlegte.

Frag.

Amri konnte nicht genau erkennen, wen Onica meinte, bis sie seine Hand drückte. Seine echte Hand, auch wenn ihre Berührung nicht stark genug war, um ihn aus dem Bilderströmen herauszureißen. Er schluckte und versuchte, sein Herz zu beruhigen. Er war an der Reihe.

Wie können wir gewinnen?

Seine Stimme hallte durch den Bilderstrom ihrer verbundenen Gedanken, seine Frage war kühn und unverblümt. Es kam keine Antwort, daher versuchte er es noch einmal, bemühte sich dieses Mal, seine Worte in der Dunkelheit des Bilderstroms hörbar zu machen:

Bitte, Thra. Wie können wir die Skekse besiegen?

Der Wind des Bilderstroms schüttelte sich wie ein aufkommender Sturm. Wie ein erwachendes Monster, oder ein Lied, das aus der Morgendämmerung hervorbricht. Amri hatte gefragt, und sie machten sich auf die Antwort gefasst.

Kapitel 3

Die Antwort auf Amris Frage bestand in einer Mauer.

Nichts weiter als einer Mauer in der Mitte einer abgrundtiefen Dunkelheit, erleuchtet vom Licht des Bilderströmens. Es gab kein Feuer, keine Sonne. Es war fast so, als wäre die Mauer selbst die Quelle des Lichts, auch wenn sie ganz normal aussah. Eine große Platte aus hellbraunem Stein, der sich unter Amris Fingerspitzen rau anfühlte, allerdings verströmte alles immer noch die surreale Stimmung eines Traums.

Hallo?, rief er, aber niemand antwortete. Nicht wie zuvor, als Thra ihnen die Erinnerungen von einem anderen Ort gezeigt hatte. Die Fernträume. Dieses Mal, so schien es, war Amri allein.

Im Gegensatz zu den ersten beiden Antworten erfuhr er diese Vision als der, der er war. Als Gelfling, nicht als pinkfarbene Blüte. Er hoffte, dass es daran lag, dass dies eine Botschaft und keine Erinnerung war.

Er trat zurück, versuchte zu sehen, wie hoch die Mauer hinaufreichte, oder wie weit sie sich zu den Seiten hin erstreckte. Aber sie war unendlich groß. Unendlich breit, zog sich endlos weit in die Schatten. Er berührte die Mauer erneut, versuchte, ihrer verborgenen Stimme zu lauschen. Aber es gab keine Erschütterungen, keine Vibrationen. Nicht an diesem Ort, wie es schien. An diesem Ort gab es nichts als die Mauer.

Amri seufzte. Natürlich hatte so was passieren müssen. Das Erste, was er Thra entgegengerufen hatte, war die Frage, wie die Skekse besiegt werden konnten. Wenn Thra etwas für die Gelflinge übrighatte und wusste, was zu tun war – hätte sie es ihnen dann nicht schon längst mitgeteilt? Durch die Fernträume der Sifa oder durch die Sterne. Durch den Kristall. Oder durch Aughra, die helixhörnige Hexe, die auf dem Hohen Hügel lebte. Thra verfügte über endlos viele Möglichkeiten, sich mitzuteilen, aber als Amri eine direkte Frage stellte, bekam er als Antwort nur diese stumme Mauer.

Und was soll ich jetzt damit anfangen?, fragte er den leeren Bilderstrom.

Die Oberfläche der Mauer erwärmte sich unter seinen Fingern, und er machte einen Satz zurück. Feuer war unten erblüht, sickerte aus dem Fuß der Mauer heraus, als wäre sie eine Tür, die vor einem Inferno geschlossen worden war. Er stolperte davon, als das Feuer größer wurde, rot und golden loderte. Seine Augen brannten von dessen heißem Licht, während es mit gierigen, hungrigen Zungen an der Mauer leckte. Amri drehte sich um und rannte davon, als die Flammen aufwärtsschossen, brennende Hitze durch den Bilderstrom wogte und orangefarbenes Licht auf die Dunkelheit fiel.

Das Gold wurde zu Silber. Amri hörte auf zu rennen, als er die Hitze nicht mehr in seinem Rücken spürte, und drehte sich um, um nachzusehen, was geschehen war.

Das Feuer hatte die Mauer eingehüllt, doch während es zuvor gefräßig und rot gewesen war, leuchtete es jetzt so blau wie der Mitternachtshimmel. Die Mauer selbst war an einigen Stellen durch die Feuerzungen eingestürzt, und durch die entstandenen Lücken sah Amri strahlendes Licht. Kristalladern, weiß wie Sternenlicht, die Stück um Stück freigelegt worden waren, als die Mauer in sich zusammengefallen war. Und im Licht des Kristalls kamen Worte zum Vorschein. Bilder. Gestalten …

Und dann war er wieder zurück auf dem Schiff; seine Hände fühlten sich in denen von Onica und Naia immer noch feucht an.

»Was war das?«, fragte er und hätte den Kreis fast zerbrochen. Das Bilderströmen verband sie immer noch wie eine Decke, und trotz allem, was er gesehen hatte, zögerte er, es zu glauben.

Eine Mauer, sagte Naia. Du hast sie auch gesehen?

Ich denke, wir alle haben sie gesehen, erwiderte Kylan leise. Mit der blauen Flamme … Was hat das alles zu bedeuten?

Niemand von ihnen, noch nicht einmal Onica, hatte irgendeine Antwort darauf. Oder zumindest deutete Amri das Schweigen so. Er spürte, dass Naia zögerte; ihre Finger spannten sich an, und fast hätte sie die Hand weggezogen. Sie hatte ihre Frage noch nicht gestellt, aber nach all dem, was sie bisher gesehen hatten, und wie wenig sie damit anfangen konnten, konnte Amri es ihr nicht verübeln, dass sie unsicher war.

Onica holte tief Luft. Stieß den Atem wieder aus.

Frag, Naia, sagte sie. Stelle deine Frage.

Was noch von Naias Zögerlichkeit übrig war, verschwand. Sie drückte Amris Hand fester und sagte:

Bitte sag uns, wo wir Rian finden können.