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Buch

Jim Henson hat nicht nur die weltberühmten »Muppets« geschaffen, sondern revolutionierte auch das Fantasygenre auf der Leinwand: Sein Film »Der dunkle Kristall« (1982) besitzt Kultstatus, was die Serienmacher von Netflix unlängst dazu bewogen hat, die Vorgeschichte des Meisterwerks zu erzählen. Der Serienhit »Der Dunkle Kristall: Ära des Widerstands« basiert auf der auf Deutsch noch unveröffentlichten Fantasy-Saga von J. M. Lee. Darin erzählt er die Geschichte der Gelflingfrau Naia: Sie versucht, ihren verschwundenen Bruder zu finden, der einer schrecklichen Intrige zum Opfer gefallen ist. Dabei deckt Naia ein entsetzliches Verbrechen auf, welches die Welt Thra für immer verändern wird.

Alle Bände der »The Dark Crystal«-Saga:

Der dunkle Kristall 1. Ära der Schatten

Der dunkle Kristall 2. Zeit der Lieder

Der dunkle Kristall 3. Nacht der Gezeiten

Der dunkle Kristall 4. Stunde der Flammen

Der Autor

J. M. Lee verbrachte seine Jugend in Minnesota, wo er in dem Glauben aufwuchs, mit Tieren sprechen und das Wetter beherrschen zu können. Am College interessierte er sich für vergleichende Filmwissenschaft, Drehbuchschreiben sowie Shakespeare und schloss sein Studium an der University of Minnesota im Fach Linguistik mit Schwerpunkt japanischer Phonetik ab. Er lebt in Minneapolis. Für die Netflix-Serie »Der dunkle Kristall. Ära des Widerstands« lieferte Lee mit seinen Romanen die Vorlage und fungierte als Berater und Drehbuchautor.

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Roman

Ins Deutsche übertragen
von Susanne Gerold

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Flames of the Dark Crystal«
bei Penguin Workshop, New York 2019.

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Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Penguin Workshop, an imprint of Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC.

Illustrations © by Brian Froud and Cory Godbey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: © Max Meinzold, München nach einer Originalvorlage von Penguin Workshop

Umschlagillustration: Brian Froud © 2016 The Jim Henson Company

TM & © The Jim Henson Company. JIM HENSON’S mark & logo, THE DARK CRYSTAL mark & logo, characters and elements are trademarks of The Jim Henson Company. All Rights Reserved

LO Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27271-5
V001

www.blanvalet.de

Vielleicht sehen wir uns wieder, aber keinesfalls in diesem Leben.

Meister urSu, aus Der dunkle Kristall

Kapitel 1

Schatten erfüllten sämtliche Winkel der Welt.

Naia konnte Wasser hören. Roch die schwere, feuchte Luft, die sie umgab. Aber in welche Richtung sie sich auch wandte, sie sah nichts als Dunkelheit. Als sie die Hand ausstreckte, spürte sie etwas Nasses an ihren Fingerspitzen entlangstreichen. Dann war es weg.

Licht flackerte. Blitzte silbern auf wie eine Sternschnuppe oder wie Sonnenlicht, das durch das dichte Blätterdach des Sumpfs fiel. Noch bevor sie reagieren konnte, raste es davon.

Naia brach durch ein dichtes Gestrüpp aus Zweigen und Blättern, hatte die Flügel weit genug ausgebreitet, um die warme Luftströmung des Dschungels aufzufangen. Sie bewegte sich durch die Luft, kam mit den Füßen für einen kurzen Moment auf dem harten Ast eines Affenknotenbaums auf – und war sofort wieder weg. Hüpfte von Ast zu Ast durch das lichtgetüpfelte Blattwerk, jagte hinter dem Silberstern her, der wie ein Vogel vor ihr herflitzte.

»Tavra!«, rief sie. »Warte, Silberling!«

Tavra wurde nicht langsamer. Im Gegenteil, sie schien den Ruf als Herausforderung zu betrachten, die spinnwebzarten Flügel auszubreiten, sich in die Luft zu schwingen und zwischen den Bäumen hindurchzuzischen, wie nur eine Vapra es konnte. Naia hörte unter sich den Sumpf rumoren und lächelte. Tavra mochte im Vorteil sein, was die Flugfähigkeit der Flügel betraf, aber sie befanden sich hier im Sumpf von Sogg. Naias Zuhause.

Sie sprang gerade von einem Ast, als eine Blase aus heißem Sumpfgas hochschoss, ihre Flügel füllte und sie hoch in die Baumwipfel trug. Sie legte sich auf die Seite, glitt auf der Luftströmung dahin und raste näher an Tavra heran. Vielleicht würde sie sie sogar einholen.

Während sie dahinschwebte, verging die Zeit langsamer. Der Sumpf war wunderschön, wie er mit all seinem Grün und Purpur und Gold im Tageslicht strahlte und voller Leben war. Und doch stimmte irgendetwas nicht. Naia hatte das Gefühl, als hätte sie das alles schon einmal getan. Nur hatte sie damals, als sie diese Route das letzte Mal genommen hatte, noch keine Flügel gehabt. Sie hatte Tavra voller Neid aus der Ferne beobachtet. Sich gewünscht, dass sie eines Tages in der Lage sein würde, das Gleiche zu tun.

Und dann …

Ein stechender Schmerz durchfuhr Naias Stirn, und sie zuckte zusammen, wäre beinahe von einem Ast gerutscht. Sie fiel auf die Knie und klammerte sich an die kringelige Rinde, um zu verhindern, dass sie in die Tiefe stürzte, während die Welt einen Augenblick lang dunkel wurde, als wäre ein Vogel über sie hinweggeflogen und hätte das Licht aller drei Sonnen auf einmal abgeschirmt. Und dann war es vorbei, und das Licht kehrte zurück, aber …

»Warte«, versuchte sie zu sagen. »Tavra, warte!«

Ihre Umgebung, die Bäume wurden von einem ohrenbetäubenden Ächzen erschüttert, das von irgendwo unter ihr kam. Der Sumpf schäumte, wölbte sich, als sich etwas Gewaltiges erhob. Naia hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht, dass das passierte. Nicht noch einmal. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte nicht ewig wegsehen.

Naia schaute nach unten.

Ein Monster durchbrach die Sumpfoberfläche. Schwarz und violett, geschuppt und gepanzert, mit Hauern wie ein Nebrie und Knochenfortsätzen an seinem Schädel wie ein Hornträger. Unzählige Beinpaare in allen Größen und Formen tauchten aus dem Sumpf auf, Zangen und Klauen, Hufe und knochige Hände. Das Gesicht des Monsters veränderte sich, hatte einen Moment lang traurige, vorquellende Augen, im nächsten einen flachen reptilischen Kopf und ein Maul, das groß genug war, den ganzen Sumpf zu verschlingen. Es brüllte, versprühte dabei Speichel und Blut, und Naia konnte sehen, dass die Schwärze in seinem Schlund endlos war, ein gähnender, in den Abgrund im Mittelpunkt der Welt führender Tunnel.

Erneut blitzte Silber auf. Tavra hatte ihr Schwert gezogen.

»Tavra, nein!«

Naias Stimme wurde von einem weiteren schaurigen Schrei des Monsters übertönt. Einen Augenblick später schlug das Wesen seine Kiefer in den Baum, auf dem Tavra gehockt hatte. Der hoch aufragende Affenknotenbaum zersplitterte wie ein Schössling, und Tavra war fort.

Naia starrte den abgebrochenen Baum an. Sein weißes Kernholz hatte violette Flecken. Er war innerlich krank. Als sie den Blick wieder auf das Monster richtete, sah sie die gleiche Krankheit auch unter seiner Haut pulsieren. Violette, leuchtende Adern, die sich durch alle Gelenke seines Körpers zogen. Eine tintige Dunkelheit, die sich in seinen wahnsinnigen Augen sammelte, als es sie ansah.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein …«

Das Monster öffnete das Maul und machte einen Satz. Die Welt zerbrach in Einzelteile, und Naia fiel nach unten. Immer weiter hinunter, immer schneller; ihre Flügel ließen sich nicht öffnen, während überall um sie herum Wasser und Trümmer herabregneten.

Ihr Körper prallte auf die Wasseroberfläche, und alles wurde dunkel.

Hilfe, wollte Naia sagen. Stattdessen dachte sie es nur, schickte diesen Gedanken in das trübe, flüssige Nichts, das sie umgab. Sandte es sogar als Bilderstrom, an wen auch immer, der es womöglich empfangen konnte. Aber sie war allein. Trieb dahin, träge und erschöpft. Wollte sich bewegen, doch ihre Gliedmaßen verweigerten ihr den Gehorsam. Ihr Herz begann zu rasen. Die Kiemen seitlich an ihrem Hals und den Schultern öffneten sich. Das Wasser war dunkel und brackig, aber das war immer noch besser, als zu ersticken. Sie atmete es ein, spürte, wie der kalte Strom sie belebte. Sie aufweckte. Ihre Finger prickelten, dann kehrte das Leben in sie zurück.

Ihre Schultern schmerzten. Jemand hielt sie fest, jemand, der oder die vor ihr im Wasser trieb.

Aughra sei Dank, sagte eine vertraute Stimme, die ihren Geist erfüllte. Ich dachte schon, du wärst tot!

Sie öffnete die Augen und war nicht mehr länger im Dunkeln. Stattdessen hatte sie das Gefühl, sie würde in einen Spiegel starren. Nein, nicht in einen Spiegel.

Gurjin?

Als sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hatte, hatten sie sich irgendwo zwischen Aughras Planetarium und den Höhlen von Grot getrennt. Damals war er vollkommen erschöpft gewesen. Weil er ein Gefangener der Skekse und in der Burg des Kristalls eingesperrt gewesen war. Jetzt schwamm er vor ihr, seine Kraft war wiederhergestellt. Der grüne Farbton seiner Haut war lebhaft, die Flecke auf seinen Wangen kräftig und dunkel.

Was machst du hier?, fragte sie. Wo …?

Ihre Fragen waren wie der Schlüssel zu einer verschlossenen Tür, die plötzlich aufgerissen wurde. Erinnerungen strömten heraus: an die Auseinandersetzung mit skekSa, der Schifferin, oben auf den Klippen, hoch über dem verschneiten Ha’rar. An ihre Freunde, die um ihr Leben gekämpft hatten. An Amri und Tavra, die eine Nachricht an die Vapra geschickt hatten. Und an ihre gemeinsame Flucht.

Wir sind von der Klippe gesprungen, murmelte sie wassertretend. Wir haben versucht, zu Onicas Schiff zu gelangen. Aber dann ist skekSas Schiff …

Die Wellen hatten sich um den knochigen, mit Auswüchsen gespickten Panzer geteilt. Eine lebende Meereskreatur, ein monströser Behemoth, der versklavt worden war und unter der Kontrolle von skekSa stand. Er war aus dem Ozean gekommen und hatte ihr Schiff verschluckt. Naia schüttelte den Kopf und versuchte, die entsetzliche Erinnerung aus ihren Gedanken zu verbannen.

Aber wie bist du – wo sind die anderen? Amri und Kylan, Onica und Tavra und Tae …

SkekSa hat sie gefangen genommen, sagte Gurjin. Der Behemoth hat das Schiff und alle, die sich an Bord befunden haben, verschluckt. Wir sind im Augenblick im Maul des Tiers. Schau dich um.

Es gab kaum Licht in dem wässrigen Raum, aber Naias Augen hatten sich endlich an die Düsternis gewöhnt. Über ihnen konnte sie den Rumpf von Onicas Schiff sehen, das ziellos inmitten von Trümmerstücken trieb. Die zweifellos von vorherigen Schiffbrüchen stammten.

Nachdem der Behemoth sein Maul geschlossen hatte, wurde der Raum mit Gas geflutet, sagte Gurjin. Alle außer mir sind bewusstlos geworden. Ich war im Wasser. Ich konnte nur dich retten, bevor skekSa die anderen weggebracht hat … Naia, wir müssen sie finden. Als skekSa gemerkt hat, dass du nicht bei ihnen warst, hat sie gesagt, sie würde sie als Köder benutzen.

Naia schüttelte ihre Hände aus. Ihr müder Verstand bemühte sich, all diese Informationen zu verdauen, aber das war unmöglich, solange ihre Freunde in Gefahr waren.

Richtig. Gehen wir. Im Moment bin ich einfach nur froh, dass du hier bist.

Naia und Gurjin kletterten aus dem Wasser auf einen fleischigen Sims. Das üble Gas hatte sich verflüchtigt, aber die Luft im Maul des Behemoths war dumpfig und faulig. Naia erschauerte, als sie bemerkte, dass ein echter Laufgang aus Holzplanken in den Körper des Untiers gebaut worden war. Sie konnte sich die fürchterlichen Schmerzen, die diese gigantische Kreatur empfinden musste, kaum vorstellen. Seit wann ertrug sie es schon, dass skekSa in ihrem Körper lebte? Von ihr behandelt wurde, als wäre sie ein Schiff ohne Herz und ohne Seele?

»Sie hat sie hier entlanggebracht«, flüsterte Gurjin und deutete auf einen der vielen Durchgänge, die tiefer ins Innere der Kreatur führten. Naia ging so leise wie möglich, und das Grummeln und Gurgeln, das durch den Körper des Behemoths hallte, war laut genug, um das Geräusch ihrer Schritte zu überdecken. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden. Die Wände eines jeden Durchgangs zuckten und bewegten sich wellenförmig. Das Schiff wusste, wo sie waren, auch wenn skekSa es nicht wusste. Es konnte sie spüren, genau wie sie selbst ein Insekt spüren konnte, das über ihre Hand krabbelte.

Naia versuchte, sich den Weg zu merken, den sie nahmen, damit sie zum Schiff zurückfinden würden, sobald sie ihre Freunde gerettet hatten. Wobei ihr allerdings nicht klar war, wie sie dem geschlossenen Maul des Behemoths entkommen sollten, selbst wenn sie wieder auf ihrem Schiff sein würden. Aber eins nach dem anderen.

»Ich habe Mutter begleitet, als sie mit den anderen Maudras nach Ha’rar gerufen wurde«, erzählte Gurjin, während sie sich durch das Labyrinth aus Durchgängen bewegten. »Sie wollte, dass ich nach dir suche. Als das Feuer der Vapra entzündet wurde und die Schriftritzereien in die Mauern der Zitadelle gebrannt wurden, wusste ich, das musst du gewesen sein. Ich bin also auf die Suche gegangen und habe euer Sifa-Schiff in der Bucht unterhalb der Klippe gefunden. Ich war gerade erst dort angekommen, als es von skekSas Schiff verschluckt wurde. Was nur gut ist, denn sonst wärst du jetzt bei skekSa.«

Die Bemerkung wurmte Naia – als wäre sie schuld daran, dass sie sich jetzt in dieser misslichen Lage befanden. Sie holte tief Luft und ließ das Gefühl von ihren Schultern gleiten. Es war sinnlos, ausgerechnet jetzt darüber zu streiten, wer von ihnen mehr Verantwortung für das alles hier trug.

»Mutter wollte, dass du mich findest?«, fragte sie. »Warum?«

Gurjin legte die Ohren flach an und eilte ein Stück voraus, sodass sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

»Das werde ich dir später erzählen«, sagte er. »Ich höre etwas.«

Damit lenkte er zwar vom Thema ab, aber der Grund war nicht vorgeschoben. Stimmen drangen an ihre Ohren, verworren durch das Atmen und Zucken des porösen Gangs. Vertraute Stimmen. Ihre Freunde.

Nach zwei weiteren Biegungen blieben sie stehen. Eine große runde Membran befand sich in der Mitte der Wand. Sie war verschlossen wie ein senkrechtes Augenlid. Naia hatte eine ähnliche Türöffnung schon zuvor auf dem Schiff gesehen, als sie skekSas Gäste gewesen waren. Jetzt beugte sie sich weiter vor. Auf der anderen Seite konnte sie diffuse Lichter sehen und skekSas gedämpfte Stimme hören.

»Wir müssen da rein«, sagte Gurjin. Er streckte die Hand aus, um die Membran zu berühren, doch Naia zog ihn zurück.

»Wenn sie sich an dieser Stelle öffnet, wird skekSa es bemerken«, sagte sie. »Es muss einen anderen Weg hineingeben. Die gute Nachricht ist, dass skekSa nicht hier draußen sein kann, wenn sie da drinnen ist. Zumindest im Augenblick.«

Sie suchten die angrenzenden Gänge ab. Jede Wand hatte eine andere Oberflächentextur; manche waren mit Graten übersät und hart, andere weich und wabbelig und glatt. Bei so viel miteinander verbundener Anatomie war es schwer zu glauben, dass es keinen einzigen anderen Weg in den Raum geben sollte.

Naia spürte einen Luftstrom von oben. Aus der Decke ragte ein ovales Gefäß, das ungefähr den Durchmesser eines Fasses hatte; es klappte auf und schloss sich im Einklang mit den behäbigen Atemzügen des Behemoths. Wenn es sich öffnete, drang ein Luftschwall heraus, doch wenn es geschlossen war, war es fast unsichtbar.

»Da«, sagte sie. »Dadurch kommen wir rein. Hilfst du mir rauf?«

Gurjin nickte und stützte die Hände auf dem Knie ab, wie sie es unzählige Male gemacht hatten, als sie als Kinder auf Bäume geklettert waren. Naia hüpfte hoch, bis sie den Rand des geschlossenen Ventils zu fassen bekam. Als es sich öffnete und ihr noch mehr muffig riechende Luft entgegenschlug, schwang sie sich hinein und drehte sich schnell um, fasste nach Gurjins Hand. Sie riss ihn hoch, und er schaffte es gerade noch durch die Öffnung, ehe sie sich wieder schloss.

Sie krochen durch die stickige Luftröhre in Richtung der Stimmen. Die Röhre neigte sich und wand sich, führte aufwärts und steil nach unten, bis sie das hintere Ende erreichten. Naia hockte auf allen vieren und wartete, bereit, nach draußen zu krabbeln. Sie hatte keine Ahnung, was auf der anderen Seite war – würden sie vor skekSas Blicken verborgen sein, oder würden sie direkt über ihr nach draußen purzeln?

Das Ventil öffnete sich, und Naia setzte sich in Bewegung; Gurjin war ihr dicht auf den Fersen. Sie hatten Glück, denn das Rohr öffnete sich in einer vollgestopften Ecke, die halb hinter einem schweren roten Vorhang verborgen war. Naia duckte sich hinter den Vorhang und verharrte dort, versuchte, ihren Atem zu beruhigen und so leise wie möglich zu atmen, während sie den Raum musterte.

Es war ein Atrium mit einer hohen Gewölbedecke aus schuppigen Platten, wo sich die Innenseite des Panzers des Behemoths befinden musste. Wie das Laboratorium wurde es von einem Kronleuchter erhellt, der ein flammenloses goldenes Licht verströmte. Auserlesene Gemälde zogen sich über die sechseckigen Schuppen der Decke, auf denen Meeresnebries, Hooyim und andere Meereslebewesen dargestellt waren. Den Fußboden bedeckte ein dicker Belag aus gewobenem Kelp oder Seegras. Verzierte Möbel schmückten den Raum: ein paar für Skekse geeignete Stühle mit plüschigen Fußstützen, geformte Gestelle und ein breiter Tisch voller Karten und Schriftrollen und Bücher – alles in dem schwarzen verschachtelten, fast schon skelettähnlichen Stil, den die Skekse so sehr mochten. Statuen aus Stein und Metall befanden sich auf mehreren Regalen und Wandtischchen, die mit Sifa-Nippes und Schätzen aus Gold, Silber und Perlmutt übersät waren. Haufenweise Juwelen und glitzernde Schmuckstücke quollen aus Fässern und Kisten; manche stapelten sich auch einfach auf dem Boden.

»Also: Ihr wartet hier. Wenn ihr euch von der Stelle rührt, werde ich euch töten … Ich brauche etwas für diese verdammte Wunde.«

Der Fußboden erzitterte unter schweren Schritten, als ein Schatten vor dem Licht des Kronleuchters vorbeiging, und dann kam sie in Sicht.

SkekSa. Die Schifferin der Skekse, groß und mit grünen und blauen Federn geschmückt. Ihr Umhang war durchnässt von Meerwasser und geschmolzenem Schnee und Eis. Sie ging zu einem Schrank im hinteren Teil des Raums, wobei ihre Schritte längst nicht so anmutig wie sonst waren und verrieten, dass sie unter großen Schmerzen litt. Ihr blutiger Stumpf war mit schwarzem Leinen umwickelt, das sie von ihrem einstmals prachtvollen Gewand abgerissen hatte. Mit ihren drei gesunden Händen kramte sie in dem Schrank herum, stieß dabei ein tiefes Stöhnen aus.

Während skekSa abgelenkt war, zog Naia den Vorhang beiseite. Im Licht der Flammen einer knisternden Feuerstelle sah sie Onica, die Fernträumerin und Kapitänin des Schiffs, mit dem sie unterwegs gewesen waren, und Kylan, den Liedererzähler vom Clan der Spriton. Außerdem waren noch zwei andere im Raum und wirkten gefasst und wachsam: Amri und Tae, der Grottan und die Sifa, die so dicht beieinander an einen silbernen Mond und eine rosige Sonne erinnerten. Allerdings konnte Naia an dem strengen, freudlosen Ausdruck in Taes sommersprossigem Gesicht erkennen, dass es gar nicht Tae war. Zumindest nicht so richtig. Eine winzige Gestalt, die aussah, als wäre sie aus blauem Glas, saß an ihrem Hals, und Naia atmete erleichtert auf. Tavra würde dafür sorgen, dass ihnen nichts geschah.

Naia strömte Bilder mit Gurjin, um in Gedanken mit ihm zu sprechen, ohne dass skekSa sie hören konnte.

Der Kronleuchter. Nicht einmal skekSa kann noch etwas sehen, wenn alles pechschwarz ist – aber Amri kann es. Vielleicht verschafft uns das ein bisschen Zeit, sodass wir die Tür dahinten aufbekommen. Wenn wir alle zum Schiff zurückbringen können, fällt uns vielleicht etwas ein, wie wir diesem Behemoth entkommen können.

Sie zog den Dolch, den sie so lange am Gürtel getragen hatte – Gurjins Dolch. Naia schob ihn ihm in die Hand, damit er eine Waffe hatte. Außerdem gehörte er schließlich ihm.

Alles klar, sagte er und verschwand zwischen den Falten des Vorhangs.

Naia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Skeks und klopfte ganz sachte auf den Fußboden; sie hoffte, dass Amri es mit seinen empfindsamen Zehen wahrnehmen würde. Zu ihrer Erleichterung zuckte er fast unverzüglich mit einem Ohr. Er sah sich verstohlen um, während skekSa immer noch mit dem Rücken zu ihm vor ihrem Schrank stand und darin nach irgendetwas suchte, dabei eine Flasche nach der anderen hervorholte, in denen dunkler Alkohol war. Schließlich entdeckte er Naia und machte gerade Kylan auf sie aufmerksam, als skekSa herumwirbelte, eine Flasche in der Klaue. Sie entkorkte sie und trank sie halb leer, rülpste lautstark und zog einen Dolch mit gedrehter Klinge aus ihrem Gürtel.

»Also«, sagte skekSa und fuchtelte mit dem Dolch in Richtung ihrer Gefangenen. »Wer von euch wird Naias Namen am lautesten schreien?«

Kapitel 2

»Wie wär’s mit dir, Spriton? Du bist doch ein Liedererzähler, oder? Wie wäre es, wenn du uns allen einen Gefallen tust und Naia herbeirufst, damit wir nicht länger unsere Zeit mit dieser Farce vergeuden müssen?«

Die Schifferin schritt auf die gefangenen Gelflinge zu, den Blick ihrer dunklen Augen auf Kylan gerichtet, aber die blonde Sifa in der Gruppe breitete ihre Flügel aus.

»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich ernsthaft darüber nachdenken, uns gehen zu lassen«, sagte sie.

SkekSa zog eine schuppige Braue hoch und betrachtete die Sifa von oben bis unten. »Du klingst anders, kleine Tae«, sagte sie. »Höre ich da einen Vapra-Akzent? Und ich dachte, ich hätte dich oben auf der Klippe mit meinem Donnerei ein für alle Mal weggeblasen.«

Naia fluchte lautlos vor sich hin. Sie hatte vergessen, dass skekSa viele Sifa-Gelflinge kannte, und so auch Tae. Aber selbst wenn skekSa darauf aufmerksam werden sollte, dass Tae irgendwie merkwürdig sprach, war das, was zwischen Tae und Tavra passiert war, sehr kompliziert. Naia hoffte, dass skekSa nicht ahnen konnte, dass Tae schwer verwundet worden war und Tavra – eine der Töchter der All-Maudra – ihren Vapra-Körper verloren hatte und jetzt als Kristallsängerin weiterexistierte. Dass sie die Magie der Spinne benutzte, um sich als Tae zu bewegen und zu sprechen, deren Geist nach ihrer Verletzung in einen tiefen Schlaf gefallen war.

Es war unmöglich, dass skekSa das alles irgendwie erahnen konnte. Das, was passiert war, forderte sogar Naias Vorstellungsvermögen heraus, wenn sie zu lange darüber nachdachte.

Tavra drehte sich um, sodass ihr echter Spinnenkörper vor skekSas forschenden Blicken verborgen war.

»Ihr seid nicht so tödlich, wie Ihr glaubt. Vielleicht solltet Ihr Euch nicht diejenigen zu Feinden machen, denen Ihr nicht gewachsen seid … Ihr wart einst die Schutzherrin des Sifa-Clans. Wieso schließt Ihr Euch uns nicht an und genießt die Vorteile, wenn wir den Mächtigsten stürzen?«

»Setz mich nicht herab«, fauchte skekSa aufgebracht.

»Ist das kein Vorschlag, über den nachzudenken sich lohnen würde?«, fragte Onica. »Ihr habt gesehen, was wir erreichen können. Ihr müsst gesehen haben, wie die Sifa das Feuer an Bord der Omerya entzündet haben, und auch die Vapra unten in Ha’rar, während die Skekse von der Zitadelle der All-Maudra aus sogar zugesehen haben. Tief in Eurem Herzen wisst Ihr, dass wir gewinnen werden.«

Dieses Mal antwortete skekSa nicht sofort – und das war ihr Fehler. Gurjin erreichte den Schaft des Kronleuchters. Er zog seinen Dolch und schlug ihn gegen die Lampen, überschüttete alle mit einem Schauer aus Glasscherben und Funken. Es wurde dunkel im Atrium, und skekSa explodierte förmlich vor Wut.

»NAIA! Ich kriege dich noch!«

»Hier entlang!«

Naia riss den Vorhang zurück, obwohl nur Amri sie in der Dunkelheit sehen konnte. Er packte die anderen an den Handgelenken, zog sie Richtung Naia und zur Tür. Durch die Schatten und den Rauch konnte Naia gerade noch Gurjin ausmachen, der vom Kronleuchter aus einen Satz zum Vorhang machte. Hätte er Flügel gehabt, wäre das Ganze ein Kinderspiel gewesen, so aber packte er den roten Stoff mit einem schweren Rums. Dann kletterte er flink wie eine Affenknotenbaum-Maus am Vorhang hinunter und war einen Moment später bei ihnen; sie alle standen noch immer mit dem Rücken zur großen Ventiltür.

»Sie geht einfach nicht auf«, sagte Onica, während sie mit den Händen gegen die Membran drückte. »Kylan, versuch es mit deiner Firca. Vorhin haben sich die Türen zu den Tönen von skekSas Flöte geöffnet!«

SkekSa stieß ein weiteres wütendes Gebrüll aus. Sie schlug noch immer im Dunkeln um sich. Tavra griff sich einen schlanken eisernen Kerzenständer, der aus einem der Haufen an Schätzen ragte – das war zwar kein Schwert, aber besser als nichts. Naia wappnete sich.

Kylans Firca spielte ein zittriges Lied; es klang skeks-ähnlich und hörte sich unheimlich an – vor allem da es von einem Gelfling-Instrument kam. Einen Moment lang war Naia besorgt, dass es nicht klappen und das Schiff nicht auf Kylan reagieren würde, aber dann erbebte die Ventiltür und sprang auf.

»Naia!«, schrie skekSa. Ein Getöse folgte, als sie einen Tisch umwarf, und Naia hob die Hand, um ihr Gesicht vor einem Hagel aus Perlen und Juwelen zu schützen. »Du dummes Mädchen!«

Mit lautem Gebrüll kam die Schifferin auf sie zugerannt. Tavra machte sich bereit, aber Naia nahm einen Schürhaken von Amri und warf ihn wie einen Speer. Er traf die Skeks in die Brust, doch Naia blieb nicht, um zu sehen, was weiter geschah. Und auch nicht, um zu kämpfen. Sie rannten durch die Türöffnung und den sich windenden Gang entlang. Gurjin hatte die Führung übernommen, gefolgt von Onica und Kylan, während Naia, Amri und Tavra als Letzte kamen. Sie alle hofften, dass sie in der Lage sein würden, den Weg zurück zu ihrem Schiff zu finden, bevor skekSa sie einholte.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Amri, während sie rannten. Überrascht stellte Naia fest, dass sie zu ihm aufblickte. Sie hatte sich so an seine für einen Grottan typische gebückte Haltung gewöhnt, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie groß er war.

»Ja, aber noch besser wird es mir gehen, wenn wir erst wieder auf unserem Schiff sind!«

Gurjins Erinnerungen leisteten ihnen gute Dienste. Binnen kürzester Zeit führte er sie zurück zum Maul des Behemoths. Das kleine Sifa-Schiff wiederzusehen hätte Naia aufmuntern müssen, aber das tat es nicht. Sie hatte versucht, ihre Flucht schrittweise anzugehen, aber jetzt sah sie sich schneller als erwartet der Aufgabe gegenüber, dem Maul des Behemoths zu entkommen.

»Und was jetzt?«, keuchte Kylan.

»Vielleicht sollten wir einfach höflich fragen?«, schlug Amri ironisch vor.

Onica befreite sich mit einer raschen Bewegung von dem zerfetzten Umhang, den sie getragen hatte. »Sehen wir erst einmal zu, dass wir aufs Schiff kommen«, sagte sie. »Selbst wenn wir es am Ende zurücklassen müssen, um zu fliehen, gibt es an Bord Waffen; Fischspeere und Netze beispielsweise.«

Naia stellte sich vor, wie gut es sich anfühlen würde, einen Speer in der Hand zu halten.

»Onica hat recht«, sagte sie. »Diejenigen, die am besten schwimmen können, werden die anderen leiten. Onica, nimm Tae und Tavra. Gurjin, nimm Kylan. Amri, du kommst mit mir.«

Jeweils zu zweit sprangen sie ins Wasser. Obwohl Onica keine Drenchen war, schwamm sie so gut wie Naia und Gurjin, flink wie ein scharlachroter Hooyimfisch. Amri hielt sich an Naias Knöchel fest, als sie die Flügel öffnete und durchs Wasser schoss. Rasch übernahm sie die Führung der kleinen Gruppe, die zum Schiff unterwegs war. Sie hatten schon fast die halbe Strecke zurückgelegt, als Naia sie wieder an die Oberfläche brachte, damit Amri Luft holen konnte.

»So schnell wieder aufgetaucht?«, fragte Amri neckend. »Ich hätte es geschafft.«

»Du willst doch nur, dass ich dich noch einmal küsse«, antwortete Naia. Als sie das letzte Mal zusammen unter Wasser gewesen waren, hatte sie für sie beide geatmet, und damals war ihr nicht der Gedanke gekommen, es als Küssen zu verstehen. Aber nachdem sie es jetzt laut ausgesprochen hatte, prickelten ihr die Ohren.

Amri grinste schief; Wasser schwappte gegen seine Schultern.

»Schon möglich.«

Es war ein merkwürdiger Zeitpunkt, um Witze zu machen, aber Naia spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. SkekSa hatte sie nicht eingeholt, auch wenn sie sicherlich ahnte, wohin sie gegangen waren. Vielleicht war sie verletzt worden, als der Kronleuchter heruntergekommen war, oder der Armstumpf bereitete ihr mehr Schmerzen, als sie sich anmerken lassen wollte. Wie auch immer – im Moment waren sie in Sicherheit. Vielleicht würden die Dinge doch noch in Ordnung kommen. Naia lächelte, als Amri ihre Hand nahm, und gemeinsam schwammen sie die restliche Strecke bis zu Onicas Schiff. Am Rumpf festgezurrtes Tauwerk und Netze hingen über die Seite, und sie hielten sich daran fest.

»Spürst du das?«, fragte Amri.

Er löste eine Hand vom Tauwerk und legte seine empfindsame Handfläche und die Fingerspitzen auf die Wasseroberfläche. Obwohl das Wasser größtenteils still war, spürte Naia ein Prickeln auf der Haut.

»Es fühlt sich wie eine Strömung an«, sagte sie. »Wie ein Sog.«

»Ein Weg nach draußen?«, fragte Amri, die Ohren aufgestellt.

Gurjin und Kylan kamen als Nächste an, gefolgt von Onica und Tavra. Onica kletterte das Tauwerk hoch und an Deck, beugte sich dann herüber, um Tavra und Kylan zu helfen. Während die anderen an Bord gingen, wartete Naia unten im Wasser mit Amri und Gurjin.

»Was ist los?«, fragte Gurjin.

Amri ließ die Handfläche flach über die zitternde Wasseroberfläche wandern.

»In Grot führen fast alle Tunnel, in denen Wasser fließt, schließlich irgendwann nach draußen. Ich frage mich, ob es hier auch Unterwassertunnel gibt. Wie Kiemen oder so was Ähnliches.«

Gurjin wechselte einen Blick mit Naia. »Selbst wenn es welche gibt – wenn sie sich unter Wasser befinden, können wir das Schiff nicht mitnehmen. Und wenn wir das Schiff nicht mitnehmen, bin ich mir nicht sicher, ob wir im Wasser entkommen können. Wir beide – Naia und ich – haben Kiemen, aber ihr anderen …«

»Ich werde es überprüfen.«

Bevor Naia ihn festhalten konnte, ließ Amri das Tauwerk los und tauchte. Das Letzte, was sie von ihm sah, waren seine weißen Zehen, die das trübe Wasser aufwirbelten. Kylan lehnte sich oben über die Heckreling.

»Wohin will er?«, rief er.

»Kylan, hilf Tavra und Onica«, erwiderte Naia. »Wir werden schon bald mit Neuigkeiten zurück sein!«

Sie konnten Amri unter ihnen sehen, wie er mit den Fingern über die Wand strich, die Wangen vom angehaltenen Atem aufgeblasen. Als sie und Gurjin zu ihm nach unten schwammen, tastete Naia gerade müßig mit ihrer Zunge im Mund herum. Und plötzlich wurde ihr klar, dass die Wand vor ihr wie eine größere – viel größere – Version dessen aussah, was sie mit ihrer Zunge direkt unterhalb des Zahnfleischs spüren konnte.

Amri inspizierte ein Ventil in der Wand, das genauso aussah wie das, durch das sie in skekSas Atrium gelangt waren, nur dass dieses hier komplett unter Wasser war. Wenn solch ein Ding sich wie eine Kieme oder ein Blutgefäß öffnete und schloss, konnte es praktisch überall hinführen. Nach draußen in die Tiefen des Ozeans. Oder an eine andere Stelle im Körper des Monsters, wo es genauso gefährlich war.

Amri musste gespürt haben, dass Naia und Gurjin dicht bei ihm waren, denn er drehte sich mit einem Lächeln zu ihnen um und deutete nachdrücklich auf das Ventil. Naia schwamm zu ihm, doch sie verharrte, als das Wasser erzitterte.

PLOPP.

Das Ventil sprang auf. Wasser rauschte darauf zu, wurde in alarmierendem Tempo und Ausmaß eingesaugt. Aus Amris offenem Mund kam eine Luftblase, was verriet, wie geschockt er war. Und dann war er weg.

AMRI!

Naia pumpte mit ihren Flügeln und schoss auf das Ventil zu, das sich schlagartig schloss. Sie warf sich dagegen, schlug mit den Fäusten darauf ein und trat mit den Füßen dagegen, aber es öffnete sich nicht.

Geh auf! Geh auf, du blödes Ding! Gib ihn uns zurück!

Gurjin packte sie an der Schulter. Naia, hör auf!

Was? Wir müssen dieses Ding aufkriegen! Wir müssen ihn finden!

Echte Angst zeichnete sich jetzt auf dem fahl werdenden Gesicht ihres Bruders ab. Ein Entsetzen, das weit über eine einfache, rationale Angst vor dem Unbekannten hinausging. Aber du weißt nicht, wo diese … diese Röhre … hinführt!

Sie starrte ihn an, überrascht darüber, dass sie es überhaupt aussprechen musste.

Es spielt keine Rolle, wo sie hinführt!

Die Hand, mit der ihr Bruder ihren Arm festhielt, zitterte vor Anstrengung, aber sie riss sich los. Gurjin trieb von ihr weg, sah zurück zu Kylan und den anderen an Bord des Schiffs, als würde er ernsthaft überlegen, sie aufzugeben. Sie und Amri, der keine Kiemen hatte. Sie stellte sich ihren Schattenling-Freund vor, wie er in endlosen Strömungen gefangen war und seine Lunge sich mit Meerwasser füllte. Wie er ertrank. Allein.

Es kümmerte sie nicht, was Gurjin tat. Sie jedenfalls würde Amri helfen.

Geh auf! Sie versetzte dem Ventil ein paar Tritte, schlug wieder mit den Fäusten darauf ein. Was auch immer nötig war, um es dazu zu bringen, wieder aufzugehen. Gib ihn zurück!

Sie schlug noch einmal zu und wurde mit einem Zittern des Wassers belohnt. Naia faltete ihre Flügel eng am Rücken zusammen und wappnete sich. Als das Ventil aufschnappte, sprang sie mit den Füßen voran in die Öffnung.

Das Wasser raste mit unglaublicher Geschwindigkeit durch den engen, gewundenen Tunnel. Naia barg den Kopf in den Armen, um sich zu schützen, während das Wasser sie um Biegungen und durch Kurven prügelte.

Sie keuchte, als sie das Ende erreichte, in ein neues Zimmer ausgespien wurde. Anhand der klebrigen, pulsierenden Wände um sie herum konnte sie erkennen, dass sie sich immer noch im Innern des Behemoth-Schiffs befand. Es war schummrig, und es roch streng nach Fisch und verrottendem Seetang, aber zumindest gab es Luft. Sie rappelte sich auf, stand knietief im brackigen Wasser. Ganz in der Nähe lag Amri hustend in einer Pfütze; er klopfte sich selbst auf die Brust und versuchte so, die letzten Wassertropfen aus sich herauszubekommen.

»Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben«, röchelte er, immer wieder von Husten unterbrochen.

»Ach ja? Keine freundlichen Worte wie ›Jetzt, da du da bist, geht es mir schon viel besser‹?«, fragte Naia und half ihm beim Aufstehen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie war, obwohl sie ihn am liebsten einfach nur festgehalten und nie wieder losgelassen hätte.

»Ich spare mir meine freundlichen Worte für ein andermal auf. Du weißt schon – wenn ich das nächste Mal im lebenden Körper einer riesigen Meereskreatur in eine wassergefüllte Röhre gesogen werde.«

Die Wände des Zimmers waren glitschig, wie alles andere in diesem Behemoth, und sie glänzten in schwacher Biolumineszenz. Da Naia inzwischen wusste, wonach sie Ausschau halten musste, konnte sie jetzt ein halbes Dutzend weitere Ventile in der Wand ausmachen.

»Sieh nur. Ich glaube, das da ist eine Tür.«

Das Zimmer wurde an einer Seite schmaler und endete in einer ziemlich flachen Membran, die wie die anderen aussah, durch die sie hindurchgegangen waren. Sie drückte die Hand dagegen, spürte, wie sie sich unter ihren Fingerspitzen spannte. Sie fragte sich, ob das Schiff sie tatsächlich hören konnte. Hatte sich das Ventil geöffnet, weil sie es ihm gesagt hatte oder weil sie darauf eingeschlagen hatte? Vielleicht war es ja auch nur ein Zufall gewesen. Aber wenn es keiner gewesen war und das Schiff sie tatsächlich hörte, sollte sie vielleicht freundlicher zu ihm sein, wie ihr schlagartig klar wurde.

»Es tut mir leid, dass ich vorhin so grob war«, sagte sie leise, und die Membran erzitterte. »Ich habe mir Sorgen um meinen Freund gemacht. Wir versuchen nur, hier irgendwie rauszukommen.«

Naia trat einen Schritt zurück und keuchte auf, als die Tür zuckte, kurz davor, sich zu öffnen.

»Naia, warte!«, rief Amri, aber es war zu spät.

Auf der anderen Seite der Türöffnung türmte sich ein Monster auf. Nicht skekSa, sondern ein anderer Skeks, groß und in Rot und Gold gekleidet; ein einzelnes Horn ragte oben aus seinem Kopf. In einer Klaue hielt er ein Zepter, das mit Rubinen besetzt war, und um seine Schultern waren Perlen- und Diamantketten drapiert.

Der Zeremonienmeister skekZok sah mit einem durchdringenden, finsteren Blick auf sie herab.

»Irgendwohin unterwegs?«, fragte er.

Kapitel 3

»Wir wollten gerade aufbrechen«, sagte Amri. »Ihr wisst nicht zufällig, wo es nach draußen geht, oder?«

»Sei still«, knurrte skekZok. Er trat ins Zimmer, und Naia wich langsam zurück, während sich die Ventiltür hinter dem Skeks mit seinen dicken roten Gewändern und seinem schaurigen, humorlosen Blick schloss.

»Schluss mit den Spielchen«, sagte er. »Mit diesem Unsinn von wegen Rebellion und so. Das alles ist vorbei

Naia, die immer noch Amri festhielt, konnte durch die Berührung spüren, dass er sich Mühe gab, nicht vor dem Zeremonienmeister zurückzuzucken. Sie trat vor, so rasch, dass skekZok überrascht ein kleines bisschen zurückwich.

»Lasst uns in Ruhe«, warnte sie ihn.

»Naia, nicht«, sagte Amri, aber sie würde einfach nicht weiter zulassen, dass skekZok sie alle noch länger schikanierte. Er war das Einzige, was zwischen ihnen und der Tür stand.

»Meine Rebellen-Freunde sind in die Burg rein- und wieder rausgekommen und skekMal, dem Jäger, entwischt. Mit unserem Unsinn haben wir im Heiligtum der Grottan skekLi, den Satiriker, und eine Horde Arathim-Seidenspeier besiegt. Ihr seid in der Unterzahl. Und Ihr werdet besiegt werden. Also tretet zurück. Ich habe keine Angst vor Euch.«

»Das solltest du aber«, sagte skekZok. Er spuckte aus. »Wir Skekse werden euch Gelflinge so vollständig zugrunde richten, dass eure Nachkommen nicht einmal mehr die Namen der sieben Clans kennen werden.«

Naia sprang den Zeremonienmeister an und landete auf seiner Brust. Sie packte die kunstvollen Ketten und Halsbänder, die seinen Hals zierten, und zog sie stramm, während sie einen Satz über seine Schulter machte. Der Skeks würgte und ließ sein Zepter fallen, um nach den verhedderten Ketten zu greifen. Naia drehte sich um, wappnete sich, die Füße auf seinen Schulterblättern, und zerrte an den Halsbändern wie an den Zügeln eines Landschreiters.

SkekZok stieß ein ersticktes Grunzen aus; seine Klauen verfingen sich in den Ketten, als er sie daran zu hindern versuchte, ihn zu erwürgen.

»Wie … wie kannst du … es wagen …«, keuchte er. Auf seinem Schnabel sammelten sich Speicheltröpfchen, und die Augen quollen ihm aus dem Kopf. »Gelfling!«

Er zischte das Wort, als wäre es ein Fluch.

Amri packte skekZok an seinem Gewand und zog kräftig daran. Da Naia bereits auf seinem Rücken hockte, brachte ihn der Ruck aus dem Gleichgewicht; der Zeremonienmeister fiel so leicht um wie ein verfaulter Baumstamm im Sumpf. Naia sprang von seiner Schulter hoch, wirbelte ein letztes Mal um seinen Hals herum und band seine Klauen in die Ketten. Er brach zusammen, eine laut heulende, um sich schlagende Masse aus Gewändern und Juwelen.

»Welche Tür?«, rief Amri, während sie sich zurückzogen. Naia starrte die geschlossene Ventiltür an, dann die kleineren Membranen, die die Wände tüpfelten. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo welche hinführte. Sie konnte sich noch nicht einmal mehr daran erinnern, durch welche sie hierhergelangt waren.

Sie machten beide einen Satz, als skekZok so laut brüllte, dass sämtliche Wände des Zimmers erzitterten. Perlen und Kettenglieder flogen aufblitzend wie Funken umher, als er sich knurrend losriss und wieder aufstand.

Sie alle drei sahen das Zepter im gleichen Augenblick. Es lag noch immer dort, wo skekZok es hatte fallen lassen, kaum außer Reichweite seiner langen Skeks-Arme.

»GELFLINGE!«, brüllte er.

Amri erreichte das Zepter als Erster, schneller als Naia oder der Zeremonienmeister. Er packte es mit beiden Händen, versuchte es wegzuziehen – aber es war zu schwer. Binnen weniger Augenblicke ragte skekZok drohend über ihm auf und entriss es ihm.

»Vielleicht braucht skekTek die Drenchen lebendig, aber dich ganz sicher nicht!«

SkekZok schwang das Zepter im gleichen Moment, als Naia Amri erreichte. Das verdickte Ende sauste herab; der Zeremonienmeister hatte eindeutig vor, ihn mit der ganzen Kraft seiner Wut zu zerschmettern. Naia hielt den Atem an und sprang.

»NAIA!«

Amri rief ihren Namen. Aber es war nicht nur Amri, da war auch noch jemand anderes. Das Geräusch verschwand aus Naias Ohren, als sie versuchte, sich auf die Stimmen zu konzentrieren. In dem einen Moment war sie noch aufrecht und in Bewegung gewesen, hatte sich gegen Amri geworfen und ihn aus dem Weg gestoßen. Im nächsten Moment prallte die feuchte Membran des Zimmerbodens gegen ihre Wange.

Als Nächstes kam der Schmerz. Anfangs hämmerte er unbarmherzig durch ihre Ohren und ihren Körper. Dann wurde er stechend, als ihre Nerven erwachten, entflammten.

Sie lag in Amris Armen. Auch wenn alles vor ihren Augen verschwamm, konnte sie sehen, dass sich auf seiner Wange rote Flecken befanden. Sie hob eine Hand, um ihren Kopf zu betasten. Blut verschmierte jetzt auch ihre Hände. Amri hatte einen Stofffetzen von seinem Umhang abgerissen und drückte ihn gegen ihre Stirn, aber sie war sich nicht sicher, ob es ausreichen würde, um den scheinbar endlosen roten Strom aufzuhalten.

Immerhin war er da. Sie war nicht allein.

Aber was war mit der anderen Stimme? Gab es sie wirklich? Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich zu konzentrieren. Die Welt um sie herum wurde unscharf, und ihr Kopf hämmerte, aber schließlich zeichnete sich über ihr eine Silhouette ab, zwischen ihr und Amri und dem trotzigen skekZok.

»Halte durch, Naia«, sagte Gurjin. »Halte einfach nur irgendwie durch.«

Sie wollte ihn fragen, wie er hierhergekommen war, aber sie konnte es nicht. Ihr verschwamm wieder alles vor den Augen, und ihre Sinne waren verwirrt. Sie fühlte sich müde. Obwohl sie ganz tief in ihren verblassenden Gedanken wusste, dass es kein Schlaf war, was an ihren Fingern und Zehen knabberte.

Die Tür am hinteren Ende des Zimmers öffnete sich. SkekSa sah sich um, atmete scharf ein und schlug schließlich skekZok ins Gesicht.

»Was hast du getan, du Idiot?«, rief sie. »SkekTek wollte die Zwillinge lebend!«

SkekZok reagierte kaum auf den Schlag. Er stieß eine Dampfwolke aus und starrte finster sein blutiges Zepter an, das im düsteren Lampenlicht glänzte.

»Wir werden sie alle töten müssen«, knurrte er schließlich leise. »Wir werden skekTek erzählen, dass sie während der Reise gestorben sind und er sich andere Gelfling-Zwillinge für seine Experimente suchen muss.«

Amri umfasste Naia fester; er tat alles nur Mögliche, um die Lebensessenz zu bewahren, die aus ihrer Wunde strömte. SkekZok trat vor und hob sein schreckliches Zepter, mit dem er Naia geschlagen hatte. Gurjin wich nicht zurück, sondern beschützte Naia vor dem immer näher kommenden Skeks. Er wusste, dass es für den Zeremonienmeister ein Leichtes wäre, mit ihm das Gleiche wie mit seiner Schwester zu machen.

»Warte!«, fauchte skekSa und hielt skekZok zurück. »Warte, du Idiot. SkekTek wollte wissen, ob Gelflinge die Macht eines anderen Gelflings absorbieren können. Wollte er nicht deswegen Zwillinge? Naia ist eine sehr begabte Heilerin. Ich habe es selbst gesehen.«

SkekZok schien ungeduldig darauf zu warten, seinen Fehler endgültig vertuschen zu können, aber er zögerte.

»Und?«

SkekSa schob sich an skekZok vorbei und breitete die drei verbliebenen Klauen aus.

»Also«, gurrte sie Gurjin an. »Leg los, kleiner Drenchen. Nimm die Magie deiner Schwester und heile sie.«

Alles tat weh, und Naia spürte, wie eine zähe Flüssigkeit über ihr Gesicht strömte. Sie versuchte, sich aus Amris Armen zu erheben, aber ihr Körper wollte sich nicht bewegen, als wäre sie von schweren Bändern aus Schmerzen an den Boden gefesselt.

Er soll meine Kräfte nehmen?

Gurjin zuckte zurück, als skekSa ihn mit einer Klaue anstupste.

»Was …?«, setzte er an und schüttelte dann den Kopf. »Ich soll ihre Magie nehmen

»Ja. Willst du sie nicht retten? Liebst du sie nicht?«

»Natürlich will ich …«

SkekSa drückte Gurjin neben Amri und Naia auf die Knie hinunter.

»Dann hast du keine andere Wahl. Nimm ihr heilendes Vliyaya. Nimm es und benutze es. Tu, was auch immer nötig ist, damit sie überlebt. Das tut ihr Gelflinge doch immer, oder?«

War so etwas überhaupt möglich? Naia glaubte, dass sie etwas Nasses an ihrer Wange spürte, aber sie wusste nicht, ob es Blut war oder Gurjins verzweifelte Tränen.

»Falls es möglich ist«, versuchte sie ihm zu sagen. Wenn du es tun kannst, kannst du es auch versuchen. Ansonsten werde ich sterben, und was werden mir meine Kräfte dann noch nützen?

»Naia …«

Naia schloss die Augen, als Dunkelheit in sie hineinkroch und eine betäubende Kälte an ihren Fingerspitzen zupfte. Sie wollte seine Hände nehmen und auf die Wunde pressen, ihn mit ihrer Willenskraft dazu bringen, sie zu heilen, auch wenn es keinen Grund gab anzunehmen, dass er das konnte. Sie war die Heilerin. Er war der Soldat. So war es immer gewesen. Seit ihrer Kindheit.

Naia hatte es gehasst, hatte es abgelehnt und sich dann doch irgendwann damit abgefunden und es akzeptiert. Hatte angefangen, ihren Platz zu finden, als sie ihre Heimat zum ersten Mal verlassen hatte. Und hatte festgestellt, dass ihre wilde, unkontrollierte Macht des Bilderströmens fokussiert werden konnte. Dass ihre Heilkräfte etwas Besonderes waren.

Wenn Gurjin ihr all das nahm, was blieb ihr dann noch? Wer würde sie sein, wenn sie nicht mehr länger in einer Welt voller Dunkelheit leuchten konnte?

Plötzlich war da ein Licht.

Durchtränkte ihren Körper, hell und warm, wie die Sonne, die durch Sturmwolken brach. Naia öffnete die Augen. Durch die Helligkeit konnte sie das angestrengte Stirnrunzeln ihres Bruders sehen, der sich auf ihre Wunden konzentrierte, während strahlendes Blau aus seinen Handflächen strömte.

Blaues Licht. Vliyaya – Flammen des blauen Feuers. Gelfling-Magie.

Sie kam von Gurjin.