5., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage
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5., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage
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Ich widme dieses Buch meinen Kindern und Enkeln: Stefanie mit Vincent, Sophie und Raphael, Michael und Anja mit Anna-Lena und Julia
sowie Florian und Lianna mit Penelope
Vorwort zur ersten Auflage
Warum ein Buch nur über Jungen?
Mit den zentralen Inhalten dieses Buches habe ich mich über Jahrzehnte hinweg auseinandergesetzt.
In den 1990er Jahren begannen Jungen zum Problem zu werden. Ich war therapeutischer
Leiter eines psychotherapeutischen Kinderheims, und es wurden immer mehr Jungen mit
der Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) vorgestellt, die, so hatte ich aus den Unterlagen erfahren, an Störungen in Verbindung
mit einer Transmittersubstanzen im Gehirn(1) litten. Aus psychoanalytischer Sicht waren es altbekannte soziale Störungen, allerdings
hatten diese Jungen immer häufiger massive Probleme mit der Beherrschung oder Regulierung
ihrer Affekte. Dieses Störungsbild hatte es schon immer gegeben, es war in unterschiedliche
Gewänder gekleidet worden und hatte Psychoorganisches Syndrom (POS), Minimale Zerebrale Dysfunktion (MCD), schließlich Hyperkinetisches Syndrom(1) (HKS) geheißen.
Nissen schreibt in seiner Kulturgeschichte der Kinderpsychiatrie, neuere Untersuchungen
verweisen darauf, dass nur ein kleine Kerngruppe von 1–2 % der Kinder mit diesem Störungsbild
tatsächlich hirnorganische Veränderungen zeigen (Nissen, 2005, S. 445). Die in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen Kinder mit einem
Hyperkinetischen Syndrom wiesen so gut wie immer feststellbare organische Defizite
auf, zumeist nach Krankheiten des Zentralnervensystems. Jetzt war die Diagnose in
das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; APA, 2013) aufgenommen worden, es gab das passende Medikament (Methylp(1)henidat), und flugs wurde die Diagnose ausgeweitet. Das Manko war, dass das DSM zwar akribisch beschreibt, aber nicht nach Ursachen fragt. So wurde die ursprüngliche
»Zappelphilipp-Diagnose« in kurzer Zeit auf alle sozialen Störungen ausgedehnt, seelische
Ursachen wurden ausgeblendet, und alle Störungen wurden mit einem schlichten Wackelkontakt
im Gehirn erklärt. Über den Topf mit brodelnden Konflikten kam ein eiserner Deckel
mit einer Diagnose ADHS, die nicht mehr angezweifelt werden durfte. Ansonsten wurde man der Unwissenschaftlichkeit
geziehen und zum Kinderfeind erklärt – weil man das unentbehrliche Medikament für
entbehrlich hielt und Eltern beschuldigte, sie würden die Verantwortung für ihr Kind
vernachlässigen.
Um den Jungen die Seele zurückzugeben, habe ich vor allem die folgenden Themen in
den Mittelpunkt dieses Buches gestellt: an erster Stelle natürlich die Entwicklung
von männlicher Identität im Beziehungsdreieck Mutter – Vater – Sohn. Die weiteren
Schwerpunkte sind die psychischen Grundlagen und Ursachen von Aggression und Affektregulierung,
Bewegung und Bewegungsunruhe sowie von Aufmerksamkeit und ihren Störungen. Weil diese
Bereiche bei den Jungen höchst störanfällig sind und sie darum Sand ins soziale Getriebe
streuen, wird ihnen am häufigsten Methylphenidat verordnet, ungeachtet der Tatsache,
dass männliche Wesen zu stoffgebundenen Süchten neigen.
Ein solch vielseitiges, umfangreiches Buch kann nicht ohne die Hilfe vieler kollegialer
Freunde und im intensiven geistigen Austausch entstehen, darum habe ich an dieser
Stelle einigen Menschen zu danken. Es ist kein leeres Ritual, wenn ich mit meiner
Frau Gisela beginne. Mit ihr habe ich mich fortwährend über alle Inhalte, alle kritischen
Fragen intensiv ausgetauscht. Sie hat mich jahrelang geduldig angehört, mich allenthalben
unterstützt und mich liebevoll ins Alter begleitet. Ich danke meinen erfahrenen Kolleginnen
Sigrid Barthlott-Bregler, Ulrike Hadrich und Gudrun Merz für ihre kritischen Anmerkungen,
ihren fraulichen Blick und ihre konstruktiven Gedanken. Jürgen Heinz hat mich mit
Texten und klugen Gedanken versorgt. Rosalinde Baunach, Andrea Baur, Stefan Hetterich
und Kathrin Kömm haben mir eindrückliche Fallsequenzen aus Supervisionen zur Verfügung
gestellt, für die ich ihnen ebenfalls danke. Ich wollte kein pures Theoriebuch verfassen,
sondern alle Überlegungen sollten durch lebendige Beispiele anschaulich werden. Hierbei
hat mir auch meine Kollegin Gabriele Häußler geholfen, die mir aus ihrem Säuglingsbeobachtungsseminar
anschauliche Protokolle zur Verfügung gestellt hat. In unserer Arbeitsgruppe zur männlichen
Identität, geleitet von J. C. Aigner, Frank Dammasch und Hans-Geert Metzger, habe
ich viele anregende Gedanken erfahren und konstruktive Rückmeldungen erhalten, die
mich in meinen eigenen Überlegungen bestärkt haben.
Ganz besonders danke ich dem Lektor des Klett-Cotta Verlags, Dr. Heinz Beyer, für
die vielen anregenden Diskussionen, seine konstruktiven Hilfestellungen und Ermunterungen.
Herr Oliver Eller hat die Texte schließlich sorgfältig lektoriert, alle Quellen geprüft
und die Literatur vervollständigt. Ihm danke ich für seine gründliche Arbeit, seine
Geduld und Zuverlässigkeit.
Dieses Buch ist auch ein kleiner Rückblick auf mein 40-jähriges Leben und Handeln
als Kinderanalytiker geworden. So hoffe ich, dass es viele Leserinnen und Leser finden
wird, Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, Pädagoginnen und Pädagogen sowie
Eltern und Großeltern.
Mundelsheim, im Herbst 2013
Hans Hopf
Vorwort zur fünften Auflage
In den vergangenen Jahrzehnten ist es zu weiteren gravierenden Verwerfungen innerhalb
der Gesellschaft gekommen. Viele ungelöste Fragen hinsichtlich Zweigeschlechtlichkeit,
Sexualität, Normalität und Abweichung haben es notwendig gemacht, dass die im Jahre
2014 erschienene Auflage in Teilen überarbeitet werden musste. In die vorliegende
neue Auflage sind wichtige Erkenntnisse und bedeutsame neue Literatur eingefügt worden.
Neu hinzugekommen sind Abschnitte über die Einflüsse der Gesellschaft auf die Entwicklung
des Jungen, eine erweiterte Diskussion der Zirkumzision und Überlegungen zum ADHS.
Die Zeit der Corona-Pandemie hat deutlich werden lassen, dass die Gesellschaft wie
ein Individuum agieren und reagieren kann, wenn es zu außergewöhnlichen Belastungen
kommt. Eine Untersuchung von Verhage et al. (2016) hat mich beunruhigt. Die Forscher haben mit ihren Untersuchungen festgestellt: Noch
vor 20 Jahren entwickelten etwa 60–65 % aller Kinder im ersten Lebensjahr eine sichere
Bindung zu ihrer Mutter; mittlerweile sind es nur noch 48 %. Welche Ursachen sind
zu vermuten? Zunahme von Trennungen der Eltern? Zu frühe Unterbringung in ungenügenden
Kindertagesstätten?
In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, außerfamiliäre Betreuung sei im
Vergleich zur familiären immer das Bessere. In vielen Studien zeigt sich aber auch die andere Seite: Das Risiko,
einen psychischen Schaden zu erleiden, ist für manche Kinder erhöht. Ich konnte als
Psychotherapiegutachter beobachten, dass Kinder, die bereits vor dem ersten Lebensjahr
außerfamiliär versorgt wurden, später wegen ihrer ängstlichen und depressiven Störungen
eine Therapie in Anspruch nehmen mussten. Vielleicht ist der Prozentsatz für Risiken
und Chancen gleich groß.
Mich sorgt ferner die Ausweitung von »Schubladendiagnosen«. Um die medizinische Diagnose
ADHS hat sich ein geschlossenes System etabliert. So gut wie alle Jungen mit sozialen
Auffälligkeiten, mit jedweden Formen von Konzentrationsstörungen, bekommen heutzutage
Medikation. Ein gesellschaftlicher Einfluss auf Erziehung und das Entstehen neurotischer
Störungen wird bei ADHS vehement verneint. Doch letztendlich wissen alle, dass es weniger um Wahrheiten geht
als um Macht und Geld. Der Psychotherapieforscher Volker Tschuschke (2018) weist darauf hin, dass die herrschende Gesundheitsindustrie eine Entwicklung hin
zu einer einseitigen biologischen Sichtweise des Menschen bewirkt hat. Die mächtige
Lobby der Arzneimittelhersteller beeinflusst die öffentliche Meinung und die Politiker
über intensive Einwirkung, sodass anstelle von psychotherapeutischen Behandlungen
immer mehr Psychopharmaka verschrieben würden. Tschuschke betont, dass die Ursachen
eines Störungsbildes umso ungeklärter sind, je komplexer dieses ist, und dass über
Medien überwiegend unhinterfragte Glaubenssätze in die Öffentlichkeit hineingetragen
werden. Es hat also noch einen anderen Grund, psychische Ursachen zu leugnen. Zeigen
alle Kinder ein Störungsbild mit homogenen Ursachen, wird die Welt überschaubar und
erklärbar. Niemand muss Verantwortung übernehmen, weder Ärzte noch Pädagogen oder
Eltern.
Die Zahl der Autismusdiagnosen ist ebenfalls weltweit angestiegen. Auch in Deutschland
wird die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« immer häufiger vergeben. Vereinzelung
und Rückzugsverhalten sind Teil einer kollektiven Pathologie. Wir leben in einer Welt
gestörter Beziehungen, von Elterntrennungen und Rückzugstendenzen. Autistische Züge
können jedoch leicht mit anderen Merkmalen verwechselt werden, bei Bindungsstörungen,
schizoiden Tendenzen, narzisstischen Störungen oder bei depressiven Rückzügen. Wird
die »Autismus-Spektrum-Störung« in absehbarer Zeit eine ähnliche Schublade werden
wie ADHS? Was bedeuten solche Diagnosen für die Zukunft eines Kindes?
Ich freue mich darüber, dass dieses Buch ungebrochene Aufmerksamkeit genießt, dass
ich es noch einmal überarbeiten konnte und es nun in fünfter Auflage vorliegt. Ich
hoffe, mit dieser Neubearbeitung ein wenig dazu beitragen zu können, dass die Seele
von Jungen in der Zukunft hinter medizinischen Diagnosen wiederentdeckt wird.
Mundelsheim, im Herbst 2020
Hans Hopf
Einführung – Jungen auf der Suche nach ihrer Identität
Eine Geburtstagsfeier. Drei etwa 3-jährige Jungen rennen schreiend durch den Raum.
Plötzlich wirft sich der Größte auf den Kleinsten, dieser kreischt lauthals und windet
sich los. Beide stehen wieder auf, rennen durch den Raum und johlen. Dann wird der
dritte umgeschubst. Er schlägt sich den Kopf an, heult, hält sich den Kopf und rennt
hinter dem Jungen her, der ihn umgestoßen hat. Kreischen, Johlen, knallrote verschwitzte
Gesichter.
Am Rand steht ein kleines, vielleicht 4-jähriges Mädchen, schaut mit entgeistertem
Gesichtchen, gleichzeitig fasziniert auf das Geschehen. So wie sie vielleicht später
als Mutter den Sohn sehen wird, wie so manche Ehefrau ihren Mann, Erzieherinnen ihre
Jungenhorde. Ein wenig befremdlich, unglaublich laut, immer in Bewegung, rivalisierend
und streitend.
Eine persönliche Einleitung
Dieses Buch versucht, eine Entwicklungspsychologie des seelisch gesunden Jungen unter psychoanalytischen Aspekten zu entwerfen. Seelische Gesundheit ist jedoch
nur zu beschreiben, indem man Gegebenheiten untersucht, bei denen sich ein Mangel
offenbart oder etwas gestört ist, denn die Psychoanalyse ist bekanntlich der Meinung,
dass Pathologie und Normalität(1) nur gradweise voneinander unterschieden sind; die Pathologie ist lediglich eine besondere
Ausprägung allgemeiner und normaler Eigenschaften(1) (vgl. auch Dornes, 1994, S. 27). Es ist das große Verdienst von Freud,(1) dass er mit seiner Konzeption der Hysterie und seinen Variationen des Sexualtriebs
das Normale und Pathologische auf einer Ebene ansiedelte und als Varianten des gleichen
fundamentalen seelischen Geschehens betrachtete (Marcus, 2004, S. 389).