Hans Hopf

Die Psychoanalyse des Jungen

5., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage

Impressum

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Klett-Cotta

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Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Adobe Stock/grafikplusfoto

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98325-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12120-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20496-4

5., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Ich widme dieses Buch meinen Kindern und Enkeln:
Stefanie mit Vincent, Sophie und Raphael, Michael und Anja mit Anna-Lena und Julia sowie Florian und Lianna mit Penelope

Vorwort zur ersten Auflage

Warum ein Buch nur über Jungen?

Mit den zentralen Inhalten dieses Buches habe ich mich über Jahrzehnte hinweg auseinandergesetzt. In den 1990er Jahren begannen Jungen zum Problem zu werden. Ich war therapeutischer Leiter eines psychotherapeutischen Kinderheims, und es wurden immer mehr Jungen mit der Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) vorgestellt, die, so hatte ich aus den Unterlagen erfahren, an Störungen in Verbindung mit einer Transmittersubstanzen im Gehirn(1) litten. Aus psychoanalytischer Sicht waren es altbekannte soziale Störungen, allerdings hatten diese Jungen immer häufiger massive Probleme mit der Beherrschung oder Regulierung ihrer Affekte. Dieses Störungsbild hatte es schon immer gegeben, es war in unterschiedliche Gewänder gekleidet worden und hatte Psychoorganisches Syndrom (POS), Minimale Zerebrale Dysfunktion (MCD), schließlich Hyperkinetisches Syndrom(1) (HKS) geheißen.

Nissen schreibt in seiner Kulturgeschichte der Kinderpsychiatrie, neuere Untersuchungen verweisen darauf, dass nur ein kleine Kerngruppe von 1–2 % der Kinder mit diesem Störungsbild tatsächlich hirnorganische Veränderungen zeigen (Nissen, 2005, S. 445). Die in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen Kinder mit einem Hyperkinetischen Syndrom wiesen so gut wie immer feststellbare organische Defizite auf, zumeist nach Krankheiten des Zentralnervensystems. Jetzt war die Diagnose in das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; APA, 2013) aufgenommen worden, es gab das passende Medikament (Methylp(1)henidat), und flugs wurde die Diagnose ausgeweitet. Das Manko war, dass das DSM zwar akribisch beschreibt, aber nicht nach Ursachen fragt. So wurde die ursprüngliche »Zappelphilipp-Diagnose« in kurzer Zeit auf alle sozialen Störungen ausgedehnt, seelische Ursachen wurden ausgeblendet, und alle Störungen wurden mit einem schlichten Wackelkontakt im Gehirn erklärt. Über den Topf mit brodelnden Konflikten kam ein eiserner Deckel mit einer Diagnose ADHS, die nicht mehr angezweifelt werden durfte. Ansonsten wurde man der Unwissenschaftlichkeit geziehen und zum Kinderfeind erklärt – weil man das unentbehrliche Medikament für entbehrlich hielt und Eltern beschuldigte, sie würden die Verantwortung für ihr Kind vernachlässigen.

Um den Jungen die Seele zurückzugeben, habe ich vor allem die folgenden Themen in den Mittelpunkt dieses Buches gestellt: an erster Stelle natürlich die Entwicklung von männlicher Identität im Beziehungsdreieck Mutter – Vater – Sohn. Die weiteren Schwerpunkte sind die psychischen Grundlagen und Ursachen von Aggression und Affektregulierung, Bewegung und Bewegungsunruhe sowie von Aufmerksamkeit und ihren Störungen. Weil diese Bereiche bei den Jungen höchst störanfällig sind und sie darum Sand ins soziale Getriebe streuen, wird ihnen am häufigsten Methylphenidat verordnet, ungeachtet der Tatsache, dass männliche Wesen zu stoffgebundenen Süchten neigen.

Ein solch vielseitiges, umfangreiches Buch kann nicht ohne die Hilfe vieler kollegialer Freunde und im intensiven geistigen Austausch entstehen, darum habe ich an dieser Stelle einigen Menschen zu danken. Es ist kein leeres Ritual, wenn ich mit meiner Frau Gisela beginne. Mit ihr habe ich mich fortwährend über alle Inhalte, alle kritischen Fragen intensiv ausgetauscht. Sie hat mich jahrelang geduldig angehört, mich allenthalben unterstützt und mich liebevoll ins Alter begleitet. Ich danke meinen erfahrenen Kolleginnen Sigrid Barthlott-Bregler, Ulrike Hadrich und Gudrun Merz für ihre kritischen Anmerkungen, ihren fraulichen Blick und ihre konstruktiven Gedanken. Jürgen Heinz hat mich mit Texten und klugen Gedanken versorgt. Rosalinde Baunach, Andrea Baur, Stefan Hetterich und Kathrin Kömm haben mir eindrückliche Fallsequenzen aus Supervisionen zur Verfügung gestellt, für die ich ihnen ebenfalls danke. Ich wollte kein pures Theoriebuch verfassen, sondern alle Überlegungen sollten durch lebendige Beispiele anschaulich werden. Hierbei hat mir auch meine Kollegin Gabriele Häußler geholfen, die mir aus ihrem Säuglingsbeobachtungsseminar anschauliche Protokolle zur Verfügung gestellt hat. In unserer Arbeitsgruppe zur männlichen Identität, geleitet von J. C. Aigner, Frank Dammasch und Hans-Geert Metzger, habe ich viele anregende Gedanken erfahren und konstruktive Rückmeldungen erhalten, die mich in meinen eigenen Überlegungen bestärkt haben.

Ganz besonders danke ich dem Lektor des Klett-Cotta Verlags, Dr. Heinz Beyer, für die vielen anregenden Diskussionen, seine konstruktiven Hilfestellungen und Ermunterungen. Herr Oliver Eller hat die Texte schließlich sorgfältig lektoriert, alle Quellen geprüft und die Literatur vervollständigt. Ihm danke ich für seine gründliche Arbeit, seine Geduld und Zuverlässigkeit.

Dieses Buch ist auch ein kleiner Rückblick auf mein 40-jähriges Leben und Handeln als Kinderanalytiker geworden. So hoffe ich, dass es viele Leserinnen und Leser finden wird, Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Eltern und Großeltern.

Mundelsheim, im Herbst 2013

Hans Hopf

Vorwort zur fünften Auflage

In den vergangenen Jahrzehnten ist es zu weiteren gravierenden Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft gekommen. Viele ungelöste Fragen hinsichtlich Zweigeschlechtlichkeit, Sexualität, Normalität und Abweichung haben es notwendig gemacht, dass die im Jahre 2014 erschienene Auflage in Teilen überarbeitet werden musste. In die vorliegende neue Auflage sind wichtige Erkenntnisse und bedeutsame neue Literatur eingefügt worden. Neu hinzugekommen sind Abschnitte über die Einflüsse der Gesellschaft auf die Entwicklung des Jungen, eine erweiterte Diskussion der Zirkumzision und Überlegungen zum ADHS.

Die Zeit der Corona-Pandemie hat deutlich werden lassen, dass die Gesellschaft wie ein Individuum agieren und reagieren kann, wenn es zu außergewöhnlichen Belastungen kommt. Eine Untersuchung von Verhage et al. (2016) hat mich beunruhigt. Die Forscher haben mit ihren Untersuchungen festgestellt: Noch vor 20 Jahren entwickelten etwa 60–65 % aller Kinder im ersten Lebensjahr eine sichere Bindung zu ihrer Mutter; mittlerweile sind es nur noch 48 %. Welche Ursachen sind zu vermuten? Zunahme von Trennungen der Eltern? Zu frühe Unterbringung in ungenügenden Kindertagesstätten?

In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, außerfamiliäre Betreuung sei im Vergleich zur familiären immer das Bessere. In vielen Studien zeigt sich aber auch die andere Seite: Das Risiko, einen psychischen Schaden zu erleiden, ist für manche Kinder erhöht. Ich konnte als Psychotherapiegutachter beobachten, dass Kinder, die bereits vor dem ersten Lebensjahr außerfamiliär versorgt wurden, später wegen ihrer ängstlichen und depressiven Störungen eine Therapie in Anspruch nehmen mussten. Vielleicht ist der Prozentsatz für Risiken und Chancen gleich groß.

Mich sorgt ferner die Ausweitung von »Schubladendiagnosen«. Um die medizinische Diagnose ADHS hat sich ein geschlossenes System etabliert. So gut wie alle Jungen mit sozialen Auffälligkeiten, mit jedweden Formen von Konzentrationsstörungen, bekommen heutzutage Medikation. Ein gesellschaftlicher Einfluss auf Erziehung und das Entstehen neurotischer Störungen wird bei ADHS vehement verneint. Doch letztendlich wissen alle, dass es weniger um Wahrheiten geht als um Macht und Geld. Der Psychotherapieforscher Volker Tschuschke (2018) weist darauf hin, dass die herrschende Gesundheitsindustrie eine Entwicklung hin zu einer einseitigen biologischen Sichtweise des Menschen bewirkt hat. Die mächtige Lobby der Arzneimittelhersteller beeinflusst die öffentliche Meinung und die Politiker über intensive Einwirkung, sodass anstelle von psychotherapeutischen Behandlungen immer mehr Psychopharmaka verschrieben würden. Tschuschke betont, dass die Ursachen eines Störungsbildes umso ungeklärter sind, je komplexer dieses ist, und dass über Medien überwiegend unhinterfragte Glaubenssätze in die Öffentlichkeit hineingetragen werden. Es hat also noch einen anderen Grund, psychische Ursachen zu leugnen. Zeigen alle Kinder ein Störungsbild mit homogenen Ursachen, wird die Welt überschaubar und erklärbar. Niemand muss Verantwortung übernehmen, weder Ärzte noch Pädagogen oder Eltern.

Die Zahl der Autismusdiagnosen ist ebenfalls weltweit angestiegen. Auch in Deutschland wird die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« immer häufiger vergeben. Vereinzelung und Rückzugsverhalten sind Teil einer kollektiven Pathologie. Wir leben in einer Welt gestörter Beziehungen, von Elterntrennungen und Rückzugstendenzen. Autistische Züge können jedoch leicht mit anderen Merkmalen verwechselt werden, bei Bindungsstörungen, schizoiden Tendenzen, narzisstischen Störungen oder bei depressiven Rückzügen. Wird die »Autismus-Spektrum-Störung« in absehbarer Zeit eine ähnliche Schublade werden wie ADHS? Was bedeuten solche Diagnosen für die Zukunft eines Kindes?

Ich freue mich darüber, dass dieses Buch ungebrochene Aufmerksamkeit genießt, dass ich es noch einmal überarbeiten konnte und es nun in fünfter Auflage vorliegt. Ich hoffe, mit dieser Neubearbeitung ein wenig dazu beitragen zu können, dass die Seele von Jungen in der Zukunft hinter medizinischen Diagnosen wiederentdeckt wird.

Mundelsheim, im Herbst 2020

Hans Hopf

Einführung – Jungen auf der Suche nach ihrer Identität

Eine Geburtstagsfeier. Drei etwa 3-jährige Jungen rennen schreiend durch den Raum. Plötzlich wirft sich der Größte auf den Kleinsten, dieser kreischt lauthals und windet sich los. Beide stehen wieder auf, rennen durch den Raum und johlen. Dann wird der dritte umgeschubst. Er schlägt sich den Kopf an, heult, hält sich den Kopf und rennt hinter dem Jungen her, der ihn umgestoßen hat. Kreischen, Johlen, knallrote verschwitzte Gesichter.

Am Rand steht ein kleines, vielleicht 4-jähriges Mädchen, schaut mit entgeistertem Gesichtchen, gleichzeitig fasziniert auf das Geschehen. So wie sie vielleicht später als Mutter den Sohn sehen wird, wie so manche Ehefrau ihren Mann, Erzieherinnen ihre Jungenhorde. Ein wenig befremdlich, unglaublich laut, immer in Bewegung, rivalisierend und streitend.

Eine persönliche Einleitung

Dieses Buch versucht, eine Entwicklungspsychologie des seelisch gesunden Jungen unter psychoanalytischen Aspekten zu entwerfen. Seelische Gesundheit ist jedoch nur zu beschreiben, indem man Gegebenheiten untersucht, bei denen sich ein Mangel offenbart oder etwas gestört ist, denn die Psychoanalyse ist bekanntlich der Meinung, dass Pathologie und Normalität(1) nur gradweise voneinander unterschieden sind; die Pathologie ist lediglich eine besondere Ausprägung allgemeiner und normaler Eigenschaften(1) (vgl. auch Dornes, 1994, S. 27). Es ist das große Verdienst von Freud,(1) dass er mit seiner Konzeption der Hysterie und seinen Variationen des Sexualtriebs das Normale und Pathologische auf einer Ebene ansiedelte und als Varianten des gleichen fundamentalen seelischen Geschehens betrachtete (Marcus, 2004, S. 389).