Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Redaktion und Druckvorlage: Kersten Krüger
Einband: Martin Tengeler
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt ISBN 978-3-7386-8447-6
Copyright 2014 by Jutta Krüger
Als vor 25 Jahren die Bürger in der DDR sich auf den Weg machten, ihre Regierung abzuschaffen und ihren eigenen Staat/Sozialismus zu entwickeln, lebte ich in Hamburg und arbeitete als Oberärztin in einem Krankenhaus der Maximalversorgung.
Die Abdankung der DDR-Regierung und die zunehmende Fluchtwelle der Bürger von Ost nach West brachten mich auf den Gedanken, den umgekehrten Weg zu gehen – und so begann ich nach längeren Vorbereitungen meine neue ärztliche Tätigkeit mit dem Tag der Währungsunion in Erfurt. Ich tauchte ein in eine andere Welt, die mich im Bereich des Gesundheitswesens an die Zeiten Ende der fünfziger Jahre und im Fach der Neurochirurgie an 1970 erinnerte. Die Situation außerhalb meines Arbeitsbereiches war erschütternd. Zwar hatten wir Berichte über die zerfallenden Städte, die zerbrechende Industrie und die kollektivierte Landwirtschaft gesehen, aber jetzt darin zu leben, war deprimierend. Verbitterung und Wut machten sich breit über die menschenverachtende Führung des untergegangenen sozialistischen Staates.
Ich empfand diese „neue Welt“ so einmalig, dass ich meine Eindrücke und Erlebnisse in fünf Berichten – zwischen September 1990 und Januar 1994 – festgehalten habe. Diese sind in dem folgenden Text kursiv gedruckt; alle anderen Zitate in Anführungsstrichen. Außerdem habe ich alle mir erreichbaren Zeitungsberichte, Erlasse und Verfügungen der Thüringer Landesregierung und anderer Institutionen gesammelt, sodass ich eine gute Übersicht über die Entwicklung bzw. Abwicklung der Medizinischen Akademie Erfurt nach der Wende habe. Die aus meiner Sicht wichtigsten Schriftstücke veröffentliche ich hiermit im Anhang. Heute, 25 Jahre danach und mit dem Abstand von acht Jahren nach Beendigung meines Berufslebens (2006), erscheint es mir an der Zeit, über den einzigartigen Vorgang der Schließung einer voll funktionstüchtigen und wissenschaftlich anerkannten Hochschule zu berichten – einer Abwicklung aus angeblich finanziellen Gründen; in einer Landeshauptstadt, die im selben Atemzug die Wiedererstehung der ältesten Universität in den Grenzen des heutigen Deutschlands erleben durfte, allerdings ohne medizinische Fakultät.
Auch an dieser Stelle bedanke ich mich bei Frau Hedwig Röper und Frau Dr. phil. Nilüfer Krüger für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und bei Herrn Prof. Dr. phil. Kersten Krüger für seine geduldige Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage, die in Anlehnung an die Reihe der „Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte“ entstanden ist. Die Neuauflage enthält neben einigen Korrekturen als Ergänzung des Anhangs die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Hochschulmedizin in den neuen Ländern von 1991.
Jutta Krüger
Die Abwicklung der Medizinischen Akademie Erfurt Von der Wende bis zum Schluss (1989 bis 1993)
Betrachtungen einer Ärztin, die aus dem Westen kam
Es war einfach zu eng geworden. Bis zu meinem 50. Geburtstag musste ich hier weg. Aber wohin – in meinem hochspezialisierten Beruf. Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit adäquaten Bewerbungen hatte ich die Nase voll.1 Und eine eigene Praxis aufmachen? - Die wirkliche Neurochirurgie konnte man nicht als Alleingänger in einer Praxis betreiben, und in meinem Verständnis von Medizin hatten sie und Geld nichts miteinander zu tun: „not for sale“ hatte mir mein alter Lehrer mit auf den Weg gegeben.
Meine Vorfahren stammen aus Mecklenburg-Vorpommern. Ich wurde in einer Kleinstadt in Mecklenburg geboren, nachdem mein Vater im Krieg gefallen war. Meine Mutter legte nach meiner Geburt 1941 das Notabitur („Begabtenprüfung“) ab und begann das Medizinstudium in Rostock – ihre vier Kinder konnten auf dem Gut ihrer Tante gehütet werden. Im Jahr 1943 (also nach Stalingrad, weil sie voraussah, dass der Krieg nun verloren sei und sie nicht in sowjetischen Verhältnissen leben wollte) zog sie mit ihren Kindern nach Göttingen, wo sie zunächst weiter Medizin studierte, dann aber im 10. Semester das Studium aufgab, weil sie meinte, durch eine Tätigkeit bei der englischen Besatzungsmacht die Familie ernähren zu müssen. Ich bin also in Göttingen aufgewachsen und habe nach dem Abitur auf den letzten Drücker in einer der drei deutschen Universitäten, die noch keinen Numerus clausus eingeführt hatten, Medizin studiert; nach dem Physikum an drei weiteren Universitäten die klinischen Semester. Danach habe ich zwei Jahre Medizinal-Assistentenzeit in drei weiteren Orten absolviert, bin dann ein Jahr in eine Reha-Einrichtung in die Schweiz gegangen, um schließlich an der Neurochirurgischen Universitätsklinik in Frankfurt am Main meine Ausbildung in der Neurochirurgie zu machen. Hier habe ich mich auch habilitiert. Den danach eingetretenen Chefwechsel habe ich nicht überlebt und bin in eine Klinik der Maximalversorgung, nach Hamburg-Altona gegangen.
Ich hatte also bisher in 11 verschiedenen Orten gelebt und daher keine heimatliche Verbundenheit irgendwohin.
Aber jetzt: Was tun und wo? Wir schrieben das Jahr 1989.
1 Krüger, Jutta: Meine Erfahrungen auf dem Weg durch die Neurochirurgie oder: (M)Eine „Herrenrede“, Ärztebl. Thüring. 15 (2004), H. 10, S. 500-502
Natürlich hatten wir die Veränderungen in der DDR in unseren Medien verfolgt. Seit Gorbatschows Glasnost- und Perestroika-Politik, der Durchtrennung des Stacheldrahtzaunes an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich am 2.5.1989 durch das ungarische Militär2, den Kommunalwahlen in der DDR am 7. Mai, dem Massenexodus von über hunderttausend, meist jungen DDR-Bürgern über Prag und den zunehmenden Rufen „Wir sind das Volk“ auf den Demonstrationen in den Städten der DDR, saßen wir gespannt vor dem Bildschirm und bewunderten den Mut der Bürger.
Als am 18. Oktober 1989 Erich Honecker „aus gesundheitlichen Gründen“ seinen Rücktritt erklärte, war für uns klar, dass die DDR in ihren alten Strukturen untergehen würde. Auch als der von ihm benannte neue Generalsekretär Egon Krenz sich am Abend desselben Tages zu einer „fortwährenden Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft“ bekannte und die Einleitung einer „Wende“ betreiben wollte3, wurden wir nicht vom Gegenteil überzeugt.
Die Zahl der DDR-Flüchtlinge wird im August auf bis zu einer Million geschätzt – Bärbel Boley von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ – vermutet, dass jede/r zweite ausreisen wolle.4 Bis Ende November 1989 sollen 4.500 Ärzte in den Westen gegangen sein.5 Mit anderen Worten sollen „in den letzten Wochen knapp zehn Prozent der Ärzte die DDR verlassen haben“.6 In Hamburg habe sich nach Auskunft der Landesärztekammer „fast täglich“ ein Arzt aus der DDR gemeldet. Daher erwog „der Sozialsenator der Hansestadt die befristete Entsendung von Medizinern [in die DDR]. Die ärztliche Versorgung in den zehn Krankenhäusern lasse dies zu.“7
Also auf und los in den Osten. Aber wie? Ich hatte keine Verbindung zu meinen Verwandten in der DDR (z. B. der Schwester meines Vaters auf Rügen). Aber ich konnte bei einer befreundeten Kollegin in Westberlin übernachten. Am 26.10.1989 schrieb ich dann je einen Brief an den Direktor der Neurochirurgischen Universitätsklinik der Charité und den Direktor der Neurochirurgischen Klinik im Klinikum Berlin-Buch mit der Frage, ob ich sie während eines Besuchs einer Freundin in Berlin Mitte November einmal besuchen könne, um ihre Klinik anzusehen. Ersterer hatte wohl andere Sorgen, aber Prof. Siedschlag, von dem ich dann erfuhr, dass er der Vorsitzende der Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR war, sagte zu und so fuhr ich mit der o.g. Freundin am 17.11.1989 nach Berlin-Buch – noch durch die Grenzkontrolle und mit Umtauschen von 25,00 DM Tageszoll. Es war das zweite Wochenende mit offenen Grenzen.8 Nach einer kurzen Vorstellung seiner Klinik, fragte Prof. Siedschlag, was ich denn nun wirklich wolle. Ich erklärte ihm meine Situation, dass wir an meinem derzeitigen Arbeitsplatz – einer Klinik der Maximalversorgung mit 60 neurochirurgischen Betten - mit vier erfahrenen Neurochirurgen (jeweils 20 Jahre Berufserfahrung), zwei weiteren Fachärzten und zwei fortgeschrittenen sowie weiteren drei Assistenzärzten sehr gut bestückt seien und dass ich gehört hätte, dass es z. Zt. in der DDR an ausgebildeten Ärzten mangele. Alles in allem würde ich gerne ein neues Betätigungsfeld finden; hier, in der DDR. Ich übergab ihm meine Bewerbungsunterlagen, die er durchblätterte und mir dann erklärte, dass man zwar an einigen Kliniken Neurochirurgen gut gebrauchen könne, dass es aber aufgrund meiner Qualifikation (habilitierte Professorin) nicht so einfach sein würde. Denn erstens seien die Chefarzt-Stellen alle besetzt und zweitens müsse ich wohl wegen meines Titels an eine Universitätsklinik gehen. Er setzte hinzu, dass Neurochirurgische Einrichtungen in der DDR bis auf 4 selbständige Einrichtungen im Gesundheitswesen (eine davon hier in Buch) nur in den Universitäten bzw. Medizinischen Akademien angesiedelt seien.9 Nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich einfach nur in meinem Beruf arbeiten wolle und nicht einen Chefposten anstreben und auch keine (finanziellen) Bedingungen stellen würde, nahm er meine Unterlagen an sich. Er sagte dann noch, dass nach seinem Wissen in Greifswald, Leipzig und Halle Engpässe bestünden und dass am nächsten Wochenende eine Vorstandssitzung der Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR stattfände. Dort wolle er mein Anliegen gerne besprechen. Außerdem empfahl er mir, mich mit dem Minister für Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, Herrn OMR Prof. Dr. sc.med. Klaus Thielmann, in Verbindung zu setzen und meinen Wunsch dort vorzutragen. Das tat ich dann am nächsten Tag.10 Der Stellvertreter des Ministers, OMR Prof. Dr. sc.med. Müller, antwortete mir mit Datum vom 30.11.1989, dass eine gute Möglichkeit in den Universitäten Halle und Leipzig für mich bestünde und dass ich mich zuständigkeitshalber an den Minister OMR Bodo Schönheit wenden möge, mit dem er (Müller) persönlich diesbezüglich schon gesprochen habe. Und wegen der evtl. Einbürgerung in die DDR möge ich mich mit der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn in Verbindung setzen – die Adresse war beigefügt.11
Am 13.12.1989 schrieb mir dann spontan der Stellvertreter des Ministers für Bildung Prof. Schönheit, dass er meinen Unterlagen entnehme, dass ich („sehr berechtigt“) daran interessiert sei, einen Lehrstuhl für Neurochirurgie und die Leitung einer selbstständigen Abteilung Neurochirurgie zu übernehmen. Leider bestünde aber „gegenwärtig und auf absehbare Zeit in unserem Lande keine Möglichkeit. Alle unsere Lehrstühle für Neurochirurgie sind stabil besetzt, ebenso die Abteilungsleiterpositionen. Bis auf die Leipziger selbständige Klinik sind übrigens alle Abteilungen Bestandteil der großen Chirurgischen Universitätskliniken.“ … „Natürlich benötigen wir dringend Fachärzte für Neurochirurgie, wie man so sagt, in der 2. und 3. Reihe.“ … „Sollten Sie dennoch … interessiert sein…, bin ich gern bereit, Gespräche in den entsprechenden Universitäten (z. B. Leipzig, Halle, Greifswald) zu vermitteln.“12 Am 19.12.1989 habe ich ihm u. a. geantwortet: „… ich möchte mein Wissen und meine Erfahrung und operativen Fähigkeiten einsetzen zum Wohle der Patienten – egal, wo….“13 Daraufhin erhielt ich von ihm einen Brief vom 18.1.1990, dass ich mich direkt mit dem Prorektor der Medizin der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald für eine Terminabsprache in Verbindung setzen möge. Diesem wolle er auch meine Unterlagen zusenden.14 Er hatte mir zwar eine Telefonnummer mitgeteilt, aber Telefonieren ging nicht, also habe ich ein Telegramm mit dem Terminvorschlag für den 29.1.1990 an den Prorektor Prof. Kuhl gesandt und erhielt von Prof. Dr. Dr. Lang, dem Leiter der Greifswalder Neurochirurgischen Abteilung, die telegrafische Antwort, dass er mich am 6.2.1990 in Greifswald erwarte. Dort angekommen, war ich erschüttert vom baulichen Zustand der Stadt und begeistert von der winterlichen Schönheit der Natur. Herr Prof. Lang machte einen erfreuten Eindruck, dass ich zu ihm kommen wolle und bot mir auf meine Frage nach einer nicht zu kleinen Wohnung an, sich für mich umzuhören; evtl. könne er mir sogar ein Haus vermitteln, die seien derzeit sehr günstig zu haben. Er habe da einen Makler, der ihm schon zwei Häuser angeboten habe. Danach hat er sich nicht mehr gemeldet. Ich habe ihm noch einmal mit der Bitte um eine baldige Antwort geschrieben (21.2.1990) und auch einen Kollegen, der vor Jahren aus Greifswald in den Westen geflüchtet war, gebeten, dort einmal anzurufen, aber Herr Prof. Lang rührte sich nicht und erschien auch nicht auf einer Tagung in Münster (21.3.-24.3.1990), obwohl wir uns dort verabredet hatten. Ich habe ihm daher am 25.3.1990 schriftlich abgesagt und am 29.5.1990 eine etwas ausführliche Erklärung nachgereicht.15 In einem Brief vom 26.3.1990, der sich mit meiner Absage überkreuzt hat, begründete er sein Zögern mit dem Aufbau einer neuen Neurochirurgischen Klinik und den Schwierigkeiten, für mich eine Wohnmöglichkeit zu finden.16 Wie ich später von meinem Erfurter Chef erfahren habe, hatte er gar nicht die Absicht, mich nach Greifswald zu holen, da er befürchtete, dass ich ihm seine Stelle streitig machen wollte. Die hat er dann nach der Evaluation sowieso verloren.
Lange vorher, bereits am 27. November 1989 hatte mich der Leiter der Neurochirurgischen Abteilung in der Chirurgischen Klinik der Medizinischen Akademie zu Erfurt angeschrieben, dass er „durch den Weggang meines 1. Oberarztes … wirklich Unterstützung gebrauchen könnte“.17 Es entspann sich dann ein Briefwechsel, der schließlich in einem Besuch in Erfurt vom 19. – 21. Januar 1990 mündete. Ich wurde freundlich empfangen und in der Klinik und der Stadt herumgeführt. Ich übernachtete im „Erfurter Hof“ gegenüber vom Bahnhof, in dem auch Willy Brandt 1970 am Fenster gestanden hatte. Das Doppelzimmer kostete 250,00 DM pro Nacht, für das uns zustehende Frühstück gab es grau-papierne Essensmarken, für Wurst, Käse und Brötchen gesondert. Das Hotel war überwiegend von russischen Gästen belegt (auffallend viele „Matkas“). Während eines Frühstücks setzte sich ein deutscher Mann zu uns an den Tisch, der sich sehr interessiert nach unserem Woher, Warum, Weshalb erkundigte, und den wir mit der Auskunft, dass wir hier ganz privat seien und deshalb völlig uninteressant, zum Verstummen und Gehen veranlassten. Vielleicht haben wir überreagiert, aber er hatte was Stasi-artiges an sich, und da wollte ich ja nun wirklich nicht hin.
Am Sonntag, dem 21.1.1990, bin ich dann noch nach Leipzig gefahren, da es hier ja besonders brennen würde (s.o.). Der diensttuende Arzt holte seinen Oberarzt von zu Hause, der mir bedeutete, dass es am mittleren ärztlichen Personal mangele. Professoren habe man in Leipzig mehr als genug, und er selbst würde auch schon seit 7 Jahren, seit seiner Promotion B (entsprach unserer Habilitation), auf seine Ernennung zum Professor warten. Er geleitete mich dann noch bis auf die Ausfallstraße gen Halle, und mir war klar, dass ich in Leipzig nicht willkommen sein würde.
Also nach Halle und: „Bonjour tristesse“. Sonntagnachmittag im alten Chirurgie-Gebäude der Martin-Luther-Universität. Der Pförtner rief den Leiter der Neurochirurgischen Abteilung zu Hause an. Dieser kam zügig, um uns in seine Räumlichkeiten zu führen, nachdem er erfahren hatte, was ich wollte. Er war wirklich in großer Not: alle Ärzte bis auf seinen stellvertretenden Oberarzt hatten Halle verlassen. Der Oberarzt war an einem „Morbus Menière“ erkrankt, sodass der Leiter der Abteilung mit einem „Pflicht-Assistenten“ (entsprach unserem Medizinal-Assistenten) alleine war. Auch die baulichen Zustände und das Equipment ließen sehr zu wünschen übrig. So hatte die Neurochirurgie einen 50 Jahre alten Op.-Tisch zur Verfügung, der unbeweglich in dem übrigen, auch nicht jüngeren Op.-Saal und -Meublement stand. Zwar erzählte Prof. Tertsch, dass er vor einigen Jahren einen neuen Op.-Tisch zugestanden bekommen habe, dieser ihm aber bei seiner Lieferung vom staatstreuen Urologen „weggenommen“ worden war … Ich entschied mich – trotz des besonders üblen Zustandes der Stadt Halle und der Neurochirurgischen Abteilung – zu Herrn Prof. Tertsch zu gehen und teilte ihm das am 23.1.1990 unter Beifügung meiner Bewerbungsunterlagen und meiner Vorstellung, am 1.5.1990 bei ihm anzufangen, schriftlich mit.18 Am selben Tag sagte ich Prof. Pothe in Erfurt ab.
Da das Telefonieren praktisch nicht funktionierte, telegrafierte ich Prof. Tertsch am 30.1.1990, dass ich aus Berlin den Auftrag bekommen hätte, mich in Greifswald vorzustellen. Am 9.2.1990 habe ich ihm telegrafisch und brieflich mitgeteilt, dass ich nach Greifswald gehen würde. Wie es sich letztendlich in Greifswald für mich entwickelt hatte, ist oben zu lesen.
Am 26.2.1993 (!) erreichte mich ein Brief aus Halle an meine alte Hamburger Privat-Adresse, dass man mich dort zunächst für ein halbes Jahr einstellen wolle und ich meine Brücken in Hamburg nicht abbrechen solle.19 Der Oberarzt war zwei Wochen nach meinem Besuch genesen.
Ich wollte aber nicht „vorrübergehend“, sondern dauerhaft aus der Hamburger Klinik weg. Deshalb war – wenn ich nicht eine Praxis aufmachen wollte, wozu ich mich überhaupt nicht eignete – die Öffnung des Eisernen Vorhangs meine große Chance für eine positive Veränderung. Deshalb hatte ich mich mit einem Schreiben vom 20.11.1989 bei dem Leiter der Ärztekammer Hamburg nach den Möglichkeiten meiner Altersversorgung erkundigt. Zehn Tage später erhielt ich die Antwort des Inhalts, dass ich beim „Weg-Verlegen“ meiner Berufstätigkeit und meines Wohnsitzes aus der Ärztekammer Hamburg und dem Versorgungswerk ausscheiden würde, mich aber freiwillig weiterversichern mit Erhalt einer Rente im Versorgungsfalle oder ganz ausscheiden könne und dann nur eine entsprechend der Mitgliedschaftszeiten errechnete Rente bekäme. Egal, wo ich meinen Wohnsitz dann haben würde.
Außerdem fragte ich mit Datum vom 2.1.1990 bei Frau Prof. U. Lehr im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in Bonn an, ob ich „von Amts“ wegen „irgendwelche (finanziellen) Unterstützungen für eine Übergangszeit“ erhalten könne. Am 22.3.1990 erhielt ich eine kurze Antwort (Poststempel „Männer und Frauen sind gleichberechtigt [Art. 3 Abs. 2 GG] Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit“) mit der Adresse „Herrn Prof. Dr. med. Jutta Krüger …“ und der verkürzten Anrede „Sehr geehrte Frau Dr. Krüger“ ein rosarotes fünfblättriges Merkblatt mit „Hinweisen für Angehörige der Gesundheitsberufe aus der Bundesrepublik Deutschland, die in der DDR zeitweise tätig werden wollen.“20 Ich hatte aber klar und deutlich geschrieben, dass „ich in absehbarer Zeit in die DDR übersiedeln [wolle], um dort als Neurochirurgin zu arbeiten“. Die Kollegen, die zeitweilig (zwischen 3 und 12 Monaten) tätig werden wollten, könnten eine „Unkostenpauschale“, aber keinen Ausgleich für einen etwaigen Verdienstausfall erhalten. Für Ärzte und Zahnärzte betrug die Unkostenpauschale 1.500,-- DM (Grundbetrag, ledig, ohne Kinder), für einen unterhaltsberechtigten Ehegatten 500,-- DM und für jedes Kind 300,-- DM. Und: „Aufwendungen für soziale Sicherung (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Beiträge zur ärztlichen Altersversorgung) werden in ihrer tatsächlichen Höhe erstattet“. Das hätte ich auch gut gebrauchen können – zumindest im ersten Jahr. Aber ich hatte es ja anders gewollt.
Nachdem weder Greifswald noch Leipzig oder Halle ein ernsthaftes Interesse an meiner Mitarbeit bekundet hatten, Prof. Pothe, der Leiter der Neurochirurgischen Abteilung der Medizinischen Akademie Erfurt, jedoch auch nach meiner anfänglichen Absage vom 23.1.1990 noch am Ball geblieben war, entschied ich mich, es doch hier zu versuchen. Dem Ort, dessen Namen ich nur aus Göttingen, der Stadt meiner Kindheit, vom „Samenhaus Erfurt“ her kannte. Auf einer Tagung in Münster (21. - 24.3.1990) traf ich Prof. Pothe, und wir besprachen, dass ich nach Erfurt kommen und er die Bedingen erkunden und meinen Weg dorthin ebnen wolle. Ich bewarb mich am 25. März1990 beim Rektor der Medizinischen Akademie und hakte am 15. Mai noch einmal nach, da wohl die (politischen) Verhältnisse zunächst geordnet werden mussten und seine amtliche Einführung erst am
8. Mai vonstattengegangen war. Ein besonderes Problem stellte die Beschaffung einer ausreichend großen Wohnung dar. Bei meinem zweiten Besuch in Erfurt am 24.4.1990 wurde mir eine reichlich verwahrloste „5-Raum-Wohnung“ gezeigt, die ich dann aber doch nicht zugesprochen bekam. Da ich bereits fest davon ausging, dass ich nach Erfurt gehen würde, hatte ich ein gebraucht gekauftes Kopiergerät und Papier mitgebracht. Denn Kopiergeräte gab es damals nicht zur allgemeinen Verfügung – ich glaube, im gesamten Chirurgischen Gebäude nicht. Mein PKW der Marke SAAB wurde sehr bewundert, und als ich beim nächsten Mal zum Umzug mit dem getauschten VW-Bus erschien, rief das höchstes Staunen hervor. Die Kollegen wunderten sich mehr darüber, dass ich den SAAB gegen einen VW-Bus eingetauscht hatte als über die Tatsache, dass ich überhaupt in die DDR gekommen war.
Nach diesem Besuch schrieb mir Prof. Pothe am 16. Mai 1990: „Im äußeren und inneren Leben dieser zerfallenden Republik ist alles sehr schwierig … Unsere führenden Köpfe sind verunsichert durch Ihre [also meine] hohe Qualifikation. Man traut sich offensichtlich eine Einstellung als Oberärztin gar nicht zu. Einen zweiten Lehrstuhl wird es aber sicherlich in absehbarer Zeit nicht geben, da noch nicht einmal die Universitäten Halle, Rostock und Jena über einen einzigen Lehrstuhl verfügen … In der Wohnungsfrage kämpfen wir bis aufs Messer. Bei allen einschlägigem Stellen sind meine Briefe und mein plötzliches Erscheinen gefürchtet.“21 In einem weiteren Schreiben desselben Tages bat er mich, noch einmal und zwar am 31. Mai 1990 nach Erfurt zu kommen. Es solle dann endgültig geklärt werden, ob ich wirklich mit einer Oberarztstelle und der Weiterführung meines Titels zufrieden sei.22 Bei diesem Gespräch zwischen dem Direktor der Chirurgischen Klinik Prof. Nowack, dem Leiter der Neurochirurgischen Abteilung Prof. Pothe und mir stellte sich dann heraus, dass ich nicht als Prof. Pothes Vertreterin eingestellt werden könne, weil sein bisheriger Vertreter nicht zurücktreten wolle. Wenn ich seine Stelle erhielte, würde er gehen. Mir hatte Pothe zwar seine Stellvertretung angeboten, aber natürlich wollte ich niemanden von seinem Arbeitsplatz verdrängen. Ich sagte, dass ich das so nicht gewusst hätte. Pothe schwieg dazu. Aber ich wollte ja arbeiten; auf welchem Posten, war mir schließlich egal.
Wir kamen letztlich überein, dass ich am 1. Juli 1990 als Oberärztin mit der Zuständigkeit für die Normalstation mit 24 Betten, die Neurochirurgische Ambulanz und Verantwortung für die Diagnostik in Erfurt anfangen könne.
Mein bisheriger Arbeitgeber stimmte einem Auflösungsvertrag am 5.6.1990 zum 30. desselben Monats zu. So hatte ich knapp, aber ausreichend Zeit, meinen Umzug im Resturlaub vorzubereiten.
2 Taz: DDR Journal zur Novemberrevolution. August bis Dezember 1989. Vom Ausreisen bis zum Einreißen der Mauer, 1989.
3 Bahrmann, Hannes und Christoph Links: Chronik der Wende. Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990, Ch. Links Verlag, Berlin, 1999.
4 DDR Journal zur Novemberrevolution. August bis Dezember 1989. Vom Ausreisen bis zum Einreißen der Mauer, Taz, Berlin 1989, S. 6.
5 FAZ, 4.12.1989.
6 Deutsches Ärztebl. 86, H. 47, 23.11. 1989 (13), S B-2441-2442.
7 FAZ, 30.11.1989.
8 Links, Christoph und Hannes Bahrmann: Wir sind das Volk. Die DDR im Aufbruch. Eine Chronik. Aufbau-Verlag Berlin. Weimar; Peter Hammer Verlag Wuppertal, 1990, S. 119.
9 In einer Stellungnahme der Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR vom 23.11.1989, die von 26 Mitgliedern unterschrieben ist, steht Folgendes: „Der Vorstand der Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR befaßte sich auf seiner außerordentlichen Sitzung vom 23.11.1989 in Berlin mit der aktuellen politischen Lage in unserem Lande. Die Neurochirurgie ist in der DDR als hochspezialisiertes Fach seit langem eingeführt. An den neun Hochschulen unseres Landes ist sie durch 6 Lehrstühle und 2 a. o . Professoren vertreten. In Rostock fehlt nach wie vor eine neurochirurgische Einrichtung. Im Bereich des Gesundheitswesens bestehen z.Z. insgesamt 4 selbständige Einrichtungen. In diesem Bereich gibt es einen Honorar-Professor und einen Honorar-Dozenten. In der gegenwärtigen Situation ist festzustellen, daß fast keine dieser Einrichtungen ohne Beschränkungen arbeitsfähig ist. Neben Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Op.-Kapazität, Intensivtherapieproblemen, der Versorgung mit Medizintechnik und Medikamenten sowie qualifizierten Mitarbeitern aus dem MMP [mittleres medizinisches Personal] gibt es auch ernste Gesichtspunkte in der Verfügbarkeit von Fachärzten und wissenschaftlichem Nachwuchs. Berufene Dozenten für Neurochirurgie, die als Nachwuchskader infrage kommen, gibt es nur wenige (z. B. Doz. Vitzthum, Doz. Kintzel, Doz. Schöche). Der Bestand an B-Promovierten, die in eine Dozentur berufen werden könnten, ist gering (z. B. Dr. sc.med. Hamm, Dr. sc.med. Schulz, Dr.sc.med. Molsen u.s.w.)“.
10 Anhang 1: Brief an Thielmann.
11 Anhang 2: Brief aus dem Ministerium für Gesundheits- und Sozialwesen der DDR.
12 Anhang 3: Brief aus dem Ministerium für Bildung der DDR.
13 Anhang 4: Antwort von mir an Ministerium für Bildung der DDR.
14 Anhang 5: Rückantwort vom Ministerium für Bildung der DDR.
15 Anhang 6: Absage an Prof. Lang/Greifswald.
16 Anhang 7: Erklärung Prof. Lang/Greifswald.
17 Anhang 8: Kontaktaufnahme Prof. Pothe/Erfurt.
18 Anhang 9: Meine Zusage an Prof. Tertsch/Halle.
19 Anhang 10: Prof. Tertschs Antwort.
20 Anhang 11: Bonner Hinweise für Angehörige der Gesundheitsberufe aus der Bundesrepublik Deutschland, die in der DDR zeitweise tätig werden wollen.
21 Anhang 12: Brief Prof. Pothe vom 16.5.1990.
22 Anhang 13: 2. Brief Prof Pothe vom 16.5.1990.
Ich zog also in die implodierende DDR. Dazu hatte ich meinen bequemen Mittelklassewagen gegen einen VW-Multivan getauscht, weil ich dachte, dass ich des Öfteren größere Dinge (vom Waschpulver bis zu eigenhändig aufzubauenden Möbeln) von West nach Ost würde transportieren müssen. Am Grenzübergang zwischen Netra und Ifta (auf der Karte der DDR vom Februar 1987 endet die Straße in Netra [West] bzw. Ifta [Ost], ist aber auf der Karte des Baedekers „DDR“ von 1990 durchgehend und als Transitstraße gekennzeichnet) wurde ich nur kurz angehalten und – nach Vorzeigen einer Bescheinigung meines neuen Chefs, dass ich nach Erfurt umziehen würde – freundlich durchgelassen. Welch eine Veränderung im Verhalten der Grenzsoldaten im Vergleich zu 1969, als ich in Westberlin ein halbes Jahr gearbeitet hatte und einige Male mit dem Auto durch die DDR gefahren war! Und welch ein fröhlicher Empfang in den Dörfern mit Transparenten über den Straßen, Blumen an den Fenstern, fröhlich winkenden Menschen nach Identifizierung meines Kennzeichens. Und welch eine Bitterkeit und Wut beschlich mich beim Anblick der heruntergekommenen Häuser mit leeren Fensterhöhlen, abgeblätterten Farb- und Putz-Fassaden, Unkraut auf den notdürftig zusammengeflickten Dächern, durchlöcherten und dennoch mit jungen Bäumen bewachsenen Regenrinnen … (als „Kulturschock“ hatte es eine Freundin bezeichnet). Welch eine Verelendung hatte hier Raum gegriffen, welche Menschenverachtung regiert. Von den Straßen gar nicht zu reden. Und dann die unausweichliche Geruchsbelästigung durch die schlecht verbrannte Braunkohle und das Benzingemisch in den zweigetakteten Trabis. Die verunreinigte Luft hatte für mich zur Folge, dass ich nach etwa vier Monaten Aufenthalt in Erfurt einen Hautausschlag bekam, der nur mit Hilfe einer Teer-Cortison-Salbenkur zu heilen war.
Prof. Pothe hatte eine „3-Raum-Wohnung“ für mich erkämpft: 52 m2; meine bisherige Wohnung war gut doppelt so groß. Die Erfurter Wohnung befand sich in einer „Wohnscheibe“, also Neubau aus dem Jahre 1973 im Norden der Stadt, wo „man“ eigentlich nicht wohnt, aber der Weg zur Klinik war mit der Straßenbahn, dem Fahrrad (10 Minuten) und evtl. auch zu Fuß gut zu erreichen (Abb. 1). Der Zustand der Wohnung war sehr gut, die sanitären Anlagen blitzblank, was von der Vormieterin auch mit Stolz demonstriert wurde. Sie war mit ihrem Mann und ihrem Sohn in den Süden Erfurts gezogen – wie sich später herausstellte, weil sie vermutlich „zur Familie“ gehört hatten. Das ließ sich daraus entnehmen, dass über meine Vormieter keine offizielle Eintragung in den Unterlagen der KOWO, der Kommunalen Wohnungsgesellschaft, zu finden war. Außerdem hatte der Telefon-Techniker, der kurz vor meinem Auszug aus der Wohnung eine eigene Verbindung für mich installierte, sich sehr gewundert, welche Vielzahl an Kabeln er in meinem Telefonanschluss entdeckte; dass ich bis dato einen Anschluss für mehrere Teilnehmer hatte, war üblich, sodass man oft genug hören konnte, was die anderen Teilnehmer miteinander besprachen. Ein Umstand, der der ärztlichen Schweigepflicht nicht entgegen kam.
Die Wohnungsmiete betrug monatlich 46,46 DM, Heizungskosten 20,25 DM, Warmwasserkosten 10,15 DM, Nebenleistungen 6,07 DM und Nutzungsentgelt für Einbaumöbel 5,72 DM, insgesamt also 88,65 DM. Zum Zeitpunkt meines Auszugs 1993 lagen die monatlichen Kosten bei 523,70 DM (davon 230,58 DM Grundmiete). Wie hoch die Mietkosten ähnlicher Wohnungen heute sind, ist nicht zu sagen, da diese Häuser im Jahr 2005 abgerissen worden sind (Abb. 2).
Ich hatte mir diese Wohnung am 11.6.1990 ansehen können, sie am 26.6. zugewiesen bekommen23, den Vertrag unterschrieben24, mir am selben Tag in Hamburg einen entsprechend großen Teppichboden und Wandfarbe gekauft und bin am 28.6. nach Erfurt gefahren, um die Renovierungsarbeiten durchzuführen. Nach Hamburg zurück am 30. Juni, ging dann der Umzug am Sonntag, dem 1.7.1990 vonstatten. Am 27.6. hatte ich noch mein Haus in Hamburg vermietet, so dass ich die Hypothek bedienen konnte.
Siehe auch meinen „Bericht über meine ersten Eindrücke, S. 30.
23 Anhang 14: Wohnungszuweisung.
24 Anhang 15: Mietvertrag in Erfurt.
Seit dem 1. Juli 1990 bin ich in Erfurt und habe am Montag, dem 2.7.1990 meine Tätigkeit als Oberärztin in der hiesigen Neurochirurgischen Abteilung der Chirurgischen Klinik der Medizinischen Akademie aufgenommen – als 2. Oberärztin, da der bisherige einzige Oberarzt und Vertreter des Abteilungsleiters sonst gegangen wäre. Die Chirurgische Klinik, die seit 1951 auch eine Neurochirurgische Abteilung hat, wurde 1928 eingeweiht und hatte damals etwa 400 Betten (Abb. 3). Heute sind es ca. 350 Betten. Im Hause befinden sich die Abteilungen: Allgemein- und Bauchchirurgie, Unfall-, Gefäß-, Kinder- und Neurochirurgie sowie Urologie, die sich einen Zentral-Op. mit 5 Sälen teilen; von diesen können z. Zt. wegen Schwesternmangels nur zwei bis drei benutzt werden; wenn die Schwestern der Nachtschicht gearbeitet haben und deshalb nach Hause gehen, nur einer. Das heißt, dass z. B. die Neurochirurgen statt wie früher an 4 Tagen nur noch an zwei Tagen in der Woche operieren können und die Patienten stationär teilweise 5 Wochen auf die Operation warten müssen. Die Patienten ertragen das mit großer Geduld. Aber immer wieder kommt die Frage oder der Wunsch auf, sich „im Westen“ behandeln zu lassen. Wir raten nicht ab. Aber bisher sind sie dann doch alle hier geblieben. In den letzten 3 Monaten gab es niemanden, dem man es aus medizinischen Gründen hätte raten müssen, denn die Grundversorgung ist durchaus gewährleistet. Die wichtigsten Geräte und Instrumente wie Op.-Mikroskop, bipolare Koagulation mit Titanpinzetten (letztere habe ich mitgebracht, da schon in und für Hamburg gekauft), Aneurysma-Clips von Yasargil, feine Bohrer und das Instrumentarium für die Cloward‘schen Halswirbelsäulen-Operationen etc. sind vorhanden. Andere große Geräte, wie z.B. ein Laser, fehlen. Aber dies ist ein sehr teurer Apparat, der nur in wenigen Fällen nötig ist (etwa für Tumoren im Rückenmark, die aber von Yasargil sehr gut auch ohne Laser operiert werden). Was fehlt, sind vor allem Einmal-Artikel: Mundschutz (hier werden die Baumwollenen gewaschen und wieder benutzt), Nahtmaterial (es werden die Fäden noch aus sterilen Fläschchen gezogen und einzeln in die gewaschenen und sterilisierten Nadeln eingefädelt), Abdecktücher mit und ohne Kleberand, sterile Abdeck-Hüllen für das Mikroskop (das wird durch – wie bekannt, Krebs erzeugendes - Formalin desinfiziert; dazu wird ein mit etwa 10 Formalin-Tabletten befüllter Leinensack über das deckengehängte Mikroskop gestülpt und oben zugebunden – Abb. 5 ).
Zum Teil sind noch Reste von Geschenksendungen aus dem Westen vorhanden, von denen einige schon verfallen sind. Bei manchen Artikeln hat man den Eindruck, dass es sich um vom Schenkenden nicht mehr verwertbare Klamotten handelt. Die stehen nun hier rum und stauben mit all dem anderen veralteten Krempel auch noch ein.
Überhaupt der Staub: es gibt praktisch keine Putzfrauen. Nicht, weil niemand putzen will (es gibt inzwischen durch die zunehmende Arbeitslosigkeit genügend Willige), sondern weil man Geld sparen muss. Also müssen die Schwestern alles selber putzen. Von der Nähnadel bis zum Fußboden. Vor fünf Wochen sagte der Abb. 9