Mit einer Anzahl bisher noch unveröffentlichter Aufsätze, Nachrichten
und Erklärungen gewichtvoller Beobachter, Zeugen und Sachkenner,
namentlich auch zur Ergänzung des teils an sich mangelhaften, teils noch
ungenügend und mit Weglassung relevanter Bestandteile mitgeteilten
Aktenmaterials.
Impressum:
© 2019 Till Müller (Hrsg. u. Bearb.)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN: 978-3-74948-741-7
Zu Ende geht mein Erdenlauf,
Bald wird die letzte Kraft ermatten;
Da steigt noch einmal vor mir auf,
Du armes Kind, dein blut’ger Schatten.
Dein Geistermund, er haucht mir zu:
„O Du mein Freund zu allen Zeiten,
Mein Kämpfer und mein Schützer Du
In allen noch so harten Streiten!
Ich war – das ist Dir tief bewußt –
Greu’lhaft zu handeln nie imstande;
Der eine traf mich in die Brust,
Die andern deckten mich mit Schande.
Du strittest hier, Du strittest dort;
Der Sieg der Unschuld war entschieden;
Und ich in meinem dunklen Port
Schlief wiederum in tiefem Frieden.
Doch nimmer ruht der Hölle List,
Der Hölle Grimm auf dieser Erden;
Aufs neue nach so langer Frist
Soll ich beschimpft, zertreten werden.
Laß Deine Lieb’ und Deinen Mut
Mich auch in diesem Kampf erproben;
Nimm mich auch jetzt in Deine Hut!
Nicht fehlen wird die Kraft von oben.“
Du sprichst es und ich bin zur Hand;
Ich und mein Schwert, wir sind die alten,
Und heilig ist der Treue Band;
Wir werden unser Amt verwalten.
Die Kaspar Hauser’sche Streitsache, die schon vordem so viele Geister, Herzen und Federn aufgeregt und in Bewegung gesetzt, dann jedoch, nach Dezennien, wenigstens für das Gedächtnis und die Teilnahme des allgemeineren Publikums1, so ziemlich tot und begraben war, hat in unseren Tagen eine unerwartete Auferstehung gefeiert, ist in einen neuen heftigen Kampf ausgeschlagen und insofern ganz wieder zu einer Sache der Gegenwart geworden. Es ist, als ob ihr ein, bei allem Wechsel der Zeiten und Dinge, unvertilgbares Leben eigne, als ob sie wenigstens so lange nicht ruhen könne und solle, bis sie zu ihrem vom Schicksal bestimmten Ziel und Abschluß gekommen. Das Verdienst – wenn dies Wort hier am Orte ist – den Anstoß zu dem überraschenden Ereignis gegeben, die tiefschlummernde Fehde gewaltsam wiederaufgeweckt, die Gläubigen und Wissenden zu neuen Protestationen, Erörterungen und Zeugnissen gezwungen zu haben, hat sich Herr Dr. Julius Meyer, königlich-bayerische Bezirksgerichtsassessor zu Ansbach, durch seine daselbst bei Seybold erschienenen, mit größter Reklame angekündigten und begleiteten Authentischen Mitteilungen über Kaspar Hauser erworben. Derselbe ist – was in Hinsicht des persönlichen Grundes und Zusammenhanges der Sache bemerkenswert – ein Sohn jenes Lehrers Meyer, bei welchem Kaspar Hauser, nach seiner Wegnahme von Nürnberg, untergebracht war, welcher in so enger Verbindung mit dem Grafen Stanhope und dem Gendarmerie-Offizier Hickel gestanden, in Gemeinschaft mit diesen den unglücklichen Jüngling durch die feindseligsten Darstellungen in so argen Verruf gebracht, sich gegen denselben, wie er selbst in seinem schriftlichen Nachlaß ganz offen gesteht und erzählt, die empörendsten Handlungsweisen erlaubt2, ihn sogar noch nach der tödlichen Verwundung und bei dem jammervollen Hinscheiden desselben als einen elenden Betrüger und gauklerischen Selbstmörder behandelt hat. Diese Gehässigkeiten und Beschuldigungen in Form einer aktenmäßigen Darstellung, Kritik und Beweisführung, wobei es aber ganz nur auf einen der Tendenz gemäß hervorgebrachten Schein angelegt ist, zu erneuern, zu verstärken und zu vollenden, hat sich nun der mit der Geistes- und Gesinnungserbschaft des Vaters ausgerüstete Sohn zur Aufgabe gemacht. Zu diesem Behuf hat er für nötig gefunden, nicht nur gegen jenen Ärmsten selbst, sondern auch gegen dessen Freunde und Vertreter mit allen nur möglichen, selbst den moralisch unerlaubtesten, Mitteln zu Werke zu gehen, vor allem mich, als den in wesentlichen Beziehungen hauptsächlichsten Berichterstatter und Zeugen für die Natur und Wahrhaftigkeit der betreffenden Erscheinung und Geschichte, in den Augen der Welt intellektuell und moralisch tot zu machen. Zu den alten Vergehungen wurden auf diese Weise nur neue gefügt, ohne daß jene gebessert wurden und ohne daß dieses ganze Gebaren überhaupt zu seinem Ziel kam.
Die durch dasselbe hervorgerufene journalistische Polemik dürfte keinem meiner Leser unbekannt geblieben sein; so namentlich, was mein verehrter Freund, Gottlieb Freiherr v. Tucher, und ich selbst in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht haben. Die Sache war damit noch nicht in der Art abgetan, daß eine besondere Gegenschrift überflüssig geworden wäre; eine solche wurde denn auch angekündigt und liegt nun im gegenwärtigen Buch dem Publikum vor. Es ist mir schon während der Ausarbeitung desselben die große Freude und Befriedigung geworden, mich durch die freundlichsten, gütigsten und wertvollsten Mitteilungen, wie sie mir von achtungswerten, in die Hauser’schen Geheimnisse mehr oder weniger eingeweihten Personen zukamen, auf das Wünschenswerteste ermuntert und unterstützt zu sehen und daraus zu erkennen, erstlich, wie wenig die Gegner hoffen dürfen, dem alten Hauserglauben, der schon als solcher zu tief gegründet, zum Teil aber noch mehr als Glaube, nämlich Wissen und Einsicht ist, den Todesstoß zu versetzen; zweitens, in Rücksicht auf mich selbst insbesondere, wie wenig Dr. Meyers Schmähungen die von ihm beabsichtigte vernichtende Wirkung getan. Und so habe ich ein Werk vollendet, welches nicht nur das schon sonst Gegebene so gründlich, als möglich, abhandelt, sondern auch viel unerwartet Neues und Lichtgebendes darbieten wird.
Es sind verschiedene Gründe und Zwecke, die mich zur Verabfassung dieser Schrift bestimmt haben. Ich will und darf es erstlich nicht dulden, daß der unglückliche Jüngling, der mir wert gewesen, der mir auch seinerseits bis an sein schreckliches Ende dankbar und vertrauensvoll zugetan geblieben, den ich gegen seine Beschimpfer und Zertreter stets verteidigt habe und auch jetzt in Schutz zu nehmen berufen zu sein glaube, aufs neue so schmählich behandelt wird, indem man einen nichtswürdigen, grundverdorbenen Buben, eine „Schlange“, eine „Teufelsseele“, ein wahres Scheusal und Ungeheuer aus ihm macht, vor welchem es uns grauen müßte; ich sehe mich genötigt, bei dieser Gelegenheit, wenn auch zum Teil noch so ungern, vollends alles zu sagen, was ich Betreffendes weiß und was zu dessen Reinigung von so extremen Anschwärzungen dient. Zweitens habe ich auch meine eigene Ehre zu schützen, welche niemals in dem Grade angegriffen worden ist, wie von der sich so nennenden „negativen Kritik“ geschieht, die mich in ihrer Weise förmlich zu morden sucht, um, über meine Leiche hinwegschreitend, zu ihrem edlen und liebenswürdigen Zweck zu gelangen. Drittens schreibe ich der Wissenschaft zuliebe, da der Nürnberger Findling ein kostbares Eigentum derselben geworden ist, welches ihr Menschen, die ganz andere, als wissenschaftliche Zielpunkte im Auge haben, so gewaltsam zu entreißen bemüht sind, und welches sie gegen diese Räuber festzuhalten, nicht unterlassen darf. Die Sache hat endlich auch ein nicht zu übersehendes Humanitätsinteresse praktischer Art. Wenn die „negative Kritik“ ihren Zweck erreichte, so würde das ein Ereignis sein, zu welchem sich die Menschheit nicht Glück zu wünschen hätte; dagegen diese den entgegenstehenden Bemühungen, im Fall des Gelingens, eine nicht unerhebliche Wohltat verdanken wird. Wenn, wie die Lang, Stanhope, Merker, Meyer, Hickel die Welt zu bereden suchen, alles Mögliche betrüglich dargestellt werden kann, der Nürnberger Findling trotz alldem, was besonders in den ersten Zeiten seines Lebens unter uns so entschieden für ihn sprach, doch nur betrogen hat; wenn ein elender, hergelaufener Bursche, Gaukler und Gauner eine so allgemeine Täuschung bewirken und ebensogut den schlichten, gewiß „gesunden“ Menschenverstand und die fachmäßige Erfahrenheit eines Hiltel, als die humane Auffassung eines Binder, den edlen Geist eines v. Tucher, den penetranten Scharfblick eines Hermann, die hohe Bildung und Einsicht eines Feuerbach etc. zum Besten haben; wenn er Polizeimänner, Juristen, Staatsmänner, Militärpersonen, Mathematiker, Philosophen, Ärzte, Geistliche, Bürger, überhaupt Menschen und Charaktere aller Art, hohe und niedrige, gelehrte und ungelehrte, alte und junge, erfahrene und unerfahrene, geistreiche und trockenverständige, hingebungsvolle und skeptische etc. so völlig und so beharrlich hintergehen konnte, dann gibt es gar kein Kennzeichen der Wahrheit und Unschuld mehr; dann wird sich Argwohn und Unglaube, in vollkommen berechtigtem Fortgang, ins Unbegrenzte steigern; dann wird die Besorgnis, mystifiziert und düpiert und infolgedessen als Schwachkopf verlacht und verachtet zu werden, leicht selbst mildere Charaktere zur äußersten Härte und Schonungslosigkeit verleiten, und es wird für den Unschuldigen kaum mehr eine Hoffnung und Rettung geben. Wie lehrreich dagegen und von wie guter Folge für die unter bösem Anschein leidende und ringende Unschuld wird es sein, wenn die Wahrheit des vielbestrittenen Hauser’schen Falles endlich definitiv festgestellt und über jeden Angriff des Unglaubens, der Leugnung und Verhöhnung für immer hinausgehoben ist; wenn das unsäglich traurige Schicksal des Unglücklichen, der selbst noch auf dem Sterbebett als Gaukler und böser Bube so schimpflich und grausam behandelt worden und mit lautem Jammer darüber ins Grab gesunken ist, die Welt, wie zu tiefstem Mitleid und gerührtester Teilnahme an ihm selbst, so zugleich zum Unwillen über die fühllosen und unbarmherzigen Menschen bewegt, welche zu seiner furchtbaren Todeswunde und seinem frühen Dahinsinken in das ihm bereitete Grab auch noch diese letzte, bitterste Kränkung hinzugefügt haben! Es wird eine ewige Warnung für ähnliche Fälle sein, und Vorgesetzte, Richter, Publikum behutsamer in ihren Urteilen und Handlungen machen.
Politische Interessen und Zielpunkte waren mir in dieser Sache von jeher fremd und sind es ebenso auch jetzt. Zu dem Anteil, den ich an dem rätselhaften Jüngling nahm, hat mich zunächst ganz einfach nur mein Herz, die Empfindung des Mitleids und die himmlische Erscheinung einer engelschönen und engelreinen Seele, wie sie sich hier darstellte3, dann in zweiter Linie die instruktive wissenschaftliche Wichtigkeit des Gegenstandes bestimmt. Für die meisten Menschen war Hauser wohl hauptsächlich oder gar nur deshalb so merkwürdig und interessant, weil sie in ihm einen beiseite geschafften Prinzen, Thronberechtigten u. dgl. Erblickten. Für mein Gefühl und Verhalten waren solche Vorstellungen und Annahmen von keinem Belang; ob er in einem Palast oder einer Hütte entsprungen, war mir einerlei; und hatte sich’s herausgestellt, daß er ein armes, verstoßenes Bauern- oder Tagelöhnerkind gewesen4, so wäre ich ihm in derselben Weise zugetan geblieben. Daß er etwas von Geburt Hohes sei, davon konnte ich, bei reiflicher Überlegung aller Umstände, allerdings ebenfalls nicht zweifeln; es bewiesen mir das namentlich die auf ihn gemachten Mordanfälle, denen er zuletzt so tragisch unterlag, so wie die Art, wie sie ausgeführt wurden. Solche hätte man auf einen niedrig geborenen Menschen schwerlich gemacht; die vielfach wahrgenommenen Missetäter5 hätten sich auch nicht in einer solchen, den höheren und bemittelteren Ständen eigenen Kleidung dargestellt; sie hätten sich, wenn sie nicht mit allen möglichen Hilfsmitteln versehen, nicht auf alle nur denkbare Weise unterstützt und geschützt gewesen wären, auch wohl nicht so völlig der Entdeckung und Ergreifung entziehen können.6 Ich werde nicht umhin können, auch diese Seite des Ganzen zu berühren und namentlich von den vielfachen und gewaltigen Anzeichen zu sprechen, welche auf den Punkt hinführen, auf welchen schon des Präsidenten v. Feuerbach Vermutungen und Forschungen gerichtet waren. Mir selbst haben sich früher, wie meine Enthüllungen7 dartun, andere Gedanken aufgedrungen, die ich auch noch jetzt nicht völlig aufgeben kann, die aber mit jenen ersteren nicht unvereinbar sind. Was ich in letzter Zeit, als sich die Fahnen der Hauser’schen Streitsache neu entfaltet hatten und mir die schon oben berührten, über alle Erwartung freundlichen und vertrauensvollen Mitteilungen zuflossen, in Erfahrung gebracht, läßt mich glauben, daß ich nunmehr mit meinen Ansichten, auch was den tiefsten Hintergrund der betreffenden Erscheinungen und Tatsachen betrifft, nicht mehr auf dem unsicheren Boden der bloßen Meinung und Vermutung, sondern auf dem festen Grund historischer Wahrheit und Gewißheit stehe. Es sind mir von zum Teil vorher ganz unbekannten Personen die merkwürdigsten, überraschendsten und geheimsten Dinge bekanntgegeben worden. Ich darf nicht alles davon publizieren; was ich aber mitteilen kann, dürfte, in Verbindung mit den anderweitigen, ohnehin schon in meinem Besitz befindlichen Momenten, genügen, um die Wißbegierde des Publikums auch in Betreff der dunkelsten Seite dieser Angelegenheit zufriedenzustellen und dessen Anschauung mit der meinigen konform zu machen. Ich werde das, was ich weiß, nicht zu einer Art von Roman oder Novelle mit phantastischen Zutaten verarbeiten, wie die Pariser Broschüre getan; das duldet der strenge historische und wissenschaftliche Ernst meiner Arbeit nicht; um so mehr Reiz und Wert aber wird sie für diejenigen haben, welchen es nicht bloß um eine amüsante Lektüre, sondern vor allem um Wahrheit zu tun ist.
Der offenen Darlegung des Hauser’schen Mysteriums traten vordem Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten entgegen, welche jetzt nach Verfluß so vieler Jahre, nicht mehr vorhanden sind, indem namentlich die politische Bedeutsamkeit und Bedrohlichkeit der Sache gänzlich weggefallen ist. Das regierende Fürstenhaus, das hier in Betrachtung kommt, steht fest, genießt die Achtung des Landes und ist jenen finsteren Geheimnissen durch Zeit- und Personenwechsel in der Art entrückt, daß ihm aus der Entschleierung derselben kein sachlicher Nachteil und keine persönliche Kränkung mehr erwachsen kann. Die Sache gehört ganz nur noch der Geschichte an; und es wäre ein vergebliches Unternehmen, sie auch dieser entreißen zu wollen. Es würde betreffenden Ortes wohl freilich lieber gesehen werden, wenn sie verschollen und vergessen wäre und wenigstens nicht mehr in einer die alten Erinnerungen so lebhaft auffrischenden Weise zur Sprache käme. Daran aber, daß dies geschieht, sind nicht wir, die Verteidiger des verlästerten Jünglings und unserer eigenen Ehre, die wir ja gerne geschwiegen hätten und in dieser Angelegenheit gar nicht mehr aufzutreten gedachten, sondern diejenigen Schuld, die gegen ihn und uns so übermütig, aufregend und gewaltsam provozierend vorgegangen. Ich möchte endlich fragen, ob es denn für das Gefühl des betreffenden hohen Hauses, welches, so viel man weiß, dieselbe Überzeugung hat, wie wir, nicht auch tiefverletzend ist, wenn jenes unglückselige Glied desselben, das sogar die frappanteste Familienähnlichkeit in seinen Gesichtszügen darbot, in ein so häßliches und schimpfliches Licht gestellt wird, wie neuestens wieder durch das Meyer’sche Werk geschieht; ob man daher nicht Ursache hat, den Vertretern des Mißhandelten, noch im Grabe so schandbar Verleumdeten nicht bloß zu verzeihen, sondern sogar Dank zu wissen? Daß sie auf solchen rechnen und dabei irgendeinen persönlichen Vorteil für sich im Auge haben, diese Lächerlichkeit wird ihnen hoffentlich niemand zutrauen. Sie kennen ihre Lage und ihr Schicksal; sie stehen bereits an ihrem Grabe und haben keine andere Absicht mehr, als ihre Pflicht zu tun und mit befriedigtem Gewissen abzuscheiden. Doch wäre es ihnen lieb, wenn sie zu bewirken vermöchten, daß die Ungunst, die ihnen in der angedeuteten Beziehung zuteil werden kann, einer milderen Anschauungsweise und Stimmung wiche.
Der Hauser’sche Fall ist von einer viel ausgedehnteren, umfassenderen Bedeutsamkeit, als er dem nur oberflächlich darum Wissenden erscheinen mag. Weit entfernt, auf sich selbst, als dies dunkle und, womöglich, durch ein glückliches Vermuten, Erraten oder Beweisen aufzuhellende historische Rätsel und Geheimnis, beschränkt zu sein, berührt er sich zugleich mit den universellsten, tiefgehendsten Interessen, Problemen, Tendenzen und Streitfragen der Gegenwart und der Menschheit überhaupt. Die Gegner setzen ihre Berechtigung zu Unglauben, Negation, Herabsetzung und Verspottung der sich affirmativ Verhaltenden vorzugsweise und mit großem Nachdruck darein, daß sie, ihrer Behauptung nach, auf dem durch die progressive Geistesarbeit des Zeitalters erreichten Standpunkt heutiger Wissenschaft, Kritik und Einsicht stehen, wobei sie ganz nur den vulgären Rationalismus und Materialismus, die apriorische Abweisung von allem, was irgendwie den Charakter oder Anschein des Außerordentlichen und Wundersamen hat, im Sinne haben. Diese im extremsten Grade negative Denk- und Beurteilungsweise herrsche zur Zeit in solchem Grade und mit solchem Recht, daß irgendein Widerspruch damit schon einfach hinreiche, eine Sache oder Person der kritischen Verdammnis zu überliefern. Ich war dadurch veranlaßt, auf eine Betrachtung und Erörterung der wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Sachlage und des Kampfes der verschiedenen Denkarten und Systeme unserer Epoche einzugehen , und zu zeigen, daß die Sache der Gegner auch in dieser Hinsicht so überaus glänzend nicht stehe und die angeblich so gewaltige Feste, in der sie ihre Stellung genommen, keine so unangreifbare, ungefährdete und vor ihrem Fall sichere Zwingburg sei, als sie sich einbilden, vielmehr Anzeichen ihres Sturzes vorhanden seien, die der Ignoranz freilich noch nicht bemerklich sein mögen. Es entstanden auf diesen Anlaß hin mehrere Aufsätze, die hier zu finden, diejenigen befremden kann, welche die ins Universelle gehende Natur dieser Polemik nicht kennen. Es wird mancher nicht begreifen, wie in einem Buch über den Nürnberger Findling z. B. von dem sogenannten Spiritualismus oder Spiritismus unserer Tage die Rede sein kann; vielleicht auch glauben, ich wolle die, wiewohl so wenig passende, Gelegenheit benützen, um den modernen Geisterglauben und Magismus zu empfehlen. Man braucht sich nicht davor zu entsetzen. Es handelt sich bloß um die Charakteristik der Gegenwart und den Widerspruch und Konflikt der Meinungen und Tendenzen darin, wobei so frappante Gegensätze, wie der erwähnte, nicht unberührt bleiben können. Wenn ich dem Publikum einen Glauben zumute, so ist es überhaupt nur der an wohlbezeugte, keinem berechtigten Zweifel unterliegende Tatsachen und an die Zeugnisse unbescholtener, respektabler und glaubwürdiger Zeugen und Gewährsmänner, so wie ihn ganz allgemein und ausnahmslos Vernunft, Bildung und Wissenschaft fordern, die ohne solchen gar nicht existieren können. Diesen Glauben verlangen, und zwar mit großem Nachdruck, auch unsere Materialisten – wobei sie freilich die Inkonsequenz begehen, nur die für ihre Ansichten sprechenden Tatsachen gelten, denen hingegen, welche ihnen zuwider sind, keine Berücksichtigung und Anerkennung zuteil werden zu lassen.
Es ist im Sinne eines letzten Wortes über diese Angelegenheit, daß ich vorliegende Schrift herausgebe. Ich glaube hiermit alles getan zu haben, was mir in diesem Punkt oblag; ich bin ein Greis und meinem Ende, wie es scheint, bereits ganz nahegerückt; bei meinen physischen Umständen ist es ein Wunder, daß ich noch lebe.8 Ich glaube indessen noch immer so viel geistige Kräfte zu besitzen, um eine solche Pflicht erfüllen zu können und einem solchen Konflikt gewachsen zu sein; ein alter Kriegsmann, wie ich bin, kann, selbst wenn er sich bereits zur Ruhe begeben, doch wohl gelegentlich wieder einmal zu seinem Schwert greifen und die Stärke seines Armes versuchen; es wird dem zum Streit Genötigten und Verbundenen auch wohl ein höherer Beistand nicht fehlen. Daß mir, wie von jeher, so auch jetzt, die Wahrheit heilig, und daß ich nirgends in dieser Schrift mit Wissen und Willen ein unwahres Wort gesprochen, beteuere ich auf das Feierlichste. Auch hier fehlen bestimmte Absichten nicht; es sind aber keine unrechten und bösartigen; es sind die schon oben genannten, die man nicht wird tadeln können; sie gehen ganz nur aus meinen Überzeugungen und Verpflichtungen hervor; und es werden zur Erreichung derselben durchaus nur moralisch erlaubte Mittel angewendet. Das unterscheidet dieses Buch wesentlich von Tendenzschriften in ganz anderem Sinne des Wortes, wo weder Zwecke, noch Mittel von der Art sind, daß sie vor dem Richterstuhl der Humanität, der Moral und des Gewissens zu bestehen vermögen.
Dr. Meyer macht am Schluß seines Werkes die Bemerkung: „Schlosser in seiner Geschichte des 18. und 19. Jahrhundertes gedenkt der Geschichte Kaspar Hausers als einer Fabel, die vom deutschen Volk geglaubt werde.“ Meyer unterstreicht das Wort „Fabel“, die von uns unterstrichenen Worte natürlich nicht; aber diese sind das für uns Wertvolle. Der Glaube an jene Geschichte ist ein dem deutschen Volk eigener und natürlicher; die Nation braucht sich desselben nicht zu schämen, er beruht auf ihrem Sinn und Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit, und sie wird sich denselben auch schwerlich entreißen lassen. Wer es zu tun versucht, der steht nicht auf deutschem Grund und Boden; wohl aber stehen auf solchem wir, die Verteidiger, und können hoffen, die volkstümlichen Sympathien für uns zu haben. Wir vertreten hier nicht nur den Unglücklichen und uns selbst, die seinethalben Verfolgten, Geschmähten und Gekränkten, sondern auch unsere Nation und unseren Nationalcharakter. Könnte ein Buch, wie das Meyer’sche, eine durchschlagende Wirkung tun; könnte sich das Volk zu der herz- und geistlosen Kritik bekehren lassen, welche aus dieser Geschichte eine Fabel macht und dabei mit so viel Härte, Lüge, Fälschung und Tücke verfährt, so wäre es nicht mehr wahrhaft deutsch; und wir unsererseits würden uns nicht mehr viel darauf zugute tun, Deutsche zu sein. Daß dies nicht der Fall sein werde, dafür bürgen uns die entrüsteten Stimmen und energischen Protestationen, die sich dagegen bereits – nicht nur von seiten derer, welche speziell beteiligt, sondern auch von anderen – in deutschen Journalen erhoben haben, die sogar von seiten ausgewanderter Deutscher aus Amerika herübergetönt.9
1 Einzelnen Personen, wie ich sie kenne, und wie sie sich mir mündlich und schriftlich mitgeteilt, ist der in seiner Art ganz einzige Fall niemals aus dem Sinne gekommen, vielmehr stets der Gegenstand ihrer, wenn auch verborgenen, Betrachtungen und Forschungen geblieben.
2 Man kann über diese fast unglaublichen Tatsachen, die man geneigt sein würde, für pure Lügen und Verleumdungen zu halten, wenn sie nicht in Dr. Meyers eigenem, „authentischem“ Buch stünden, in unserem Abschnitt H. Nr. IV. das Nähere lesen. Wenn solche Dinge freiwillig mitgeteilt werden, wie manches, vielleicht noch Schlimmere, mag mit Stillschweigen bedeckt sein!
3 Dies bitte ich nicht für eine poetische Übertreibung und Schwärmerei zu halten; es ist nichts, als ein Versuch, das, was wir wirklich so glücklich waren, vor uns zu haben, auszusprechen oder vielmehr anzudeuten. Ich habe ein mit speziellen Zügen ausgestattetes Gemälde jenes ganz einzigen psychischen Phänomenes in meinen Mitteilungen II. S. 7 ff. geliefert, „Das rührende Bild der reinsten Güte“, heißt es hier, „welches Hausers Erscheinung in den ersten Zeiten gewährte, übertrifft alles, was von dieser Art die Phantasie erfinden könnte, und läßt sich in der Fülle seiner Lebendigkeit durch keine Beschreibung ausdrücken.“ Die herzlosen Spötter, mit denen ich es in dieser Streitsache zu tun habe, mögen darüber lachen; ich halte, wie ich es trotzdem tun zu müssen glaube, auch hier mein Zeugnis aufrecht. Hauser bewies in jener Periode, daß der Mensch edel geschaffen ist und daß die Bestialität nicht die Grundlage seiner Natur bildet. Hauser konnte in einer so verderbten Welt, wie die unserige ist, nicht bleiben, was er anfangs war, als er sich noch nicht in dieselbe, wie er doch mußte, hineingelebt und hineingefunden hatte. Es sprechen aber noch in der Ansbacher Periode, wo ihn die Meyer und Hickel in ihrer wunderbaren Dreistigkeit zur „Schlange“ und zum „Teufel“ machen, die Zeugnisse Feuerbachs und Pfarrer Fuhrmanns für ihn; ersterer spricht noch in seinem 1832 erschienenen Buch über ihn S. 151 von seiner „unbeschreiblichen Güte und Liebenswürdigkeit“, die er zu den Resten des „Außerordentlichen“ rechnet, was noch zu jener Zeit an ihm geblieben war.
4 Ich dachte wirklich darüber nach, ob er dies nicht sein könne, und schuf mir versuchsweise eine Theorie und Erklärung der Art, die ich aber nicht haltbar befand.
5 Man wird hierüber das Beizubringende und Relevante weiter unten finden.
6 Man vergleiche, was darüber Feuerbach in seinem Memoire (dessen Leben und Wirken Leipzig 1872 II. S. 320 ff.) vorträgt. Es werden hier die Sätze aufgestellt und bewiesen: „Bei den an Hauser begangenen Verbrechen sind Personen beteiligt, welche über große, außerordentliche Mittel zu gebieten haben.“ Und: „Hauser muß eine Person sein, an deren Leben und Tod sich große Interessen knüpfen.“
7 Anmerk. d. Hrsg.: Enthüllungen über Kaspar Hauser . Von G. Fr. Daumer. Frankfurt a. M. 1859.
8 War man vielleicht der Meinung, ich sei wirklich schon tot und könne nicht mehr reden? Ich möchte es fast glauben, da sonst der gar zu dreiste Lug und Trug, womit man wider mich zu Werke geht, schwer zu fassen ist. Kurz vor Erscheinung des Meyer’schen Werkes starb ein Bruder von mir in Frankfurt a. M., wo ich früher ebenfalls gelebt. Hat man mich vielleicht mit diesem verwechselt?
9 S. K. Nr. XIII.
Sehen wir von allen besonderen Beziehungen und Interessen ab, die in der Hauser’schen Streitsache stattfinden und möglich sind, so können wir deren Bedeutung dahin bestimmen, daß sich in ihr der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben darstelle. Dies bedarf jedoch einer Erklärung und Verständigung. Man pflegt, wenn in der Art gesprochen wird, speziell nur an die religiösen und kirchlichen Positionen, deren Gegensätze und Negationen zu denken. Davon kann hier keine Rede sein; damit berührt sich unsere Sache nicht; der Hauserglaube, sozusagen, erscheint völlig unabhängig davon und man hat niemals ein solches Moment hineinzubringen versucht. Der Präsident v. Feuerbach war bekanntlich kein Frömmler10; und zu Nürnberg befand sich Hauser nicht bloß mitten unter einer protestantischen Bevölkerung; man polemisierte daselbst auch heftig gegen Kirchenglauben und Pietismus; und diejenigen, denen der Findling zunächst in die Hände fiel, standen vorwiegend auf dieser Seite. Wenn daher Dr. Meyer von einem weichlichen, schwärmerischen Schwachsinn und Aberwitz jener Periode spricht, welcher die Hauser’sche Geschichte ihre romantische Gestaltung verdankt, – ein Vorwurf, der besonders auf Nürnberg zu fallen hätte – so ist dies ganz unpassend und tatsächlich falsch. Die Stimmung und Richtung, die hier stattfand, war vielmehr eine ganz entgegengesetzte.
Was ich hier unter Glauben verstehe, ist auch nicht bloß die Meinung, daß Hauser ein heimlich beiseite geschaffter Prinz, Graf, Magnat und dergleichen gewesen sei; diese hat, wenigstens für mich, niemals einen wesentlichen Reiz gehabt und niemals mein Handeln bestimmt; mein Anteil an Hauser war zunächst ganz nur einfach persönlicher und menschlicher Art und Natur, und dann, wegen der merkwürdigen Phänomene, welche dieses „rare Exemplar“ der Menschengattung der Beobachtung bot, durch wissenschaftliche Interessen begründet und gesteigert.
Ich verstehe hier, um es endlich positiv auszusprechen, unter Glauben die Anerkennung des Außerordentlichen, auch wenn es der allgemeinen Begriffswelt widerspricht; die Hingabe an die dasselbe darbietende und nur roherweise wegzuleugnende Tatsache; an den dadurch bezeugten tiefen, inneren Zusammenhang der Dinge; an das nicht auf platter Hand Liegende, nicht stofflich und mechanisch zu Fassende und Erklärende und dennoch Wahre und Wirkliche, dem aber der gemeine materialistische Verstand so antipathisch entgegensteht, das er so leidenschaftlich um jeden Preis und auf jedem nur möglichen Wege zu beseitigen sucht. Auf diesem Glauben beruht nicht nur alle Religion, sondern auch alle Kultur im vollen, menschlichen Sinne des Wortes; er ist nicht bloß das Gebot einer äußerlichen Satzung und Autorität, sondern eine Forderung der Vernunft, der echten, unbefangenen Wahrheitsforschung und Wissenschaft; und wenn er fällt, so geht der Weg der Menschheit – trotz all der äußeren Vorteile der Technik, Industrie und materialistisch-rationalistischen Richtung und Rührigkeit – zur Barbarei, zur Vernichtung der menschlichen Totalität, zum Verlust aller höheren Menschenwürde, zur Erstickung aller feineren und edleren Gefühle der Menschenbrust, sowie aller tieferen Einsichten des Menschengeistes, zur unerträglichen Verarmung des Gemütes und Lebens, und so zur allgemeinen, wenn nicht äußeren, doch inneren Fäulnis und Auflösung fort11 – einem Resultat und Ausgang des Prozesses, der in unseren Tagen in den erschreckendsten Symptomen erkennbar und drohend genug zutage steht.12 Zu diesem „Fortschritt“ im schlimmsten Sinn des Wortes würde in seiner Art auch der Triumph der „negativen Kritik“ beitragen, wie er neuestens wieder durch das Meyer’sche Werk bewirkt werden soll. Siegt dagegen die gläubige Auffassung, können die sie vertretenden Autoritäten nicht entwertet werden, muß die Hauser’sche Erscheinung mit all ihren wohlbezeugten Eigentümlichkeiten und Merkwürdigkeiten anerkannt werden und kann man ihr den gebührenden Platz in Geschichte und Wissenschaft nicht mehr streitig machen, so erleidet jener gemeine Verstand eine empfindliche Niederlage; und das muß jedem erwünscht sein, der sich auf dem dürren, so geist- als herzlosen Feld einer solchen Negation nicht wohl und heimisch fühlt, sei er in religiöser Hinsicht, was er wolle, halte er es mit dieser oder mit jener kirchlichen Partei oder habe er seine besondere Glaubensansicht. In diesem universellen Sinne habe ich schon seit manchem Jahre in verschiedenen Schriften und Aufsätzen für den Glauben zu wirken gesucht und damit bei den verschiedensten Religionsparteien und ernstgesinnten Personen aller Art Anklang und Beifall gefunden13; in diesem Sinne suche ich es auch hier zu tun.
1.
Die Parteien des Tages pflegen ihre Aushängeschilder, Phrasen, Schlagwörter zu haben, womit sie sich selbst ins hellste Licht, sowie die entgegenstehenden in den dunkelsten Schatten stellen. Mit so wohlfeilen Waffen schlägt und gewinnt man der urteilslosen Menge gegenüber am bequemsten seine Schlachten; und bedient sich solcher um so mehr, je weniger man Wahrheit und Recht auf seiner Seite hat. Ein solcher Ausdruck ist auf Seite derjenigen, mit welchen man es hier zu tun hat, der gesunde Menschenverstand, der den Gläubigen, namentlich mir, abgesprochen wird.14 Für gesund gilt hier, wie überhaupt in solchen Fällen, nur das negative Verhalten, der Unglaube, die Leugnung der mißliebigen Tatsachen, so gewiß sie auch sein mögen; die Wahrnehmung, Beobachtung, Anerkennung von solchen gilt für eine Folge pathologisch abnormer Seelentätigkeit, welche leere Imaginationen, Träume, Phantasmen erzeugt; das Wahrgenommene ist hiernach nicht dem Objekt eigen, sondern auf dasselbe nur aus der einbildungsreichen Subjektivität verrückter Toren und Schwachköpfe übergetragen. Diese, wenn auch persönlich und sachlich noch so grundlose Annahme ist das Hauptmanöver derjenigen, welche den gesunden Menschenverstand für sich allein gepachtet und allen anderen Menschen aus den Händen gerissen haben. Gleichbedeutende Phrasen sind „Nüchternheit, nüchterne Kritik, schlichte Betrachtung, ruhige Untersuchung“ etc. Das alles soll nur stattfinden, wenn die Resultate der Untersuchung absolut negativ ausfallen – was nicht besser ist, als wenn man behaupten wollte, ein Richter fälle ein richtiges und gerechtes Urteil nur dann, wenn er den Angeklagten verdammt, nie aber, wenn er ihn freispricht.
2.
Die Sache liegt in Wahrheit so. Den gesunden Menschenverstand, der mit Recht diesen Namen trägt, kann niemand mehr schätzen, als ich; auch liegt derselbe mit der gläubig aufgefaßten Hauser’schen Geschichte keineswegs im Streit. Im Gegenteil: derselbe fordert hier aus den allerobjektivsten Gründen, wovon man sich aus meinen und anderen Aufsätzen15 leicht überzeugen kann, gebieterisch Glauben und Anerkennung; Unglaube und Leugnung dagegen ist hier dasjenige, was den Charakter subjektiven und willkürlichen Verhaltens im Widerspruch mit dem Objekt trägt; und wir könnten daher unsere Vertretung der Sache ganz füglich als eine Appellation an den gesunden Menschenverstand bezeichnen. Aber was man so nennt, ist allzuoft und namentlich in diesem Fall nichts anderes, als jener gemeine, bornierte, jeder tieferen Einsicht und Wissenschaft entbehrende und doch unendlich dünkelhafte und arrogante Menschenverstand – wenn man ihm noch diesen viel zu edel und ehrenvoll lautenden Namen lassen will; jener triviale, sich in unseren Tagen auf jeder Bierbank brüstende Rationalismus und Materialismus, der nichts gelten läßt, als was mechanisch zu fassen und zu erklären oder doch eine so gewöhnliche, alltägliche Erscheinung ist, daß sie – sollte sie auch eine im Grunde höchst wunderbare sein – den Anschein und Charakter einer solchen verloren hat.16 Leute, die auf dieser Stufe stehen, haben für alles, was nicht in diesen ihren vulgären Begriffskreis fällt, eine vornehm-verächtliche Miene oder ein höhnendes Gelächter bereit, und sind dreist genug, die geist- und kenntnisreichsten Männer vor das Forum ihrer Ignoranz zu ziehen und für Dummköpfe zu erklären. Geht ihnen das aber nicht leicht genug, so nehmen sie die schlechtesten und abscheulichsten Mittel zu Hilfe, erfinden die geflissentlichsten Unwahrheiten, entstellen Tatsachen und Umstände, bedienen sich jeder Art von Lüge und Verleumdung, um das ihren Zwekken sachlich und persönlich Widerstehende zu beseitigen – wie sie es in dieser Geschichte von jeher auf eine Weise getrieben haben, die alle Grenzen der Moral, des Gewissens und der Scham übersteigt. Das alles wird dem Publikum unter der Firma des gesunden Menschenverstandes, der nüchternen Kritik, der schlichten Betrachtung, der ruhigen Untersuchung etc. dargeboten und verkauft.
3.
Einer der merkwürdigsten Umstände dieser Geschichte ist nun aber der, daß der bezeichnete rationalistisch-materialistische Fanatismus mit dem wundersamen Objekt, das ihm im Wege steht, bei alledem nicht fertig wird; daß er sich vielmehr bei jedem neuen Anlauf, den er nimmt, ganz entsetzlich blamiert. So war es, als v. Lang seine giftigen Pfeile schleuderte, so, als Eschricht wider den Kaspar-Hauser-Glauben und seine Repräsentanten wie ein wütender Hund losfuhr; so auch wieder jetzt, da dieser Meyer, der antiromantische Sohn des antiromantischen Vaters, dessen Erbschaft er angetreten, seine mit so großer Reklamepracht verkündeten und eingeführten Authentischen Mitteilungen ins Publikum geworfen. Ob hier nicht noch etwas anderes im Hintergrund liegt, als der Fanatismus des gemeinen Menschenverstandes – ein Zweifel, welchen ein Freund in der Augsburger Allgemeinen Zeitung merken ließ – weiß ich nicht; auf jeden Fall ist es der in Obigem charakterisierte Standpunkt, auf welchen sich Meyer bei seiner Polemik stellt, und ich halte mich daher nur an diese zutage stehende Seite.
Was hat man hier nicht alles schon auf das Ehrenrührigste angegriffen, verdächtigt, herabgesetzt und beschimpft! Hauser war ein hergelaufener schlechter Bursche, Binder ein Schwachkopf, Feuerbach ein Phantast, ich insbesondere der Narr aller Narren, dazu noch ein Lügner und Fälscher;
Tucher ein junger Mann ohne Erfahrung17 und ebenfalls nicht frei von Aberglauben; die Nürnberger Ärzte magnetistische Schwärmer, Dr. Albert in Ansbach beeinflußt18; Polizeirat Merker hat seiner Zeit sogar den grundehrlichen Gefangenenwärter Hiltel in ein böses Licht zu setzen versucht. Wohl ist in dieser Geschichte Lug und Trug und jede böse List und Tücke zu Hause; aber nicht auf Seite der Gläubigen, welche nur der sich objektiv darbietenden Wahrheit ihre Geltung lassen und für sie ihr redliches, furchtloses Zeugnis ablegen, sondern auf einer ganz anderen Seite, wie ich schon in meinen Enthüllungen gezeigt und nun auch wieder in der vorliegenden Schrift zu zeigen veranlaßt und gezwungen bin.
1.
Dr. Meyer ist der süßen Meinung, die Wissenschaft und Kultur der Gegenwart sei ganz nur auf seiner Seite, der Seite des absoluten Unglaubens an alles Ungewöhnliche, Außerordentliche, nicht dem allergemeinsten Verstand Faßliche und selbst dem Ignoranten Bekannte, was er alles zusammen verlacht und verhöhnt und als „das Übersinnliche, Wunderbare, Groteske, Abenteuerliche“ bezeichnet, zu dem sich in der Hauserzeit eine krankhafte, schwächliche Neigung gebildet habe, über welche man aber zur Zeit glücklich hinausgekommen sei.19 Die Ärzte Preu und Osterhausen seien, gleich mir, Anhänger der längst veralteten Lehre vom Somnambulismus und verwandter Erscheinungen des Sinnen- und Seelenlebens gewesen und hätten ihre Beobachtungen mit Vorliebe auf diesen Punkt gerichtet. Das ist schon in persönlicher Beziehung unrichtig. Osterhausen war ein Praktiker der alten Schule und gab sich mit Magnetismus, Somnambulismus etc. gar nicht ab. Zum Beleg jedoch, daß dies der Fall gewesen, führt Dr. Meyer20 an, wie dieser Arzt erzähle: Hauser sei durch den Dunst einer in seiner Nähe geöffneten Champagnerflasche halb betrunken gemacht worden. Dies wird unter die somnambulen Phänomene gerechnet! Es ist dies ein Seitenstück zu der eigentümlichen Äußerung desselben großen Kritikers, daß Freiherr v. Tucher, indem er die Aussagen einer Somnambule über Hauser zur Anzeige brachte, der Lehre vom Hereinragen der Geisterwelt in die unserige seinen Tribut abgetragen.
Daß, während Dr. Meyer aufwuchs, Materialismus und Unglaube an alles nicht bloß Stoffliche und Mechanische sich mächtig erhoben hat und noch jetzt in Wissenschaft und Leben eine große Rolle spielt, ist richtig. In dieser Schule ist der Mann gewesen; diesem Standpunkt gehört er an und meint, er stehe damit auf dem Gipfel der Zeitbildung, dem alles irgendwie Widerstreitende, als für immer antiquiert, überwunden und widerlegt, zu weichen habe. Die Zeit, in der wir leben, könnte aber als eine gesunkene, in Barbarei zurückgefallene zu betrachten sein; und dann wäre es, einsichtsvollen Beurteilern gegenüber, kein großer Ruhm, auf ihrer Gipfelhöhe zu stehen; es wäre vielmehr das Schmählichste, was sich denken ließe. So allgemein und unbedingt läßt sich aber unsere Periode doch nicht als eine solche betrachten, die ganz nur auf der Stufe eines Meyer steht und dessen Denkart teilt. Es fehlt auch nicht an bedeutungsvollen Gegensätzen, die man nicht einfach ignorieren kann, die keineswegs im Verschwinden begriffen und nicht ohne Hoffnung und Zuversicht eines in näherer oder fernerer Zeit bevorstehenden Durchschlagens sind.
21Philosophie des Unbewußten222324