Diese bescheuerten Stühle! Ich komme mir vor, als wäre ich hundert!
Franziska stöhnt leise, zieht ihre lang ausgestreckten Beine nacheinander heran und richtet sich auf. Die Holzstühle und Tische sind nicht für Schülerinnen ihrer Größe gemacht.
Sitzt sie gerade, stößt sie sich die Knie am Tisch an. Streckt sie die Beine aus, rutscht sie fast von der Sitzfläche.
Sie packt Stifte und Geschichtsheft in ihren abgeschabten, dunkelroten Rucksack.
Blöd, dass ausgerechnet Kunst ausfällt.
Bei Frau Benartz vergeht der Unterricht wie im Flug.
Aber die Kunstlehrerin ist erkrankt, die letzte Unterrichtseinheit fällt ersatzlos aus.
Franziska schaut auf ihre Armbanduhr.
Ich könnte vor dem Nachmittagstraining für eine Stunde ins Leistungszentrum fahren. Gewichte stemmen. Oder lieber nach Hause ein wenig schlafen?
Die Vorstellung, eine Stunde zu faulenzen, ist verlockend.
Seit drei, vier Wochen kommt sie morgens kaum aus dem Bett. Und obwohl sie abends völlig kaputt ist, schläft sie nicht vor Mitternacht ein.
Sie schaut aus dem Fenster. Die ersten Blätter an den Bäumen leuchten intensiv grün.
Wie schön das aussieht.
„Hallo, Erde an Superfranzi. Lässt du dir gerade eine Goldmedaille um den Hals hängen?" Franziska zuckt zusammen und dreht sich um.
„Kommst du noch mit ins Eiscafé oder musst du gleich wieder deine Bahnen ziehen?" fragt Caro und grinst schief.
„Willst du, dass ich mitkomme? Dann lass das mit dem ewigen Superfranzi, es nervt!"
Franziska ärgert sich über Caro. Und dass man ihrer Stimme das Gekränktsein anhört, ärgert sie noch mehr. Gerade noch hat sie sich über diesen schönen Frühlingstag gefreut.
Caro spielt die Zerknirschte und vergräbt das Gesicht unter dunkelbraunen Lockenmassen. Franziska beneidet Caro um ihre Haarpracht. Für sie kommt das nicht in Frage. Viel zu umständlich.
„Sorry, Sup...."
Caro lacht verlegen, streicht ihre Haare aus dem Gesicht und legt die Arme um Franziska.
„Komm mit, Franzi. Es ist so schön draußen. Eine Stunde geschenkte Zeit. Tina und Anna kommen auch mit."
Wieso eigentlich nicht, sagt sich Franziska und schüttelt ihren Ärger ab.
Sie möchte am liebsten viel mehr Zeit mit ihrer besten Freundin verbringen. Nicht einmal zu Caros letztem Geburtstag ist sie aufgelaufen. Sie musste bei einem Wettkampf antreten, sonst hätte sie sich nicht für die Landesmeisterschaften qualifizieren können.
Caro hatte versucht ihre Enttäuschung herunterzuspielen, aber Franziska kannte ihre Freundin lange genug, um die kleinen Zeichen zu erkennen. Sie vermied dann jeden Augenkontakt und redete nur noch belangloses Zeug.
„Ich komme mit. Vielleicht haben sie schon Stühle rausgestellt, und wir können draußen sitzen."
„Dürfen Grottenolme in die Sonne?"
Franziska tut so, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört.
Die Mädchen schlendern schwatzend über den Schulhof und gehen in Richtung „Venezia" durch die Gassen.
Anna ist seit kurzem in einen Jungen aus der Parallelklasse verliebt und redet seit Tagen über nichts anderes. Tim weiß noch nichts von seinem Glück.
Anna will ihn auf sich aufmerksam machen, hat aber keine Ahnung, wie sie es anstellen soll.
„Sag es ihm und fertig", meint Caro.
„Typisch Caro. Damit er gleich vor Angst davon läuft", lautet Annas Kommentar.
„Das bringt doch nichts, wenn du ihn aus der Ferne anschmachtest. Vielleicht hat er schon eine Freundin."
Anna verzieht das Gesicht.
„Oder er interessiert sich nicht für Mädchen", spottet Tina.
„Sag das nicht. Nur weil dein Bruder schwul ist, muss Tim nicht auch schwul sein!" kreischt Anna.
Warum ist sie immer so theatralisch? Und diese grelle Stimme!
Ihr fällt ein, dass ihr Tim öfter mit einer Sporttasche über den Weg läuft.
„Er spielt, glaube ich, Feldhockey. Vielleicht tauchst du mal bei ihm im Sportverein auf und schaust zu?"
„Superidee, Franzi. Kommt eine von euch mit?"
Annas hilfesuchender Blick bleibt an Tina hängen.
Caro ist für solche Aktionen nicht zu haben, und Franziska ist praktisch immer im Training.
Tina nickt.
„Der Freund meines Bruders spielt auch in diesem Verein. Ich komme mit, dann fällt es nicht so auf, dass du wegen Tim dort aufkreuzt."
„Ich dachte es geht darum, dass er es mitkriegt", stöhnt Caro.
Franziska gluckst in sich hinein.
Sie weiß genau, dass Caro übertriebenes Getue wegen irgendwelcher Jungs blöd findet. Es geht ihr genauso.
Schon von weitem sieht Franziska die Korbstühle auf der kleinen Terrasse stehen. Erste Besucher löffeln ihre Eisbecher.
Sie wählen einen windgeschützten Tisch vor der efeubewachsenen Backsteinmauer. Weißblühende Hortensien in Kübeln erinnern Franziska an den Garten ihrer Oma.
Wieso blühen die denn jetzt schon? Kommen sicher aus dem Treibhaus. Ist ja auch egal.
Sie streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen, schließt die Augen und seufzt.
Wann habe ich das letzte Mal einfach so in der Sonne gesessen, fragt sie sich und weiß keine Antwort darauf.
Anna und Tina tauschen die Plätze. Anna möchte alles im Blick haben. Tina macht es nichts aus, auf die Wand zu schauen. Kaum sitzen sie alle, kramt Anna ihr Schminkset hervor und legt lila Lidschatten auf.
Es folgen Rouge und Lippenstift.
„Ihr jungen Dinger seht doch ungeschminkt viel schöner aus!"
imitiert Tina den Tonfall ihrer Mutter und schnappt sich Annas Schminktäschchen.
„Lass die alte Tina auch mal ran."
Ich könnte gar nicht mit dem Lidschattenpinsel umgehen.
Als Roberto an den Tisch kommt, um die Bestellungen aufzunehmen, verfangen sich Tonis und Robertos Blick für einen kurzen Moment. Es durchzuckt sie wie ein Stromstoß.
Schnell schaut sie auf die Eiskarte, dabei weiß sie längst, was sie bestellen will.
Sie hat Roberto ein paar Monate nicht gesehen. Das Eiscafé gehört seinen Eltern, er hilft ab und zu aus.
Er geht in die zehnte Klasse und ist ein ziemliches Ass in Mathematik. Sein jüngerer Bruder trainiert in ihrem Verein.
Er sieht verändert aus, stellt Franziska fest. Sein Gesicht ist schmaler geworden, irgendwie kantiger. Er wirkt selbstsicherer, als sie ihn in Erinnerung hat.
Sie spürt ein flaues Gefühl im Magen. Als stünde sie auf dem Startblock, kurz vor dem Startschuss.
„Ciao."
Roberto wischt mit einem karierten Lappen über den Tisch, Franziska scheint es, als zittere seine Hand ein wenig. Schließlich schaut er fragend in die Runde.
„Was nehmt ihr?"
Franziska starrt weiter auf die Eiskarte, als müsse sie alles ablesen, während sie eine Eisschokolade mit zwei Kugeln Vanilleeis und einer großen Portion Sahne bestellt. Sie schaut erst wieder auf, nachdem er ins Café verschwunden ist.
„Was ist los mit dir, wieso bist du so verkrampft? Ist es wegen Roberto?"
Caro stupst Franziska leicht mit dem Ellbogen in die Rippen.
Sie fühlt sich ertappt, zuckt aber bloß mit den Schultern.
Das weinrote Hemd steht ihm gut, tanzt es in ihrem Kopf.
Anna antwortet an ihrer Stelle.
„Für Jungs hat unsere Franzi überhaupt keine Zeit.
Sie muss nächstes Jahr deutsche Meisterin werden."
Franziska weiß nicht, was sie mehr ärgert: dass Anna es gar nicht für möglich hält, dass sie ihr Roberto gefallen könnte, oder dass sie sich mal wieder wegen ihres Leistungsschwimmens verteidigen muss.
„Ich muss nicht, ich will deutsche Meisterin im 200 Meter Freistil werden. Und im Moment will ich nur in der Sonne sitzen!"
Sie will sich die Stimmung nicht verderben lassen.
Und völlig aus der Luft gegriffen ist Annas Bemerkung eigentlich nicht.
Sie hat kaum Zeit für ihre besten Freundinnen, was sollte sie sich da verlieben?
Im Bruchteil einer Sekunde passiert das angeblich.
Das hat sie aus irgendeiner Illustrierten, die sie beim Frisör durchgeblättert hat.
Roberto kommt mit einem vollen Tablett zurück an den Tisch und serviert die üppig dekorierten Eisbecher und Franziskas Eisschokolade.
Er stellt das Glas vor ihr ab, sucht kurz ihren Blick und lächelt.
Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Hastig beugt sie sich nach vorn, greift nach dem Strohhalm und trinkt einen Schluck. Auf keinen Fall will sie sich ihre Verlegenheit anmerken lassen. Gut, dass die anderen mit ihren Eisbechern beschäftigt sind.
Erst als Roberto im Inneren des Cafés verschwunden ist, beruhigt sich ihr Herz wieder.
Ihre Gesichtshaut spannt ein wenig, die Frühlingssonne hat schon Kraft.
Komisch, dass mein Po sich so kalt anfühlt.
Ein kurzer Gedanke nur – sie wird gleich wieder durch Tina abgelenkt.
Wegen eines rosa Oberteils hat Tina heute Morgen mit ihrer Mutter gestritten.
Sie liefert erneut eine perfekte Parodie ihrer Mutter:
„Tina, nein, nein, nein! Diesen Pornolook sehe ich mir nicht länger mit an!"
Tina hat das Zeug zur Schauspielerin!
Franziska verschluckt sich vor Lachen fast an der Sahne.
Sie schaut auf die Uhr und erschrickt.
Schon so spät! Ich muss los! Arnulf, ihr Trainer, mag es gar nicht, wenn man zu spät kommt. Sie wollen heute an ihrer Wende arbeiten, da kann sie noch wertvolle Zehntelsekunden rausholen. Die perfekte, geschmeidige Wendung ist ihr nächstes Ziel.
Vor dem Training will sie noch ein Müsli mit Obst essen und schnell die Hausaufgaben erledigen. Danach ist sie viel zu erschöpft, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihre Mutter würde ausflippen, wenn sie mitbekäme, dass sie in der Sonne sitzt und Sahne schleckt.
„Ich muss los, Mädels."
Franziska kramt in ihrem Geldbeutel. Sie überlegt kurz, ob sie ein Trinkgeld liegenlassen soll, findet das aber peinlich.
Sie legt das Geld passend neben ihr leeres Glas.
Was ist das nur? Ihr Po fühlt sich seltsam kalt und steif an. Dabei ist ihr warm von der Sonne.
„Zahlt mal für mich mit. Die Meisterschaft ruft. Bis morgen."
Sie steht auf und streckt sich. Das unangenehme Gefühl lässt nicht nach.
„Was hast du?" fragt Caro. „Du stehst so merkwürdig."
„Keine Ahnung. Ich hab vermutlich zu lange gesessen. Ich muss ins Wasser – meine Bahnen ziehen.
Dann ist das gleich wieder weg."
„Ich ruf dich heute Abend an!"
Caro wirft ihr eine Kusshand zu.
Auf steifen Beinen geht Franziska um die Ecke und reibt sich verstohlen die Pobacken. Sie kommt gar nicht richtig voran.
Als müsse sie gegen einen starken Wind ankämpfen.
Das Kältegefühl bleibt, da hilft auch Reiben nichts.
Hoffentlich ist das kein Bandscheibenvorfall!
Sie ahnt, dass es keiner ist.
Beim Schwimmen vergeht das sicher gleich.
Sie setzt ihren Rucksack auf und humpelt los.
Ausgerechnet heute steht ihr Rad zuhause. Ihre Mutter hat sie in der Früh mit dem Auto zur Schule gebracht. Sonst wäre sie zu spät gekommen.
Beim Schwimmen wird Franziska die eigenartigen Empfindungen an Po und Oberschenkeln nicht los.
Mit kräftigen Armzügen versucht sie ihre schwache Beinarbeit auszugleichen, aber sie merkt gleich, dass das nicht klappt.
Ihre Beine fühlen sich eiskalt und schwer an, ziehen sie nach unten.
Sie schwimmt mit Mühe eine Bahn zu Ende, als Arnulf ihr vom Startblock her ein Zeichen gibt.
Franziska hält sich am Beckenrand fest, zieht sich hoch und bleibt, mit den Füßen im Wasser, am Rand sitzen.
Arnulf Ratzke, ehemaliger Olympiasieger, ist seit zwei Jahren ihr Trainer.
„Was ist los mit dir, Franzi? Erst kommst du zu spät, und jetzt wälzt du dich wie eine bleierne Ente durchs Wasser.
Ich dachte, du wolltest dir den Titel holen! Deine Zeiten sind grottenschlecht!"
Er setzt sich auf den Startblock und schaut auf seine Stoppuhr. Seine buschigen Augenbrauen sind ein einziger dunkler Balken.
Franziska zieht die Schwimmbrille ab und fährt sich durch die nassen Haare. Beim Training trägt sie keine Schwimmkappe – sie hasst das enge Gefühl am Kopf.
Ihr ist hundeelend. Ihr Po fühlt sich an, als gehöre er nicht zu ihr: die Haut spannt und ist eiskalt. Als hätte sie auf einer Eisscholle gesessen.
Sie greift nach ihrem Talisman – ein Türkis an einer Lederschnur, den sie um den Hals trägt. Der Stein ist ein Geschenk ihrer Mutter. Bei Wettkämpfen bindet sie ihn einem kleinen Plüschschweinchen um, das immer in ihrer Trainingstasche mitreist.
Natürlich will ich Landesmeisterin werden. Was soll die blöde Frage. Bis dahin sind noch zwei Wochen Zeit.
„Ich weiß nicht, was heute los ist. Ich kann nichts dafür. Meine Beine fühlen sich so blöd an. Ich komme einfach nicht voran."
Ihre Stimme klingt weinerlich.
„Mach Schluss für heute. Vielleicht bist du übertrainiert oder es ist eine Mangelerscheinung. Nimmst du deine Magnesium-Tabletten? Isst du genügend Obst und Gemüse?"
Franziska nickt. Darauf achtet ihre Mutter schon.
„Hauptsache, du bist in Düsseldorf auf der Höhe.
Nimm ein heißes Bad, lass dich von deiner Mutter massieren. Ab mit dir."
Er klopft ihr auf den Rücken und steht auf. Als er sieht, dass sie Schwierigkeiten mit dem Aufstehen hat, streckt er ihr die Hand hin und zieht sie hoch.
Hinter der aufmunternden Fassade seines Blicks, sieht sie mürrische Skepsis.
„Kopf hoch. Das wird schon wieder."
„Alles klar."
Franziska stakst auf steifen Beinen zu den Duschen.
Das warme Wasser tut gut, aber Po und Oberschenkel fühlen sich fremd an.
Auf dem Weg in die Umkleide tritt sie auf ein feuchtes, blutbeflecktes Heftpflaster. Sie schüttelt sich vor Ekel, als sie das klebrige Ding anfassen muss, um es loszuwerden.
Die lauwarmen Pfützen vor den Spinden sind ihr sonst nie aufgefallen.
Sie setzt sich auf die schmale Holzbank, um ihre Jeans anzuziehen.
Habe ich übertrieben trainiert, nicht genug Proteine gegessen?
Jede Menge trübe Gedanken gehen ihr auf dem Weg nach draußen durch den Kopf.
Sie macht ihr Rad los, hebt es aus dem Fahrradständer.
Es gelingt ihr nur mit Mühe, das Bein über die Stange zu schwingen.
Als ihre Mutter um sechs Uhr nach Hause kommt, sitzt Franziska auf dem Sofa und schaut eine dieser Vorabendserien, die sie sonst nie sehen kann.
Sie soll bloß nicht meckern, weil ich vor dem Fernsehersitze!
Aber die Lautstärke, mit der ihre Mutter den Hausschlüssel auf die Kommode im Flur knallt verheißt nichts Gutes.
Vor drei Jahren haben ihre Eltern sich scheiden lassen. Ihre Mutter, die vorher halbtags gearbeitet hat, nahm eine volle Stelle bei einer großen Werbeagentur an. Ihr Job ist aufreibend – sie kommt oft spät nach Hause. In der Werbeagentur stehen einige bekannte Sportler unter Vertrag.
Franziska liebt es, wenn ihre Mutter von denverpatzten Szenen beim Drehen der Werbespots erzählt.