Band 38 2. überarbeitete Auflage 2020
Darf ich mich Ihnen vorstellen?
Ich bin ein inzwischen pensionierter Professor der Psychologie. Als ich 1968 meine Frau kennenlernte, studierte ich Jura und sie Psychologie. Was lag da näher als schließlich umzuschulen? Wir haben uns in der damals richtigen Reihenfolge verliebt, verlobt, verheiratet und dann im Laufe der Zeit drei Kinder groß gemacht. Ganz klassisch, bürgerlich.
Jetzt schreibe ich Bücher, zu denen ich bisher so noch nicht gekommen bin; vor allem finde ich Texte, die auf ihre Verbindung und Zusammenfassung gewartet haben. So ist die hier vorliegende Schrift eine Zusammenfassung aus Vorlesungen, Beiträgen und Stichworten zu Themen, die mit „Psycho“ beginnen. Auf Vorträgen und Seminaren wurde ich immer wieder gebeten, zu dem Begriffswirrwarr im Bereich „Psycho“ doch einmal eine Übersicht zu erstellen. Nun hoffe ich, dass mir dies in verständlicher Weise gelingt. Jedenfalls sollten Sie nach der Lektüre dieser Schrift gestärkt sein für Diskussionen um alles, was mit „Psycho“ zu tun hat.
Im Vordergrund meiner Ausführungen stehen die Psychologie und die Psychotherapie. Die Abgrenzungen zur Psychiatrie oder zur Pädagogik dienen zunächst nur dem Verständnis für verschiedene Blickwinkel. Tatsächlich gibt es aber viele fließende Übergänge.
Die Kapitel 3 und 4 könnten Sie auch getrost weglassen oder später lesen. Diese Kapitel sind reine Wissenschaftstheorie, mit der sich Psychologen während des Studiums und hoffentlich auch danach beschäftigen. Allerdings können Ihnen diese Kapitel einen Einblick in die Denkweise von Psychologen vermitteln.
Übrigens werden Sie beim Lesen feststellen, dass gelegentlich kleinere Wiederholungen vorkommen. So müssen Sie nicht vor- oder zurückblättern. Ich hoffe, dass dies die Lesbarkeit nicht beeinträchtigt.
Und nun lade ich Sie ein, die vielen Psycho-Begriffe so weit wie möglich zu entwirren.
Peter Dentler, Kiel 2020
Wenn man abends auf einer Party im Gespräch zugibt, man sei Installateur oder Gärtner, kann sich fast jeder etwas darunter vorstellen. Sofort kommt es zu persönlichen Erfahrungen mit anderen Vertretern dieser Berufe, zu konkreten Fragen in eigener Sache und natürlich auch zur Bitte um „Nachbarschaftshilfe“. Wenn jemand zugibt, im Feld der Erziehung ausgebildet und tätig zu sein, fühlt sich jeder Gesprächspartner selbst als Experte und argumentiert meist aus seiner persönlichen subjektiven Erfahrung. Erziehung ist sozusagen ungeschützt, weil sie zunächst meist nicht mit wissenschaftlich belegbaren Formeln und Zahlen daherkommt, sondern mit Wertbegriffen und Zielen. Und jeder hat dann seine eigene Vorstellung davon, mit welchen Methoden diese Werte und Ziele zu erreichen seien.
Ganz ähnlich geht es einem, wenn man auf einer Party zugibt, man sei Psychologe oder Psychiater. Dann gibt es oft einen kurzen Moment der Verunsicherung, des Atemanhaltens und der Entscheidung, wie man sich mit so jemandem wohl weiter unbefangen unterhalten könnte. Man kann sich jetzt nämlich gleich in tiefster Seele durchschaut fühlen und deshalb das weitere Gespräch ablehnen oder aber tiefer einsteigen. Man kann auch schräg von der Seite prüfend schauen, ob dieser Mensch wohl bereits schon vor seinem Studium selbst zu den Spinnern und Verrückten gehört hat oder erst im Umgang mit diesen eine Abfärbung erfahren hat. Man kann aber auch davon sprechen, dass man jemanden kennt, der seinerseits von einer Person oder einer Familie berichtet hat, die dringend eine Psychotherapie bräuchten. Psychologie wird nämlich umgangssprachlich oft mit Psychiatrie und mit Psychotherapie, aber leider auch mit Diplomatie gleichgesetzt.
Nun gibt es tatsächlich kaum einen Wissenschaftsbereich, der nicht über den Tellerrand seiner eigenen Disziplin schaut oder sich auch begrifflich mit einer anderen zusammensetzt wie etwa „Biochemie“. In vielen Studiengängen – außer vielleicht in Jura oder Theologie -ist es ohnehin wünschenswert, oft sogar verpflichtend, neben dem Hauptfach weitere Interessengebiete zu vertiefen. Und es gibt wohl auch kaum eine Wissenschaft, die nicht neben ihrer Grundlagenforschung auch konkrete Anwendungsbereiche abdeckt – meist in Verbindung mit anderen Fachgebieten. In solchen konkreten Anwendungsbereichen können fruchtbare Möglichkeiten der Zusammenarbeit entstehen, aber auch Konkurrenz und eifersüchtige Besitzstandswahrung, besonders dann, wenn es um Geld und Ansehen geht.
Die Psychologie ist neben ihrer eigenen Profession auch eine der Bezugswissenschaften in der Ausbildung für soziale Berufe wie Pflege, Erziehung oder Sozialpädagogik. Hier geht es nicht nur um Wissensvermittlung und Information, sondern auch um das Verständnis und den Gebrauch von wissenschaftlichen Fachbegriffen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Einordnung von Forschungsergebnissen. Aber auch für die Verständigung der verschiedenen Berufsgruppen untereinander ist es nötig, Fachbegriffe gleichbedeutend zu verwenden.
Vielleicht hilft es, wenn erst einmal deutlich gemacht wird, was Psychologie nicht ist. Manche amerikanischen Filme verleiten zu der Annahme, dass in den USA - und dort vor allem in New York - jeder anständige Bürger seinen persönlichen Psychiater beschäftigt. Solche Zustände will man natürlich hierzulande nicht haben. Dazu ist zu sagen, dass auch Amerikaner nicht grundsätzlich psychisch krank sind und auch nicht wegen jeder Aufregung sofort professionellen Beistand suchen. Allerdings ist dort das Verhältnis zu diesen Berufen unverkrampfter. In der deutschen Übersetzung (Filme, Bücher) werden leider die Berufsbezeichnungen oft gleichbedeutend benutzt. Tatsächlich bieten Psychiater in den USA nur selten Psychotherapie an; vielmehr sind es – anders als in Deutschland - Sozialarbeiter oder Psychologen (oft beide mit Doktortitel), die diese Zusatzausbildung erwerben und dort als Kassenleistung abrechnen. Und es trifft auch nicht zu, dass die meisten Patientinnen während oder nach der Therapie mit ihrem Psychotherapeuten – regelmäßig Psychoanalytiker – durchbrennen. Da wird also in den Medien ein völlig verzerrter Eindruck vermittelt. Aber wir Deutschen verdrehen ja auch munter manche amerikanischen Begriffe wie zum Beispiel „handy“ (=praktisch) und machen daraus ein Mobiltelefon.
In Deutschland werden also die Psycho-Berufe oft verwechselt. Da wird ein Psychiater kurzerhand zum Psychologen oder zum Psychotherapeuten oder ein Psychologe zum Psychiater. Auch Pädagogen werden „automatisch“ psychotherapeutische Fähigkeiten zugesprochen, zumal sie in ihrer Ausbildung auf psychologische Erkenntnisse zugreifen und selbstverständlich davon ausgehen, sie hätten sie selbst erfunden. Oder überhaupt jeder einfühlsame Mensch wird zum Psychologen, der zum „psychologisch günstigsten Zeitpunkt“ übervorsichtige Fragen stellt. Auch im Sport ist viel von Psychologie die Rede und von Emotionen. Immer wieder wird „psychologisches Geschick“ erwartet, besonders von Psychologen. Das wiederum aber haben studierte Psychologen nicht im Studium, sondern höchstens und rein zufällig in ihrer Familie und dort schon in der Kinderstube gelernt.
Die Ausbildungsgänge sind sehr verschieden.
Psychiater und Neurologen haben zunächst ganz regulär Human-Medizin studiert, bevor sie sich nach ihrer Ausbildung über viele Jahre hinweg zum Facharzt spezialisieren. Ärzte aller Fachrichtung können zusätzlich eine Doktorarbeit schreiben (Dissertation) und damit zum Dr. med. promovieren. Aber eine Promotion ist nicht erforderlich, um als Arzt tätig zu sein.
Die fachärztliche Ausbildung zum Psychiater war früher einmal gekoppelt mit der Ausbildung zum Neurologen: die eine Ausbildungshälfte an einer Universitätsklinik oder einer Fachklinik wurde in der Psychiatrie abgeleistet, die andere Hälfte in der Neurologie. Das bedeutet, dass zumindest ein Teil der älteren Psychiater auch Neurologen sind und umgekehrt. Inzwischen gibt es jedoch längst neue Ausbildungsrichtlinien, welche diese Facharztausbildungen eindeutig regeln. Es lohnt sich also, im Kontakt mit einem entsprechenden Facharzt nach dessen Ausbildungsschwerpunkt zu fragen. Man kann sich auch weitere Auskünfte bei der Ärztekammer eines Bundeslandes einholen.
Psychiater kümmern sich um psychische Erkrankungen, die man in Deutschland früher im Wesentlichen in „Psychosen“ und „Neurosen“ unterschied. Diese Begriffe sind zwar noch in Gebrauch, aber heute weitgehend durch „Störungen“ der verschiedensten Art ersetzt worden. Verhaltensabweichungen krankhafter Art werden – oft anhand von Tests, die von Psychologen entwickelt wurden - diagnostiziert und überwiegend medikamentös behandelt. Leider wird in dem Zusammenhang oft die Bezeichnung „abweichend von der Norm“ automatisch mit „krankhaft“, also behandlungsbedürftig gleichgesetzt, worüber im Zusammenhang mit „Normalität“ noch zu sprechen sein wird. Abweichung an sich ist keine Krankheit!
Psychiater und Neurologen verschreiben bei Bedarf Medikamente, speziell die so genannten Psychopharmaka und Schmerzmittel. Außerdem können diese Ärzte Operationen durchführen. Psychologen können nichts verschreiben, weil sie keine Ärzte sind.
Neurologen konzentrieren sich auf Funktion und Störungen des Gehirns und der Nerven. Sehr allgemein gesagt, widmet sich die Neurologie denjenigen Auffälligkeiten und Krankheiten, denen man Funktionsstörungen im Gehirn und dem gesamten Nervensystem zuschreiben kann. Dazu gibt es in diesem Fachgebiet viele diagnostische Möglichkeiten einschließlich der bildgebenden Verfahren. Die therapeutischen Möglichkeiten der Neurologie werden oft in Zusammenarbeit mit anderen Berufszweigen wie Fachpflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logotherapie gekoppelt, z.B. nach einem Schlaganfall, bei Demenzen verschiedener Herkunft oder bei Funktionsstörungen des Bewegungsapparats. Darüber hinaus gibt es in der Neurologie eine chirurgische Abteilung, die Neurochirurgie. Weitere Abteilungen, beschäftigen sich z.B. mit der Schmerztherapie. Hier ist der fließende Übergang zur Psychiatrie und zur Psychotherapie gut zu erkennen, da der Schmerz zwar eine objektiv lokalisierbare, aber prinzipiell subjektive Empfindung ist.
Die Psychiatrie ist traditionell zuständig für psychische Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens, die von einer Person selbst - oder aber von deren sozialem Umfeld - als so störend betrachtet werden, dass ein normales Privat – und Berufsleben nicht aufrecht zu erhalten ist. Zunächst wird erst untersucht, ob es sich nicht doch um eine internistische oder neurologische Störung handelt, also um etwas körperlich Nachweisbares. Wenn dies nicht der Fall ist, geht man über zu dem Begriff „Psychische Erkrankung“, der allerdings genauso wenig aussagt wie „Körperliche Erkrankung“. Vielmehr wird jetzt untersucht, ob es sich um eine Neurose oder um eine Psychose (Störung) handelt, denn danach entscheidet sich die Art der Behandlung. Die diagnostischen Möglichkeiten der Psychiatrie oder der Psychotherapie sind zwar erheblich unschärfer als die der Neurologie, aber es gibt durchaus konkrete Verhaltensbeschreibungen für die eine wie auch für die andere Diagnose. So sind z.B. bei Psychosen so genannte Leitsymptome und das Ausmaß eines oft zu beobachtenden „Realitätsverlusts“ meist gut zu unterscheiden. Schwierig wird die Diagnose natürlich bei Übergängen aller Art, insbesondere beim „Borderline-Syndrom“, einem Grenzfall zwischen Psychose und Neurose oder je nach Sichtweise einer eigenständigen Erkrankung. Dies letztere wird in der Literatur gut beschrieben (z.B. Kreisman und Straus, 1989: Ich hasse dich – verlass mich nicht.).
Da es sich bei den Erkrankungen, die der Psychiatrie zugeordnet werden, zwar um beobachtbare und beschreibbare, aber bislang nicht ursächlich oder nur unzureichend erklärbare Verhaltensabweichungen handelt, fällt es hier besonders schwer, eindeutige Diagnosen zu erstellen. So ist es nicht verwunderlich, dass in diesem Wissenschaftsbereich noch mehr an durchaus widersprüchlichen Diskussionen und Forschungsvorhaben entstehen als in anderen Bereichen. Erschwert wird dieses Problem auch dadurch, dass sich US-amerikanische Psychiatrie-Standards über die Weltgesundheitsorganisation WHO als „international“ durchsetzen konnten und so die amerikanischen Begrifflichkeiten und diagnostischen Systematiken die klassischen europäischen Systematiken überlagert haben. Je nach psychiatrischem Lehrbuch und je nach nationaler Herkunft einer Lehrmeinung gibt es im Bereich Psychiatrie für den Laien viele Möglichkeiten der Verwirrung. Allerdings trügt der Anschein: die meisten Fachleute sind sich national wie auch international erheblich einiger als vermutet wird. Das liegt daran, dass die konkret beobachteten krankhaften Leitsymptome wie etwa ein „Realitätsverlust“ zwar verschieden benannt werden, aber dennoch weltweit in annähernd gleicher Weise beobachtet und behandelt werden.
Die Behandlungsmöglichkeiten der Psychiatrie beziehen sich - wie auch sonst in der Medizin - meistens auf die Behandlung mit Medikamenten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Psychosen, von denen man nach wie vor nicht viel über die Ursachen weiß. Insofern wird in diesem Bereich üblicherweise keine früher so genannte „aufdeckende“ Psychotherapie angeboten, sondern eher „zudeckende“ Maßnahmen aus dem Bereich der Verhaltenstherapie. Bei Neurosen geht man davon aus, dass biografische Faktoren ursächlich im Vordergrund stehen. Deshalb ist dort Psychotherapie angezeigt. Wichtig ist hier ein feiner Unterschied: es geht dabei nicht nur um die „Therapie der Psyche“ (etwa mit Medikamenten), sondern um eine „Therapie mit psychischen Mitteln“. Psychische Mittel sind in der Regel verschiedene Arten des Gesprächs und/oder erlebnisorientierte Methoden, die der Selbsterfahrung und der Selbstfindung dienen. Dabei ist in manchen Fällen eine vorübergehende Unterstützung durch Medikamente nicht ausgeschlossen. Auch wenn man die Ursachen nicht oder nicht genau kennt, ist es immerhin hilfreich, wenn man wenigstens die Symptome lindern kann. Aber „behandeln“ ist nicht gleich „heilen“.
Man könnte also sagen, dass sich die Neurologie mit denjenigen mentalen und psychischen Störungen beschäftigt, für die bekannte oder vermutete körperliche Fehlfunktionen zuständig sind, während sich die Psychiatrie denjenigen Störungen widmet, für die – noch – keine konkret greifbaren körperlichen Ursachen gefunden wurden.