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© 2019 Tina Hörchner, Das Netz der Nornen
Lektorat: textperlen – Bärbel Philipp
Covergestaltung: Tölle Werbung – Anika Tölle
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-7395-9
Für
Thomas & Theresa
„Mailinchen, was sagst du dazu?“, hört sie Mirko ungeduldig fragen.
Mailinas Stirn zieht sich kraus, ihr Blick wird bang.
‚Um Himmels willen, was soll ich nur darauf antworten? Soll ich ehrlich sein und ihn vor den Kopf stoßen oder lieber gute Miene zum bösen Spiel machen? Welcher neuerliche Geistesblitz hatte ihn dazu gebracht, ein Stück verwildertes Land mit unzähligen knorrigen, alten Obstbäumen und durcheinander wuchernden Sträuchern zu kaufen, noch dazu am Hang gelegen und mitten im Nirgendwo?‘
Die Landschaft mit ihren bewaldeten Hängen gegenüber dem romantischen Ausblick auf das grünende Wippertal und dem sich allmählich dahinschlängelnden Weg vor ihnen ist einfach wundervoll, das muss sie zugeben. Doch zu mehr reicht Mailinas Begeisterung nicht aus. Nichts als mühsame Arbeit und Schufterei bringt dieser Flecken.
Mit einem zaghaften Lächeln schaut sie in Mirkos grinsendes Gesicht. Seine dunkelbraunen Augen strahlen voller Enthusiasmus, und sein breites Grinsen bringt diese tiefen Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein, in die sie sich einst verliebte. Allerdings ist es bereits eine Weile her, dass dieses Strahlen in seinem Gesicht Mailina mit einem verzaubernden Feuer anstecken konnte. Nach einem anstrengenden Tag, wie dieser einer war, löst es einzig ein unangenehmes Kribbeln in ihr aus.
„Wie wollen wir dieses riesige Stück Land bei meinem momentanen Stress und deiner ebenso knappen Zeit bewältigen?“, wagt sie einen zaghaften Vorstoß, um nicht sofort mit der Tür ins Haus zu fallen, dass dieser Kauf, wie so viele andere seiner glorreichen Einfälle, eine reine Fehlinvestition ist.
Die baufällige Hütte am oberen Ende des beginnenden Hangs lädt einzig dazu ein, sie von ihrem tristen Dasein endlich zu erlösen, die Betonplatten der einstigen Terrasse bröseln vor sich hin. An Wasser und Strom ist gar nicht erst zu denken. „Mailinchen. Ist das nicht ein atemberaubender Rückzugsort, um sich vom Alltagsstress zu erholen?“
Noch immer scheint Mirkos Euphorie ungebremst.
Allmählich steigt ihr die Röte ins Gesicht.
Will er verdammt noch mal nicht einsehen, dass dieses Stückchen Erde ihr noch mehr aufbürdet? Er kümmert sich am Ende wohl kaum darum. So schnell seine entzückenden Ideen seinem Gehirn entspringen, umso eiliger verfliegen diese ein jedes Mal, und Mailina ist stets die Dumme, die hinter ihm aufräumen muss.
Wenn sie nur an die teuer gekauften Fahrräder denkt, die nach nicht einmal vier Wochen lieblos in der hintersten Ecke ihres Kellerraums landeten. Oder an seine brillante Idee, als er ein riesiges Terrarium mit einem dazugehörigen ausgewachsenen Bartagamen-Pärchen mit nach Hause brachte. Nach nicht einmal einem Vierteljahr verließ ihn die Lust. Es dauerte eine Ewigkeit, die gesamte Packung entflohener Grillen wieder einzufangen, da er vergessen hatte, den Deckel der Plastikverpackung zu verschließen.
Noch Wochen später musste sie sich allabendlich in der gemeinsamen Wohnung ein nervtötendes Zirpkonzert anhören. Am Ende buckelte sie alles zurück in die Zoohandlung, die zum Glück so kulant gewesen war, ihr das dämliche Zeug wieder abzunehmen. Von Mirko erhielt sie nichts weiter als ein schulterzuckendes „okay“, als sie an jenem Abend ihrem Unmut freien Lauf ließ.
Mailina reicht es endgültig. Er scheint es einfach nicht zu begreifen.
„Wo, bitte schön, soll ich mich hier erholen? In der baufälligen Bude da hinten, beim Kugeln den Berg hinunter oder bei der Schinderei, hier irgendetwas halbwegs urbar zu machen? Mirko, ich hab genug mit meiner Meisterschule zu tun. Du weißt, ich will sie mit Bravur bestehen. Das bedeutet üben, üben, üben. Meinst du, da ist mir dieses dämliche Stück Acker dienlich? Aber woher willst du das auch wissen?! Wann hast du mich denn das letzte Mal gefragt, was ich möchte? Dein Leben besteht aus unnützer Zeitvergeudung mit deinem Freund Sören und einem planlosen In-den-Tag-Hineinleben ohne Ziel und Ehrgeiz“, brüllt sie ihn mittlerweile zornesentbrannt an.
„Dann eben nicht. Auf alle Fälle gehört es jetzt dir. Ich hab es auf deinen Namen schreiben lassen“, erhält sie in einem gleichgültigen Ton, was sie nur noch wütender macht, seine Antwort.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dreht Mirko sich um und steuert seinen orangemetallicfarbenen Nissan Micra am Fuß des Berges an. Tief ein- und ausatmend stapft Mailina hinter ihm her. Ihre Energie reicht nicht, sich noch weiter aufzuregen. Mittlerweile zeigt die Uhr zwanzig Minuten nach acht.
Vor vier Stunden drückte sie in Darmstadt noch die Schulbank und büffelte für den theoretischen Teil zur Ausbildung als Sattlermeisterin. Anschließend diese strapaziöse, gefühlt ewig andauernde Autofahrt – und nun das hier.
Vollkommen ausgelaugt sitzt sie stumm neben ihrem Freund im Auto, der im Schleichtempo Richtung des gemeinsamen Zuhauses in zehn Kilometer Entfernung fährt, und wartet darauf, dass sie den restlichen Samstagabend in einer heißen Wanne und mit einem leckeren Abendbrot ausklingen lassen kann.
‚Wie viele Wochen noch?‘, fragt sie sich, während ihr Blick gedankenverloren über die vorbeiziehende sommerliche Landschaft schweift.
Fünf, dann ist der Stress fürs Erste vorbei.
‚Das packe ich‘, motiviert sie sich in Gedanken selbst. Schließlich rückt ihr Traum, ein kleines Geschäft zu eröffnen, in dem sie die eigens handgefertigten Handtaschen, Koffer, Reisetaschen, Etuis oder Börsen anbieten kann, in greifbare Nähe.
Dennoch hat es sich Mailina nicht annähernd so stressig und nervenaufreibend ausgemalt. Montag bis Freitag geht sie ganz normal ihrer Tätigkeit in der Sattlerei nach. Nach Arbeitsschluss arbeitet sie hochkonzentriert an dem Meisterstück, einer Reisetasche, mit passender Handtasche und Geldbörse aus feinstem Hirschleder. Jede noch so kleine Naht, jeder Verschluss muss perfekt sein. Freitagnachmittag quält sie sich durch den dichten Verkehr Richtung Darmstadt, um Samstag für acht Stunden auf der Schulbank zu sitzen. Anschließend fährt sie erneut schnurstracks nach Hause, um dem eigenen Freund darzulegen, dass er wieder einmal über das Ziel hinausgeschossen ist.
Sie sehnt sich danach, dass diese Zeit endlich hinter ihr liegt. Die darauffolgende betriebswirtschaftliche Ausbildung und die Lehrmeisterausbildung hofft sie inständig, in Erfurt bei der Handwerkskammer absolvieren zu können, die in kaum einer Stunde Entfernung von der Wohnung liegt. Aber daran ist noch lange nicht zu denken.
Für einen winzigen Augenblick ergibt sie sich dem heraufbeschworenen Selbstmitleid. Bis sie plötzlich den wärmenden Sommerwind, der durch das geöffnete Autofenster hereinweht, an ihren Wangen spürt und sich selbst ermahnt, dass sie es genau so gewollt hat. Stück für Stück kehrt die verloren geglaubte Energie wieder in Mailinas müde Glieder zurück, und die Vorfreude auf eine erfrischende Dusche wächst ins Unermessliche.
Kaum dass Mirko die Wohnungstür geöffnet hat, zieht ein verführerischer Duft nach frischen Pilzen, gebratenem Fleisch und einem Hauch Minze in ihre Nase. Auf der Stelle tut es ihr leid, was sie dem Freund vorhin an den Kopf geknallt hat.
Aber wie um alles in der Welt konnte sie ahnen, dass er ausgerechnet an diesem Tag – nach Monaten! – den Fürsorglichen mimt. Zögerlich wendet sie sich ihm zu.
„Ich dachte, du hättest Hunger, wenn du aus Darmstadt kommst“, entgegnet Mirko emotionslos.
Gerade will sie ein „Sorry“ über die Lippen pressen, als er offenbart, dass er noch einmal fortgeht.
„Wann haben wir das letzte Mal einen gemeinsamen Abend verbracht?“
Aufgebracht, aber gleichzeitig auch eine Spur sehnsüchtig schaut sie ihn an.
„Keine Ahnung, heute wird es jedenfalls nichts. Das Essen steht auf dem Herd.“
Ohne jegliche Gefühlsregung schiebt er Mailina, die noch immer wie angewurzelt im Hausflur steht, durch die Wohnungstür und schließt diese von außen zu. Da steht sie verloren und allein in der Wohnung und fragt sich mit ihren fünfundzwanzig Jahren, ob so eine gute Beziehung aussieht?
Mirko ist ihr erster Freund.
Mit gerade einmal sechzehn lernte sie ihn kennen. Sie weiß bis jetzt nicht wirklich, wie eine „richtige“ Beziehung aussehen kann. Aber das hier fühlt sich schon seit Längerem alles andere als richtig an.
Der Appetit ist ihr gehörig vergangen, und nach einem ausgiebigen Bad steht ihr plötzlich ebenso wenig der Sinn.
Müde schleppt sie sich Richtung Bett und rollt sich völlig übermüdet unter die Bettdecke.
Blitzartig schreckt Mailina aus dem Schlaf auf. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, und die blendenden Strahlen scheinen ihr mitten ins Gesicht. Es dauert eine Weile, bis sie nach den wirren Traumbildern wieder halbwegs in die Wirklichkeit zurückfindet.
Die anfänglichen Zeiten mit Mirko schwebten vor ihrem inneren Auge. Sie lachten viel, waren glücklich und unzertrennlich.
‚Zu welchem Zeitpunkt gabelte sich der Weg, und wann schlugen wir die falsche Richtung ein? Ist es möglich zurückzugehen und einen anderen, den richtigen Pfad einzuschlagen?‘
Schlagartig erscheint ihr erneut jenes Bild vor Augen, welches sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Mirkos Antlitz prangt direkt über ihr. Jedoch sieht es irgendwie verzerrt aus. Seine braunen Augen starren ihr wie halb wahnsinnig wirkend entgegen, sein aschblondes, kurzes und dünnes Haar hängt strähnig in seine Stirn, und seine Hautfarbe wirkt seltsam gräulich wächsern. Hastig dreht sie sich zu Mirko um. Egal, was am Vortag alles geschehen war, in diesem Moment braucht sie jemanden, der ihr Geborgenheit schenkt, der sie in den Arm nimmt und ihr sagt, dass alles nur ein Trugbild war. Anders als erwartet, empfängt sie gähnende Leere auf der anderen Bettseite. Völlig unberührt liegt sein Bettzeug neben ihr. Ernüchternde Realität macht sich in Mailinas Kopf breit. Entweder schläft er auf der Couch, oder Mirko ist gar nicht nach Hause gekommen.
Langsam erhebt sie sich und schlurft ins Wohnzimmer, um der Tatsache ins Auge zu sehen, dass auf dem hellgrünen
Ecksofa nichts als ein paar ebenfalls grüne Kissen und die flauschige weiße Kuscheldecke liegen. Ein Meer aus Gefühlen stürmt auf sie ein. Das Blut kocht vor Wut, jedoch ist sie gleichzeitig von großer Sorge erfüllt, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Während Mailina noch mit sich ringt, welcher Emotion sie sich endgültig hingeben soll, hört sie, wie der Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt und aufgeschlossen wird. Erleichterung macht sich in ihr breit.
Dennoch fragt sie sich, woher um alles in der Welt er kommt und ob er sie tatsächlich in der eigenen Wohnung eingeschlossen hat?
Nun von Unmut erfüllt, stapft sie in den Flur.
Da steht er vor ihr mit einem riesigen Blumenstrauß und einem lammfrommen Lächeln. Und wieder hat Mirko es geschafft, ihren Zorn blitzartig verpuffen zu lassen.
„Sörens Computer machte ihm seit längerer Zeit Probleme, irgendwann in der Nacht hatte ich den verdammten Fehler gefunden. Dennoch war es mittlerweile so spät, und dann bin ich einfach auf seiner Couch eingepennt. Sicherlich hast du dir Sorgen gemacht, mein Spätzchen. Tut mir wirklich leid – auch wegen gestern. Ich hätte dich nicht so überrumpeln dürfen mit dem Grundstück.“
Mirkos Anblick ist wahrhaft mitleiderregend.
Besänftigt gibt sie ihm einen Kuss auf die Stirn und schlägt vor, alles zu vergessen und gemeinsam zu frühstücken.
Während er zufrieden grunzt, will ihr das sofortige
Verzeihen jedoch nicht so recht gelingen, und es bleibt trotz seiner Entschuldigung ein unangenehm mulmiges Gefühl in der Magengegend zurück. Hat er sie wirklich eingesperrt?
Denn ihr rostroter Wildlederrucksack, ihre erste eigene Arbeit, befindet sich mit dem Wohnungsschlüssel noch im Nissan. Sie hat ihn nach der Auseinandersetzung am gestrigen Abend einfach vergessen.
Während sie gemeinsam den Tisch decken, zwingt sie sich, den bitteren Gedanken wegzuschieben und redet sich ein, dass dies schlichtweg ein dummer Zufall gewesen sein muss, denn sie wollte sowieso nicht mehr fortgehen.
Die ausgiebige Dusche nach dem nach ihrem Empfinden etwas zu wortkargen Frühstück tut ausgesprochen gut, und sie beschließt dem, wie sie sich mittlerweile eingestehen muss, wirklich idyllisch gelegenen Fleckchen Erde, eine Chance zu geben. Eilig kämmt Mailina ihr hüftlanges, kastanienbraunes Haar, bindet es zu einem wilden Knoten und schlüpft in das dunkelgrüne Sommerkleid aus luftig leichter Viskose. Anschließend springt sie voller Elan in Mirkos Arme, um ihm vorzuschlagen, einen Ausflug zu ihrem Stück Land zu unternehmen. „Vielleicht kann es tatsächlich ein Rückzugsort für uns werden. Wenn wir gemeinsam Hand anlegen, können wir es schaffen. Ich packe noch etwas zum Picknicken ein, und dann fahren wir los. Was hältst du davon?“
Ihre freudigen Worte spiegeln sich auf seinem überraschten Antlitz. Irgendwie hofft sie tief in ihrem Inneren, dass dieser wildwuchernde Garten auch ein Neuanfang für die eigene verfahrene Situation sein könnte.
Aus unerklärlichen Gründen wächst die Vorfreude, je näher sie mit dem Auto diesem malerischen Winkel Erde kommen, und als sie das Ortseingangsschild des verschlafenen Dörfchens Günserode passieren, rutscht Mailina voller Ungeduld auf dem Beifahrersitz hin und her. Kaum kann sie es erwarten, aus dem metallicfarbenen Gefährt zu springen und mit den mitgebrachten Habseligkeiten den unwegsamen Anstieg mit den unzähligen dornigen Hagebuttensträuchern zu dem mitten im Nirgendwo liegenden Garten emporzusteigen. Mirkos mürrisches Brummen ignoriert sie absichtlich. Völlig außer Puste kommt sie an der halb verfallenen Hütte an, stellt hastig das Essen an einen schattigen Platz im Inneren und nimmt einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Nachfolgend bewaffnet sie sich mit einem bereits in die Jahre gekommenen Campingstuhl unterm Arm und platziert sich mitten auf der verwitterten Terrasse, um die reine Ruhe und Entspannung in sich aufzunehmen. Gierig saugt sie den Duft der reifenden Apfelbäume ein und lauscht dem Summen der Bienen in der wärmenden Sommersonne. Es dauert eine Weile, bis sie den nach Luft japsenden Mirko vernimmt.
„Wie schnell bist du denn hier hochgerannt?“, fragt er völlig außer Atem.
Verwundert öffnet sie die Augen.
„Wie langsam bist du denn hier hochgekrochen?“, konterte Mailina mit einem verschmitzten Lächeln.
„Nimm dir was zur Erfrischung, es steht in der Bruchbude, und dann setz dich zu mir. Es ist toll, diese Stille beinahe körperlich spüren zu können.“
Nach einer geschätzten Viertelstunde springt Mirko unverhofft neben ihr von seinem Stuhl auf, sodass er krachend nach hinten fällt.
„Tut mir leid, Schatz, aber ich habe ganz vergessen, dass ich noch einmal zu Sören muss.“
Und so schnell Mirko kann, befindet er sich schon auf dem Sprung Richtung Tal.
„Warte! Wie vergessen? Wie vergisst man so etwas von heute Morgen auf jetzt? Du kannst mich doch nicht allein lassen. Ich komme hier nicht wieder weg, bin ja ohne Auto wie gefangen. Außerdem dachte ich, der Tag gehört uns.“ Genervt rollt sie mit den Augen.
„Ich hol dich nachher wieder ab. Du hast doch alles hier. Essen und Trinken sind da, und ich habe dir ein Buch eingepackt, falls es dir langweilig wird. Genieß die freie Zeit und entspann dich von den letzten stressigen Wochen.“ Seine Worte klingen in ihr nach, und schon verschwindet Mirko hinter den stachligen Heckenrosen, die den Abstieg säumen. „Trotzdem bin ich allein, ohne dich“, flüstert sie kaum hörbar hinterher.
Es brodelte in ihr vor unbändiger Wut. Am liebsten hätte sie ihm irgendetwas hinterhergeworfen. Vielleicht das Buch, welches er eingepackt hat.
Plötzlich wird es Mailina bewusst, dass er bereits zu Hause geplant hatte, sie hier allein zurückzulassen, um sich mit seinem allerbesten Sören zu treffen. Aus welchem anderen Grund hätte er ihr sonst vorsorglich einen Roman einpacken sollen?
Da sitzt sie nun, allein. Ihr ganzer Körper bebt vor Anspannung, und es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ergibt sie sich diesem unbändigen Zorn auf Mirko und verdirbt sich den ganzen lieben Sonntag, oder sie genießt tatsächlich die freie Zeit an diesem verträumten Ort und verschiebt die Verbitterung auf später. Falls sie jemals wieder abgeholt werden würde.
Nachdenklich starrt sie in das vor ihr liegende Tal, in dem sich dieser schmale, kaum sichtbare Pfad, der von dicken, uralten Bäumen umsäumt ist, dahinschlängelt. Eine Träne kullert die Wangen entlang.
‚Nein, von diesem Idioten will ich mir meinen Tag nicht kaputtmachen lassen.‘
Allmählich beruhigt sie sich ein wenig, aber dieses beklemmende Gefühl in der Brust will trotz mehrmaligem tiefen Ein- und Ausatmen nicht ganz verschwinden. Es gelingt ihr nicht wirklich, sich abzulenken. Das Buch legt sie nach wenigen gelesenen Seiten neben sich, ohne dass sie auch nur ansatzweise nacherzählen könnte, wovon die Geschichte eigentlich handelt.
Eines wird ihr plötzlich ganz klar. Es muss eine Veränderung in ihrer Beziehung geben. Alles soll wieder so werden wie zu Beginn – oder alles soll enden.
Irgendwann schwingt sie sich aus dem alten, ausgeblichenen Campingstuhl und erkundet das Stück Land vor sich. Freudig entdeckt sie rechter Hand einen vollbehangenen Himbeerstrauch, den sie sofort ansteuert und dessen saftige und süße Beeren sie sich schmecken lässt. Einige Schritte weiter ins Tal wachsen Stachelbeersträucher und schwarze Johannisbeeren. Eine wahre Fundgrube, frohlockt sie. Schnell spurtet Mailina zurück zur Hütte, um für die saftigen Früchte eine Dose aus dem Picknickkorb zu holen.
Während sie sich anschließend an dem Johannisbeerstrauch zu schaffen macht, sichtet sie einen Schatten vor sich auf dem Weg. Neugierig hebt sie den Kopf und erblickt einen bereits in die Jahre gekommenen Herren. Sein Rücken ist gebeugt, wahrscheinlich durch lebenslange schwere Arbeit. Sein noch dichtes weißes Haar schillert glänzend in der Sonne. Freudig winkt er ihr zu und gibt ein Zeichen, dass sie zu ihm kommen möge. Warum nicht, denkt sie bei sich. Ein Gespräch tut immer gut.
„Na, mein Mädel. Dein Gesicht kenne ich aber nicht. Bist wohl neu hier?“, ruft er ihr schon aus einiger Entfernung zu.
„Stimmt“, lächelt sie freundlich zurück.
„Mit meinen achtundachtzig Jahren kenne ich jede Nasenspitze hier im Ort, und deine gehört zu niemand Bekanntem. Ach, dann hast du das verwilderte Grundstück hier gekauft? Eine Heidenarbeit hast du dir da aufgebürdet, mein Mädchen.“
Trotz seines Alters kommt der Alte mit seinem überaus wachen Blick in Gesprächslaune. Sie erfährt, dass er Franz heißt und auf dem Weg nach Düppel, einem kleinen abgelegenen Dörfchen, sei. Dass er seine kranke Schwester besuchen wolle, da ihr nichtsnutziger Mann nicht in der Lage sei, für sie zu sorgen. Er erzählt von der Ruine der Arnsburg, die sich ganz in der Nähe befindet und um die sich einige Legenden ranken. Mitten in seiner Ausführung über diesen geschichtsträchtigen Ort hält er plötzlich inne und schaut sie mit einem friedfertigen Lächeln aus seinem wettergegerbten Gesicht an.
„Kindchen, ich vertrödele hier meine Zeit. Meine Lydia wartet auf ihre Suppe. Mach‘s gut. Jetzt kenn ich deine Nase und hoffe, sie noch öfters zu sehen.“
Eilig gibt sie ihm noch ein paar der zuvor gepflückten Johannisbeeren mit auf den Weg und bedankt sich für die erfrischende Abwechslung an diesem Nachmittag.
Einige Zeit bleibt Mailina noch stehen, um dem netten Alten auf seiner Weiterreise nachzuschauen. Dann begibt sie sich zu dem herrlich, duftenden Apfelbaum, der über und über mit kleinen, noch unreifen Früchten behängt ist, um sich in seinem Schatten niederzulassen.
Irgendwann döst sie ein, und seltsame Traumbilder entstehen in ihrem Kopf. Sie reist in eine längst vergangene Zeit, viele Hundert Jahre zurück vor ihre Geburt. Sie findet sich in den Mauern einer mit Menschen belebten Burg wieder. Knappen, Mägde und bewaffnete Männer durchqueren ihre Gedanken. Tüchtige Bauern auf Feldern, die sich im hier im Wippertal befinden müssen, kann sie ausmachen. Mit einem Mal verschwimmen all diese Eindrücke längst vergangener Leben, und ein bewaffneter hünenhafter Mann tritt in den Vordergrund. Stolz sitzt er auf seinem riesigen fuchsfarbenen Streitross, sein schulterlanges hellblondes Haar ist zu einem ordentlichen Zopf gebunden, und in seinem Gesicht wächst ein mittelblonder, dennoch gepflegter Vollbart. Trotz dieses stattlichen Bartes verraten seine ausdrucksvollen, starken grünen Augen, dass er nicht älter als maximal zwanzig sein kann. In seinen markanten Gesichtszügen liest sie Stolz, Ehre, aber auch unendliche Wut. Während sie sich in ihrem Traum noch diesem wahrhaftig männlichen Anblick hingibt, sieht sie plötzlich dasselbe Gesicht über und über mit Blut bedeckt.
Erschrocken reißt Mailina die Augen auf und findet sich unter den schützenden Ästen des Apfelbaumes wieder. Es dauert einen Moment, bis sie sich gefasst hat, denn dieses eine letzte Bild will ihr nicht mehr aus den Gedanken weichen.
Um sich irgendwie von diesen furchterfüllten, toten Augen abzulenken, greift sie nach einem abgebrochenen Ast, der vor ihren Füßen liegt, und scharrt neben sich eine immer tiefer werdende Kuhle in den Boden. Nach einer Weile ist sie schon gut zwanzig Zentimeter tief gekommen, als sie unerwartet auf etwas Hartes stößt. Ein Stein?
Der Ehrgeiz packt sie, und sie fährt fort, immer tiefer zu graben. Es dauert nicht lange, bis sie voller Erstaunen feststellt, dass es sich nicht um einen Stein, sondern um etwas Metallisches handeln muss. Voller Elan und magisch von diesem Objekt angezogen, kratzt und schabt Mailina die Erde beiseite, bis sie erkennt, dass es sich um eine Art etwa fünfzehn Zentimeter langes Rohr handelt, welches auf der schmaleren Seite sieben oder acht Zentimeter im Durchmesser misst und konisch zuläuft. Da sie es nun schon über die Hälfte mit dem Stock aus der Erde befreit hat, legt sie das Werkzeug beiseite und will es mit den Händen ans Tageslicht ziehen. Vorsichtig berührt sie dieses ungewöhnlich aussehende, vollkommen schwarz oxidierte Stück Metall.
Kaum dass Mailina es berührt, zuckt sie erschrocken zurück und starrt völlig perplex auf den Gegenstand. Was um alles in der Welt war das? Mit der Berührung durchströmten sie Tausende von Emotionen gleichzeitig, Wut, Verzweiflung, Angst, Sehnsucht, Liebe. Schwer atmend und mit zittrigen Händen kniet die junge Frau vor diesem Ding und starrt es ungläubig an. Gleichzeitig spürt sie körperlich, wie eine unbändige Kraft davon auszugehen scheint und sich der Gedanke in ihrem Kopf festsetzt, dass sie es aus dem Erdreich befreien muss. Da sie noch immer die Angst beherrscht, es erneut zu berühren, nimmt sie wieder das Holz zu Hilfe. Nach einer Weile hat sie es so weit aus den Erdmassen befreit, dass sie vorsichtig den Stock in die Öffnung des Rohres steckt und es heraushebt. Augenblicklich bemerkt Mailina, dass das metallene Etwas an der unteren Seite geöffnet ist. Es erinnert sie stark an einen Armreif.
Vorsichtig legt sie es vor sich hin, um es genauer zu betrachten. Neugier erfasst sie, und der Drang, diese Spange zu berühren, wird unerträglich. Noch immer von einer unbeschreiblichen Furcht ergriffen, nimmt sie den Gegenstand zögerlich zwischen ihre Finger. Erneut durchströmen sie diese geballten Emotionen, ihre Atmung geht schwer, doch diesmal war sie darauf vorbereitet und kann sich jenen stellen. Sanft streicht sie über die verschmutzte oxidierte Oberfläche und bemerkt verschiedene Einkerbungen, vielleicht Muster, und sie überkommt das seltsame Gefühl, dass dieser Armschmuck nur darauf gewartet hat, dass genau sie ihn findet. Weshalb, kann sie sich allerdings nicht erklären.
Västergötland, Beginn elftes Jahrhundert
Thure betrat den Vorraum des Pelzlagers seines Vaters Arnulf Arnulfson, ein über die Grenzen hinaus bekannter Fellhändler, der es wie kein Zweiter verstand, gewöhnliche Rohfelle in wertvollste Pelze verarbeiten zu lassen.
Das Warenlager befand sich an der nördlichen Giebelseite des vierzig Schritt messenden Langhauses des Familienoberhauptes und war durch eine separate Eingangstür erreichbar. Das von der Grundform schiffsförmig erbaute Haus selbst unterteilte sich in jenes Pelzlager, den Wohnbereich in der Mitte, welcher den größten Raum einnahm, und einen Stall für die Pferde und zwei Schweine an der südlichen Giebelseite. Seit dem Tod der Mutter hasste Thure dieses Haus. Einst war es ein Hort der Güte und Liebe gewesen. Nun herrschte dort ein von Trauer und Hass zerfressener Arnulf Arnulfson, der seine eigene Verbitterung täglich an seinem jüngsten Sohn und seiner neuen Frau ausließ.
Die Mittagssonne des bereits begonnenen Septembers schien kraftvoll durch die halb geöffnete Eingangstür und ließ die am Morgen eingetroffenen Tierhäute vor sich hin stinken. Die frisch abgezogenen Felle mussten schleunigst aus der sengenden Hitze, begutachtet, nach Ungeziefer und unterschiedlicher Qualität geprüft werden, bevor man sie weiterverarbeiten konnte. Eigentlich gehörte das zu den Aufgaben seines älteren Bruders Leif, der irgendwann die Geschäfte des großen Arnulfson übernehmen sollte.
Allerdings bezweifelte der Jüngere, dass er diese Tätigkeit bereits erledigt hatte. Leif kämpfte täglich mit seinen eigenen Dämonen und hatte für die Belange des Vaters wenig übrig.
Thure hingegen wünschte sich insgeheim noch immer, dass sein Vater ihn ebenfalls eines Tages in die Geheimnisse des Pelzzurichtens einweihen würde. Jener Wunsch zerschlug sich jedoch jedes Mal, wenn er seinem Erzeuger gegenüberstand. Arnulf schenkte dem Letztgeborenen nichts weiter als Verachtung und Missbilligung, da er ihm die Schuld am Tod seiner über alles geliebten Frau gab. Doch konnte man wirklich einen vierjährigen Buben dafür verantwortlich machen, dass er ins Eis einbrach und seine Mutter, nachdem sie ihn gerettet hatte, an einer schweren Lungenentzündung erkrankte und starb? Thure hatte diese bitteren Vorwürfe mittlerweile so oft gehört, dass sich die angebliche Missetat wie eine stählerne Kette um sein Herz gelegt hatte und er selbst an die Vorwürfe glaubte. Er hasste sich dafür, dass er ins Eis eingebrochen war und somit das Leben seiner einst glücklichen Familie zerstört hatte.
Bei Thures Geburt stellte sich alles noch ganz anders dar. In jener Nacht seiner Niederkunft erschien ein glühender Feuerschweif am Himmel.
„Ein Zeichen des Donnergottes selbst, der meinen kräftigen Burschen in der irdischen Welt willkommen heißt“, meinte sein Vater und nannte ihn zu dessen Ehren Thure.
Aber mit dem tragischen Tod seiner Frau verfluchte Arnulf seine heidnischen Götter, und der christliche Priester, der sich in der Gemeinde niedergelassen hatte, flüsterte dem trauernden, verzweifelten Mann ins Ohr, dass sein eigener Junge das Böse in sich trug und bereits am Tag seiner Geburt der Christengott die Menschen durch den Feuersturm am Himmel vor ihm warnen wollte. Den Tod der Mutter hatte er bereits zu verantworten.
Zu jener Zeit verstand Thure die Dinge, die der Schwarzkittel verbreitete, noch nicht, und später schenkte er diesem Geschwätz wenig Beachtung, waren für ihn die heidnischen Bräuche und der Glaube an Odin, Thor und Freya reeller als die Einflüsterungen dieses Lügen verbreitenden Christenmenschen. Arnulfson empfand das als eine weitere unverfrorene Auflehnung seines eigenen Fleisch und Blutes.
So entsagte der Pelzhändler jeglicher Verbundenheit mit dem Sohn und behandelte ihn wie einen streunenden Köter, den er gezwungenermaßen im eigenen Heim schlafen lassen musste. Tagsüber trieb sich Thure einsam in den Gassen herum, da selbst sein vier Jahre älterer, aber charakterlich labiler Bruder Leif sich von ihm abwandte.
Zu jener Zeit nahm sich Sven, der bärige Schmied, des hilflosen Kleinen an. Er bemühte sich, dem Burschen zu vermitteln, was Recht und Ordnung ist, und erzählte ihm von den alten Göttern und von deren Heldentaten. Besonders gern berichtete er von Skadi, der Göttin der Jagd, nach welcher ihre Ansiedlung Skadevi benannt war, und lehrte Thure den Umgang mit dem Schwert, der Streitaxt, wie man reitet und was einen ehrbaren Krieger ausmacht. Ein jedes Mal stahl sich ein winziges Lächeln in das Gesicht des Schmiedes, wenn er sah, mit welcher Willenskraft und welchem Ehrgeiz der Bursche an seine Aufgaben heranging. Der wortkarge Hüne schloss den ehrbaren, rechtschaffenden Kerl in sein Herz. Denn er fand, kein Kind verdiente es, die Last des Unvermögens des eigenen Vaters zu tragen.
Noch immer stand Thure gedankenversunken im Vorraum des Pelzlagers. Wie so oft gingen ihm die Worte des geschätzten Schmiedes durch den Kopf.
‚Thure. Hör auf, einem blinden Narren hinterherzurennen.
Der Tod deiner Mutter war und bleibt eine Tragödie.
Niemand trägt dafür die Verantwortung. Die Nornen spinnen ihr Netz, und daran gibt es nichts zu rütteln. Zu spät wird euer Vater erkennen, was er seinem eigenen Fleisch und Blut angetan hat. Aus dem einen macht er einen Mörder und aus dem anderen einen Helden.‘
Langsam wanderte Thures Blick durch das Lager, und er erkannte, dass sein Bruder wieder einmal nicht einen Finger gerührt hatte. Genau wie am Morgen eingetroffen, lagen die frisch abgezogenen Tierhäute von Fuchs, Hermelin, einigen Eichhörnchen und einem Rentier wild durcheinander auf dem hölzernen Tisch des Vorraumes. Es roch nach geronnenem Blut, verdorbenem Fleisch vermischt mit den Gerüchen bereits fertig gegerbter Pelze aus dem hinteren Teil des Lagers. Die Luft stand in dem engen Raum, und es wimmelte von Fliegen. Thure atmete zweimal tief durch, scheuchte die unzähligen Aasfliegen fort und begann konzentriert mit der Arbeit. Da ihm niemand zeigen wollte, wie man mit den Tierhäuten richtig verfährt, hatte er sich stets heimlich hinzu geschlichen und die anderen beobachtet. Wissbegierig sog er alles auf, was man über die Handhabung, Herstellung und den Handel mit Pelzen wissen musste. Wie die Rohfelle geweicht und entfleischt wurden, um diese anschließend erneut zu waschen, zuzurichten, zu fetten und zu trocknen. Damit die Felle daran anschließend geläutert, gestreckt wurden und zum Ende das Haarkleid sorgsam gekämmt werden konnte. Eines Tages vielleicht, so hoffte Thure, würde sein Vater erkennen, dass er doch nicht so ein übler Kerl sei, und ihn wie seinen Ältesten in die Zunft einweihen.
Die Hälfte der Tierhäute hatte er bereits genau inspiziert, als er ein leises Stöhnen vernahm. Urplötzlich wusste Thure, aus welcher Ecke des Raumes das Geräusch kam. Seufzend ließ er von dem Hermelinfell ab und begab sich hinter den langgezogenen Tisch voller Schneehasenpelze. Leif saß volltrunken an die Wand gelehnt, der leere Metkrug lag neben seinem rechten Bein, und es stank säuerlich nach Erbrochenen. Langsam hob der Bruder seinen schweren Kopf und starrte mit trüben Augen in seine Richtung.
„Sie gehen nicht weg“, flüsterte Leif ihm lallend zu. „Thure, egal, was ich tue. Sie verschwinden nicht aus meinem Kopf“, schob er schluchzend hinterher.
Stumm nahm der Jüngere ein Leinentuch von dem schweren Holztisch und wischte Leif notdürftig das Erbrochene aus dessen Bart und von der besudelten Tunika.
„Schlaf deinen Rausch aus. Ich werde Vater nichts sagen“, sprach er zu Leif und fügte kaum wahrnehmbar hinzu: „Wieder einmal.“
Sein Gegenüber nickte kurz und sank dann erneut in seinen Rauschschlaf. Schwerfällig erhob sich der junge Mann, strich seinem Bruder kurz über das strubblige feuerrote Haar und ging traurig wieder seiner Arbeit nach.
Das Verhältnis zwischen den beiden bestand von klein auf vor allem aus Distanziertheit. Leif war ein eher schmächtiger Bursche, mit zu wenig Selbstvertrauen und nie einer eigenen Meinung, was sich nach dem Tod der Mutter nur noch verstärkte. Thure hingegen war ein echter Haudegen, mit festem Standpunkt und einem unerschütterlichen Sinn für Ehrlichkeit. Dennoch waren sie Geschwister, und der Bruder benötigte Thures Hilfe. Der älteste Sohn musste vor dem eigenen Vater geschützt werden.
Leif war nicht für den Kampf geboren, aber Arnulf Arnulfson hatte das nie sehen wollen.
Als wäre es gerade erst geschehen, erinnerte sich Thure, wie stolz sein alter Herr drei Jahre zuvor durchs Dorf marschiert war und triumphiert hatte, dass sein Ältester mit ihm gemeinsam Seite an Seite mit Olof Skötkonung in die Schlacht gegen die Dänen ziehen werde.
Allesamt kehrten sie als gefeierte Helden von der legendären Seeschlacht von Svold zurück.
„Gefeiert ja, aber manch einer hat seine Seele, seinen inneren Frieden auf dem Schlachtfeld gelassen“, murmelte Thure in die Stille des Lagers.
Hätte sein Vater doch ihn mitgenommen und nicht Leif, denn seine Seele war stark. Thor gab ihm die Kraft, die er benötigte, denn die seltsame Erscheinung in der Nacht seiner Geburt war das Wohlwollen des Donnergottes. So erzählte es ihm seine Mutter stets, als sie noch am Leben war. Leif hingegen war an den Grausamkeiten zerbrochen, die Gesichter der Toten verfolgten ihn stündlich, und von Tag zu Tag verschlimmerte sich sein Zustand. Doch der Pelzhändler sah es nicht und durfte es auch nicht sehen. Jener feierte den Ältesten weiterhin als den Berserker der Schlacht von Svold, der, der Hunderte von Dänen mit seiner Streitaxt niedergemetzelt hatte.
Gerade hatte Thure die letzte Haut vom Fleisch befreit, da hörte er die tieftönende Stimme seines Vaters. Noch schien er in einiger Entfernung zum Langhaus zu sein, aber das laute Gebrüll von Leifs Namen vernahm man bereits deutlich.
Schnell säuberte Thure den Arbeitsplatz und trat aus dem Lager. Keine Sekunde später stand Arnulf Arnulfson vor ihm, eine respekteinflößende Naturgewalt. Hochgewachsen, mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen. Auf seiner linken Wange klaffte eine riesige Narbe, die er sich einst beim Kampf mit einem Braunbären zugezogen hatte, der den Zweikampf mit dem furchteinflößenden Krieger allerdings verloren hatte und dessen abgezogenes Fell nun als Bettvorleger seines einstigen Gegners diente. Das bereits mit einigen grauen Strähnen durchzogene rotblonde Haar von Arnulfson war wild zerzaust, und seine grauen, undurchdringlichen Augen sprühten vor Zorn.
„Was machst du in meinem Lager? Meine wertvolle Habe vernichten, steht dir danach der Sinn? Hast du Leif gesehen?
Mit Sicherheit liegen die Felle noch genauso da, wie sie am Morgen angekommen sind!?“
Innerlich brodelte es in Thure. Äußerlich vollkommen entspannt, entgegnete er ruhig und dennoch mit einer Spur Hohn in der Stimme:
„Leif ist nicht hier. Du weißt doch, er meidet meine Gegenwart genau wie du. Nicht dass euch noch mein böser Blick trifft. Seine Arbeit scheint er jedoch verrichtet zu haben.
Such ihn im Bett eines der willigen Weiber.“
Dafür fing er sich eine gehörige Ohrfeige ein, worauf der junge Mann gleichwohl spekuliert hatte, denn gleichzeitig lenkte es sein Gegenüber davon ab, weiter nach Leif zu Ausschau zu halten.
Ohne seinen Jüngsten noch eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte Arnulfson an ihm vorbei und begutachtete die verrichte Arbeit.
„Gut gemacht, Leif“, brummte der Pelzzurichter, warf sich die Felle über die Schulter, um sie als Nächstes einzuweichen.
Thure konnte sich ein Grinsen ob des ungewollten Lobs des Vaters nicht verkneifen und machte sich auf den Weg zu Sven, dessen Schmiede etwas abseits der Ansiedlung Skadevi, ganz in der Nähe des Ufers des Säveån, lag.
Mit einem kräftigen Hieb ließ der große, stämmige Mann den schweren Schmiedehammer auf die zu bearbeitende Schwertklinge fallen, steckte diese anschließend wieder in die Glut des lodernden Feuers, um als Nächstes erneut den schweren Hammer auf das glühende Metall schwingen zu können. Während er konzentriert seiner Tätigkeit nachging, vernahm er trotzallem das Herannahen seines eigens ernannten Ziehsohnes. Mit einem Kopfnicken winkte er Thure zu dem auf der Arbeitsbank stehenden Krug mit Met und zeigte stumm an, dass dieser für beide jeweils einen Becher füllen sollte. Nachdem er dem bereits in die Jahre gekommenen, aber immer noch bärenstarken Schmied das Tongefäß mit Met gereicht hatte, richtete dieser in seiner stets besonnenen Art das Wort an den jungen Mann:
„Trink, mein Bursche, und beruhige dich. Arnulfson, he?“ Mit rollenden Augen nickte Thure ihm zu.
„Gräm dich nicht. Er ist ein Narr“, war das Einzige, was der Schmied darauf antwortete, gleichwohl fühlte sich der junge Arnulfson seltsam getröstet.
Sein inneres Verlangen, dem eigenen Vater etwas anzutun, verpuffte von einem aufs andere Mal.
Jegliche Gefühle – und wenn sie nur aus Zorn bestehen – sind zu schade, um sie an diesen verbitterten Kerl zu verschwenden, ermahnte ihn der alte Smedson nur allzu oft.
„Wie weit bist du mit deiner Armspange?“, erkundigte sich Sven weiter.
Thure ging an die Werkbank zu seiner Linken und holte die hölzerne Kiste hervor, in der der Armreif verstaut lag.
„Nur noch eine Rune, dann bin ich fertig. Willst du ihn sehen?“, fragte er seinen alten Freund neugierig.
„Zeig ihn mir, wenn er fertig.“
Schon wandte sich einstige Krieger wieder seiner Arbeit zu.
Thure betrachtete die etwa eineinhalb Hand breite, konisch zu laufende silberne Klemme, die für seinen rechten Unterarm gedacht war.
Mit der kurzen Anmerkung: „Mach was draus“, hatte vor nicht einmal drei Mondphasen der hünenhafte Smedson Thure eine aus Silber bestehende Metallplatte überreicht.
Vollkommen überrascht hatte der junge Mann fassungslos dieses wertvolle Geschenk betrachtet. Bis auf das Schlachtrossfohlen zu seiner Geburt, aber daran konnte sich Thure keinesfalls erinnern, war ihm kein Tag in den Sinn gekommen, an dem er jemals so etwas Kostbares erhalten hatte. Außer sich vor Freude schloss er seinen Gönner kurzerhand in seine Arme. Verlegen klopfte jener dem übereifrigen Burschen auf die Schulter und schob ihn sanft wieder von sich. Mit derartigen Gefühlsausbrüchen konnte der zurückhaltende Sven schwerlich umgehen. Ein winziges verstohlenes Lächeln erschien trotzdem auf seinen wulstigen Lippen. Der junge Arnulfson entschied sich, aus der rohen Platte eine Armspange herzustellen, auf der er den erschienenen Feuerschweif am Tag seiner Geburt darstellen wollte, und natürlich die acht Runenzeichen seines Schicksals, welche der Völva, der Seherin von Skadevi, am Tag seiner Geburt von den Nornen während einer rituellen Zeremonie prophezeit worden waren. Solange sich Thure erinnern konnte, zeichnete seine Mutter für ihn immer und immer wieder diese magischen Runen in den Erdboden, begleitet von ihrer sanftmütigen Stimme:
„Vergiss nie diese Zeichen, mein stolzer Sohn. Denn sie bergen dein Schicksal in sich. Halte sie fest in deinen Gedanken.“
Dies hatte der nunmehr junge Mann auch getan. Nach ihrem Tod begann er, die Runen immer und immer wieder in den Erdboden zu malen. So hielt er die Erinnerung an die Mutter in seinen Gedanken fest. Eine Frau, für die es nichts Wichtigeres in ihrem Leben gegeben hatte als die Liebe zu ihren Kindern, zu ihrem geliebten Mann und die bedingungslose Hingabe an ihre Götter.
Nachdem Thure nach einer ganzen Zeit sorgsam mit einem spitzen Metallstift die letzte, die Othala-Rune in die silberne Klemme geritzt hatte, betrachtete er stolz sein kunstvolles Werk. Allzu gern hätte er gewusst, was diese magischen Zeichen über sein Schicksalsnetz, das die Nornen für ihn geknüpft hatten, verrieten. Jedoch nur die Seherin allein besaß diese Gabe, doch deren Lippen waren versiegelt, denn die Prüfungen des Lebens sollten sich in jenen Momenten offenbaren, in denen sie geschehen.
In sich gekehrt strich der junge Arnulfson ein letztes Mal mit seinen Fingern über den dargestellten Feuerschweif, Thors Zeichen, dann sprang er unverrichteter Dinge auf und hielt dem Schmied wortlos sein vollendetes Werk hin.
Mit einem zufriedenen Nicken und einem kräftigen Hieb auf die Schulter seines Schützlings bestätigte er seine Anerkennung ob dieser gelungenen Arbeit.
„Eines Kriegers würdig. Leg ihn an“, forderte er Thure auf. Der junge Arnulfson tat wie ihm geheißen. Das Schmuckstück passte wie angegossen. Ein paar Mal drehte und wendete Thure den rechten Unterarm, während er seine Arbeit musterte.
„Wie gern wäre ich ein achtbarer Krieger“, seufzte er in sich hinein und war drauf und dran, die Armklemme wieder abzulegen.
Im letzten Augenblick zog der alte Schmied Thures Hand grob zurück.
„Hör mir gut zu“, erhob der alte Sven mit grimmig funkelnden Augen ernst seine Stimme.
„Das bist du bereits, und das wirst du immer sein. Du bist ein ehrbarer Kerl, mit einem unbändigen Drang nach Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, dass du sogar dein Leben dafür lassen würdest. Ich kenne nur wenige Männer, die diese Eigenschaften in sich vereinen. Das ist es, was einen Krieger ausmacht, nicht allein das Schlachtfeld. Sieh, was aus deinem Bruder wurde. Eines Tages wird dein Kampf kommen, und vielleicht wirst du ihn verlieren. Dennoch trittst du als ein ehrbarer Mann durch die Pforte nach Walhalla.“ Verlegen wendete Thure den Blick von seinem Gegenüber. Plötzlich lachte der Riese mit seinem dunklen, zotteligen Vollbart auf.
„Bescheidenheit, noch eine gute Eigenschaft“, und boxte mit seiner riesigen, schwieligen Faust aufmunternd gegen den Oberarm des Burschen.
„Ach, übrigens. Swenja war vorhin hier“.
Ohne Umschweife erhob Thure den Blick.
„Und?“, fragte er in erwartungsvoller Neugier.
Erneut musste der Schmied herzhaft in seinen zerzausten Bart lachen.
„Wunden Punkt getroffen, he? Du warst so in deine Arbeit vertieft, da wollte sie nicht stören, aber ich soll dir sagen, sie wartet auf dich. Du wüsstest, wo.“
So schnell Thure konnte, nahm er seine Beine in die Hand und spurtete aus der Schmiede Richtung Fluss, zu ihrem üblichen Treffpunkt. Noch in der Ferne konnte er das schallende Gelächter von Sven Smedson hören. Er war glücklich, dass seine Tochter, sein einziges Kind, sich diesen ehrenhaften Kerl ausgesucht hatte.