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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-7397-3

Inhalt

Es gibt nur zwei Dinge zu tun — das Notwendige und das Unmögliche.

Ibn ’Arabi

Einleitung
Magie in der Gruppe. Der Bonner Arbeitskreis Experimentalmagie

Magier wollten wir sein, Zauberer werden. Und einigen von uns scheint es sogar gelungen zu sein. Vielleicht auch allen? Wir wissen es nicht genau, stehen nur noch teilweise in Kontakt miteinander. Vier von denen, die es tun, haben das vorliegende Buch gestaltet.

Ende des Jahres 1979 kamen in der kurz zuvor eröffneten Bonner Horus-Buchhandlung ein gutes Dutzend Menschen zusammen, die sich bei allen Unterschieden, was Herkunft und Biografie, Lebenserfahrung und Weltanschauung anging, in einem Punkt einig waren: Sie interessierten sich für die Experimentalmagie und wollten den Versuch wagen, dieser gemeinsam praktisch wie theoretisch nachzugehen.

Vom Alter her waren sie zwischen Mitte 20 und Anfang 30, das Verhältnis Männer zu Frauen war fast ausgewogen. In der Mehrzahl waren sie Studenten, allerdings verteilt auf die unterschiedlichsten Fächer: Ägyptologie, Anglistik, Ballett, Biologie, Germanistik, Indologie, Literaturwissenschaft, Medizin, Physik, Soziologie und Vergleichende Religionswissenschaft. Hinzu kamen drei Teilnehmer aus krankenpflegerischen Berufen, darunter eine Koreanerin und ihr deutscher Ehemann. Ein Teilnehmer arbeitete gerade an seinem Magister-Abschluss und betrieb parallel dazu als Geschäftsführer die erwähnte Buchhandlung, darf also zugleich als Buchhändler gezählt werden, ebenso seine beiden noch im Studium befindlichen Kompagnons, die gleichfalls den Arbeitskreis mitbegründeten.

Die Gruppe setzte sich zusammen aus zwei Ehepaaren (ein weiteres Paar sollte kurz nach der Gründung ebenfalls heiraten), aus Mitgliedern, die schon länger miteinander befreundet waren, aus Lebenspartnern und Singles. Alle trafen sie in dieser Gesamtzusammensetzung zum ersten Mal aufeinander.

Auch der magische Hintergrund der Beteiligten hätte unterschiedlicher nicht sein können. Vom blutigen Anfänger bis zum erfahrenen Bardonianer, von der Expertin für magisches Kräuterwissen und Mythologie über die akademische Tantrismus-Forscherin, den Wicca-Kenner und den Sigillenmagier, den Runen-Vitki und den Kundalini-Yoga-Adepten verteilte sich der Erfahrungsschatz und das Wissen der Gruppe, jeweils bezogen auf einzelne oder mehrere Mitglieder, auf solch unterschiedliche Gebiete wie Runenmagie, die neuhermetische Golden-Dawn-Tradition, Astrologie, Radiästhesie, Naturmagie, altägyptisches Heka, Talismantik, kabbalistische Magie, freimaurerische Symbolik, Telepathie und Parawissenschaften, mittelalterliche Alchemie, Sufismus, afro-karibische Besessenheitskulte, östliche Weisheitslehren von der vedantischen, meist etwas irreführend als „Hinduismus" bezeichneten Religion über den Buddhismus bis zur Yoga-Philosophie, Mantramistik, westliche magische Bünde und Orden, Sexualmagie, die Tradition des deutschen Okkultismus der Zwischenkriegszeit sowie zahlreiche weitere Themen.

Zweifellos war vieles davon zunächst kaum mehr als angelesenes Halbwissen, doch genau darum ging es ja auch: diese vielfältigen Impulse aufzugreifen und in praktische Erfahrung zu überführen. Insgesamt war der Grad der magischen Belesenheit jedenfalls überdurchschnittlich hoch. Hinzu kam ein nicht zu unterschätzender Fundus reicher praktischer, unterschiedlichster Erfahrung einzelner Mitglieder, von dem schließlich alle gemeinsam profitieren sollten. Zudem sollte sich die anstehende magische Arbeit und praktische Fortbildung der meisten Teilnehmer nicht allein auf die Gruppentreffen beschränken. So wurde zuhause in Eigenregie oft weitergearbeitet, um die anderen bei den Treffen an den gemachten Erfahrungen, den gewonnenen Erkenntnissen und den sich daraus entwickelnden Fragestellungen teilhaben zu lassen.

Doch zurück zur Gründungsphase. Nach einer ausgiebigen Diskussion darüber, wie Magie überhaupt und die Experimentalmagie im Besonderen zu definieren sei, einigte man sich auf regelmäßige Treffen sowie auf ein Grundkonzept des weiteren Vorgehens. Dabei orientierten wir uns primär an angelsächsischen, überwiegend britischen Magie-Autoren wie Crowley, Spare, Regardie, Dion Fortune, Butler, Conway, King, Grant und anderen. Das war vor allem der Tatsache geschuldet, dass diese sich zum großen Teil durch ihren eher locker ausgestalteten Pragmatismus und ihre stringent an der praktischen Erfahrung orientierte Didaktik ausgesprochen angenehm von dem überwiegend autoritär-dogmatischen, präskriptiven Duktus deutscher wie französischer und anderer romanischer Autoren unterschieden.

Eine elitäre Hierarchie war nicht vorgesehen, es gab keinen Anführer, keine Hohepriesterin, keine Chefideologen der Gruppe, alle Entscheidungen wurden im demokratischen Konsens getroffen. Weder entstand eine formelle Vereinsstruktur noch erhob man Mitgliedsbeiträge und es wurden auch keine Mitgliederlisten geführt. Damit war der Bonner Arbeitskreis Experimentalmagie entstanden.

Das Siebengebirge, rechtsrheinisch südlich von Bonn gelegen, wird oft und gern als magische Gegend bezeichnet. Mythen und Sagen durchdringen und umranken das Gebiet schon seit Urzeiten. Am bekanntesten dürfte der Drachenfels sein, wo Siegfried einst den Lindwurm erlegt haben soll. Doch finden sich hier auch Überreste keltischer Fliehburgen, natürliche wie künstliche Höhlen, und spätestens seit der Rheinromantik gilt die waldreiche Region gemeinhin als verwunschen. Vom Gipfel des Drachenfelses aus blickt man hinab auf den mächtigen Strom, der sich durchs Rheintal windet und die beiden Inseln Grafenwerth und Nonnenwerth umspült. Bei klarem Wetter ist der ferne Kölner Dom deutlich zu erkennen, sieht man, wie sich dicht hinter dem westlichen Ufer und der auf einem alten Odinheiligtum situierten Godesburg die Eifel erstreckt, ein weitläufiges hügeliges Waldgebiet, selbst von Legenden, Kultorten und magischer Folklore durchsetzt, das bis ins Belgische hineinreicht.

Unweit von hier wurde einige Jahre später in einem erloschenen Vulkankrater der Magische Pakt der Illuminaten von Thanateros (IOT) gegründet, eine organisatorische Weiterentwicklung des bis dahin nur virtuell existierenden britischen Ordens Illuminates of Thanateros (IOT), trat die Chaosmagie endgültig ihren weltweiten Siegeszug an.

Jedoch waren es in erster Linie praktische Erwägungen, weshalb wir diese Gegend zu unserer Hauptoperationsbasis machten. Wir hatten Zugang zu einer künstlich in den Fels getriebenen ausgedehnten Höhle, Teil eines unterirdischen Systems, das in Kriegszeiten als Munitionsfabrik diente. Nach kurzem Marsch durch eine Art Vorhalle bestiegen wir eine geräumige Plattform, wo wir, von außen unbemerkt, ungestört arbeiten konnten. Hier fand ein großer Teil unserer rituellen Tätigkeiten statt. Allerdings nicht ausschließlich: Auch im linksrheinischen Kottenforst wurde gelegentlich gearbeitet sowie bei dem einen oder anderen Teilnehmer zu Hause.

Wir veranstalteten Pan-Anrufungen, Planetenrituale, weihten Amulette und Talismane, arbeiteten unter Anleitung eines afrikanischen Fetischpriesters, den wir eigens dazu eingeladen hatten, erkundeten die Elementmagie und Techniken des Wicca, versuchten uns an Rückführungen und Orakelschau, erforschten die Gesetzmäßigkeiten der Astromagie, analysierten Horoskope, praktizierten umfangreiche Trancearbeit, experimentierten mit Pendeln und Wünschelruten und gaben auch der Erfolgsmagie viel Spielraum. An einem Wochenende im Westerwald widmeten wir uns allein der Runenmagie.

Nicht immer waren alle Mitglieder anwesend, oft wurde auch in kleineren Gruppen zu Hause praktiziert. Zwei unserer Autoren führten beispielsweise abseits des größeren Zirkels regelmäßig ausgiebige Hypnoseexperimente miteinander durch. Drei von ihnen trafen sich an einem Heiligabend zu einer Evokation nach dem Necronomicon, wohl wissend um die völlig fiktive Natur dieses einst von H. P. Lovecraft erfundenen Werks, von dem damals gleich drei voneinander gänzlich verschiedene Versionen am Markt kursierten.

Tatsächlich stellten diese Arbeiten abseits der eigentlichen Gruppe, aber stets unter Einbindung zumindest einiger ihrer Teilnehmer, für manche bisweilen den eigentlich impulsgebenden Teil dar.

Dabei brachte jeder ein, womit er aus seiner eigenen Praxis vertraut war, was ihn gerade besonders interessierte oder was er erst kürzlich entdeckt hatte. Kleinster gemeinsamer Nenner war dabei die Tradition der Golden Dawn. So begannen und endeten die Rituale in der Regel mit dem Kleinen Bannenden Pentagrammritual und einer abschließenden Entlassungsformel. Meist stand nach den magischen Operationen eine ausgiebige Manöverkritik an, manchmal allerdings auch erst beim Folgetreffen. Ohnehin spielte die permanente kritische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Tun eine sehr große Rolle.

Das galt auch für die theoretische Befassung mit der Magie. Wir diskutierten die unterschiedlichsten magischen Autoren, Schulen und Lehrgebäude, beschäftigten uns mit östlichen und westlichen Geheimlehren aller Art, legten die gängigsten Erklärungsmodelle auf die Goldwaage, brachten dabei eigene Beobachtungen und Fehlleistungen ins Gespräch, erörterten Erfolgserlebnisse und mögliche Gefahren der magischen Praxis, verquickten Anekdotisches mit Philosophischem, dachten nach, grübelten, zweifelten an und bestätigten, baten gelegentlich um Hilfestellung, boten Rat und tatkräftige Unterstützung, und nicht selten spekulierten wir einfach nach Herzenslust drauflos.

So erschufen wir nach und nach unser eigenes magisches Erlebnis-Ökotop, ohne dass wir dies unbedingt gezielt angestrebt hätten. Im Ergebnis standen auch weniger irgendwelche weltbewegenden, einmaligen Erkenntnisse im Raum als vielmehr das Wissen darum, dass die Wege der Magie von einer geradezu unerschöpflichen Vielfalt gekennzeichnet sind, an der noch jedes einfältige, weil alles unzulässig vereinfachende, praxisferne Dogma kläglich scheitern muss.

Ebenfalls ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Aspekt des ganzen Unterfangens: die stets abrufbare Erkenntnis eines jeden Teilnehmers – wozu ein einziger Blick in die Runde genügte –, dass es tatsächlich noch andere Magier gab, dass man mit seinem Ringen um die Hohe Kunst nicht allein auf der Welt war. Und schließlich spielte wohl für jeden auch die schiere Lust am Abenteuer Magie eine herausragende Rolle.

Und irgendwann, nach etwa drei Jahren, war es auch genug: Ohne Streit und Hader löste sich die Gruppe schließlich in aller Gelassenheit auf, gingen die Mitglieder wieder auseinander. Einige von ihnen blieben einander verbunden, arbeiteten auch weiterhin miteinander, teilweise sogar bis zum heutigen Tag, die anderen verloren sich aus den Augen. Menschliche Lebenswege und geistesgeschichtliche Prozesse verlaufen oft sehr gewunden und lassen sich nur schwer in allen Einzelheiten erfassen und präzise bestimmen. Was dem Beobachter und Chronisten zunächst vielleicht wie Ursache erscheinen mag, stellt sich bei späterer, genauerer Betrachtung oft tatsächlich als Wirkung heraus und umgekehrt, so dass wir immer wieder vor dem altbekannten Henne- und-Ei-Pro-blem stehen.

Auch lässt sich die Breitenwirkung dieses ursprünglich ja nur auf vergleichsweise wenige Mitglieder beschränkten, regionalen Arbeitskreises nicht immer eindeutig bestimmen. Und doch gibt es einige Verbindungslinien und Wirkungsverläufe, die uns belastbare Rückschlüsse erlauben.

Beispielsweise wurde innerhalb dieses Rahmens die Pragmatische Magie entwickelt, entstand später die Zeitschrift Unicorn, in der zahlreiche Teilnehmer im Vierteljahresrhythmus ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Überlegungen wiedergaben, wodurch sie maßgeblich zur großflächigen Entwicklung einer magischen Szene im deutschsprachigen Raum beitrugen. Parallel dazu nahm der Verlag Edition Magus seine Tätigkeit auf, selbst von einem Arbeitskreismitglied geleitet, wo auch mehrere Werke aus der Feder von Teilnehmern erscheinen sollten.

Nachdem Unicorn gut drei Jahre und 13 Ausgaben später sein Erscheinen eingestellt hatte, wurde in Folge bei Edition Magus die Zeitschrift Anubis aus der Taufe gehoben, die noch Jahre danach dem Arbeitskreis entscheidende Impulse verdankte und selbst wiederum zur Weiterentwicklung der deutschsprachigen Magie beitrug. Das vertraute Bild vom Stein, der, ins Wasser geworfen, dieses immer weitere Kreise ziehen lässt, könnte, auf den Arbeitskreis Experimentalmagie angewandt, nicht treffender sein.

Mit der Abkehr vom traditionalistischen Dogmatismus, der die westliche Magie, den angelsächsischen Raum teilweise ausgenommen, bis weit in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts prägte; mit dem systematischen Hinterfragen organisationszentrierter Vermittlungshierarchien und autoritärer, so gut wie ausschließlich patriarchaler Herrschaftsstrukturen; und schließlich mit der Entwicklung pragmatischer, rationaler, mithin fundamentalkritischer und im Kern postmoderner Angänge veränderte die zeitgenössische Magie im Laufe der letzten ca. 40 Jahre ihr Erscheinungsbild. Gewiss wäre es vermessen und töricht, dies allein dem Bonner Arbeitskreis Experimentalmagie zuzuschreiben. Unbestreitbar aber ist, dass er innerhalb dieses historischen Gesamtkontextes durchaus einen Avantgarde-Status beanspruchen darf.

Die Autoren des vorliegenden Werks waren allesamt Gründungsmitglieder des Arbeitskreises und gehörten ihm bis zu seiner zwanglosen Auflösung an. Ihr Anliegen ist es, nicht nur ein episodisches Fazit ihrer damaligen Zusammenarbeit zu ziehen, sondern darüber hinaus auch ihre aktuellen Einsichten und Erkenntnisse auf dem Gebiet der Magie zu vermitteln. Sollten sie damit dem einen oder anderen, der ebenfalls Magier sein, Zauberer werden will, einige nützliche, konstruktive Hinweise bieten und vielleicht sogar etwas zu der Inspiration beitragen, am Großen Werk der Magie weiterzuarbeiten, so hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

Die Autoren

Kapitel 1

Frater V∴D∴
Volksmagie vs. Bibliotheksmagie: Genetik oder Aufklärung?
Von Niederer, Hoher, Schwarzer und Weißer Magie

In der klassischen magischen Literatur wird viel Tinte darauf verwendet, den Unterschied zwischen „niederer” und „hoher” Magie herauszuarbeiten. Einen Höhepunkt erfährt diese Tendenz in den Werken von Franz Bardon, der die Vertreter der ersteren abschätzig als minderbemittelte „Zauberer” bezeichnet, während die „wahre” Magie allein dem kosmisch eingeweihten Adepten zukommt.

Unter „niederer” Magie versteht man dabei spätestens seit der Theosophie jedwede magische Handlung, die aus „selbstsüchtigen” Motiven ausgeführt wird oder rein materielle Ziele verfolgt. Sogar ein Aleister Crowley, dem diese Art magischen Tuns ausgewiesenermaßen alles andere als fremd war, verstieg sich zu der Aussage, dass jede Handlung, die nicht unmittelbar darauf abstelle, die „Vereinigung mit der Gottheit” herbeizuführen, ein Akt schwarzer Magie sei. Wir sehen daran, dass die Trennlinie zwischen „niederer” und sogenannter „schwarzer” Magie, sonst allgemein als Schadenszauber definiert, selbst von anerkannten Autoritäten der magischen Welt oft nur sehr unscharf gezogen wird. Heutzutage nimmt man weitgehend von dem moralinsauren, abwertenden Begriff „niedere Magie” Abstand und verwendet stattdessen die neutrale Bezeichnung „Erfolgsmagie”.

In der klassischen Magieliteratur gilt die „hohe” Magie in der Regel als eine Disziplin, die sich auf eine, allerdings nur sehr diffus definierte christlich-pietistische, teilweise auch dem Mahāyāna-Buddhismus entlehnte, prinzipiell jedenfalls der Mystik verpflichtete Moralethik stützt und sich deren Ziele zu eigen macht: sei es Crowleys unio mystica, die der Freimaurerei konzeptuell entlehnte Arbeit am „großen Bauwerk” der Schöpfung oder eine wie auch immer geartete „Höherentwicklung” der eigenen, vorzugsweise auch der kollektiven Seele.

Bevor wir darauf zurückkommen, werfen wir einen Blick auf eine andere Wissensdisziplin, die auf ihre Weise zu einer ganz ähnlichen Unterscheidung gelangt, welche für unsere Betrachtung von Bedeutung ist: die Religionsanthropologie.

Magie und Religion: Henne oder Ei?

Bis weit in die 1950er Jahre herrscht in der anthropologischen Religionswissenschaft die Auffassung vor, dass es sich bei der Magie um eine der Dekadenz anheimgefallene, aufs denkbar Schlichteste heruntergebrochene Form der Hochreligion handelt – Aberglaube in Reinkultur. Noch Ende der 60er bezeichnete Theodor W. Adorno den Spiritismus, stellvertretend für den Okkultismus überhaupt, als die „Metaphysik der dummen Kerle”.

Dabei war dieses akademische Narrativ selbst von größter Schlichtheit und Unkenntnis um die tatsächliche kulturanthropologische Bedeutung magischer Denkweisen und Praktiken geprägt. Erst durch die mit Mircea Eliade einsetzende systematische Schamanismusforschung und die Feldforschungsergebnisse des anthropologischen Strukturalismus büßte es schließlich seine alles beherrschende Dominanz ein.

Bis dahin galt es als ausgemacht, dass die Hochreligionen, die selbst eine Überwindung und schlussendliche Überhöhung vorangegangener „primitiver” Kulte darstellten, durch die von ihnen entwickelte „Spiritualität” die Grundmatrix dessen vorgaben, was dann später zu bloßem magischen Aberglauben „verkommen” sollte.

Dieser sehr dehnbare, seit dem 12. Jahrhundert bekannte Begriff, der etymologisch soviel wie „nachrangiger, falscher Glaube” („Afterglaube”) bedeutet, ist eine Lehnübersetzung des lateinischen superstitio, wörtlich „Überglaube”, womit man im Altlateinischen ursprünglich das Außer-sich-Sein bezeichnete, also die Ekstase zu magischmystischen Zwecken. Zeitweilig meinte superstitiones aber auch schlicht nur die Wahrsager.

Schon die Stoiker brandmarkten die superstitio als exzessive Furcht vor den Göttern, während Augustinus von Hippo daraus später einen Kampfbegriff zur pauschalen Bezeichnung aller nichtchristlichen Religionen machte. Unter Nero wurden wiederum die Christen damit diffamiert. In zeitlicher Nachfolge der Aufklärung sowie der Gegenaufklärung diente er schließlich im 18. und 19. Jahrhundert als Propagandaterminus in der Polemik wider irrational-religiöse, für dubios erachtete oder unorthodoxe Weltanschauungen, darunter auch der Mesmerismus und die Hypnose sowie der Okkultismus überhaupt.

Die Tatsache, dass die Hochreligionen selbst durchaus in großem Umfang magische Praktiken betreiben (man denke etwa an die Transsubstantiation beim christlichen Abendmahl – selbst ein Akt der Theophagie, also der physischen Einverleibung einer Gottheit –, an die Sakramentlehre sowohl des Katholizismus als auch der Orthodoxie, das Einsegnen von Kirchen und weltlichen Gebäuden, das Schlagen des Kreuzzeichens, an das Weihwasser, an den Heiligenkult mit seinen Wundererscheinungen und so weiter), wurde dabei geflissentlich ausgeblendet. Kurz zusammengefasst galt also die Formel: „Erst kam die Religion, dann die Magie.”

Weitgehend unreflektiert blieb freilich die Tatsache, dass es sich dabei lediglich um eine Fortsetzung der alten kirchlichen Doktrin handelte, dass nämlich Wunder, also übernatürliche Erscheinungen, allein von Gott stammten, Magie dagegen reines imitatives Teufelswerk sei – eine Kontroverse, die bis zu den neutestamentlichen Paulusbriefen und der Apostelgeschichte zurückreicht (Stichwort: Simon Magus).

Aberglaube, Schamanismusforschung und Volksmagie

Wenn beispielsweise aus der lateinischen Messe die Formel „hoc est corpus meus” („dies ist mein Leib”) entlehnt und zum volkstümlichen „Hokuspokus” verballhornt wird, sehen wir den oben geschilderten Mechanismus zunächst bestätigt: Eine liturgische Deklaration wird missverstanden, aus ihrem Zusammenhang gerissen und in eine volksmagische Zauberformel verwandelt. Dabei wird dem Lateinischen selbst als dominante Sakralsprache eine inwendige magische Macht zugeschrieben. Wie es der Großvater eines mir bekannten elsässischen Heilpraktikers und Magnetiseurs in Anspielung auf den kirchlichen Exorzismus auszudrücken pflegte: „Der Teufel kommt zwar auf Deutsch, aber gehen tut er nur auf Latein.” Es lässt sich nicht bestreiten, dass sich die ohnehin sehr eklektische Volksmagie, die sich aus vielerlei heterogenen Quellen speist, nicht selten auch derlei Entlehnungen aus dem jeweils vorherrschenden religiösen Kontext bedient.

Ähnliches findet sich auch in anderen Religionen und Kulturkreisen. So gibt es beispielsweise im nordischen Raum zahlreiche Funde von Gedenksteinen und Amuletten, die mit Pseudo-Runen ausgestaltet wurden: rudimentär runenähnliche aber sinnfreie Zeichen, die offenbar die tatsächlichen Runen der altnordischen Religion nur imitierten und von Unkundigen verwendet wurden, die mit vorgetäuschtem magischen Wissen ihre zahlende Klientel hinters Licht führten. Heute würden wir von Scharlatanen sprechen.

Im westafrikanischen Islam nehmen die weitverbreiteten Marabus, oft auch als „heilige Männer” bezeichnet, die Funktion vorislamischer animistischer Stammeszauberer und Fetischpriester wahr, die ihr magisches Tun nur notdürftig hinter einer islamischen Fassade verbergen. So fertigen sie beispielsweise Amulette und Talismane aus Koransuren an (sogenannte gris-gris), die, in kleinen Lederschatullen beispielsweise am Arm getragen, unter der Bevölkerung sehr beliebt sind. Auch für andere magische Auftragsarbeiten, die auf animistische Praktiken zurückgehen und häufig Tieropfer erfordern, sind sie zuständig. Obwohl diese Form der Magie von der islamischen Orthodoxie aufs Entschiedenste abgelehnt wird, weil sie darin einen polytheistischen Götzenkult sieht, ist sie aus der westafrikanischen Welt nicht wegzudenken, ebenso wenig wie die zahllosen Heiligenschreine, die regelmäßig von Pilgerströmen aufgesucht werden, um dort Wundertaten zu erflehen.

Vergleichbares finden wir auch im mittel- und lateinamerikanischen Raum, wo eine Vielzahl präkolumbianischer Kultstätten, allenfalls vordergründig christianisiert, seit eh und je von der Bevölkerung genutzt werden wie schon lange vor den spanischen Eroberern, oft sogar zu denselben alten, saisonalen Festen.

Die noch junge Wissenschaft der Anthropologie räumte schließlich mit der Fehleinschätzung auf, dass die Magie lediglich eine Art Abfallprodukt der Hochreligion sei. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall.

Denn es ist völlig berechtigt, die Religion als eine Organisationsform zu definieren, zu deren Hauptanliegen es gehört, die Magie zu monopolisieren, um auf diese Weise ihre eigentliche Funktion wahrnehmen zu können, nämlich die vorherrschende Gesellschaftsordnung und ihre hierarchischen Machtstrukturen zu begründen, sie zu befestigen und fortzuschreiben. Dazu muss alles magische Wollen und Tun der Gemeinschaftsmitglieder auf kontrollierte Weise kanalisiert werden. So entsteht eine hauptberufliche Priesterschaft, welche die Stelle der vormaligen Stammeszauberer und Medizinfrauen einnimmt. Zugleich spiegelt dieser Prozess den Übergang nomadisierender zu sesshaften Gesellschaften wider.

Fortan ist es die Religion, die als soziales Schmiermittel alle existenziellen Aspekte des Lebens reguliert: von der Ernährung über die Fortpflanzung bis zu den Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, der Kindererziehung, der Rechtsprechung sowie, nicht zu vergessen, die Eigentumsverhältnisse.

Für die Überreste der sozial schwer beherrschbaren, anarchischen Volksmagie, die meist nur innerhalb von Familienverbänden unter Blutsverwandten tradiert wird und weder der Gesamtgesellschaft noch ihren Herrschenden und der von ihnen oktroyierten Moralethik und Gesetzescodices verpflichtet ist, gibt es in einem solchen Rahmengerüst keinen Platz. Folglich wird alles volksmagische Handeln von den Herrschenden und der ihnen zuarbeitenden Priesterkaste als Konkurrenz wahrgenommen und entsprechend geächtet: ein Wildwuchs, der um jeden Preis aufgehalten und ausgerottet gehört.

Es wäre allerdings ahistorisch gedacht, würde man den herrschenden Eliten und der Priesterschaft dieser gesellschaftlichen Entwicklungsstufe ausschließlich machtversessenen Zynismus und reine Bigotterie unterstellen. Denn es spricht alles dafür, dass diese ebenso von der prinzipiellen Wirksamkeit der Magie überzeugt waren wie ihre Gläubigen und Untertanen. Aus ebendiesem Grund wurde sie ja überhaupt erst zu einer Herrschaftstechnologie entwickelt: Die Magie galt als eine hochwirksame Waffe der Weltgestaltung, deren Einsatz durch unzufriedene, feindselige oder gar rebellische Bevölkerungsgruppen durchaus den Status quo gefährden konnte.

Aus ähnlichem Grund verfolgte man im Rom der Kaiserzeit die Astrologen, wurde das Stellen des kaiserlichen Horoskops mit der Todesstrafe bedroht. Und tatsächlich arbeitete die politische Propaganda verschiedener Verschwörergruppen bereits damals auch mit gefälschten Horoskopen der Herrscher, wie es Jahrhunderte später zur Zeit Luthers und sogar noch im Zweiten Weltkrieg geschehen sollte.

Solche Verbote wurden erlassen, weil die Herrschenden durchaus von der Validität astrologischer Einsichten überzeugt waren. Gewiss gab es im römischen Reich dieser Epoche unter der intellektuellen Elite bereits eine Vielzahl von Skeptikern, die derlei für ausgemachten Unsinn hielten. Doch beweist die römische Sitte, sicherheitshalber stets auch dem „unbekannten Gott” einen Altar aufzustellen und Opfer darzubieten, um ihn nicht versehentlich zu erzürnen, dass im Allgemeinen eine pragmatische „Man kann nie wissen”-Einstellung vorherrschte.

Die weltweite, kulturübergreifende Feldforschung der Anthropologie und Ethnologie machte zudem deutlich, dass man den gemeinen Aberglauben keineswegs pauschal mit Volksreligion und -magie in einen Topf werfen darf. Die Volksmagie, wie wir sie hier verstehen, ist kein kodifiziertes oder einheitliches System magischer Praktiken. Auch wird sie von ihren Ausübenden nur in den seltensten Fällen theoretisch reflektiert, ja nicht einmal für prinzipiell erlernbar gehalten. In der Regel manifestiert sie sich dadurch, dass sich manche Menschen, gleich welchen Geschlechts, irgendwann mit Fertigkeiten hervortun, die allgemein als magisch oder übernatürlich angesehen werden. Diese magischen Kräfte gelten meist als angeboren, oft handelt es sich dabei aber auch um spezifisches, proprietäres zauberisches Wissen, das nur innerhalb der Blutlinie vermittelt werden kann oder darf: ein Familienhandwerk. Reglementiert wird die Weitervermittlung häufig durch strenge Vorgaben, was Geschlecht oder Generationszugehörigkeit angeht. So wird das Talent beispielsweise im einen Fall nur von Großmutter auf Enkelin weitergegeben, im anderen vom Vater auf den Sohn vererbt und so weiter.

Im Zuge der Wissensvermittlung erfolgt nicht selten eine Form der Einweihung oder es wird eine Erweckung der bis dahin nur latent vorhandenen paranormalen oder magischen Befähigung herbeigeführt. Dabei spielen gesamtgesellschaftliche Ethik und Moral, sofern überhaupt abgerufen, eine allenfalls randständige Rolle: Sippenethos geht über Gesellschaftsethos.

Grundsätzlich ist das Spektrum vererbter oder vermittelter magischer Fertigkeiten insgesamt betrachtet zwar sehr groß: Es reicht von der Hellsichtigkeit (dem „zweiten Gesicht”) und Orakelkunst über Heilkräfte und Wetterzauber bis zur Schutzmagie, umfasst Liebes- und Schadenszauberei, das Besprechen von Warzen und Gürtelrosen sowie Geburtshilfe und Förderung der Fruchtbarkeit von Mensch, Nutzvieh oder Ackerböden.

Doch kommt davon bei den betroffenen Individuen so gut wie immer allenfalls ein sehr kleiner Ausschnitt zum Tragen. Während beispielsweise in einem Familienclan allein die Hellsichtigkeit vorherrscht, ist ein anderer vielleicht auf das Regenmachen oder den Hagelzauber beschränkt, wogegen sich ein dritter wiederum vornehmlich aufs Warzenbesprechen, das Heilen von Tieren oder das Verfluchen unliebsamer Nebenbuhler versteht. Magische Universaltalente sind in diesem Zusammenhang also eher selten. Zudem betreffen diese Begabungen fast nie den gesamten Familienverband sondern stets nur einige wenige seiner Mitglieder: eine Art volksmagisches Spezialistentum.

Auch im 21. Jahrhundert kennt fast jedes Dorf noch immer seine „weise Frau”, seinen „Spökenkieker”, seine weibliche oder männliche „Hexe”. Fremden gegenüber wird dies allerdings meist geheim gehalten. Wenn diese magisch tätigen Menschen ihren Nachbarn auch oft, wie schon seit Jahrtausenden, unheimlich oder sogar bedrohlich erscheinen mögen, bedient man sich doch gern ihrer Fertigkeiten, um eigene Lebenskrisen zu bewältigen, einen Blick in die Zukunft zu erheischen oder um der Wunscherfüllung etwas nachzuhelfen.

Oft beklagen sich die Betroffenen im persönlichen Gespräch darüber, dass sie keine andere Wahl hatten: Sei es, dass die fraglichen Fertigkeiten in ihnen ungewollt „ausbrachen”, sei es, dass die Familientradition von ihnen verlangte, diese für sie vorgesehene Rolle zu übernehmen. Die manifeste eigene Andersartigkeit und die häufig damit einhergehende soziale Ausgrenzung werden häufig als große Belastung empfunden. Denn wenn man einem Menschen beispielsweise unterstellt, für eine reiche Ernte oder ausgiebigen Regen sorgen zu können, so keimt bei Missernten oder Dürreperioden auch schnell der Verdacht auf, dass derselbe Mensch dafür ebenfalls verantwortlich sein könnte.

In Märchen, Mythen und Legenden lebt die Hexe oder der Hexenmeister oft entweder am äußersten Rand der Siedlung, abgeschieden im Wald oder in unwegsamem Gelände, wenn nicht gar gleich am Ende der Welt. Wir dürfen darin einen symbolischen Hinweis darauf sehen, dass ihnen meist nur eine gesellschaftliche Außenseiterrolle zugestanden wurde. Man bediente sich zwar ihrer Zauberkünste, gleichzeitig umgab sie ein Nimbus der Gefährlichkeit: oft respektiert, stets gefürchtet, aber nie geliebt.

Dabei sollten wir nicht vergessen, dass die Zeit der Hexenverfolgung keineswegs vorüber ist. In einigen Teilen Afrikas und Papua-Neuguineas ist sie noch heute an der Tagesordnung, das gleiche gilt für viele Gebiete Asiens und Lateinamerikas. Und möglicherweise ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf die eine oder andere Weise auch in unseren aufgeklärten Breiten wieder ausbricht. Die heutigen zivilisierten Scheiterhaufen mögen vielleicht nicht mehr aus Marterpfählen auf glosenden Holzstapeln bestehen, dafür sind sie medialer und digitaler Natur oder nehmen die Form verwaltungstechnischer Drangsalierungsmaßnahmen an wie beispielsweise haltlose Ermittlungen wegen angeblicher Ritualmorde, richterlich verfügte Einweisungen in die Psychiatrie oder der Entzug des elterlichen Sorgerechts beim Verdacht einer Kultzugehörigkeit. Wer die internationalen westlichen Medien der vergangenen hundert Jahre verfolgt, stößt immer wieder auf entsprechende, haarsträubende Beispiele …

Schriftkultur und westliche Magie

Erst mit der Schriftkultur entwickelt sich im Westen das Konzept einer „hohen” Magie. Es ist das Produkt theologisch geprägter und dementsprechend voreingenommener Gelehrter. Die ältesten uns derzeit bekannten Schriftzeugnisse, babylonische Keilschrifttafeln sowie frühägyptische Hieroglyphentexte, sind zwar Werkzeuge von Handel und Industrie: Liefer- und Lagerlisten, Warenbestellungen und Reklamationen. Doch sollte es nicht lange dauern, bis auch Administration und Religion die Kulturtechnik des Schreibens für sich entdeckten und sie zu einem Organisations- und Herrschaftsinstrument entwickelten. Jahrtausendelang sollte sie in den meisten Kulturen das Monopol weniger systemtragender Spezialisten bleiben.

Der Erwerb der Fertigkeit des Lesens und Schreibens erforderte fachkundige Unterweisung, verlangte Studium und Zeitaufwand, sicherte keinen unmittelbaren Ertrag und war somit für die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft völlig unerschwinglich und für die Bewältigung des durchschnittlichen Alltagslebens irrelevant. Noch im abendländischen Frühmittelalter bestand selbst der niedere Klerus fast ausschließlich aus Analphabeten.

Anders die höheren Ränge der kirchlichen Hierarchie: Sie pflegten nicht nur seit der Zeitenwende zumindest ihre religiöse Literatur. Nach dem Niedergang des römischen Reichs waren sie auch für das Betreiben von Bibliotheken, Schulen und der späteren Universitäten zuständig und stellten jahrhundertelang das Gros der Gelehrten, auch wenn es über lange Zeit der Übersetzungsarbeit und der Kommentarabhandlungen ihrer anfänglich kulturell weitaus fortgeschritteneren (und dementsprechend intellektuell wie erkenntnistheoretisch fortschrittlicheren) arabischen islamischen Kollegen bedurfte, um die verlorengegangenen heidnischen Schriften der Antike zumindest teilweise wiederherzustellen.

Aus diesem Impuls heraus entwickelte sich die mittelalterliche Scholastik, zu deren Schwerpunkten nicht zuletzt die sogenannte Naturphilosophie zählte. Dazu gehörte nach damaligem Verständnis zwar ganz selbstverständlich auch die Magie, doch musste dies alles bis zur Aufklärung stets innerhalb des von der Kirche vorgegebenen christlich-biblischen, also theologischen Paradigmas gedacht werden. Jede Abweichung davon wurde schnell als todeswürdige Ketzerei sanktioniert.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die spätmittelalterliche Hexenverfolgung, die ja zu einem großen Teil vermeintliche wie tatsächliche Vertreter der Volksmagie ereilte, erst dann in nennenswertem, das ganze Abendland ergreifendem Umfang einsetzte, nachdem man begonnen hatte, das mit der Volksmagie pauschal gleichgesetzte Hexenwesen juristisch mit Ketzerei gleichzusetzen. Diese Entwicklung dürfte entscheidend zu der Manie späterer Autoren von Grimoarien beigetragen haben, ihre eigenen Werke als Musterbeispiele religionskonformer, gottgefälliger und somit „hoher” Naturmagie zu präsentieren, auch wenn ihr Inhalt diese Behauptungen oft Lügen strafte.

Seit der Scholastik war es den Gelehrten also ein Anliegen, die Magie als reale Naturkraft zu ergründen und sie zu bemeistern. Dies geschah in intensivem Diskurs mit anderen Naturphilosophen, basierend auf einem umfangreichen Studium der klassischen Quellen. So blieb es nicht aus, dass sich der Gelehrtendialog schließlich zu dem entwickeln sollte, was wir hier – nicht ohne ein Quäntchen Ironie – als „Bibliotheksmagie” bezeichnen wollen. (In der akademischen Religionswissenschaft verwendet man dafür heutzutage vornehmlich den Fachbegriff „learned magic”, also „Gelehrtenmagie”.)

Sie wurde oft abstrakt betrachtet, apriorischen Grundannahmen und Dogmen theologisch-kosmologischer Natur unterworfen und theoretisch begründet. Am Ende mutierte sie zu einem reinen Lektüreprodukt, dessen Vertreter selbst über keine erkennbare magiepraktische Erfahrung verfügten. Die Frage nach einem zu ihrer Ausübung womöglich erforderlichen magischen Talent trat völlig in den Hintergrund, statt dessen ging es allein um ihre intellektuelle Erfassung sowie um die Unzahl theoretischer Regeln, die sie angeblich ausmachten.

Erst ein Theophrastus Bombast von Hohenheim (ca. 1493–1541), besser bekannt unter dem Namen Paracelsus, als gelernter und fronterfahrener Feldchirurg schon immer ein ausgewiesener Mann der Praxis, sollte sich vehement von der akademisierten, sich in theoretischen Betrachtungen erschöpfenden Medizin und Magie lösen. Obwohl selbst zeitweilig in universitären Diensten stehend, stürzte er sich enthusiastisch in die Niederungen der Volksmagie, unentwegt das Gespräch mit dem „einfachen Volk” (noch immer überwiegend Analphabeten) suchend, um von diesem alles zu lernen, was seine Heilkunst und seine mystischen Ambitionen betraf: Kräuterkunde und Volksmedizin ebenso wie die damals – und in vielerlei Hinsicht auch noch heute – davon nicht zu trennenden magischen Praktiken.

Die vexierende Talentfrage

Die Frage, ob es zur Ausübung der Magie zwingend eines vorgegebenen Talents bedarf, oder ob sie auch ohne ein solches allein durch Studium bemeistert werden kann, stellt sich für den Volksmagier in der Regel nicht. Ohnehin spielen derlei abstrakte Überlegungen in der Volksmagie keine nennenswerte Rolle, wie wir bereits festgestellt haben.

Dagegen bewegt sie inzwischen viele heutige Vertreter der Bibliotheksmagie, wenngleich sie sich auch unverkennbar bisher nicht eindeutig hat klären lassen. Für beide Positionen gibt es gute Argumente, beide müssen sie aber auch damit leben, wenn von der anderen Seite zahlreiche Gegenbeispiele ins Gefecht geführt werden.

Für die einen ist die Magie mittlerweile, in zeitgenössischer Terminologie ausgedrückt, vor allem eine Frage der Genetik, für die anderen dagegen eine Sache der entsprechenden Aufklärung und Ausbildung.

Unterm Strich bleibt leider nach wie vor die Tatsache, dass es Magier und Magierinnen, ob Naturtalente oder „Angelernte”, in der westlichen Gesellschaft – und nicht nur in dieser – meistens nicht einfach haben und vom Mainstream weitgehend gemieden und marginalisiert werden.

Magische Spezialstreitkräfte

Immerhin scheint das Militär diesbezüglich weitaus weniger wählerisch zu sein. Das erste Mal stieß ich auf diese Tatsache, als der magische Schüler eines langjährigen englischen Freunds davon berichtete. Er kam aus einem sehr abgelegenen nordenglischen Dorf – die Art von eng verfugter Gemeinschaft, wo eine Familie selbst nach fünfzehn Generationen noch als „lediglich zugezogen” gilt. Dieser Schüler, nennen wir ihn P., entstammte einer Familie, in der überdurchschnittlich viele Mitglieder über teils stärker, teils schwächer ausgeprägte hellsichtige Fähigkeiten verfügten. Dies war anscheinend typisch für die gesamte Gegend. In der englischen Volksüberlieferung werden derartige Menschen meist als „cunning folk” bezeichnet. Eine Analogie dazu finden wir im deutschsprachigen Alpenraum, wo man „weise Männer/Frauen” kennt, eine Bezeichnung, die zugleich den englischen Begriff treffend übersetzt.

P. berichtete, dass das britische Militär über demografisches Kartenmaterial verfügt, welches das gehäufte Vorkommen paranormaler Begabungen unter der Bevölkerung der britischen Inseln verzeichnet. In diesen Gebieten führen die Spezialstreitkräfte verstärkt Rekrutierungsmaßnahmen durch. Ihr besonderes Interesse gilt dabei jungen Menschen, die über Fähigkeiten auf den Gebieten der Telepathie, der Fernwahrnehmung und der Präkognition verfügen. Diese werden bevorzugt angeworben und im Anschluss entsprechenden Prüfungen unterzogen. Nach ihrer allgemeinen militärischen Ausbildung fasst man sie schließlich in Gruppen- und Zugstärke zusammen und trainiert sie für ihren eigentlichen Verwendungszweck. Sie werden, wie bei Spezialstreitkräften üblich, im Konfliktfall vornehmlich hinter feindlichen Linien eingesetzt, wo sie meist mit Aufklärungs- und Sabotageaufgaben betraut sind. So kam auch P. dazu, der schließlich in beiden Golfkriegen zu Spezialeinsätzen abkommandiert wurde.

Ganz ähnlich verfahren auch die russischen Spezialstreitkräfte (Speznas), die dem militärischen Auslandsnachrichtendienst GRU unterstellt sind. Innerhalb dieser Kreise wurde noch in der Stalinzeit die russische Kampfkunst Systema entwickelt. Dazu analysierte man die verschiedensten einheimischen und vor allem ostasiatischen Kampfkunststile, trennte sie von ihren metaphysischen und spekulativen Merkmalen und kombinierte ihre effizientesten, für den militärischen Einsatz tauglichen Elemente. Das Ergebnis war – und ist bis heute – eine Kampfkunst, die zwar auf jeden theoretischen Überbau verzichtet, deren erfahrene Vertreter jedoch zuverlässig physische Effekte vorführen können, die über Jahrtausende allgemein nur Magiern oder Zauberern zugeschrieben wurden. Dabei reicht die Bandbreite von der kontaktlosen Abwehr mehrerer Gegner über die Fernlähmung bis zu einer Schmerzkontrolle und körperlichen Widerstandskraft sowie Wendigkeit, wie man sie sonst allein Fakiren nachsagt, um nur einige Beispiele zu nennen. Davon habe ich mich persönlich auf zahlreichen Seminaren und bei Begegnungen mit russischen wie deutschen Systema-Ausbildern immer wieder überzeugen können.

Der für den nordamerikanischen Raum verantwortliche Leiter von Systema, Vladimir Vasiliev (engl. Transkription), selbst ein ehemaliger Speznas-Angehöriger, schildert in seinem Buch The Russian System Guidebook: Inside Secrets of Soviet Special Forces Training,1 wie die Rekruten in der Speznas-Grundausbildung systematisch darin geschult wurden, ihre paranormalen Fähigkeiten möglichst belastbar weiterzuentwickeln. Dazu gehörte beispielsweise das Auseinanderhalten farbiger Flächen mit verbundenen Augen, die berührungsfreie Bestimmung verschobener und entwendeter Gegenstände in einem völlig abgedunkelten Raum und Ähnliches mehr.

Bemerkenswert ist daran auch, dass dies auf rein materialistischer, empirischer Grundlage stattfindet, also ohne jede metaphysische oder esoterisch-magische Erklärungskonzepte.

Das Militär ist für seinen Pragmatismus bekannt. Was funktioniert und nützlich ist, wird nach Möglichkeit übernommen, gleich ob die akademische Wissenschaft seine Existenz akzeptieren mag oder nicht. Unter Kennern gilt es zudem als ausgemacht, dass aller Wahrscheinlichkeit nach sämtliche Spezialstreitkräfte der Welt nach ähnlichem Muster vorgehen dürften. Dies scheint zwar äußerst plausibel, lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei unabhängig verifizieren, da derlei Sachverhalte im Allgemeinen der staatlichen Geheimhaltung unterliegen.

Abschließend sei noch auf den bekannten Spielfilm Männer, die auf Ziegen starren (The men who stare at goats, 2009) von Grant Heslov mit Ewan McGregor, George Clooney, Kevin Spacey und Jeff Bridges verwiesen. Dabei geht es um eine geheime Spezialeinheit der US Army in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Hier wurde neben dem Einsatz von Halluzinogenen und Meditationstechniken unter anderem damit experimentiert, Versuchstiere, vornehmlich Ziegen, mittels Willenskraft durch bloßes Anstarren zu töten, daher auch der Titel des Films.

Es bedarf keiner allzu großen Fantasie, um sich auszumalen, welchen Nutzen das Militär sich von einer solchen – durchaus magisch zu nennenden – Fähigkeit versprechen mochte. Doch auch wenn der Film als amüsante Komödie daherkommt, beruht er im Kern auf gesicherten Tatsachen: Die fragliche Einheit hat es tatsächlich gegeben, allerdings wurde sie später als ein weitgehend für gescheitert erachtetes Experiment wieder aufgelöst.

Synergien

Volks- und Bibliotheksmagie, angeborenes Talent und erst durch intensives Studium, beharrliches Üben und praktische Erfahrung erworbene magische Fähigkeiten müssen einander nicht zwingend antagonistisch gegenüberstehen, auch wenn dies in der Vergangenheit meist der Fall war. Militärische Spezialkräfte rekrutieren zwar volksmagische Talente, schulen diese aber nach Maßgabe der Parapsychologie weiter, wie das Beispiel der russischen Speznas und die oben erwähnte Einheit der US Army zeigen.

Unser Bonner Arbeitskreis Experimentalmagie, der sowohl magische Naturtalente als auch weitgehend talentfreie Aspiranten (wie mich selbst; siehe aber auch die Schilderung von Josef Knecht in diesem Buch2) miteinander vereinte, hat wiederum bewiesen, dass eine Zusammenarbeit zwischen beiden äußerst fruchtbar sein kann, wenn die dadurch entstehenden Synergien genutzt werden.

Somit muss es keineswegs beim Entweder-Oder bleiben, kann das Sowohl-als-auch durchaus an seine Stelle treten. Jedenfalls darf man wohl feststellen, dass zu diesem Thema noch lange nicht das letzte Wort gesprochen sein dürfte.

1 The Russian System Guidebook: Inside Secrets of Soviet Special Forces Training, Visalia, Ca.: Optimum Training Systems, 1997.

2 Siehe Josef Knecht dazu in Kapitel 9: „Einige Fragen zur Magie”, S. 98.

Kapitel 2

Harry Eilenstein
Mein Weg von der Wunsch-Magie zur Da’ath-Magie

Mit 21 Jahren habe ich in einer größeren Lebenskrise im Stadtpark von Bad Godesberg unter meinem Lieblingsbaum gesessen und mich gefragt, wie es nur weitergehen soll. Da sagte mir jemand von hinten als Antwort auf meine innere Frage: „Lerne Magie!” Als ich mich umgedreht habe, war da jedoch niemand, der das zu mir gesagt hätte … Da hatte ich dann noch ein Fragezeichen mehr in mir …

Daraufhin bin ich in die Bücherei und in die Bibliothek gegangen und habe mir alle Bücher über Magie angesehen, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass das Hervorzaubern von weißen Kaninchen aus schwarzen Zylindern nicht das sein konnte, was die Stimme mit „Magie” gemeint hatte. Also bin ich zurück in den Park gegangen und habe mich wieder unter meinen Baum gesetzt.

Da kam ein Schulfreund meines Freundes vorbei und hat mich zu einer Fete eingeladen. Da ich sozusagen als „Waldschrat” groß geworden bin und noch nie auf einer Fete gewesen war, bin ich mitgegangen und habe bei mir gedacht: „Ein komischer Tag ist das heute …”

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