Die Botschaft des Autors
Ich bin ein Sonntagskind, sagte meine Mutter einst zu mir. Wie sich später herausstellte, war der 23. September 1949 aber ein Freitag. Für mein weiteres Leben spielte das aber keine große Rolle, denn ich fühlte mich oft auf der Sonnenseite. Das Ganze ist auch nicht wörtlich zu nehmen, denn ursprünglich müsste die Bezeichnung „Samstagskind“ lauten, denn sie bezog sich auf Menschen, die an einem Samstag geboren waren und deshalb über bestimmte magische Kräfte und Fähigkeiten verfügten. Der Sabbat wurde bis ins frühe Mittelalter als geheiligter Wochentag gefeiert, und die an diesem Tag geborenen Kinder waren in besonderer Weise gesegnet.
Auch ich - der an einem Freitag Geborene - war gesegnet, denn es war 1949, als ich, vier Jahre nach der Schreckensherrschaft der Nazis, mit einem neuem Grundgesetzt ausgestattet, auf die Welt gekommen bin.
Die Freiheit war da?
Es war dunkel, sehr dunkel, als ich, bewaffnet mit einer tropfenden Kerze, von meiner Mutter in den Keller geschickt wurde. Ich war so etwa sieben Jahre alt. Wir wohnten im Elternhaus meines Vaters, in der Belforter Straße 56, in Gelsenkirchen Rotthausen. Zu dieser Zeit hatten wir noch keinen Kühlschrank, alles was irgendwie länger halten sollte, wurde in dem kühlen Gewölbe gelagert. Der Keller hatte keinen Stromanschluss und war - wie die hier auch lagernden Kohlen - schwarz wie die Nacht. Im faden Schein der Kerze ging ich mit schlotternden Knien die Treppe hinunter in die „Hölle“. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich für die Mutter holen sollte. Waren es die leckeren eingemachten Birnen, Kartoffeln, oder Kohlen für den Küchenofen.
Die Kerze gab nur sehr wenig Licht. Ein leiser Luftzug brachte sie zum Flackern. Das heiße Wachs tropfte auf meine rechte Hand. Ich hielt den Atem an und fürchtete mich vor einer möglichen totalen Finsternis. Meine beiden Brüder, Hans-Georg und Ötte - so nannten wir den Zweitgeborenen - Hans-Otto, hatten mir schon einige Spukgeschichten über ihre Erlebnisse im Keller erzählt. Nun war ich, der Jüngste, ganz alleine hier unten im Verließ. Das Gefühl von Angst und Neugier begleitete mich auch später durch mein ganzes Leben. Der Schein der Kerze im dunklen Keller gab in jeder Kellerecke neue Einblicke. Nun, mit 70 Jahren, will ich nochmals „hinab steigen“ und versuchen mit dem Schein der Kerze Licht in die verschwommene Vergangenheit zu bringen.
Ich habe weder meine Mutter, Eleonore Clermont, noch meinen Vater, Georg Müntjes, je gefragt, wo sie sich kennen gelernt haben. Beide waren in Gelsenkirchen geboren, wohin es ihre Eltern nach den Kohlefunden im 19. Jahrhundert verschlagen hatte. Da gab es den Schreinermeister Georg Müntjes, von Töven am Niederrhein und den Steiger Friedrich Clermont, aus Wengern an der Ruhr. Das schwarze Gold lockte viele auf der Suche nach einem besseren Leben. Dieses anfängliche Glück wurde leider durch zwei Weltkriege empfindlich gestört.
Da standen sie nun am Anfang 1949: mein Vater an der Hand mit dem 6-jährigen Jungen namens Hans-Georg, der seine Mutter als Zweijähriger verloren hatte und meine Mutter an der Hand mit dem 3-jährigen Hans-Otto, der aus einer Begegnung mit einem englischen Besatzungssoldaten stammte. Ob sie sich tatsächlich so begegnet sind, entspricht nur meiner Fantasie, aber immerhin trauten sie sich, am 17. Februar 1949 auf dem Standesamt Gelsenkirchen eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Als Startkapital hatten sie zwei stattliche Knaben. Die Kirche gab nur drei Tage später in Gelsenkirchen-Ückendorf ihren Segen dazu.
Ückendorf und Rotthausen liegen direkt nebeneinander im Gelsenkirchener Süden. Bevor die Kohle gefunden wurde, beides Dörfer mit wenigen hundert Einwohnern. Ich wurde nur 7 Monate nach der Eheschließung am 23. September im schlossähnlichen im Barockstil gehaltenen Knappschaftkrankenhaus in Ückendorf geboren. Nur 5 Jahre, nachdem Brandbomben die Decke des 1. Obergeschosses zerstört hatten, gab es wohl wieder genug Platz, einen gesunden, schweren Knaben zur Welt zu bringen. Es war Freitag, das Wetter an diesem Herbstanfangstag zeigte sich bei wechselnder Bewölkung und Temperaturen bis 20 Grad von seiner angenehmen Seite. In den Kinos spielten schon amerikanische Farb-Tonfilme wie „Der große Rummel“ und um die deutsche Meisterschaft im Schwergewicht boxte Hein ten Hoff gegen Walter Neusel.
Einen großen Rummel gab es wohl auch um meine Namensfindung. Immerhin dauerte es bis zum 2. Oktober, bis ich in der katholischen Pfarrkirche St. Maria Himmelfahrt in Rotthausen auf den Namen Friedrich getauft wurde. Die Kirche wurde 1945 teilweise zerstört und pünktlich zu meiner Taufe fing der Wiederaufbau an, der bis 1954 dauerte. Gott sei Dank dauerte meine Namensfindung nicht so lange. Nach den Erzählungen meiner Mutter war mein Vater mit der Namensfindung überfordert, so dass meine Mutter mich kurzerhand nach ihrem Vater Friedrich Clermont als Friedrich taufen ließ. Warum mich meine Eltern wenige Jahre später bei meiner Einschulung unter Friedhelm anmeldeten und alle meine Zeugnisse so ausgestellt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch wann wir nach Rotthausen gezogen sind, ist mir nicht bekannt.
Gelsenkirchen-Rotthausen, Belforter Straße 56 Schreinermeister Georg Müntjes im Hof
Mein Großvater, der Schreinermeister Georg Müntjes, kaufte das Anwesen in der Belforter Straße 56 am 10. Oktober 1911. Er war damals 33 Jahre alt und hatte bereits vier Kinder mit Elisabeth Franziska geborene Heidfeld. Es ist mir bis heute ein Rätsel wie er - aus einfachen Verhältnissen von Töven am Niederrhein - diese finanzielle Leistung erbringen konnte. Ich konnte ihn das nie fragen, denn er starb bereits 1929 im Alter von 50 Jahren. Er hinterließ seine Frau mit sechs Kindern und das Anwesen mit der Schreinerei im Hinterhof. Mein Vater als 13-jähriger Stammhalter war noch zu jung, um das Erbe nebst Schreinerei zu übernehmen. Er ging erst zwei Jahre später zu seinem Onkel Gottfried nach Meppen, um in der Schreinerei Wolken bis 1935 das Handwerk eines Schreiners zu erlernen.
Ausgelernt folgte er damals aber nicht dem Ruf der Mutter die Schreinerei in Rotthausen zu übernehmen sondern dem des „Führers“ und meldete sich freiwillig zur Luftwaffe. Die weißen Handschuhe und die schicke Uniform waren wohl erstrebenswerter als Sägespäne und Splitter in den Fingern. Er blieb neun Jahre fort. Angesprochen auf die Erlebnisse, sagte er nur: „Ich könnte Bücher darüberschreiben...“ Hätte er es nur mal gemacht, dann wären ihm sicher mit 58 Jahren der Gang in die Depression und der frühe Tod erspart geblieben.
So wurde die Schreinerei verpachtet und war es wohl noch, als ich das erste Mahl den Geruch von frischem Holz wahr nahm. Mein Vater arbeitete bei meiner Geburt noch in dem ungeliebten Schreinerberuf. Für uns Kinder war das sehr schön. Direkt hinter dem Haus waren die Schreinerei, ein großer Hof und unendliche Ställe und Felder zum Austoben. Zur Mittagszeit brauchten mein Vater und mein Vetter Theo nur über den Hof zu gehen, um das warme Essen bei der Mutter und Oma Elisabeth einzunehmen. Ich sehe heute noch Theo auf dem Boden hinter dem Ofen seinen Mittagsschlaf halten. Theo war der Sohn von Tante Else, Vaters Schwester, die mit Jupp verheiratet war. Theo hatte noch eine ältere Schwester, Elsbeth, die später hier noch eine Rolle spielen wird.
Ich saß in der Mittagspause meistens auf dem Schoß von Oma Müntjes und stippte mein Rosinenbrot in den warmen Kakao. Ich fühlte mich dort sehr geborgen. Überhaupt war die Belforter Straße ein Paradies. Wir wohnten in 3 Zimmern im ersten Stock direkt über der Hofeinfahrt. Ich teilte mir ein Zimmer mit meinen beiden Brüdern. Wir schliefen in alten, übereinander geschraubten Betten und hörten im Radio Paul Temple, ein fiktiver Kriminalschriftsteller und Privatdetektiv von Francis Durbridge. Besonders im Winter, wenn die dünnen mit krümligen Fensterkitt eingesetzten Fensterscheiben, voller Eisblumen waren, fürchtete ich mich als jüngster sehr vor den spannenden Geschichten aus dem Röhrenradio. Tagsüber flitzte ich im ersten Stock zwischen den drei Wohnungen von Frau Selböhmer (Tante Kläre), der Oma und Tante Else sowie unserer hin und her. Keiner lebte hinter verschlossenen Türen. Die Frauen trafen sich beim Wasser holen im Flur auf einen Plausch oder in der Waschküche direkt über den Hof unterhalb der Schreinerei. Es gab weder Wasser noch eine Toilette in der Wohnung. Es war damals üblich, für jedes Stockwerk nur eine Toilette eine Treppe tiefer zu haben. Da hieß es dann oft, seine Bedürfnisse eine Zeit zurückzustellen. In der Wartezeit wurde dann die Tageszeitung in kleine Stücke von 20 Zentimetern Kantenlänge geteilt und Blatt für Blatt auf einen Bindfaden aufgezogen. Das hatte den Vorteil, auf dem stillem Örtchen gleich die passende Lektüre zu haben. Gebadet wurde nur am Samstag, in der Zinkwanne in der Küche oder im Waschhaus. Später fuhr unser Vater mit uns drei Jungen und den Nachbarskindern in das 1904 erbaute Stadtbad an der Husemannstrasse. Dort angekommen, gingen die „Männer“ nach links und die Frauen nach rechts. Gemischtes Baden war damals noch nicht üblich. Nach einer ordentlichen Einleitung ging es nach der lauwarmen Dusche in das eiskalte Schwimmbecken. Mann, was habe ich da am Beckenrand an der beheizten, kunstvollen Kachelwand im Zielbereich gezittert! Meinen Vater störte das alles nicht. Er zog wie ein Walross seine 50 Bahnen im 25 Meter Becken. Nach getaner „Arbeit“ gab es zur Belohnung ein Eis am Stiel.
Das war damals etwas Besonderes. Selten fuhr der Eismann mit seinem Wagen durch die leere Belforter Straße. Er klingelte laut mit einer großen Glocke und alle Blagen rannten - nachdem sie ihre Eltern um 10 Pfennig angebettelt hatten von den Hinterhöfen raus auf die Straße. Das war damals ungefährlich; in der ganzen Straße gab es in den 50er Jahren nur ein Auto und das gehörte meinem Vater, ein DKW Kastenwagen.
Für uns Kinder waren die Hinterhöfe und die leeren Straßen ein Abenteuerspielplatz. Im Sommer fuhren wir auf der Straße Rollschuh und im Winter gab es dank vieler Eimer Wasser eine riesige Schlitterbahn auf der Belforter Straße. Kinder gab es genug, mein bester Freund Jürgen wohnte direkt auf der anderen Straßenseite. Wir hatten allerdings die eine oder andere Auseinandersetzung, denn er trug das gehasste Trikot von Rot Weiß Essen und ich stolz mein blau-weißes Schalker Trikot. Warum er mir aber eines Tages eine Zaunlatte auf den Kopf schlug, weiß ich nicht mehr. Die Narbe vom darin befindlichen rostigen Nagel, trage ich noch heute an meiner rechten Stirnseite. Das hätte im wahrsten Sinne ins Auge gehen können. Wenn wir nicht auf der leeren Straße spielten, machten wir uns auf den Weg zum nahen Mechtenberg, um in Bombentrichtern Kaulquappen zu fangen. Hier, in den Einschlägen der Alliierten, hatte sich Regenwasser gesammelt und wenige Jahre nach dem Krieg in ein Biotop verwandelt. Wie gefährlich das Spielen auf der Anhöhe zwischen Rotthausen und Essen war, haben wir als Kinder nicht ahnen können. Gefährlich war es nicht, aber ich bin um mein Leben gerannt, als einer meiner „Freunde“ mehrere Frösche in meiner Schuhschachtel voller Micky Maus Hefte versteckte und ich nichts ahnend den Deckel lüpfte.
Mein erster Freund, Jürgen mit seiner Mutter und ich
Es war eine raue, aber schöne Zeit. Die Eltern hatten noch die 48 Stunden Woche, arbeiteten aber direkt in der Nachbarschaft sodass sie oft auch mittags nach Hause kamen. Auch den Bruder von meinem Vater, Onkel Hans, sah ich oft mit seinen Kollegen in der Mittagspause vor dem Werktor von August Friedberg, der Rotthausen Schrauben- und Nietenfabrik, mit seiner Butterbox sitzen. Die Firma in direkter Nachbarschaft zu unserem Haus wurde bereits 1884 in der Bauernschaft Rotthausen auf der grünen Wiese gegründet. Sie ist ein kleines Wunder im Ruhrgebiet und gilt immer noch als hochgeschätztes Unternehmen in der weltweiten Befestigungstechnik. Mittlerweile in der 4. Generation.
Der Schreinermeister Georg Müntjes hätte sich sicher gefreut, wenn mein Sohn Georg Friedrich Müntjes in der 4. Generation die Schreinerei in der Nachbarschaft von Friedberg weitergeführt hätte. Zu dieser Wahl ist es nie gekommen. Erwartungen der Vorfahren können auch die Freiheit einschränken.
Ja, gearbeiteten wurde viel in den 50er. Ich glaube aber, dass heute der Stress größer ist. Neben der Schreinerei im Hinterhof ging über dem Holzlager noch eine steile Treppe zum Schuster Joswig hoch. Den Geruch von Leder und Kleber kann ich noch heute aus meinem Gedächtnis abrufen. Auch den Befehl vom Schuster: „Hol mi ma ne Pulle Bier und ein Dreierpack Tula von der Selterbude!“. Tula war damals eine begehrte Zigarettenmarke. Für die Dienstleistung gab es dann eine großzügige Belohnung von einem bis fünf Pfennig. Immerhin reichte das für bis zu 10 Knöterichs, diese kleinen Anisbonbons. Oder für Salmiakpastillen, die mit viel Spucke auf den Handrücken zu Sternengebilden zusammengeklebt wurden.
Meinem großem Bruder Hans-Georg wurden diese Pastillen aus dem Extrakt von Süßholz einmal zum Verhängnis. Er hatte wohl zu viel Trinkgeld vom Schuster bekommen und setzte alles in diese schwarze Masse um. Die schwarze Spucke nahm kein Ende, der eilig herbeigerufene Arzt durchschaute aber das Spiel und gab Entwarnung.
Feste gearbeitet wurde damals, aber auch feste gefeiert. Es gab Schützenfeste, die feierlich vom Spielmannszug Rotthausen angekündigt wurden. Mein Vetter Theo schwang den Taktstock in der ersten Reihe. Der Klang der Trommeln und Fanfaren ging durch alle Häuser. Die Fenster wurden aufgerissen und mit Fahnen geschmückt. Die Halterungen aus der Nazi Zeit waren noch nicht abmontiert. Die Schwarz-Rot-Goldene Fahne war damals noch nicht so populär. Da war die Schwarz-Weiß-Grüne Gelsenkirchener Fahne doch etwas unverfänglicher.
Überhaupt spielte sich ein großer Teil des Lebens am Fenster statt. Ich sehe noch heute meinen Vater mit einem Kissen bewaffnet in der Freizeit stundenlang aus dem Fenster zu schauen. Viel war da nicht zu sehen, aber Fernseher hatten wir in der Belforter Straße noch nicht. So kam es auch zu Gesprächen über die Straße hinweg zum Nachbarfenster. Meistens war diese „Fensterschau“ am Sonntagnachmittag nach dem Kirchgang.
Meine Mutter war immer stolz darauf, mit uns drei Jungen, ausstaffiert mit kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen, zur Kirche St. Maria Himmelfahrt zu gehen. Die Frauen standen mit ihren kleinen Jungen auf der linken und die Männer mit den großen auf der rechten Schiffseite. Da wollte ich auch hin! Nach der Kirche gab es dann das gute Sonntagsessen mit Vorsuppe vom ausgekochtem Huhn, wo der Eierstich mit den Fettaugen um die Wette tanzte. Danach so feine Sachen wie Kohlrouladen oder gefüllter Hackbraten mit Kartoffelgratin. Zum Nachtisch Wackelpudding oder Rhabarberkompott mit Hut. Es wurde immer vor der Mahlzeit gebetet und abgefragt worüber der Pfarrer heute gepredigt hatte. Erst danach wurden die Teller in der Reihenfolge Vater, Mutter, Kinder gefüllt. Wenn Besuch da war, gingen die Kinder an den „Katzentisch“. So haben wir nur am Sonntag oder Festtagen gegessen. An gewöhnlichen Wochentagen gab es meistens Eintöpfe wie Bohnen, Erbsen, Linsen oder Graupen. Manchmal auch frischen Spinat, den die Mutter auf dem Hackbrett mühevoll in kleine Stücke zerteilte.
Religion spielte eine große Rolle in unserer Familie. Die katholische Pfarrgemeinde, zu der wir gehörten, wurde 1891 gegründet. Die evangelische Kirchengemeinde 1893. Ich bekam die volle Ladung der Katholiken. Mit 7 : Wölfling und später Pfadfinder und Messdiener. Schlimm finde ich aus heutiger Sicht, dass wir Kinder einen großen Bogen um die „Andersgläubigen“ machten, als ob das Menschen von einem anderen Stern wären. Als wir dann später in der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) eine „Eliteeinheit“ namens Cherusker gründeten und alte Landserlieder sangen, war genügend Sprengstoff da um uns jungen Kerle wieder in die falsche Richtung zu führen. Ich sehe das aber erst heute, mit dem nötigen Abstand, dass wir uns fast die Finger verbrannt hätten.
Nicht verbrannt, aber wieder spielte eine Kerze eine Rolle. Meine Cousine Elisabeth (Elsbeth), die Tochter von Vaters Schwester, Tante Else wohnte mit uns im gleichen Haus. Elsbeth ist die Älteste aus dieser Generation und heute bereits 88. Sie heiratete am 7. August 1955 in unserer Pfarrkirche. Ich wurde als knapp 6 jähriger in einen weißen Anzug gesteckt. Mit einer schwarzen Lackfliege und einer Kerze in der rechten Hand führte ich den „Festzug“ an. Wie auf dem Foto zu sehen ist, schauten die 24 jährige Elsbeth und ihr angetrauter Mann Herbert nach dem Gottesdienst nicht gerade fröhlich in die Kamera. Ich war sicher nicht der Grund, denn mein brummiges Gesicht konnten sie ja nicht sehen. Ich weiß aber noch heute was mich bewegte. Das Kerzenwachs, das Tropfen für Tropfen auf meine Hand lief, war heiß, sehr heiß. Meine Mutter sagte nur „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Ich erfuhr erst 50 Jahre später von meinem Sohn Georg, dass wir keine Indianer sind. So ändern sich die Zeiten.
Er war braun und fühlte sich geschmeidig an. Ein Pferdekopf schmückte den aufklappbaren Deckel. Seitlich hing ein gehäkelter Tafellappen. Bei jeden Schritt klapperten die Schiefergriffel in der aufschiebbaren Holzbox. Ja, ich war sehr froh und auch ein wenig eingeschüchtert, als ich mit meinem neuen Tornister durch das Schultor schritt. Es war der 1. April 1956, der Tag meiner Einschulung in die 1893 erbaute Hilgenboomschule: Eine traditionsreiche katholische Volksschule, die schon mein Vater besucht hatte. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir damals schon eine Schultüte hatten. Den Geruch der geölten Fußböden und der warmen Freimilch habe ich aber noch in der Nase. Unsere Lehrerin, Fräulein Völker, eine hübsche Frau mit schwarzem Dutt, wirkte sehr freundlich auf uns eingeschüchterte Kinder.
Meine Leistungen im ersten Halbjahr waren „Ausreichend“ und steigerten sich im 2. Halbjahr auf ein „Befriedigend“ mit der Bemerkung „Versetzt“!
Aber auch Lehrer sind nicht perfekt, denn in meinem Zeugnis stand „Friedhelm Mündjes“ statt Friedrich Müntjes. Oder war das schon ein Vorzeichen dafür, dass die Hilgenboom Schule heute ein Demenz-Zentrum ist. Ich träumte bis zur 4. Klasse so vor mich hin. Dann wachte ich aber rasant durch die Stockschläge von Rektor Hahn auf. Diese galten nicht mir, dafür hatten wir unsere „Prügelknaben“ in der Klasse.
Rektor Hahn übernahm ab der 4. Klasse ein von allen Mädchen befreites „Schlachtfeld“. Er hatte wohl seine Erinnerungen aus dem 1.Weltkrieg nicht vergessen. Zumindest zeigte er uns öfter seine Narben im Oberarm. Dieser war durch Dum Dum Geschosse vom Erbfeind durchschossen worden. Ein lustiger Name für eine grausame Praxis, die Geschosse trudeln zu lassen. Um so grausamer waren dann die Verwundungen.
Es war sicher nicht grausam, aber aus heutiger Sicht ein Fehler, Mädchen und Jungen sowie Konfessionen zu trennen. Das führte zu einer Entfremdung, die mir in meinem späteren Leben zu schaffen machte.
Um sich bei den 10 Jährigem Respekt zu verschaffen, brachte Rektor Hahn jedes Jahr nach den Sommerferien ein Bündel Rohrstöcke mit, die am Jahresende zerfetzt waren. Kaplan Müller machte es sich mit Ohren ziehen und Schlagen mit dem Lineal leichter. Da ich ein braver, überängstlicher Schüler war habe ich von beiden „Waffen“ nichts abbekommen.
In einer Arbeiterstadt war es nicht üblich, eine höhere Schule zu besuchen. „Wir können dir da nicht helfen“ war der übliche Satz der Eltern. Zwei meiner Freunde haben es aber trotzdem versucht und gingen aufs Humanistische Gymnasium. Nur ein halbes Jahr waren ihre Plätze in der Volksschule verwaist, dann versuchten sie sich wieder in den Schulbänken zu lümmeln, was mit Blick auf den Rohrstock aber gleich wieder zu einem geraden Rücken führte. Für mich war es gut. Ich hatte meine Freunde zurück und wir für die restlichen Jahre den selben Schulweg. Wir wohnten mittlerweile in der Steeler Straße, verstärkt mit einem vierten Kind, meiner süßen kleinen Schwester namens Gabi.
Auf den Schulwegen flogen die Tornister - mittlerweile von den Schulterriemen und Häkellappen befreit - durch die Gegend. Kein Problem für das feste Rindsleder. Ich hatte in den ganzen Jahren nur ein Exemplar. So fest war auch mein Glaube an den „Klapperstorch“ oder wer sonst noch die Babys bringt. Ich war 13, als einer meiner Freunde mir versuchte, den Zeugungsvorgang zu erklären. Ich konnte es nicht glauben, auch später nicht, als wir auf den Schulendtagen durch Kaplan Müller „aufgeklärt“ wurden.
8. Klasse katholische Knabenschule Hilgenboom in Gelsenkirchen-Rotthausen mit Rektor Hahn.
Dieses Bild habe ich von meinem Schulfreund Klaus bekommen, den ich im Juni 2019 nach rund 50 Jahren besucht habe. Ich kenne alle Gesichter auf dem Bild - Klaus steht rechts neben mir - kann mich aber nur an wenige Namen erinnern. Wir waren fast 40 Jungen in einer Klasse. Ohne Mädchen aus heutiger Sicht ein großer Fehler.
Wahrscheinlich wollte er es mir, dem Ungläubigen, einprügeln als er mir auf seinem abendlichen Rundgang im Schlafraum mir das Trommelfell zerschlug. Nur weil ich Klaus, der unter mir schlief, fragte „Ist er weg?“ Mein Freund dachte, ich breche durch das Bett durch. Unseren Eltern konnten wir den Vorfall so nicht erzählen „Dann hast Du es wohl verdient?“ war der lapidare übliche Kommentar.
Ab der 8. Klasse fühlten wir uns schon sehr erwachsen. Erste Erfahrungen mit dem Alkohol machten wir durch die von Butzi - er hieß eigentlich Rainer- mitgebrachten Bügelflaschen, die kein Bier zum Inhalt hatten, so wie es das Etikett vorgaukelte. Seine Eltern hatten eine sehr bekannte und gut gehende Gaststätte direkt gegenüber der berühmten Zeche Dahlbusch. Es gab einen Bier- und einen Schnapskeller. Das Bier lagerte dort umhüllt von Stangeneis in Holzfässern, der Schnaps im anderen Keller in großen Korbflaschen. Das gab Butzi die Gelegenheit -ohne dass sein Vater es merkte- von jeder Korbflasche ein wenig in die leere Bierflasche zu kippen. Diesen Cocktail aus Wacholder, Korn, Weinbrand etc. nannten wir „Pfadfinder Spezial“. In den Schultaschen war mangels Bücher genügend Platz, diese gefährliche Mischung unbemerkt in die Schule zu bringen. Über die Wirkungen will ich hier nicht berichten. Irgendwie schafften wir es doch die 8 Schuljahre zu überstehen.
1964 und die Beatles und Rolling Stones machten uns zu Halbstarken. Der freie Schnaps war auch nötig, denn Geld hatten wir damals nicht. Jeder Pfennig musste neben der Schule verdient werden: Trümmersteine für Butzis Oma von altem Mörtel befreien, Dachpappen, Ziegel und Bleirollen für Bedachungshandel Gill auf- oder abladen, Eier an Wohnungstüren verkaufen - für jedes verkaufte Ei gab es einen Pfennig - und vieles mehr brachte uns manche Mark, um die begehrten Beatles Platten zu kaufen. Jeder gab 50 Pfennige, um die erste Single „Love Me Do“ gemeinsam zu kaufen. Unser Ordentlichster, Klaus hat sie bestimmt noch heute ohne einen Kratzer.