Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Melanie Bertsch
Blog: www.zuhauseimwald.blogspot.com
YouTube: Zuhause im Wald
Covergestaltung: Jamie Niederer
www.jamieniederer.com
Lektorat und Korrektorat: Susen Truffel-Reiff,
www.missflyleaf.com
Bildmaterial: eigenes Bildmaterial, es sei denn es wurde
entsprechend anders gekennzeichnet.
Kartenmaterial: www.stepmap.de
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752682816
Diese Geschichte beruht auf zum Teil wahren, autobiographischen Begebenheiten. Die dargestellten Erlebnisse, Gespräche und Personen entspringen den Erinnerungen, dem Tagebuch und der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen wurden abgeschwächt und Namen teilweise geändert. Da es sich um einen autobiografischen Roman handelt, beinhaltet dieser auch fiktive Passagen.
Für den Wanderweg Te Araroa Trail gibt es bisher keine allgemein anerkannte Kilometereinteilung, da er noch nicht komplett fertiggestellt und erst neun Jahre alt ist. Alle Kilometerangaben verstehen sich deshalb als Näherungswerte und wurden nach eigenen Berechnungen erstellt oder angepasst.
Das Bildmaterial ist eigenes Bildmaterial, es sei denn es wurde entsprechend anders gekennzeichnet.
„Und wo schlaft ihr dann?“ Die Frage kommt von Christina, der Freundin einer alten Schulfreundin, bei der wir gerade auf der Terrasse sitzen. Der normale Arbeitsalltag ruht nach fünf Tagen, es ist Samstag. Wir sitzen im Garten und warten darauf, dass das Grillgut auf dem Feuer fertig wird. Ich lehne mich genüsslich im Klappstuhl zurück, atme Sommerluft und den Duft nach Gegrilltem ein und lächle meinen Mann an. Wir genießen die gesellige Pause von unseren Vorbereitungen. Zuhause, in unserer Zwei-Zimmer-Standard-Mietwohnung, herrscht das Chaos. Rucksäcke, Isomatten, Schlafsäcke und Wanderschuhe machen uns den Lebensraum streitig und warten auf ihre endgültige Auswahl oder Ausmusterung.
„Ja, wo schlaft ihr denn dann? Ihr werdet keine Wohnung mieten, oder? Wenn ich das richtig verstanden habe, dann reist ihr durch Neuseeland?“, fragt eine junge Frau im Blümchenkleid. Sie heißt Katrin.
„Nein, wir mieten keine Wohnung! Das wäre viel zu teuer. Dann könnten wir es uns nicht leisten ein halbes Jahr dortzubleiben. Und ja, wir werden zu Fuß durch Neuseeland reisen“, antwortet mein Mann Henning.
„Aber wo schlaft ihr dann?“, fragt jetzt wieder Christina. Sie und Katrin haben zusammen studiert.
„Wir nehmen im Rucksack ein Zelt mit und darin werden wir meistens schlafen“, antworte ich. „Ansonsten soll es auch viele Berghütten als Übernachtungsmöglichkeit geben.“
Ich spiele an einer Haarsträhne. Das mache ich gerne, um mich zu beruhigen. Meistens ist das Feedback, das wir zu unseren Reiseplänen bekommen positiv, aber manchmal auch ungläubig oder tendenziell angewidert. So wie in diesem Fall. Die Fragestellerin zieht die Augenbrauen hoch.
„Ihr wollt jede Nacht in einem Zelt schlafen? Ist das nicht gruselig?“, fragt sie nach und wirft einen Seitenblick auf ihre Freundin Katrin.
„Nicht jede Nacht“, antworte ich ausweichend. „Wir müssen ja auch mal duschen und Wäsche waschen, dann gehen wir in ein Hotel oder Hostel.“ Ich verschone sie und erwähne nicht, dass die Berghütten, die wir benutzen wollen, keinen Strom und kein fließendes Wasser haben und die Toilette ein Kompost-Plumpsklo sein wird; wenn wir Glück haben und überhaupt eine vorhanden ist. Für den Fall, dass keine Toilette in der Nähe ist, habe ich eine kleine blaue Titanschaufel, die irgendwo im Chaos darauf wartet in den Rucksack gepackt zu werden. Mit ihr kann ich ein Loch graben und mein Geschäft im Waldboden verbuddeln.
„Also ich weiß nicht - für mich wäre das nichts.“ Katrin schüttelt den Kopf. „Ich könnte bestimmt nicht schlafen mit nur einem Stück Stoff zwischen mir und der Welt.“
Christina pflichtet ihr bei: „Und ich könnte wohl wochenlang nicht aufs Klo. Ohne sauberes Badezimmer, das wäre für mich ein absoluter Alptraum. Ich gehe schon nicht auf öffentliche Toiletten in Restaurants oder so, wo andere Menschen das Klo ebenfalls benutzen. Im Hotel geht es ja grade noch so.“
Gut, dass ich die Klosituation nicht weiter ausgeführt habe.
Mit einem Blick in mein Gesicht fügt Christina noch schnell hinzu „… aber schön für euch, wenn das was für euch ist!“ Ich strahle sie an. Ja! Das wird großartig.
Ich denke an die Bilder auf Instagram, die ich vom Wanderweg in Neuseeland erst heute gesehen habe und freue mich drauf. Es macht mir nichts aus, dass andere das nicht ebenfalls machen wollen oder es ungemütlich finden.
„Wow toll!“, mischt sich nun der Nachbar ein, der bisher nur zugehört hatte. Mit „Hi, ich bin der David“ hatte er sich vorgestellt, als er durch die Terassentür in den üppig grünen Garten kam.
„Durch die Natur wandern, frische Luft atmen, abends das Zelt in einer wilden und spektakulären Landschaft aufstellen und ein Lagerfeuer machen, um darüber Würstchen zu braten… Ich beneide euch so, ich könnte das niemals machen!“
„Wieso nicht?“, frage ich ihn. Ich gehe nicht auf das Lagerfeuer ein und auch nicht auf die Würstchen, die es nicht geben wird, sie sind nicht lange genug haltbar. Aber auf die frische Luft und das Leben draußen freue ich mich. Und auf mein Zelt ebenfalls. Und auf den guten Schlaf, wenn man viel draußen ist und sich bewegt. Ach ja, und darauf, dass ich dann essen kann, was ich will, ohne Angst vor Fettpölsterchen zu haben.
„Ich habe gar nicht so viel Zeit!“, winkt David ab. Mit der Antwort habe ich gerechnet. Diese Antwort habe ich schon oft gehört, die lassen wir ihm aber nicht durchgehen. Jeder hat genau gleich viel Zeit, nämlich 24 Stunden jeden Tag.
Ein verschwörerischer Blick an meinen Henning und der legt auch schon los: „Die Zeit musst du dir nehmen“, erklärt er und setzt sich auf die kleine Mauer neben uns, um sich unserer Gesprächsrunde anzuschließen. „Wenn du das wirklich willst, wenn dir die Vorstellung gefällt, zu Fuß monatelang unterwegs zu sein und in der Natur zu leben, dich herauszufordern und deine Komfortzone zu verlassen – dann musst du das einfach machen!“ Seine Augenbrauen hüpfen begeistert auf und ab.
„Naaah“, winkt David ab und streichelt die schwarz-weiße Katze, die um seine Beine streicht. Aus der Geste, mit der er sich abwendet, schließe ich, dass er zwar die Vorstellung reizvoll findet, aber niemals den letzten Schritt machen und aufbrechen würde. Er würde immer eine Ausrede finden, warum es gerade jetzt nicht geht, denke ich bei mir und fühle mich schlecht, dass ich ihm diese Gedanken unterstelle. „Das geht doch nicht. Ich muss doch arbeiten. Mir schenkt niemand Geld zum sechs Monate Urlaubmachen.“ Er guckt weder Henning noch mich direkt an. Zum Glück. So kann er auch nicht sehen, dass ich verletzt bin, denn schließlich arbeiten wir auch. Wir finanzieren unsere Reise nach und durch Neuseeland selbst. Wir haben nichts geerbt und haben keine Sponsoren. Unser Reisedrang ist nur so groß, dass wir ihm alles andere untergeordnet haben.
Er erspart mir, auf dieses Argument eingehen zu müssen, denn er fügt gleich noch hinzu: „Außerdem bin ich zu alt und zu unsportlich. Das würde ich niemals schaffen. Ich würde nach zehn Kilometern tausend Blasen an den Füßen haben oder in den Bergen sterben.“ Er lacht laut auf, was die Katze erschreckt. Sie windet sich unter dem Stuhl durch und verschwindet hinter dem Buchsbaumbusch.
„So ein Quatsch!“, wende ich ein. „Erstens bist du doch nicht alt.“ Ich mustere ihn nochmal genau. Nein, also älter als Mitte Dreißig kann er auf keinen Fall sein. Wahrscheinlich eher Ende Zwanzig. So alt wie wir also. Das ist doch nicht alt?! Oder etwa doch?
„Und zweitens kann man das Laufen von acht Stunden am Tag nur bedingt trainieren. Man muss es einfach machen. Wenn du Laufen kannst, kannst du auch weit laufen.“
Learning by doing, heißt der alte Pfadfinderspruch.
Die Menschentraube, die sich inzwischen um uns versammelt hat, ist größer geworden und ich rutsche etwas unbehaglich auf meinem Klappstuhl rum. Manche starren mich an, andere schütteln belustigt den Kopf. Ist die Vorstellung mehr als zwei, drei Wochen zu wandern und im Zelt zu schlafen etwa so ungewöhnlich? Haben die noch nie einen der vielen Pilger getroffen, die jedes Jahr den Camino in Spanien laufen? So selten sind die doch nicht. Die nächste Frage lenkt mich von dem Gefühl ab, ein bunter Papagei in einem Zoo zu sein.
„Ist das nicht gefährlich?“, fragt einer der Neuankömmlinge der Partyrunde. Er hat sich mir noch nicht vorgestellt, aber ich bin ja auch nicht die Gastgeberin. Da ich seinen Namen nicht kenne, taufe ich ihn Opa-Hut. Nach der graukarierten Schirmmütze, die er als moderne Kopfbedeckung trägt. Ein echter Hipster.
„Gefährlich?“, frage ich verwirrt. „Was genau?“ Ich klammere mich an meine Flasche Radler, als könnte sie mir Halt geben. Ich wundere mich, denn bezüglich der Reise bin ich nicht unsicher. Anscheinend aber darüber, dass ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe.
„Wird man nicht ausgeraubt?“, fragt er ernsthaft besorgt.
„Ausgeraubt? Von wem denn?“, antworte ich laut und fest und mit geradem Rücken. Ich bilde mir ein, dass das selbstbewusst aussieht. Fake it till you make it. Ich verstehe die Frage allerdings immer noch nicht recht.
„Nein“, erwidert Henning freundlich lachend und kommt mir zu Hilfe. „Die einzigen anderen Menschen weit und breit werden andere Wanderer sein. Und die sind froh um jedes Gramm, das sie nicht selbst tragen müssen.“
„Was ist mit wilden Tieren?“ Dieser Hipster-Typ scheint ein echter Sicherheitsfanatiker zu sein.
„Es gibt keine giftigen oder für Menschen gefährlichen Tiere in Neuseeland“, antwortet wieder Henning. Kurze ungläubige Pause in der Menschentraube.
Gelächter dringt zu uns rüber. Ich schaue mich im Garten nach meiner Freundin und Gastgeberin um und nach dem Essen auf dem Grill. Der Rauch steigt in feinen Säulen der Sonne entgegen und glückliche Gesichter strahlen mit ihr um die Wette. Was für ein schöner Tag. Als ihr Blick sich mit meinem verfängt winken wir uns zu.
„Gar keine?“, fragt der Opa-Hut und holt mich wieder zurück in die Unterhaltung.
„Nein. Keine. Und selbst wenn du in den USA wandern willst, wo es Bären und Klapperschlangen gibt, dann ist das nicht das Ende. Es erfordert ein angepasstes Verhalten und ein paar Vorsichtsmaßnahmen. Dann passt das schon.“ Henning der Erklärbär. „Zum Beispiel hängst du dein Essen hoch in einen Baum, anstatt es mit ins Zelt zu nehmen. Und wenn man diese Regeln befolgt und auf keine Schlange tritt, oder sich den Hintern mit Giftefeu abwischt, ist man auf der sicheren Seite.“
Ich muss lächeln. Henning ist Feuer und Flamme, die Leute zu einem Abenteuer in der Wildnis zu begeistern. Er findet, dass sich jeder eine Auszeit aus dem Alltag verdient hat und meint, dass die Leute sich nur nicht trauen.
„Und was macht ihr, wenn es regnet?“, fragt Marc, ein weiterer Zuhörer. Das ist meine Lieblingsfrage und ich beeile mich, sie zu beantworten. Wann immer wir von unseren Wanderplänen erzählen, kommt früher oder später diese Frage. Was sollen wir schon machen? „Dann rufen wir ein Taxi und checken in das nächste Spa-Hotel ein“, scherze ich. „Nein, natürlich nicht. Mitten in den Bergen wird es das nicht geben. Wenn es regnet werden wir nass. So einfach ist das.“
„Ja, aber ist das nicht unangenehm?“, fragt Opa-Hut.
„Doch …“, setze ich an.
„Ihr habt doch bestimmt Regenkleidung dabei?“, unterbricht mich Marc.
„Natürlich, aber wenn man lange genug im Regen unterwegs ist wird man auch mit der besten Regenkleidung der Welt irgendwann nass“, erkläre ich eine Tatsache, die ich selbst nicht so prickelnd finde. Man müsste eine Weinbergschnecke sein und sich bei Bedarf in sein Haus auf dem Rücken zurückziehen können. Das wäre praktisch!
„Hat der Wanderweg einen Namen?“ Die Frage kommt gleichzeitig mit der von Sophie, die bisher nur interessiert zugehört hatte: „Und warum macht ihr das?“
„Der Wanderweg hat einen Namen. Er heißt Te Araroa. Das bedeutet auf Maori der lange Pfad.“
‚Warum wir das machen‘ - das ist die wirklich gute Frage. So wirklich wissen wir es nicht. Nein. Das stimmt nicht. Wir wissen, dass wir es wollen und wir wissen auch so ungefähr warum, aber es ist mehr ein Gefühl, das zu beschreiben uns immer schwerfällt.
„Weil es ein Abenteuer ist, weil wir Zeit in der Natur verbringen wollen, …“ Ich fange an aufzuzählen, was mir als erstes einfällt, dann zucke ich mit den Achseln, denn plötzlich fällt mir der Rest nicht mehr ein. „Weil wir den minimalistischen und manchmal rauen Lebensstil einer solchen Wanderung vermissen, der einen sehr glücklich und bescheiden macht. Man vergisst im Alltag so schnell, was wichtig ist“, hilft mir Henning. Er bezieht sich dabei auf unsere erste Weitwanderung 2014 auf dem Appalachian Trail an der Ostküste der USA, bei der wir viel Erfahrung sammeln konnten.
„Und weil wir eine körperliche und mentale Herausforderung suchen“, füge ich hinzu. Da ich in fragende Gesichter blicke, versuche ich es nochmal besser zu erklären: „Stellt euch einfach vor, ihr wacht auf und hört nur den Wind, das Morgenrot der Sonne hat euch geweckt und die Luft ist so klar, dass sie nach Freiheit schmeckt. Alles was ihr braucht passt in einen Rucksack und ganz egal, was auf euch zukommt, ihr seid vorbereitet: Sonne, Regen, Kälte, Erste Hilfe, …
Vielleicht weil wir verrückt sind. Auf jeden Fall, weil wir uns persönlich weiterentwickeln wollen und wir der Meinung sind, dass Erfahrungen uns prägen. Ein paar dieser Lebenserfahrungen dürfen gerne etwas extremer sein.“
Auch wenn wir heute Abend niemand überzeugen können. Zumindest sind wir uns sicher: Das wird großartig!
Seit fast zwei Jahren wohnen wir in Bad Salzuflen, einem idyllischen und abgelegenen Kurort in der Nähe von Bielefeld. Es geht uns gut hier, finde ich. Unsere Familien leben zwar in Süddeutschland, aber wir wollen ja nicht für immer hierbleiben. Ich nippe an meiner Tasse Tee und genieße die frische Brise am Abend auf meinem Balkon.
Nachdem ich mehrere Minuten ohne viele Gedanken im Kopf vor mich hin gestarrt habe, löse ich meinen Handtuchturban vom Kopf.
Ich bin richtig stolz auf mich und Henning. Seit Anfang des Jahres ziehen wir unser Fitnessprogramm jetzt schon durch und es fällt mir nicht mehr besonders schwer beim Joggen mit meinem Mann mitzuhalten. Zehn Kilometer Joggen – nie hätte ich gedacht, dass ich das schaffen könnte. Klar, nicht immer habe ich Lust und muss meinen Schweinehund überwinden, aber ich finde wir machen das gut. Interessant, was man schafft, wenn man die richtige Motivation dazu hat. Der Wunsch, fit genug für den Wanderweg zu sein, ist auf jeden Fall eine bessere Motivation als Abnehmen. An diesem Neujahrsvorsatz bin ich schon viele Male gescheitert.
Die Balkontür öffnet sich, und Henning kommt raus und stellt sich ans Balkongeländer, schaut in den Wald, an dessen Rand das Mehrfamilienhaus liegt, in dem wir wohnen. Unglaublich, dass er mich hatte überreden müssen hier einzuziehen. Den Wald direkt vor der Haustür zu haben ist so wunderschön! Im Winter wie im Sommer zieht es mich dorthin.
„Ich habe heute den Sprinter gebucht“, eröffnet Henning das Gespräch.
„Sehr gut!“, nicke ich. Dann kann ich jetzt ja anfangen Kellerkisten zu packen und auszusortieren. Wir werden die Wohnung in etwa zwei Monaten aufgeben und für die Zeit der großen Reise keinen Wohnsitz haben, das heißt alles wird verpackt und eingelagert. Da wir nicht außergewöhnlich viele Gegenstände besitzen, passt rechnerisch alles in einen Sprinter.
Hoffen wir!
Nun ist das Auto also gebucht und es steht fest: Wir werden wirklich ausziehen! Wir wissen nur noch nicht, wo genau wir alles lagern sollen. Da gibt es die Möglichkeit einen Storage-Raum zu mieten, die man aus amerikanischen Filmen kennt. Garagen voll mit Zeug, das keiner braucht. Oder man findet einen privaten Vermieter einer Garage. Die kann aber unter Umständen feucht sein, was unseren gesamten kleinen Haushalt zerstören könnte. Oder wir finden privat einen anderen Raum. Der müsste aber abschließbar sein.
Wenn wir nächstes Jahr nach Deutschland zurückkehren, dann wollen wir voraussichtlich Richtung Stuttgart ziehen. Es wäre gut, wenn unsere Sachen dann schon in der Nähe wären.
„Ich habe leider keine so guten Nachrichten.“ Ich kräusele die Lippen und berichte Henning von meinen recherchierten Preisen der Storage-Räume rund um Stuttgart.
„Warum nur ist das so teuer!? Oder wir nehmen einen Storage-Raum irgendwo in Deutschland, wo es günstiger ist“, schlage ich vor. Leipzig zum Beispiel.
„Das wär‘ doch total blöd. Dann müssen wir bei der Rückkehr einen riesigen Aufwand betreiben!“ Er nimmt im Schneidersitz neben mir auf dem Boden Platz. Es gibt einen kleinen Tisch und zwei Stühle, aber der Boden ist warm von der Sonne des Tages und wir sitzen gerne auf dem Boden. Dann schützt uns die Plane am Balkongitter besser vor den Blicken der Nachbarn. Das Haus gegenüber steht dicht an unserem. Ich vergesse, dass wir nicht im Schwabenland sind, wo hinter den Gardinen hervorgelinst wird. Die Frau dort interessiert sich nicht für die Außenwelt. Sie sitzt immer vor dem Fernseher.
„Es wäre um einige Hundert Euro günstiger – auf ein halbes Jahr gerechnet.“
Das Telefon klingelt im Wohnzimmer. Henning erbarmt sich und steht wieder auf, um den Anruf entgegenzunehmen.
Es wird langsam etwas kühler. Ich ziehe die Knie an den Oberkörper und schlinge meine Arme darum. Morgen steht Yoga auf meinem Sportprogramm und übermorgen Muskeltraining für die Beine und den Rücken. Durch Zufall bin ich im Facebook-Forum für den Te Araroa auf einen Personal Trainer aus den USA gestoßen, der ein Programm testen möchte und ich habe mich gemeldet, es auszuprobieren. Das Gute daran, ich kann eigentlich alles zu Hause machen. Und an manchen Wochenenden stehen Wanderungen an, wodurch ich viel mehr an der frischen Luft bin als zuvor. Leider macht Henning fast nie mit. Er ist der Meinung, er brauche außer joggen nicht trainieren, denn bei unserer ersten langen Wanderung haben wir uns überhaupt nicht körperlich vorbereitet und das ging auch wunderbar. „Wer wars?“, möchte ich wissen als er zurückkommt, das Telefon noch in der Hand.
„Meine Mama.“ Henning grinst verdächtig übermütig von Ohr zu Ohr. „Hennings Probleme haben sich mal wieder von alleine gelöst“, fügt er hinzu.
Das ist so ein Phänomen. Wenn bei mir Schwierigkeiten entstehen, muss ich immer mühsam eine Lösung finden. Bei ihm – der gerne mal was vor sich herschiebt – lösen sich Probleme nach kurzer, oder zumindest ausreichender Zeit in Luft auf, ohne dass er was machen muss.
Ich schürze also die Lippen und schaue ihn fragend an.
„Die Mieter meiner Mama haben ihren Keller gekündigt, sie brauchen ihn nicht mehr“, er schwenkt triumphierend das Telefon durch die Luft.
„Was? Das darf ja wohl nicht wahr sein, wie toll!“
Mich hält nichts mehr auf dem Boden. Wie ein kleines Kind hüpfe ich auf und ab. Der Kellerraum ist trocken, recht groß, mit Teppich und abschließbar. Früher war es Hennings Jugendzimmer.
„Und wir können ihn haben?“
„Ja! Für 50 € im Monat“. Seine Augen funkeln und ich strahle zurück. „Das ist perfekt!“ Meine Stimme klingt gedämpft in der Umarmung, mein Gesicht an seine Brust in das T-Shirt gepresst.
Ein Problem weniger, denke ich erleichtert. Immer noch Arm in Arm höre ich in meinem Ohr: „Dann müssen wir jetzt nur noch etwas arbeiten, dann umziehen, Weihnachten feiern und in den Flieger steigen.“ Ich schließe zufrieden die Augen.
Nie hätte ich gedacht, dass alles so reibungslos funktioniert wie es das gerade tut. Von der Idee bis hierher war es schon ein langer Weg von circa einem Jahr. Dass wir nochmal fernwandern wollen, stand schnell fest. Wir entschieden uns diesmal gegen die USA, weil uns andere Länder auch reizen. Ich weiß gar nicht mehr ganz genau wie wir auf Neuseeland kamen, aber ich glaube ich saß am Computer und gab long distance hiking trails bei Google ein und schaute mir alle bekannten und weniger bekannten Wanderwege dieser Welt an. Der Camino kam schon mal nicht in Frage – zu überlaufen. Dann schlossen wir Europa im Allgemeinen aus, denn hier werden wir auch in Zukunft leben und solange ich jung bin, möchte ich die Länder bereisen, die weit weg sind. Europa kann ich auch noch sehen, wenn mir Zeitverschiebungen zu anstrengend werden.
So fiel die Wahl auf Neuseeland und seinen recht neuen Fernwanderweg Te Araroa.
Der Alltag nimmt uns in Beschlag und die Tage ziehen schnell dahin. In jeder freien Minute wird ausgemistet, Umzugskartons gepackt, nur mit Dingen gefüllt, die wir unbedingt für unser weiteres Leben behalten wollen. Die Ausrüstungszusammenstellung ist als erstes fertig. Meine Recherchen ergeben, dass Neuseeland sehr teuer ist und man besser alles von Europa mitbringt – auch Ersatzschuhe. Wir planen für 3.000 Kilometer zwei bis drei Paar Schuhe für jeden ein.
„Hast du Angst?“ Meine Frage platzt in Hennings geschäftige Getippe seiner Tastatur.
„Nein.“ Die Antwort kommt prompt, ohne dass er weiß, um was es eigentlich geht.
„Du wirst so weit von Zuhause weg sein. Du weißt nicht was auf dich zukommt!“ Als würde er das allein machen. Mir wird klar, dass ich gerade meine eigenen Emotionen ausgesprochen habe. Meine Unsicherheit. Ich lasse mich zwischen zwei Umzugskartons sinken.
Henning unterbricht seine Recherche. „Das ist doch gerade das Schöne! Wir glauben immer, wir hätten unser Leben geplant und im Griff, dabei flüchten wir uns nur in Routinen und merken gar nicht, wie wir eigentlich NIE wissen was als nächstes passiert.“
Da hat er vermutlich recht. Habe ich das nicht irgendwann mal zu ihm gesagt?
„Hast du denn vor gar nichts Angst?“
„Doch. Ich habe Angst, einer von uns könnte sich verletzen und nicht weiterwandern. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich nur vor einer Sache Angst, nämlich dass wir es nicht schaffen könnten.“
„Nee, wir schaffen das! Wir müssen nur immer weiterlaufen.“
Der Tag des Umzugs kommt und geht ohne Vorfälle vorüber. Weihnachten steht vor der Tür und wir ziehen bei meinen Eltern ins Gästezimmer ein. Es fühlt sich komisch normal an, so als gäbe es unsere Wohnung am anderen Ende von Deutschland noch. Der Abschied fiel mir nicht leicht. Der Abenteuerlust stehen die geliebte Gewohnheit und Sicherheit gegenüber.
Ein Highlight, wie jedes Jahr, ist der mittelalterliche Weihnachtsmarkt von Esslingen. Ende des Jahres scheint die Zeit immer stehen geblieben. Plötzlich reisen alte Schulfreunde an, die man lange nicht gesehen hat, alle auf Heimaturlaub. Dort treffe ich mich heute mit Simone, einer wirklich guten Freundin, die ich aber nur alle Jubeljahre mal sehe.
„Jetzt mach nicht so ein Geheimnis draus! Wieviel Geld braucht man, um ein halbes Jahr reisen zu können?“ Sie nippt an ihrem dampfenden Glühwein.
„Ist ja gut! Wir brauchen weniger Geld als für ein halbes Jahr Leben in Deutschland. Aber nur, weil wir keine normalen Touristen sind.“
„Was heißt denn ‚normale Touristen‘?“
„Reisende, die in Ferienwohnungen, Hostels oder Hotels unterkommen. Oder sich einen Camper mieten.“
„Ach so. Und wie viel kostet es jetzt genau? Wie viel Geld brauche ich, wenn ich das nachmachen will?“
„Eine Auslandskrankenversicherung kostet weniger als der Krankenkassenbeitrag in Deutschland, etwa 350 € pro Person für sechs Monate. Unsere Mietkosten fallen bis auf 50 € Raummiete weg. Essen müssen wir in Neuseeland genauso wie in Deutschland. Die Preise sollen in etwa vergleichbar sein, etwas teurer in Neuseeland als in Deutschland. Wir rechnen mit höheren Kosten, weil wir nur bestimmte Lebensmittel in zum Teil sehr kleinen Supermärkten kaufen können. Das Essen muss schließlich mehrere Tage ungekühlt im Rucksack genießbar bleiben.
Bisher haben wir durchschnittlich 500 € im Monat für Essen ausgegeben. Wir rechnen für die Reise mit etwa 50 € pro Tag.
Für Übernachtungen haben wir durchschnittlich alle vier Tage einen Hotelaufenthalt geplant; konservativ gerechnet. Zelten sollte meist umsonst möglich sein, und für die Berghütten kaufen wir ein Halbjahres-Ticket, das kostet etwa 100 € pro Person für sechs Monate. Wir planen mit 500 € Übernachtungsausgaben pro Monat.“ Ich mache eine kleine Atempause, werde aber nicht unterbrochen und fahre dann mit dem Monolog fort.
„Dann haben wir Rücklagen für alle weiterlaufenden Versicherungen und Verträge gebildet, das sind nochmal etwa 200 € im Monat. Und wir haben ausgerechnet, wie viel Geld wir bei Wiederankunft in Deutschland brauchen, um zwei Monate über die Runden zu kommen und Bewerbungen schreiben zu können. Wobei wir kaum so lange brauchen werden, um einen Job zu finden. Wir möchten auf keinen Fall, dass danach unsere Familie für unseren ‚Langzeiturlaub‘ aufkommen muss!“ Simone hat mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet.
„Okay“, sagt sie nun, „ich sehe ihr habt das gut durchdacht. Habt ihr eigentlich noch was anderes gemacht, als euch mit dieser Planung zu beschäftigten?“
Sie lacht über meinen Gesichtsausdruck. „Also nicht! Und woher kommt das Geld? Von euren Eltern?“
„Nein!“ erwidere ich vehement. „Naja, ein bisschen kommt von der Verwandtschaft. Wir haben uns zur Hochzeit Geld für diese Reise anstatt anderer Dinge gewünscht. Das haben wir beiseitegelegt“, muss ich einräumen. „Aber das meiste Geld haben wir über zwei Jahre jeden Monat angespart.“
Wir haben darauf geachtet, uns nichts Neues anzuschaffen. Wir haben keine Kleidung, Elektronik oder Schuhe gekauft, es sei denn es musste dringend sein.
„Mein Fazit ist: Man braucht WIRKLICH nichts kaufen. Ich bin ganz gut zwei Jahre ohne neue Kleidung, Makeup oder andere Konsumgüter ausgekommen und habe immer noch genug zum Anziehen im Schrank. Die Sachen gehen nicht so schnell kaputt, wie man glaubt. Wann hast du das letzte Mal etwas aussortiert, weil es tatsächlich kaputt war?“
„Du meinst Kleidung?“ Simone zieht grüblerisch die Augenbrauen zusammen. „Mh …, ja, das ist lange her. Ich hatte mal eine Lieblingsjeans, die irgendwann mürbe geworden und gerissen ist. Und selbst dann habe ich sie noch ein paar Wochen getragen, weil ich mich nicht trennen konnte. Das ist bestimmt drei Jahre her.“
„Siehst du, da kann man schon Geld beiseitelegen! Ich war nicht mehr beim Frisör. Im Kino, oder Ähnliches, waren wir auch nicht. Nur Essengehen haben wir uns ab und zu gegönnt.“
„Fühlt sich das nicht ein bisschen hart an, wenn man auf so vieles verzichten muss?“
„Ich muss ja nicht. Ich verzichte freiwillig. Zugegeben, am Anfang fühlte es sich wie eine Strafe an. Aber man gewöhnt sich schnell daran, und dann weiß man: dieses T-Shirt oder eine Woche länger reisen. Und irgendwann wird es fast zu einer Art Wettbewerb – wer kann auf mehr verzichten – und dann macht es Spaß.“
„Ich frage mich immer noch, ob das Geld reicht. Wie viel Geld war das denn im Monat?“
„1.000 €“
„1.000 €? Dein Ernst?“
„Ja. In guten Monaten auch mehr.“
„Seid ihr Großverdiener, oder was?!“
„Was? Nein! Ich hab’s doch gerade erklärt. Wenn man seine finanziellen Verpflichtungen möglichst klein hält und nur Geld ausgibt für Dinge, die wirklich nötig, nahezu unumgänglich sind, dann können zwei Normalverdiener locker 1.000 € übrighaben.“
Ja, ja, über Geld zu reden ist schwierig, und so tun wir Deutschen es lieber nicht. Das restliche Treffen widmen wir anderen Themen und den Freuden des Weihnachtsmarktes.
Noch eine Woche bis zum Abflug.
Und dann ist er da, der Tag der Abreise, der letzte Tag des Jahres! Wir steigen in unseren Sportklamotten und Regenjacken und mit unseren lächerlich kleinen 50-Liter-Rucksäcken, in denen alles steckt, was wir für das nächste halbe Jahr oder länger glauben zu benötigen, in den Zug.
Ehe wir uns versehen sind sechs Stunden im Flugzeug nach Dubai vorbei. Silvester kommt und geht. Es folgen ein 14-stündiger Flug nach Sydney.
Am Gate, an dem wir auf den vierstündigen Weiterflug nach Christchurch in Neuseeland warten, ist es ruhig. Nur wenige andere Passagiere warten mit uns.
Vernünftigerweise haben wir uns bereits die Beine nach dem langen Flug vertreten. Viel gibt es nicht zu sehen. Ein Flughafen ist wie jeder andere Flughafen. Es gibt Zeitschriften, Alkohol, Reiseutensilien und die obligatorischen Makeup- und Parfümerie-Geschäfte. Alles wenig interessant, wenn es bald in die Wildnis geht. Schon so früh auf unserer Reise beginnt sich unsere Perspektive auf die Dinge zu verändern. Mir ist etwas flau im Magen. Mein Körper findet es falsch, dass die Sonne durch das Fenster scheint. Ich bin müde und aufgedreht zur gleichen Zeit. Wenn ich meine Augen schließe, dreht sich die Welt rhythmisch, als käme ich nicht aus dem Flugzeug, sondern von einem Schiff mit Seegang. In Deutschland ist es acht Stunden früher, etwa fünf Uhr morgens.
So fühlt sich das also an, am anderen Ende der Welt zu sein. Hier ist Sommer, bei uns Winter, hier Tag, dort Nacht; im Norden wird es wärmer, im Süden kälter und die Sterne sind auch andere …
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, als Bewegung in die Menschen um mich kommt.
The Airplane is ready for boarding.
Insgesamt beträgt dir reine Flugzeit von Deutschland nach Neuseeland am Ende 24 Stunden. Was für ein Wahnsinn. Zum Glück hatten wir uns für einen Zwischenaufenthalt entschieden. Aber auch so waren wir noch den ganzen 1. Januar unterwegs.
Beschreibung: Der Te Araroa Trail ist der jüngste Fernwanderweg der Welt und durchquert die Nord- und Südinsel Neuseelands. Er wurde 2011 offiziell eröffnet.
„Synonym”: Te Araroa heißt auf Maori: the Long Pathway – der lange Pfad
Länge: etwa 3.000 - 3.500 Kilometer, keine offizielle Messung vorhanden
Höhenmeter: unbekannt; inoffiziell geschätzt etwa 195.000 Meter
Höchster Punkt: Stag Saddle, 1.925 Meter
Niedrigster Punkt: mehrere Strecken auf Meereshöhe
Nördlichstes Ende: Cape Reinga und sein Leuchtturm. Dort treffen und vereinigen sich die Tasmansee und der Pazifische Ozean.
Südlichstes Ende: die Halbinsel Bluff.
Wie lange braucht man: 50-80 Tage pro Insel (heißt 100-160 Tage)
Besonderheiten: Neuseeland erstreckt sich über mehr als 13 Breitengrade. Der Te Araroa ist dadurch sehr abwechslungsreich und führt durch eine unglaubliche Anzahl verschiedenster Landschaften.
Offizielle Website: www.teararoa.org.nz
Guten Morgen! Aufgeregt liege ich auf dieser etwas unbequemen Hostel-Matratze und würde am liebsten aus dem Bett springen. Ich gucke mich in diesem verrückten Raum um. Es ist alles so wie gestern. Rechts eine Tür, die in den Flur zur Haustür führt. Links eine Tür, die zum Waschraum und mehreren weiteren Türen führt. Unter der hohen Decke hängt unsere wenige Kleidung und trocknet hoff entlich, denn das Hostel namens Bluff Lodge, in dem wir uns befi nden, hat keinen Trockner.
Direkt vor mir ist noch eine dritte Tür, und ein Tresen. Dies war früher mal die Post des kleinen Ortes Bluff gewesen, dem südlichsten Dorf von Neuseeland auf der gleichnamigen Halbinsel. Jetzt stapelt sich dort ... tja, was ist das? Sperrmüll?! Ach ja, und die Wandfarbe des Zimmers: knallorange und gelb!
Heute geht es endlich los mit unserer von so langer Hand geplanten Wanderreise. Aber bevor ich aus dem Bett springe, muss ich gucken, wie es Henning geht. Gestern Abend war er so erschöpft , dass ich mich um ihn kümmern musste. Es ging ihm etwas besser, als ich Essen vom Chinesen um die Ecke ans Bett gebracht hatte. Der asiatische Schnellimbiss war das einzige off ene Geschäft in Bluff gewesen. Es war gestern spät geworden, denn die Fähre von Stewart Island zurück ans Festland hatte Verspätung gehabt.
Die dreitägige Wanderung im Naturreservat auf Stewart Island war unser Aufwärmtraining für alles, was jetzt folgen sollte.
Ich drehe mich zu Henning und stelle fest: Er ist wach und lächelt mich an. Wie schön. Ich liebe es zu diesem Lächeln aufzuwachen.
„Gehts dir besser?“
Mit seinem „Ja, mir geht es gut“ springe ich bereits aus dem Bett. Die Wäsche ist natürlich nicht trocken, aber dafür scheint die Sonne durch das Fenster! Durch die Scheibe erkenne ich einen blauen Himmel. Das erste Mal seit wir in Neuseeland gelandet sind. In Christchurch, wo wir letzte Woche mit dem Flugzeug ankamen und unseren Jetlag kurierten, regnete es fast ausschließlich und war sehr kalt. Unsere anschließende Wanderung auf Stewart Island war ebenfalls sehr nass.
Wir packen unsere wenigen Sachen in die wasserdichten, bunten Packsäcke, diese in unsere Rucksäcke und grinsen uns dabei immer wieder an. Wir brechen noch vor dem Frühstück auf, ohne uns von jemandem zu verabschieden, denn wir haben viel vor und unser Zimmer gestern schon bezahlt.
„Da! Ich kann das Schild sehen!“, ruft Henning eine halbe Stunde später. Wir erreichen unseren offiziellen Startpunkt.
„Ja! Ich sehe es“, rufe ich und drehe mich zu Henning um, der hinter mir geht. Er grinst schon wieder von Ohr zu Ohr. Ich bin aufgedreht wie ein Kind an seinem Geburtstag. Wenn das Gewicht meines Rucksacks nicht so ungewohnt schwer wäre, ich hätte wohl einen Luftsprung gemacht, um überschüssige Energie loszuwerden. Es geht endlich los. Ich drehe mich wieder zu dem Schild und blinzle in die Sonne, die eher an eine deutsche Wintersonne erinnert als an neuseeländischen Hochsommer im Januar. Die Luft riecht frisch nach Meeresbrise. Von dem Pfosten, der den südlichsten Punkt Neuseelands markiert, sehe ich nur die Umrisse und gelb leuchtende Wegweiser daran.
Es ist merkwürdig dieses „Monument“ wahrhaftig vor mir zu sehen, und nicht wie während der monatelangen Planung, unzählige Male auf Videos und Bildern. In meiner Vorstellung war dieser Ort belebt gewesen. Und magisch. Es hatte nur ein Ort mit besonderer Stimmung sein können, schließlich war es der auserkorene Startpunkt unserer fünf Monate langen Wanderung. Doch hier ist niemand. Es gibt ein Hotelrestaurant. Es ist geschlossen. Die Straße endet in einer Sackgasse. Außer dem geschlossenen Restaurant gibt es nur dieses Schild.
Hoffentlich ist das kein böses Omen. Unser Fußmarsch in die „Freiheit“ beginnt ausgerechnet in einer Sackgasse. Ich behalte meine Gedanken lieber für mich.
Wir nähern uns andächtig, als würden wir eine Kirche betreten, in der man kein Geräusch machen soll.
Es ist eine weiße Metallstange mit einem Dutzend gelber Pfeile, die zu verschiedenen Metropolen der Welt zeigen. Da steht zum Beispiel „London 18.958 km“ oder „New York 15.008 km“. Sogar Sydney ist 2.000 Kilometer Luftlinie entfernt. Mir wird (mal wieder) klar, wie weit Neuseeland vom Rest der Welt entfernt ist und dass wir uns wahrhaftig auf der anderen Seite der Weltkugel befinden – von Deutschland aus gesehen. Mir wird etwas schwindelig.
Ich beobachte, wie Henning die Kamera auf einer Bank aufstellt und ausrichtet. Crazy, denke ich als die Kamera mit dem Selbstauslöser die erste Bilderserie von uns schießt. Es ist ja keiner hier, den wir hätten bitten können, von uns Bilder zu machen. Die Kamera dokumentiert, wie wir hier stehen. Am Ende der Welt, am Ende der Südinsel von Neuseeland. Um zu wandern. Ja, um VIEL zu laufen, nämlich durch ganz NEUSEELAND!
Unser Wanderziel – Cape Reinga, auf der entgegengesetzten Seite von Neuseeland – ist laut dem gelben Schild 1.401 Kilometer Luftlinie entfernt. Laufen werden wir über 3.000 Kilometer, um dort anzukommen.
Verrückt, denke ich schon wieder und mein Blick schweift über das vor mir liegende Meer. Es liegt spiegelglatt und friedlich vor uns, eingerahmt von grünen, großblättrigen Büschen am Ufer. Henning ist inzwischen mit den Vorbereitungen für die nächste Bilderserie fertig und wir lachen in die Kamera. Erwartungsvoll, voller Enthusiasmus und etwas nachdenklich.
Während Henning die Kamera wieder verstaut, deute ich auf das offene Meer Richtung Süden. „Bist du dir bewusst, dass in dieser Richtung nichts mehr kommt, nur noch die Antarktis?“ Es fühlt sich surreal für mich an.