Andrea Charlotte Berwing
Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
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Coverbild: Hannes Berwing
Lektorat: Helge Hoffmann
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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis:
Wüstenhimmel
Der alte Mann über dem Neubau
Krieg und Sehnsucht im Kopf
Der unheimliche Fahrstuhl
Die Schlange, der kleine Drache
Von Halle nach Berlin
Der alte Tuareg
Der kurze Weg über das Gelände des Naturkundemuseums
Autowüste
Böse Jungs
Operation Wüstenbaby
Lügen, Lügen, Notlügen
Die Wüste geht unter
Susanne
Erst mal zurück
An der Mauer Berlins
Der Drache lebt
Geheimnisse der Grenze
Sonnenallee – Arabische Straße
Der Rubin
Frauen
Lügen, Notlügen
Tod in der Wüste
Freiheit
Dämonen
Das Päckchen
Männerfantasien – Kaviar
Heimkehr – Gefängnis
Escort
Erstes Date
Henriette und Frank
Auf einem Spielplatz im Prenzlauer Berg
Frosch auf dem Kopf
Gleitgel
Armes Deutschland
Nonnenwitz
Stalken
Böse Nachbarin
Schweinsteiger vergeigt das Tor für Deutschland
Babett lädt ein
Bruderliebe
Klumpfüße, Spina bifida und Valium
Portemonnaie weg
Kleines Ego
Die lieben Ideen
Der verzauberte See
Winter Warnemünde
Ich kann nicht mehr
Interpartnership – Henriette auf dem Tablett der Vermittlung
Der Teufel auf Interpartnership lässt nicht lange auf sich warten
Immobilienmakler in Berlin
Mit Dir gehe ich überallhin
Cannes
Party bei Mephisto im Prenzlauer Berg
Schönefeld
Streit mit Verlegerin
Henriettes Kinder beim Teufel
Lea und Karstadt
AutorInnen und VerlegerInnen in Amelies Welt
Die geliebten 80er
Die 13. Fee
Lea und die Diebe
Teufelskralle
Vom Nachteil geboren zu sein
Ersatzreligion
Lea und die zwei Frauen aus dem Puff
Der Teufel und klassische Musik in Thüringen
Lea und die Müslitante, voll im Stress
Vier Tage später Meu amor
Lea – Karriere als Putze
Lea – Interpartnership Peter
Irgendwie Wut
Lea und die neue Chance verpufft?
Vom Nachteil der starken Gefühle
Der Sprung ins kalte Wasser
Zeit vergeht in Schuldmorphose
Operation X - Ein halbes Jahr später
Huren halten dicht, Ehrensache
Mephisto steigt auf – mit Hipster-Bart
Lea und Mary
Traum vom Nebeldrachen … der sie umkreist … Schreckliche Magie
Mephistos großzügiges Angebot
Jage nicht im Wohngebiet und wohne nicht im Jagdgebiet!
Milkersdorf – Swingerclub
SÉANCE MIT ALEISTER CROWLEY – das Erbe
Sardinien, Sonnenschein
Kosovo und der Skipper
Bonifacio
Schmuck in Sparkasse Schließfach
Henriette und Deep Throat
Dove sono campane sono puttame
Sursum corda
Die Schwaben laufen mit Minibäumen auf dem Kollwitzplatz herum
Das Beste kommt immer zum Schluss
Wüstenhimmel
Lea erwacht; über sich den dunkelblauen Sternenhimmel, der sich über ihren kleinen Körper legt wie eine Bärenmutter sanft über ihr Junges. Ihre Haut schimmert samten dunkel, die dünne helle Wolldecke liegt zwischen ihren Beinen zusammengerollt, eine Hand ruht unter ihrem Kopf, die andere angewinkelt auf ihrem Bauch. Die Grillen zirpen, ansonsten ist es still. Lea denkt im Moment an nichts. Ihr Gesicht wirkt sanft und entspannt, das Augenweiß leuchtet hell wie das Mondlicht, das in der Finsternis eine stille Weisheit verbreitet. Lea fühlt die wärmende Hand ihrer Großmutter auf ihrem Bauch, die sich sonst im kleinen Haus in solchen Momenten des nächtlichen Erwachens auf ihre Stirn legt. Hier und da sieht sie kleine Lichtfetzen in der Dunkelheit. Lea, ein kleines Mädchen von vier Jahren, schließt ihre Augen, um weiterzuschlafen in der Oase Bilma. Afrika.
Am nächsten Morgen wird Lea plötzlich durch laute Stimmen wach. Sie hört, wie sich beide Frauen streiten. Nana und Bernadette. Das ist ungewöhnlich.
„Ja, ich habe es getan, es ist dein Kind und sie braucht Hilfe!“, hört sie Bernadettes ungewöhnlich hart und metallen klingende Stimme.
„Nein, bitte nicht, lass die Nachricht nicht ankommen“, betet Nana, ihre Mutter, inbrünstig.
Plötzlich sind beide Frauen still. Lea kann nicht mehr weiterschlafen, trotz ihrer Müdigkeit setzt sie sich auf ihrer dünnen Strohmatte auf und reibt sich verwundert die Augen. Hat sie nur geträumt? Das alte ruinöse Gebäude, über dem ‚Bureau de Poste’ in abgenutzten Lettern steht, vermittelt nicht den Eindruck, dass der Plan der Großmutter funktionieren könnte. So hofft Nana inständig. Täglich schickt sie böse Wünsche in die Wüste und hin zum Feind, dem Postamt. Doch die Großmutter geht jetzt jeden Tag, wenn die Sonne am höchsten steht, über die trockenen Straßen, um sich nach einer Antwort zu erkundigen. Einer Antwort aus einer Welt, die ihr persönlich völlig abhandengekommen ist und mit der sie noch einmal Verbindung aufnehmen musste. Ihrer Enkelin wegen. Des Herzens wegen.
„Meine Tochter ist nicht krank, meine Tochter ist nicht krank!“ Das dunkelhaarige Mädchen hört den Satz ihrer Mutter immer wieder, und so wird ihr klar, dass es kein Traum war an diesem Morgen. Nur welche Erkrankung? Lea wundert sich. Und versucht nun immer öfter, zu den beiden Frauen hinzuhorchen. Etwas in ihr ist misstrauisch geworden. Und aufmerksam.
„Wie kannst du Ismael vertrauen, er ist ein alter Wüstendoktor, der Schlangenbisse heilen, doch keine Herzfehler erkennen kann!“, klagte Nana ihre Mutter, die Großmutter Leas, an. Die Großmutter jedoch nickt nur, ihre weiße Haut sticht immer noch hervor aus den vielen dunklen Menschen, die sie umgeben. Wenn auch ihre Aura sich den Menschen um sie herum und dem goldenen Licht der Wüste anpasst hat.
„Weißt du, Nana, du bist meine Tochter und Ismael hat uns mehrfach bei deinen Fieberphasen geholfen. Er wittert es wie ein altes Ross, wenn es eine Krankheit gibt, die er nicht heilen kann, und dein Kind, meine einzige Enkelin, braucht Hilfe. Langfristig. Ich habe ihn in meinen vielen Jahren hier Vertrauen gelehrt und ich komme aus einer anderen Kultur als du und Ismael.“
Trotz ihrer ergrauten Haare, die ihr Haupt silberweiß umrahmen, funkeln ihre blauen Augen Nana hell und klar entgegen. Nana hat die braunen Augen und auch alles andere von ihrem Vater geerbt. Nur Lea scheint ihrer Großmutter wieder entgegenzukommen mit ihren helleren braunen Haaren und den grünlich durchbrochenen, braunen Augen. Die Lippen sind genauso samtig und voll wie die von Nana, doch die Form der Augen und der Nase sind eindeutig der deutschen Linie der Großmutter zuzuordnen.
„Und diese, meine alte Kultur, die hat sich weiterentwickelt und die brauchen wir jetzt! Ich habe lange genug diese Verbindung abgeschnitten und damit einen Teil von mir selbst. Damit ist jetzt Schluss!
Lea wird die Reise antreten, wenn Gott es will. Und nicht dein Allah.“
Nana erschrickt vor der Inbrunst ihrer Mutter und reißt die Arme erschrocken nach oben. So hat sie ihre Mutter noch nie erlebt. So überzeugt und aufgewühlt zugleich.
Lea, sich plötzlich sehr verlassen fühlend, versteht, dass sie reisen soll. Weit weg. In den nächsten Tagen nimmt sie ihre Matte und legt sich näher hin zum gelben Sand. Weg vom Haus und seinen Bewohnern. Es beunruhigt sie, dass die Gespräche sich um ihre Person drehen. Sie weiß das Haus mit den Gesprächen ihrer Großmutter und Mutter einige Meter weit weg und hofft, dass die Großmutter niemals eine Antwort aus Deutschland erhält. Niemals.
Der alte Mann über dem Neubau
Der Fahrstuhl fährt höher als das Haus, in dem Henriette wohnt, Stockwerke hat. In den dreizehnten Stock. Die Tür geht auf und ein alter Mann steht vor ihr. Henriette wagt es, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Sie bewegt ihr rechtes Bein über den Spalt, der die wackelnde Fahrstuhlkabine vor der rettenden festen Etage trennt. Der Raum ist in weiches Licht getaucht. Licht, das den sakral wirkenden Raum noch größer erscheinen lässt. Und auch den Mann vor ihr. Groß und hager wirkt er, irgendwie mächtig. Er schaut Henriette sehr ernst an. Und murmelt Worte, spricht mit dem kleinen vorsichtigen Mädchen. Henriette nimmt an den Seiten antike Säulen und alte, wie mit Mehl befüllte Säcke wahr. Sie beschleicht ein Gefühl wie aus einem Märchen. Sie befindet sich in einer anderen Zeit, kann es nicht in Worte fassen und auch nicht in Gedanken. Staunend spürt sie hier das Verschmelzen von Zeit und Raum. Er könnte ihr Großvater sein; so hätte sie ihn sich vorgestellt. Er wirkt, als käme er aus einer anderen Welt zu ihr.
Dann wacht Henriette auf. In ihrem Bett. Das Kopfkissen ist unter ihren Bauch gewühlt, die Beine sind angezogen wie in einer Embryostellung. Gelbe Vorhänge hängen vor den kunststoffumrahmten Fenstern. Dahinter ist es dunkel. Kein einziges Sternenlicht zeigt sich. Henriette schläft wieder ein. Der gelbe Wellensittich neben ihr im abgedeckten Käfig, die kleinen knopfförmigen dunklen Augen verschlossen, ist ganz still. Das weiße Tuch bewegt sich nicht. Kein Luftzug bewegt sich in dem Betonzimmer. In einem Neubau gebaut in den Siebzigern. In Halle.
Am nächsten Morgen liegt eine Feder auf ihrem Kopfkissen; sie ist gelb, wie das Federkleid von Tschibi, ihrem Wellensittich. Sie öffnet den Käfig und hängt ihm einen Hirsekolben hinein. Der Stiel ist widerspenstig und zerbricht bei dem Versuch, ihn zwischen die dünnen Käfigstäbe zu flechten. Tschibi flattert aufgeregt hin und her. Henriette hält dem Wellensittich ihre kleine Hand vor den weichen gelben Bauch, Tschibi hackt einmal mit dem Schnabel in die Hand, wie um sich zu vergewissern, ob sie auch echt ist. Dann setzt er sich darauf. Die kleinen Krallen bohren sich in Henriettes Haut. Es piekst. Sie spürt das Gewicht von Tschibi und wundert sich, wie leicht er ist. Eigentlich nicht existent. Und wie sehr sich so ein kleiner Vogel in ihr Herz hineinkatapultiert hat.
Bevor ihr Vater, der nur jedes zweite Wochenende nach Hause kam, eines Abends erst den Käfig bedeutsam aus Zeitungspapier auswickelte und dann eine kleine Pappschachtel mit Löchern, in dem der kleine Vogel sitzt, aus seiner schwarzen Aktentasche hervorzauberte, versuchte Henriette selbst Eier auszubrüten. Sie stahl ihrer Mutter Hühnereier aus dem Kühlschrank, legte sich diese im Bett vorsichtig zwischen ihre Oberschenkel. Bevor sie sich für die Schule zurechtmachte, wickelte sie die Eier in ihren Schal und ihre Mütze. Sehr gespannt lief sie nach der Schule zu den Eiern, nur noch dieser eine Gedanke. So konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Doch nie, nie krabbelte auch nur ein Küken heraus. Sie hielt die Eier an ihr Ohr, horchte, Stille. Sie befühlte sie, die glatte Oberfläche, kein Schnäbelchen pochte von innen an die dünne Wand. Die weißen Eierschalen starrten sie nur leer an. Doch die Vorstellung von einem eigenen Küken aus dem Ei bewahrte sich Henriette tapfer.
Henriette nimmt Tschibi nun vorsichtig mit ins Bad und setzt den kleinen Vogel dort auf die Spiegelablage. Dann wäscht sie sich zuerst das Gesicht und schaut in den Spiegel. Es klingelt an der Tür; Henriette hört, dass ihre Mutter zur Sprechanlage geht. Es brummt und knirscht laut, als sie sie bedient.
„Kommt Henriette runter?“ Lena, ihre blonde Freundin steht unten und möchte auf den Spielplatz gehen. Henriette erkennt ihre helle Stimme sofort.
„Nein, es ist doch noch viel zu früh, Henriette darf erst ab 11.00 Uhr raus!“ Die Mutter lässt den Knopf los und geht in die Küche. Ihre Schritte sind sehr fest für so eine kleine zierliche Person. Henriette schaut sich weiter im Spiegel an; sie hat blaue Augen, stellt sie immer wieder fest. Nicht so schöne braune wie Lena.
Krieg und Sehnsucht im Kopf
Die Hände der Großmutter klopfen den Stein ab, viele Steine für das neue Lagerhaus werden es bis zum Abend. Endlich ein Häuschen für Vorräte. Oft schon ist sie erschöpft und würde sich am liebsten zum Sterben niederlegen. Doch so leicht ist das nicht; ein bisschen noch, sagt sie sich, noch ein bisschen. Lea braucht mich noch. Dann schaut sie in die Wüste hinein, die unergründliche. Sandkorn für Sandkorn, hier und da ein Kaktus, diese Kargheit, diese überwältigende Weite, das soll ihre Zukunft gewesen sein? Die Wüste ihr Schicksal?
Erinnerungen überwältigen sie. Auch in Deutschland war es karg. Vor allem auf dem Standesamt. Auf dem Schreibtisch dort. Den wird sie nie vergessen. So als wäre es heute. Genau jetzt! So sehr sind die Bilder dieser Momente in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Das jedoch lässt sich nicht vorschreiben, welche Bilder die Seele sehen will. Dieser abgedunkelte Raum im zweiten Stock des alten Gebäudes mit den hohen Fenstern, die Eiche davor. Ihre Blätter gelb und braun zotteln im Wind hin und her. Der Stift liegt akkurat neben der Heiratsurkunde. Daneben der Brief. Das Einverständnis ihres zukünftigen Mannes. Handgeschrieben. Inmitten von Blut und Hunger und Durchhaltevermögen. Das Letzte, was sie von ihrem Geliebten sieht: den Stahlhelm. Der wusste wahrscheinlich mehr von den Tagen an der Front und ihrem Werner als sie. Und dann die bedrückende Einsamkeit, sie ist verheiratet, endlich und doch ganz allein mit ihrer stillen Sehnsucht, die überall nagt. Und sie überallhin verfolgt.
Ja, er hat Briefe geschrieben, lange Briefe, sehnsuchtsvolle Briefe. Mit seiner schönen gestochen eleganten Handschrift. Ein Herz druntergemalt, unter seine Briefe. Ein Herz. Sein Herz. Das nie zurückkommen sollte zu ihr. Lange warb er um sie, geduldig. Fast fünf Jahre lässt sie ihn zappeln, werben. Werben um sie. Um eine gemeinsame Zukunft.
Werner, ihr erster Mann. Groß ist er und gutmütig. Zu gutmütig. Zu groß. Zu stark. Er hat die Pferde beschlagen, mit Eisen gearbeitet, später an der Front mit Kanonen. Genau als sie ihn am meisten liebt, wird er ihr entrissen. Durch ein Formular. Einzug an die Front. Für das Vaterland. Auf dem Standesamt dann der Helm, Hochzeit mit dem Stahlhelm. Einsamkeit. Ihre Schönheit wird ihr zum Verhängnis, scheint ihr gerade zum Fluch zu gereichen. Denkt sie manchmal. Später.
Nach dem Tod ihres Mannes an der Front interessiert sich Heinz für sie. Er stellt ihr nach. Er versucht sie zu schlagen, als sie ihn nicht einlässt. Doch die Tür ist schneller zu, den will sie nicht. Er sieht hässlich aus in seiner Uniform, hager, zu helle Augen. Irgendwie missgestaltet in ihren Augen. Es muss etwas mit Aufrichtigkeit zu tun haben. Sie sieht immer nur Werner, auch in ihrer Wohnung. Er verblasst nicht. Die Erinnerung bleibt stark. Heinz, erbost und in seiner Ehre verletzt, lässt ein paar Monate später ihre zwei Töchter abholen. Kraft seines Amtes. In ein Heim. Sie sieht sie nicht wieder. Auf dem Formular steht Erbschaden.
‚Was für ein Erbschaden?’, überlegt sie. Lange. Es findet sich keine Antwort auf das Absurde. Das musste sie nicht verstehen. Ihre Tränen sind jetzt versiegt; es waren einmal so viele, dass sie sie der Wüste nicht antun wollte.
Dann lernt sie Bernard kennen. Er ist Deportierter, irgendwann fliehen sie in die Wüste. Über Ungarn, Paris, dann mit dem Schiff. Sie schaffen das Unmögliche. Unterwegs, erinnert sie sich, essen sie alles. Sie gehen in die Nähe von Restaurants, schnappen sich Essensreste von Tellern, wenn die Gäste sich zum Gehen erheben. Niemand wird gefragt. Dass es sie ihre Würde kosten würde, zu fragen, das ist es nicht. Die Würde, die ist erst anwesend nach dem Schmerz im Gedärm. Er Franzose, sie Deutsche. Nana wird ihr die beiden verlorenen Töchter nie ersetzen. Das weiß sie so genau, darüber ist sie nicht bitter geworden. Nein, bitter nicht. Eher noch schöner in ihrer Einsamkeit. Eine Frau, ein Wort. Eine Frau, die nichts zu verlieren hat, denn alles, was sie jemals dachte zu besitzen, wurde ihr auf grausame Art und Weise genommen. Sie weiß, wie es ist, leer zu sein. Noch ganz jung weiß sie es. Auch wenn sie sonst nicht zu den Begnadetsten gehört. Die Sprache in Bilma, zungenbrecherisch. Doch auch das. Sie wird sich verständigen. Vor allem mit ihren Lieben. Und manchmal muss sie auch gar nicht reden. Wozu noch? Allein ihre Anwesenheit genügt. Mit ihr geht niemand respektlos um. Niemand. Jetzt gibt es noch Lea. Lea. Lea. Ihr Herz. Und eine Art Frieden, der sich in ihr ausgebreitet hat, in jeder ihrer Körperzellen spürt sie eine müde Entspannung, die ihr niemand mehr nehmen wird.
An diesem schicksalshaften Morgen wacht Lea auf, als ihr Land, die Sahara schon vollends der Sonne ausgesetzt ist. Die Luft über dem Sand flirrt vor Hitze und lauter kleine Fata Morganen lassen sich, wenn die Augen dort verweilen, ausmachen. Lea sieht die Salzbrote und die noch größeren Salzkegel, die ihre Mutter gerade für ihren Vater und die anderen Männer verpackt. Sie werden in den nächsten Tagen aufbrechen, nach Timia. Noch bevor der Harmattan, der stürmische Wind aus der Sahara, der noch viele wilde Kinder hat, den Sahel mit undurchdringlichem rotem Staubnebel überziehen wird. Das Brot für die Reise ist schon gebacken, Brot und Datteln sind der unverzichtbare Reiseproviant für die Männer mit ihren hochnäsig wirkenden Kamelen. Zerklüftete Felswände in der Ferne lassen die langatmigen trockenen Wege durch die Wüste erahnen. Ihr Vater wird sich auf seiner Route an die Sterne, die die Richtung gen Westen anzeigen, halten.
„Ajuan“, begrüßt sie ihre Mutter Nana, die kaum den Blick hebt, so sehr nimmt die körperlich schwere Arbeit ihre Konzentration in Anspruch. Dann sieht Lea ihre Großmutter mit ungewohnt großen Schritten auf sich und ihre Mutter zueilen. Sie kneift die Augen zusammen, erst nach genauerem Hinsehen sieht sie Papier in der linken Hand der Großmutter flattern. Als würde es sich sträuben, mit dem Tempo der alten Frau mitzuhalten. Weit hinter der Großmutter macht sie die Silhouette einer Karawane der Kel Ewey aus, die sich durch den Sand schlängelt. Sie brauchen bestimmt noch zwei Stunden, bis sie in der Oase Bilma eintreffen.
„Nana, Nana, schau nur, heute ist es endlich angekommen, zwei Monde habe ich gewartet!“ Lea hört aus der Stimme der Großmutter große Freude heraus. Leas Herz rutscht sonst wohin, doch es schlägt nicht mehr in ihrer Brust.
Der unheimliche Fahrstuhl
„Frühstück“, ruft die Mutter, der Duft von Toastbrot macht sich in der Wohnung breit. Henriette vergisst Tschibi im Bad und geht in die Stube. Dort sitzen ihre Mutter und ihre Schwester Susanne bereits am Tisch.
„Komm, du bist schon spät dran, wir wollen anfangen.“ Immer dasselbe, denkt Henriette, fügt sich jedoch. Dann knabbert sie gelangweilt an ihrem Marmeladentoast. Das verzweifelte Kreischen des kleinen Vogels unterbricht das Frühstück, ein kleiner Körper klatscht von innen gegen die Badezimmertür und fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Henriette lässt das Toastbrot auf den Teller fallen und rennt durch den Flur.
„Ganz langsam die Tür öffnen, sonst zerquetschst du ihn“, ruft die Mutter ihr hinterher. Henriette versucht vorsichtig, die Tür zu schieben, mit der Hand tastet sie sich um die Tür herum und nimmt den kleinen Körper des Vogels vorsichtig in ihre Hand. Sie geht in ihr Zimmer und wartet mit Tschibi auf ihrem Teppich sitzend. Es ist ganz still. Ein Luftzug bewegt den hellen Vorhang, die Mutter hat die Fenster geöffnet. Der kleine Vogel kommt langsam zu sich, bleibt aber noch ein bisschen länger in ihrer Hand liegen als nötig und schaut Henriette aus seinen kleinen lustigen Augen aufmerksam an. Dann berappelt er sich, kommt auf seinen zwei Beinen wieder zum Stehen. Henriette führt ihn mit der Hand in den Käfig und setzt ihn vorsichtig auf den mit Sand bedeckten Boden. Tschibi beginnt benommen an den heruntergefallenen Hirsekörnern zu knabbern.
Es klingelt wieder. Das wird Lena sein, denkt Henriette. Sie läuft zum Fenster und schaut weit hinaus, um unter das Vordach des Hauseinganges zu lugen. Doch sie kann nicht erkennen, ob Lena allein oder mit mehreren Freunden dort ist. Über den Sprechapparat kreischt die helle Mädchenstimme: „Kann Henriette jetzt raus?“
„Ja, ich frag sie, wenn sie möchte. Wartet bitte. Und nicht noch mal klingeln!“ Die Mutter klingt streng. Dann geht die Tür zu Henriettes Zimmer auf.
„Ich geh schon.“ Lustig hüpft sie auf einem Bein, um rasch ein Hosenbein über das andere zu ziehen. Schnell noch einen Pullunder und eine Jacke an, schon schlüpft sie durch die Wohnungstür, läuft die drei wendelförmig angeordneten Treppen hinunter und rennt durch den mit gelbem, inzwischen verschmutztem Linoleum ausgelegten Flur. Dann drückt sie den Fahrstuhlknopf. Das Fahrstuhlgeräusch hört sich weit weg an. Es dauert gefühlt Jahre, bis er ganz oben ankommt. Mit einem roten Pullover und der hellen Stoffhose bekleidet steigt sie ein und genauso langsam fährt der Fahrstuhl wieder hinunter. Neun, sechs, drei. Die Zahlen in den Knöpfen leuchten rot auf und zeigen die Stockwerke an. Wissbegierig hat sie sie schon ausgiebig studiert, die Fahrstuhlarmatur.
Bleibt der Fahrstuhl stehen, und das kommt recht häufig vor, drückt Henriette meist alle Knöpfe. Die meisten im Anfall von Panik und Angst umsonst, auch den mit den entgegengesetzten Pfeilen. Der Knopf mit der Alarmglocke, den sie meistens zuletzt drückt, befindet sich ganz unten rechts. Der löst dann den befreienden Alarm aus. Kurz darauf gibt es über die Lautsprecheranlage einen Kontakt mit dem Hausmeister. Und Henriette muss nur noch auf Toilette. Schwitz. Und das Komische ist, es wiederholt sich immer wieder auf diese Art. Immer wieder.
Diesmal kommt der Fahrstuhl ohne Unterbrechung unten an. Henriette schiebt die schwere Eisentür nach außen auf, da stehen schon Lena und ihre Freunde. Vor ihnen eröffnet sich eine Betonwüste. Die Straße vor dem Hochhaus ist noch nicht befestigt, gelber Sand liegt hier und da lose und in kleinen Bergen angehäuft herum. Kein Baum ist gepflanzt, blaue Wolken schweben über Sand und Beton. Die Kinder laufen zielstrebig zur nächsten Baustelle, die sich nur ein paar Meter von ihnen entfernt befindet.
„Wir spielen Fangen“, schlägt Lorenz vor. Die anderen stimmen zu.
„Ich beginne“, Lorenz stellt sich an eine Betonwand, hält seine Hände seitlich von den Augen und fängt mit Zählen an: „Eins, zwei, drei, …“
Er hört das Rascheln und Trappeln seiner weglaufenden und sich versteckenden Freunde. Henriette klettert über einen Holzbalken, der eine Betonwand von der anderen trennt. Unter ihr klafft ein Abgrund von vier Metern.
Warte!“, flüstert sie Lena zu, die sich knapp hinter ihr anschließen will.
Der Balken ist zu biegsam und wackelig, um zwei kleine Menschenkörper zu halten. Doch Lena muss sich auch beeilen. Paul ist gleich mit Zählen fertig. Henriette spürt, wie der Balken unter ihr nachgibt, und hält sich mit beiden Händen am Betonrand fest. Fast hat sie die rettende Betonwand erreicht. Dann spürt das blonde Mädchen, sie kann sich nicht so lange halten. Stangenklettern war noch nie ihr Ding, denkt sie in den vergangenen Sekunden. Lieber ’ne Fünf kassieren. Ihre Oberarmmuskeln ziehen sich in die Länge und schmerzen, es ist ihr unmöglich, sich an der Wand hochzuziehen. Dann lässt Henriette los. Ihrem dumpfen Aufprall folgt noch ein dumpfes Geräusch: Lena.
Henriette, noch benommen, hebt den Kopf, ihr rechtes Bein hat beim Aufkommen ein komisches Geräusch gemacht, sie spürt nichts. Noch nicht. Lena liegt ein paar Meter von ihr entfernt in einer trüben Baupfütze.
„Wo seid ihr?“, hört sie Lorenz rufen.
„Hier“, ihre Stimme kommt ihr eigenartig entfernt und schwach vor.
Sie atmet noch einmal durch und versucht es lauter.
„Hier“, es kommt keine Antwort.
Lena atmet tief durch und bewegt vorsichtig ihre Glieder. Dann macht sie die Augen auf.
„Mist“, ist das Erste, was Henriette mühsam und doch etwas lauter als zuvor hervorbringt. „So ein Mist.“ Nachdem sie nacheinander Hände und Füße vorsichtig bewegt hat, setzt sie sich auf. So bleibt sie minutenlang sitzen.
Lorenz und die anderen Freunde rufen: „Wo seid ihr?“
„Hier sind wir“, antworten Henriette und Lena im Gleichklang.
Immer noch viel zu leise. Sie hören, wie ihre Freunde sich nähern.
Die Schlange, der kleine Drache
Schlangen in der Wüste sind tückisch. Sie liegen in der Sonne und passen ihre schuppige Haut der Farbe des Sandes an. Das Licht jedoch wirft Schattierungen auf die länglichen Körper, die trügerisch sind. Mal silbrig, golden, rot mit grün auf kleinen Flächen, die Farben vermischen sich und je nach Art ihrer Bewegung, entstehen verschiedenartigste Muster. Konturen der Schlangen verwischen und lassen sie durch das flimmernde Licht der Wüste plötzlich verschwinden und genauso überraschend erscheinen. Wie unberechenbare lange Götter der Wüste. Es gibt keine Anzeichen, keine Warnung, nur eine gefährliche Stille, sollten sie züngelnd zubeißen. Lea lernt früh von ihrer Großmutter, sich vor lauernden Gefahren der in unterirdischen Gängen lebenden Wüstenbewohner zu schützen. Sie lernt Achtsamkeit. Sie lernt, sich genauso zu bewegen, dass die Schlangen gewarnt werden, sie durch das Beben der Erde Lea möglichst früh fühlen werden, um dann rechtzeitig in ihren Löchern zu verschwinden. Sie trampelt durch die Wüste; ihre kleinen Füße müssen manchmal Stiche von Kakteen oder spitzen Sandkörnern ertragen, nur um nicht leichtfüßig zu laufen. Auch das scharfkantige Gras ist nicht zu unterschätzen, überall kleine Büschel, die unverhofft genau dort wachsen müssen, wo sich Karawanen durch die Wüste bewegen. Hier lernt Lea fluchen. Ihre Schuhe rutschen oft zur Seite, sind zu kurz oder schnüren sich so unerträglich in ihre Haut, dass sie sie liebend gerne auszieht. Barfuß geht sie durch das Leben. Eine dicke Hornhaut unter den Kinderfüßen ist ihr Schutz. Zu allem Überfluss sinken die Erwachsenen manchmal knietief in den Sand der Wüste ein. Lea, leichter, nur bis zu den Waden. Und manchmal zieht ihr Vater sie hoch auf Lala und dieses Gefühl wird Lea nie vergessen, dem Himmel auf einmal so nah und der Wüstensand so weit unter ihr. Und dieser Thron zwischen den beiden Höckern, den Lala ihr bietet, lässt Lea sich einmal mehr als Königin der Wüste fühlen.
Heute, es ist Freitag, läuft sie allein in die Wüste hinein, so weit ihre Füße sie tragen, die Schlangen sind ihr heute egal. Ein kindlicher Trotz macht sich in ihr breit. Die Großmutter hat sie immer gewarnt, sollte sie von einem Schlangenwesen mit krummen Füßen träumen, so solle sie es wieder wegschicken. Sich ihm nicht hingeben. Die bringen Unglück über die Familien der Träumenden. Unglück. Lea hat nie von solchen Dingern geträumt. Kein einziges Tier hat krumme Füße. Weder die Kamele noch die Hyänen, die hungrig herumstreiften, als auch Gazellen.
Verkrüppeltes Gesträuch, davon gab es genug hier. So weit das Auge blicken konnte; vor allem in der Nähe der wenigen Wasserstellen.
Vögel haben krumme Füße, fällt Lea plötzlich ein, und Spinnen. Bringen die auch Unglück? Aber Großmutter hat ja von Träumen erzählt; nein, es kam noch keine Schlange mit krummen Füßen zu ihr. Doch das Unglück ist jetzt trotzdem über sie hereingebrochen. Sie setzt sich auf einen kleinen Hügel, wartet kurz, ob er sie trägt. Dann lässt Lea den Blick schweifen und hängt ihren Gedanken nach. Giftige Schlangen würde ihr Vater sofort töten. Bestimmt auch im Traum. Er war ihr Beschützer, konnte er sie nicht auch vor ihrem kranken Herzen beschützen? Sie hat es doch gehört, beim Gespräch, als sie heimlich lauschte. Hätte sie es doch nur nicht getan. Es ging in den Gesprächen vorher, die sie heimlich belauschte, doch nur selten um sie. Warum musste sie nur so neugierig sein. Dann wäre sie wenigstens heute nicht so unglücklich.
Plötzlich bemerkt Lea einen kleinen Schatten neben sich. Er regt sich kaum. Sie schaut genauer hin und macht ein gekringeltes kleines Etwas aus. Dann nimmt sie es in die Hand. Das Kleine ringelt sich auseinander und macht sich ganz gerade, um sich kurz darauf wieder zusammenzuziehen. Ein wenig erinnert es sie an die Schleimtierchen, die sie manchmal mit den Fischen für die Nahrung fingen. Nur eben ohne Schleim. Sie berührt die Haut, die sich ganz glatt an den feinen Körper schmiegt. Lea weiß, es ist eine Schlange, es kann nur eine Schlange sein. Klein und zart und kalt. So kalt, wie ihr ist. Um ihr Herz herum. Lea überlegt nicht lange. Kurzentschlossen nimmt sie ihren Findling mit.
Die Familie fängt langsam an, sich Sorgen zu machen. Nana läuft händeringend vor der kleinen Hütte auf und ab, die Großmutter beginnt das abendliche Feuer herzurichten und schaut immer wieder, die Hand über die Augen haltend, gen Sonnenuntergang in die Wüste. Sie horcht geübt auf irgendeinen Laut. Doch solange keine Geier in der Ferne zu sehen sind, gibt es auch keine neuen Toten. Weder Tiere noch Menschen. Und so bleibt die Großmutter im Gegensatz zu Nana ruhig. Leas Vater bringt Ziegenfleisch, das sie gekonnt auf kleine Stöckchen ziehen und über das Feuer halten. Lea wird bestimmt großen Hunger haben.
Dann sehen sie die Silhouette eines kleinen Mädchens aus der Wüste kommen. Es läuft ganz langsam, als wolle sie etwas hüten. Etwas, das ihr blitzschnell aus den Fingern gleiten könnte oder zwischen den Fingern hindurch. Der Vater runzelt die Stirn. Er braucht nichts, das seine Ruhe stört. Nichts. Er hat seinen Plan, wie sein Vater vor ihm, wie sein Großvater vor ihm, wie seine Ahnen vor ihm. Er gehört seinem Stamm an und in seinen Genen ist das Lebensbuch fest verankert in seiner natürlichen Ordnung. Die schon seit Jahrhunderten besteht und immer wieder hart umkämpft war. Sein Stamm hat schon die Sklavenzeit überlebt, Überfälle anderer Stämme, die fast an der Tagesordnung waren. Und auch die Weißen, die versuchten, das Land nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Ohne zu wissen, wie man mit Kamelen umging, wie es sich anfühlt, kurz vor dem Verdursten zu sein, was es heißt, sich gegen die rohen Gewalttätigkeiten der anderen zu schützen.
Das ging nur mit Gegengewalt. Mit Brutalität. Es war nichts Besonderes, einem Feind das Messer in die Brust zu rammen oder in den Oberschenkel, um die Hauptschlagader durchzuschneiden. Nichts Besonderes. Der Tod, der gewalttätige Gevatter birgt eine Grausamkeit, die hier zur Schöpfung gehörte. Wer ihre Schönheit sehen konnte, ihre ganz eigene Ästhetik, die Herrlichkeit des Lebens und wem die Anmut des Todes immer gegenwärtig ist, der ist seines Lebens sicher. Selbstverteidigung ist lebensbejahend. Eine hohe Energie. Freude. Wie ein unsichtbarer Beschützer und Zauberer. Und wer stark war. Wem sie sich nicht zeigte, dem zerrann das Leben auf eine seltsam schicksalhafte Art und Weise. Wie Salz durch geöffnete Hände rinnt und in Geschlossenen bleibt. Der alte Tuareg, er verkauft nicht nur das beste Salz der Erde, nein, er und sein Stamm haben die Ehre, an den Traditionen seiner Vorfahren anzuknüpfen. Auch mit der Faszination der Gewalt. Täglich werden dafür blitzende kleine Schwerter durch die Luft geschwungen, zündeln wie kleine Drachen in der Luft und vollbringen Kunststücke.
Nun bringt seine Tochter einen Drachen nach Hause. Der alte Tuareg bewegt seinen Kopf leise nach vorn. Er kann dieses kleine Reptil schon von Weitem riechen. Mit seinem untrüglichen Instinkt. Kein Kind der Wüste würde auf solch eine verfluchte Idee kommen. Einen echten lebendigen kleinen Drachen. Mit kaltem Blut und schuppiger Haut. Der Drachen als Omen. Er ruft sein Kind mit seiner ehrfurchterregenden Stimme. Sie reagiert sofort. Dann steht sie vor ihm und schaut ihn trotzig an. Sie weiß, was in ihrem Vater vorgeht.
„Mach die Hände auf, Tochter!“ Lea gehorcht. Die Schlange streckt sich sofort wieder aus. Für Lea sind die wenigen Minuten, die ihr Vater das Reptil betrachtet Ewigkeit.
„Sie misst dich, Kind. Sie wird dich solange messen, bis sie groß genug ist. Dann wird sie wissen, dass dein Körper in sie hineinpasst. Und dann wird sie dich verschlingen, mein Kind. Das ist ihr Instinkt, ihre Natur. Das ist das unausweichliche Schicksal, was dich erwartet. Nun, da sie hier ist, werden wir sie als Vertreter der Drachen ehren, doch bevor sie deine Größe erreicht, werden wir uns von ihr verabschieden müssen. Lebendig.“
Der Vater schaut ihr fest in die Augen.
„Verstanden?“
„Ja.“
Lea schüttelt den Kopf. Das ist Zustimmung. Das ist Wüste. So hat sie es gelernt. Auch wenn sie meistens sich selbst überlassen war.
Dann geht sie in das kleine Haus in ihre Ecke und nimmt eine kleine Schachtel aus ihrem selbstgebauten Holzschränkchen. Dort legt sie die kleine Schlange hinein, doch die windet sich an ihren Fingern schnell wieder in die Hand. Sie braucht Wärme. Lea legt sich in ihr Bett und hält ihr Schlangenbaby ganz nah an ihren Körper.
Nun ist es beschlossene Sache. Lea soll in ein ihr fremdes Land fliegen, für vier Monate, so ist es mit den entfernten Verwandten der Großmutter vereinbart. Die Großmutter berichtet ihr von Straßen mit geradlinig angeordneten Bäumen, großen Häusern und schönen Läden mit Blumen und Essen, vielen Anziehsachen. Von weißen Menschen, die fein und sauber angezogen sind. Berlin, dieses Wort hört sie zum ersten Mal. Berlin, Berlin. Lea konnte und kann und will sich darunter nichts vorstellen. Eine Stadt mit vielen Lichtern, eine Stadt mit Tausenden von Menschen, eine Stadt, in der die Zeit rennt. So eine Stadt muss hässlich sein, denkt sie. Viele Lichter, wozu? Hier am Rand der Wüste braucht sie abends kein Licht, Kerzen reichen. Wenn die Sonne sich senkt, möchte sie die kleinen zarten Lichter der Glühwürmchen nicht missen. Mehr will sie nicht. Keine Stadt mit vielen weißen hässlichen Menschen. Alles ist für sie hässlich, was nicht Bilma ist. Alles.
Die Großmutter wirkt nachdenklicher als sonst. Sie ist das Kind einer Deutschen und eines deutschstämmigen Franzosen, die während der französischen Besatzung 1920 zuhauf ins Land gespült wurden. Nach dem „Afrikanischen Jahr“ ging die Familie nicht zurück, zu sehr hatten sie sich an den Lauf der Wüste gewöhnt. So weiß Lea um ihre Geschichte.
„Du kennst doch Deutschland gar nicht“, hat Lea ihre Großmutter angeschrien, „wie kannst du mir erzählen, wie es dort sein soll!“
Die Großmutter schwieg und fing an zu weinen. Doch auch sie ging nach Deutschland, als sie jung war. Aus der Wüste, damals. Und wieder musste sie Deutschland verlassen, so wie ihre Mutter. Zwei Kriege. Als würde Familienschicksal vererbt. Und überall dieser Hunger, der sich in die Därme frisst. Neu verliebt im Unglück wieder in einen Franzosen. Doch das braucht Lea nicht zu wissen, sie ist noch so klein. Bewahren ist Schweigen. Bewahren ist Hüten. Bewahren ist Reinheit. Reinheit und Schönheit. Bilma ein Magnet, die Rettung. Die Zukunft vor der Vergangenheit schützen. Nur, was hat das mit ihr gemacht?
Diese Geschichte wird sie still und leise mit ins Grab nehmen, sie geht niemanden etwas an. Ihre Geschichte, für bittere und schöne acht Jahre in Deutschland bei ihrer Tante. Es fühlte sich damals wie ein Abenteuer an. Sie hat die Sprache vorher mit ihrer Muttermilch eingesogen. Vor allem, wenn ihre Mutter mit ihr schimpfte, tat sie es auf Deutsch. Dann hörte sich ihr Name Bernadette so hart an. Acht Jahre, die sie veränderten. Die ihr zeigten, es kommt immer anders, als man denkt. Wollte man planen, dachte sich der liebe Gott sofort etwas anderes aus. Seitdem denkt sie lieber nicht über die Zukunft nach. Die Zukunft, die ist launisch. Jetzt ist es Lea, die zu ihrer Tante gehen wird, um ihr Herz überleben zu können. Es gibt Lea nicht mehr viel Zeit. Sie selbst, das weiß sie, wäre beinahe dort in Deutschland umgekommen. Und sie hatte ihr Herz dort zurückgelassen. Ihr junges, frisches, unerfahrenes Herz. Lea wird nun genau in diesem Land ihr zweites Leben vorfinden.
Ihre Tochter Nana ist die erste aus der Familie, die sich hier in Bilma mit einem einheimischen Mann einließ. Die Erste. Es ist so selbstverständlich für Nana. Für die Großmutter, die selbst in Bilma ihre Kindheit verbrachte, kam das nie infrage. Sie hatte in der Liebe in blaue oder grüne Augen geschaut. So wie die Augen ihres Vaters. In das Meer wollte sie schauen, nur in das Meer und in den Sternenhimmel. Und anders wollte und konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Und Nana? Ohne sie wäre dieses wundersame Kind Lea nicht auf die Welt gebracht worden. Manchmal braucht es nicht viel, überlegt die Großmutter, um seine Schöpfung zu rechtfertigen.
Dann besinnt sich die Großmutter. Sie richtet ihre Schultern auf und schaut Lea fest in die Augen.
„Du wirst bald nach Berlin fliegen und dann wirst du mir erzählen, wie es dort ist“, antwortet sie mit fester Stimme.
Lea geht nun regelmäßig an ihren heiligen Baum, hockt sich im Schneidersitz auf den Boden und lehnt ihren Rücken an seinen Stamm. Sie betet. Für sich, für ihre Eltern, für ihre Großmutter, für den Baum. Nicht für Deutschland. Vier Monate kann sie zeitlich nicht einordnen, für Lea ist es ein Abschied für immer, vier Monate sind eine Ewigkeit. Kurz überlegt sie zu fliehen. Doch wohin, in die Wüste? Dorthin hat sie ihren Vater, einen alten Tuareg, oft begleitet, manchmal mussten sie sogar mehrere Monate an entfernten Orten bleiben. Sie durfte sich nie mehr als drei Meter von ihrem Vater entfernen. Vor dieser Fremde hat sie Angst. Die Wüste und die fernen Handelsplätze scheinen feindlich zu sein für ein kleines Mädchen wie Lea. Das weiß sie ganz genau. Ihr sind auch die langen trockenen Wege durch endlosen Sand und die großen traurigen Augen anderer Kinder auf den verschiedenen Märkten im Gedächtnis geblieben. Außerdem ist sie ein auffälliges Mädchen, ihre Haut ist heller als die der Einheimischen und wenn Sonnenlicht in ihre Augen fällt, schimmern sie grünlich. Nur im Dunkeln wirken sie braun. Dann fällt Leas Blick auf ihre kleine Schlange, sie ist größer geworden und schaut sie jetzt aufmerksam an. Lea hat sich ihre Schachtel mit den länglich grünen Blättern der Pflanzen vom Ufer so an der Schulter befestigt, dass sie immer bei ihr sein kann. Manchmal bringt sie sie an verschiedene Orte, um ihr die Welt zu zeigen. Sie ist unverhofft anhänglich. Sie verlieren sich nie aus den Augen. Nur reden kann sie nicht mit ihr. So bleibt Lea mit ihren düsteren Gedanken allein. Ihre Heimat, ihre Eltern erscheinen ihr nun umso wertvoller, da sie ihr verloren gehen. Jeder Moment ist von zukünftigem Schmerz erfüllt in ihrer kleinen Brust.
Von Halle nach Berlin
Henriette liegt in ihrem Bett. Ihr rechtes Bein fühlt sich schwer an, es ist eingegipst. Viele Stunden verbringt sie nun allein zu Hause, der Schulweg ist noch zu beschwerlich. Tschibi, der kleine Wellensittich, leistet ihr immerhin Gesellschaft. Zusammen haben sie viel Spaß. Wenn Henriette durch die Wohnung humpelt, läuft er ihr langsam hinterher. Henriette muss vorsichtig sein, bei so einem kleinen Vogel. Henriettes Vater kommt, obwohl sie krank ist, weiterhin nur alle zwei Wochen nach Hause zu seiner Familie. Er muss arbeiten und studieren. Jetzt hat Henriette viel mehr Zeit, ihn zu vermissen. Nach vier Wochen kommt der Gips ab. Ihr Bein sieht schneeweiß aus, die Haut schuppt sich. Es fällt ihr schwer, sich wie früher zu bewegen. Außerdem erscheint ihr das rechte Bein dünner zu sein. So wie der Kontakt zur Welt. Ihre Freunde müssen sie vergessen haben, draußen lacht die Sonne, niemand besucht sie. Nun ist sie es, die bei Lena klingelt.
„Kommt Lena raus, hier ist Henriette.“ Sie steht unten an der Haustür Nummer fünf, das Bein kribbelt.
„Henriette!“, eine scharfe Stimme tönt aus der Sprechanlage in Halle.
„Ja?“ Henriette ist unsicher.
„Ihr geht nicht auf die Baustelle, versprochen!“, die Stimme des Vaters von Lena klingt bedrohlich.
„Nein, das tun wir nicht. Ich hab meinen Kreisel mit.“
„Gut, dann nimmt Lena ihren auch mit. In fünf Minuten ist sie da.“
Die beiden Mädchen begrüßen sich schüchtern, das Erlebnis auf der Baustelle sitzt noch in den Knochen. Sie laufen zusammen auf den Platz vor dem Zentrum, der mit breiten Betonplatten ausgelegt ist, auf die die Sonne knallt. Dann schlagen sie mit ihren kleinen Peitschen die Kreisel an, die sich lustig drehen. In Halle, auf einem Platz zwischen Zentrum, Sand und Neubauten.
Plötzlich ziehen sich Wolken zusammen, die vorher wie kleine Wattebällchen über ihnen dahingezogen waren. Aus der Ferne grollt der Donner. Dann bricht sich das Wasser Bahn und schlägt in Massen auf dem Boden auf. Plötzlich sind viele Kinder auf der Straße. Henriette und Lena laufen zu ihrem Haus. Rasch entledigen sie sich ihrer Sachen, es ist schwül. Die Baupfützen vor dem Haus füllen sich schnell. Henriette badet und es kommt ihr vor, als wäre sie in Bulgarien am Meer im Urlaub. Die Kinder plantschen begeistert, bespritzen sich gegenseitig und kreischen. Henriette fühlt sich wieder heimisch. Beim Abendbrot eröffnet ihr die Mutter, dass sie nach Berlin ziehen werden. Zum Vater. Susanne freut sich, Henriette schaut aus dem Fenster und den weißen Wattebällchen nach.
Der alte Tuareg
Bevor ihr Vater geht, tritt er noch zu Lea und wiegt das sich schlängelnde Tier, das sich streckt, als es in den großen Händen des Vaters liegt. Um sich dann blitzschnell wieder zusammenzukringeln. Er stellt fest, dass das Reptil ein Weibchen und schon größer geworden ist, schneller als der Vater dachte. Er runzelt die Stirn. Lea beobachtet ihn gespannt. Sie spürt die Achtung des Vaters gegenüber ihrem Findling, auf dessen Rücken sich schon gezackte Linien bemerkbar machen. Rot und schwarz. Und Gelb. Der Vater klappt den Kiefer der kleinen Schlange auseinander und befühlt die kleinen Zähne. Er drückt auf die seitlichen spitzen Zähne, aus denen sich eine Flüssigkeit absondert. Die zerreibt er zwischen seinen kräftigen Fingern. Dann legt er die kleine Schlange vorsichtig in Leas Hände, die sie schnell in der kleinen Kiste verschwinden lässt. Der Vater dreht sich um und geht. Lea sieht ihn zu seinem Kamel laufen, die Silhouette seines großen Körpers harmoniert beeindruckend mit der Größe seines Kamels Lala. Er reitet es seit vielen Jahren. Sie vertrauen sich ohne viel Tamtam. Nie lässt ihr Vater Lala in der Sonnenhitze stehen, so wie es viele andere Besitzer mit ihren Kamelen machten, bis sie durchdrehten und verzweifelt wegrannten oder ihre Besitzer bissen.
Nie bindet der Vater seinem Kamel die Beine zusammen. Immer steht in einem Eimer Wasser für Lala bereit und immer auch getrocknetes Gras und sogar Brot. Lala dankt es dem alten Tuareg mit Sanftheit und Gutmütigkeit. Und auf langen Ritten durch die Wüste mit Hartnäckigkeit und Härte gegen die gleißende Hitze. Sein Kamel kann sich durchschlagen, Sandstürmen trotzen, lange Durststrecken überwinden. Es ist zäh. Schön und zäh in der Wüste. Der Tuareg weiß, von ihm hängt dort in der gelben Unendlichkeit der Welt sein Leben ab. Und das seiner Familie. Überlebenskampf. Um nichts in der Welt würde er sein Leben tauschen wollen. Nicht mit der Moderne, nicht gegen Geld, nicht gegen Liebe. Seine dunklen Augen sind wie die eines Wolfes, sie glühen durch die Nacht, sein Blick ist dann feindselig. Und so manch ein nächtlicher Reiter durch die Wüste wagt es nicht, sich zu diesem düster und konzentriert wirkenden Mann ans Feuer zu setzen. Dann achtet der Tuareg nur auf mögliche Gefahren, auch seine Ohren nehmen jedes Geräusch wahr. Und jeder Fremde oder auch vermeintliche Freund kann hier schnell zum Feind werden. Das sagen ihm die unzähligen Geschichten, die sich die Einheimischen erzählten. Sie haben sich in den langen Nächten von Jahrzehnten, Jahrhunderten an den Feuern in der Wüste erhalten. Tagsüber arbeitet er hart, Handel betreiben, Tiere pflegen, das kleine Haus flicken. In den Fältchen seiner Haut immer den Wüstenstaub, der ewige Begleiter dieser Wildnis.
Unbezähmbar wirkt auch der sanfte, stolze Blick Lalas mit stets hoch erhobenem Kopf. Lea dankt dem Kamel oft, wenn es ihren Vater heil von den langen Touren wiederbringt, mit einer Extraportion Hirse, die sie sich selbst heimlich vom Munde abgespart hat. Manchmal gibt Nana etwas dazu. Lalas regelmäßiges Kauen nimmt sie als Danksagung. Oft auch nimmt sie eine alte verrostete Stahlbürste und kämmt das von der Sonne verblichene und struppige Fell. Es fühlt sich strohig an, trotzdem liebt es Lea, ihm geduldig durch das Fell zu streichen. Und Lala genießt es. Die langen Wimpern haben es Lea besonders angetan, stundenlang schaut sie sie an und versinkt in den sinnlichen Tiefen der dunklen großen Augen. Sie wusste, was das Kamel wusste.
Das Wüstenmädchen bemerkt, dass der letzte Blick des Vaters dem Familienradio mit dem Generator gilt. Auch sonst fällt es dem beeindruckenden Tuareg schwer, Abschied zu nehmen. Zu gerne hört er mit seiner Frau Nana und der Großmutter während der Mittagshitze Radio. Unvergesslich die Momente für Lea, wenn sich die Luft wie eine zweite Haut über alle legt und die Stimmung einen sanften Frieden verbreitet. Im Hintergrund die fröhlichen Stimmen aus dem blechernen Ding. Nun werden sie sie allein hören müssen. Mit der kleinen Schlange.
Lea schaut ihrem Vater noch lange hinterher, wie sich sein Kamel mit der Salzkarawane in der Wüste wiegt.
Der kurze Weg über das Gelände des Naturkundemuseums
In Berlin wartet eine große Vierraumwohnung auf die Familie. Susanne richtet sich sofort ihr neues Zimmer ein. Henriette ist um Tschibi besorgt. Zug. Das schlimme Wort. Hoffentlich hat sich der kleine Vogel den nicht geholt. Die Krankheit, die so ein winziges Vogelherz schnell zum Stillstand bringt. Als sie das Tuch, das sie um den Vogelkäfig gewickelt hat, hochhebt, schauen sie kleine Knopfaugen quicklebendig an. Flink hüpft Tschibi vom Boden auf die Holzstange, um an ihrem Finger zu knabbern, den sie ihrem geliebten Vogel hinhält.
Henriette bekommt einen kreisrunden Strohteppich in ihr Zimmer auf das graue Linoleum gelegt. Die gelben Vorhänge bleiben. Aus ihrem Fenster schaut sie nun auf ein altes Haus mit grauem Putz und alten, verwitterten Holzfensterrahmen. Die Fenster, die meisten ohne Gardinen, sehen leer aus. Trist. Alt. Allein. In ihnen spiegelt sich das Hochhaus, in dem Henriette nun wohnt. Der Himmel ist verschwunden, Henriette fühlt sich auf sich zurückgeworfen. Links vom Haus vor ihr erspäht sie eine große graue Wand. Keine Augen – keine Fenster – in ihr, einfach nur eine kahle Steinmauer, grau verputzt, vermörtelt, mindestens zehn Meter hoch. Ideal zum Ball spielen beschließt sie sofort. Ideal. Ideal.
Bald hat sie eine Abkürzung entdeckt. Der Schulweg führt durch die Gitterstäbe des angrenzenden Naturkundemuseums. Ihre Schultasche fliegt zuerst über den Metallzaun. Dann hält sie sich mit den Händen an den Gitterstäben fest, um die einen halben Meter hohe Metallplatte zu überwinden und einen ihrer Füße hoch in den Zwischenraum zu stecken. Nun zieht sie den Rest ihres Körpers hoch. Dann dreht sie ihre Schulter rechts herum, um mit dem Kopf voran durch das Gitter zu schlüpfen. Erst der Oberkörper, dann die Hüfte, zum Schluss die Beine. Erleichtert hüpft sie auf der anderen Seite hinunter. Geschafft. Dann schnell die Straße, die eine leichte Biegung nach links macht hinuntergelaufen und schon kommt sie über die Invalidenstraße zu ihrer Schule. Nur noch drei Minuten. Jetzt kann sie zehn Minuten länger schlafen. Zu gern liegt sie bis nach Mitternacht mit einer Taschenlampe bestückt unter ihrer Bettdecke und liest. Der stille Don, Pony Pedro, Wolfsblut, Onkel Toms Hütte.