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Inhalt

Ein neuer Feind

Endgültige Trennung

Die Herrscherin von Henkrall

Ein neues Königreich

Das fliegende Volk von Henkrall

Kensas Werkstatt

Gefecht am Himmel

Monster aus der Tiefe

Unterwasserkampf

Das Biest erwacht

Doppelte Gefahr

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Mit besonderem Dank an Michael Ford
Für George Bolton, einen guten Freund

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Als ich jung war, erfuhr ich von Avantia. Damals, als ich noch mit den anderen Kindern über die Ebenen von Henkrall flog. Sie erzählten sich, dass Avantia ein Land voller Schönheit, Tapferkeit und Ehre sei. Auch die Biester dort waren ehrenhaft und gut.

Es machte mich ganz krank im Kopf.

Jetzt kann ich nicht mehr fliegen. Meine grausame Herrin, Kensa, war eifersüchtig auf meine Flügel und nahm sie mir. Doch bemitleidet mich nicht, ihr Menschen aus Avantia. Im Gegenteil, ihr solltet Angst haben. Eure Zeit ist gekommen. Kensa hat Pläne für euer grünes, blühendes Land. Eure guten Biester werden euch nicht vor ihren Getreuen schützen, sie werden machtlos gegen sie sein!

Es braucht mehr als bloßen Mut, um euch vor den Biestern von Henkrall zu retten!

Euer erklärter Feind, Igor

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Ein neuer Feind

Kensa lehnte sich über den Tisch, bis ihr Kinn beinahe die raue, hölzerne Tischplatte berührte. Die Hexe starrte sechs Tonfiguren an, die vor ihr aufgereiht standen, und ihre Augen glitzerten boshaft. „Wie geht es euch, meine Lieben?“, säuselte sie.

Endlich waren die Figuren fertig. Seit Tagen hatte sie nicht geschlafen und die ganze Zeit in ihrer Werkstatt verbracht, um die Figuren aus der Erde von Henkrall zu erschaffen. Jetzt war es so weit, schon bald würde sie ihre Geschöpfe freilassen.

„Zuerst werdet ihr das Königreich Henkrall erobern“, wisperte sie. „Und dann Avantia.“

Kensa warf den Kopf in den Nacken und lachte gackernd. Ihr Lachen hallte von der gewölbten Steindecke wider. Auf der anderen Seite des Raums lachte Igor, ihr einäugiger Gehilfe. Seine bucklige Gestalt bewegte sich und Ketten rasselten.

„Habe ich gesagt, dass du mitlachen darfst?“, zischte Kensa.

Igors Lachen erstarb. Er kratzte sich an den Handgelenken, wo die Handschellen auf seiner Haut scheuerten. „Entschuldigung, Herrin“, murmelte er.

Kensa überlegte, ob sie ihrem Sklaven die Fesseln abnehmen sollte. Noch nie hatte er versucht zu fliehen. Nein, er sollte leiden. Bald würden auch andere sein Schicksal teilen. Ganze Königreiche würden bei ihr angekrochen kommen und um Gnade betteln.

Sie richtete ihren Blick wieder auf die Tonfiguren und stellte sich vor, wie sie in ihrer richtigen Größe aussehen würden. Sechs neue Biester, die ganze Länder verwüsten, zertrampeln, niederbrennen und vernichten würden. „Und alles auf meinen Wunsch!“ Kensa rieb sich vor Freude die Hände.

„Es fehlt nur noch eine einzige Zutat“, sagte sie.

Sie stand auf, legte sich ihren Lederumhang um und ging zu einer großen Truhe in der Ecke des Raums. Im Kerzenlicht waren die Muster auf ihrem Umhang zu erkennen – Gold- und Silberfäden bildeten fremdartige Symbole.

„Ich brauche viel Kraft und Energie für meine Schöpfungen“, sagte sie. „Ich benötige das Blut von sechs guten Biestern und ich weiß auch schon, woher ich es bekomme.“ Sie trat den Deckel der Truhe auf, griff hinein und holte einen langen Metallstab heraus, in den verschlungene und komplizierte Spiralen geritzt waren. Igor drückte sich tiefer in seine Ecke. Sein Auge blinzelte vor Angst.

„Schon gut“, sagte Kensa böse grinsend. „Ich will dich nicht damit schlagen.“

Sie ging zum Fenster und sah nach draußen. Von ihrer Burg hoch oben auf dem Berg blickte sie weit über Henkrall. Die grauen Wolken verwandelten sich in ein bedrohliches Violett. Donner grollte über den Himmel.

„Perfekt, ein Sturm ist genau das, was ich brauche …“, dachte Kensa. „Ich mache einen kleinen Ausflug“, sagte sie dann laut. „Nach Avantia.“

Igor hob den Kopf. „Avantia? Ich habe gehört, dass dort tapfere Helden leben, die das Böse bekämpfen.“

„Tja, aber ein Held weniger“, knurrte Kensa. „Hast du es nicht mitbekommen? Taladon, der Meister der Biester, ist endlich besiegt worden.“ Kensa kletterte auf das Fenstersims. Kalter Wind peitschte um ihren Körper. Blitze zuckten durch die Sturmwolken und die Regentropfen fielen scharf wie Dolche vom Himmel. Die Hexe von Henkrall spürte die Elektrizität in der Luft. Der Stab in ihrer Hand vibrierte. Die uralte Magie erwachte zum Leben – die verbotene Macht, die es möglich machte, zwischen zwei Königreichen zu reisen.

Sie warf einen letzten Blick auf ihre sechs Figuren, dann hob sie den Stab über ihren Kopf und wartete darauf, dass der Blitz einschlug.

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Endgültige Trennung

Die Goldene Rüstung hatte sich noch nie so schwer angefühlt.

Toms Schultern sackten unter dem Gewicht der Metallplatten nach unten. Der Regen prasselte auf seinen Brustpanzer wie ein Hagel aus tausend Steinen. Und unter dem grauen Himmel vermochte nicht einmal die Goldene Rüstung zu glänzen.

Vor ihm stand ein reich verzierter Wagen, der von zwei Pferden mit schwarzem Federschmuck auf den Köpfen gezogen wurde. Die Regenwolken hatten ihre Schleusen geöffnet, gerade als die Beerdigung zu Ende war und Taladons Sarg in den Wagen geladen wurde. Die meisten Trauergäste waren bereits aus dem Palastgarten verschwunden und zu ihren Pflichten zurückgekehrt.

Elenna und seine Mutter, Freya, standen rechts und links neben Tom. Auch König Hugo war noch da, er trug seine Prunkrüstung. Aduro wartete ebenfalls, sein Umhang war durchnässt und hing tropfend auf den schlammigen Boden.

Der Schild an Toms Arm vibrierte und er spürte ein Kribbeln bis in die Schulter. Die Geschenke der sechs guten Biester, die in den Schild eingearbeitet waren, schickten ihm ihre Botschaft der Trauer, was Toms Kummer noch größer machte.

Elenna legte eine Hand auf seine Schulter.

„Die Rüstung steht dir“, sagte sie mit einem traurigen Lächeln.

Tom wollte ihr Lächeln erwidern, aber es gelang ihm nicht. Zu lächeln fühlte sich so schwer an, dass er keine Kraft dafür aufbringen konnte.

„Er fehlt mir“, sagte Tom.

Elenna nickte.

„Sie hat Mutter und Vater verloren“, dachte Tom. „Sie weiß, wie es sich anfühlt.“

Freya trat vor. In beiden Händen hielt sie ein Schwert samt Scheide. „Wir alle vermissen Taladon“, sagte sie. „Aber wir müssen stark sein. Hier – ein Krieger nimmt sein Schwert mit in den Tod.“

Tom verstand. Er nahm das Schwert, ging langsam zu dem Wagen und legte es auf den Sarg.

„Bring ihn behutsam in die Halle der Toten“, sagte König Hugo zum Kutschfahrer. Die Stimme des Königs klang rau. Taladon und Hugo waren schon lange vor Toms Geburt Freunde gewesen.

Langsam rollte der Wagen los. Mit wippenden Köpfen zogen die Pferde ihn durch den aufgeweichten Boden. Tom sah ihm nach, wie er sich allmählich dem Stadttor näherte. Von dort würde es weiter zur Halle der Toten gehen, wo seit dem ersten Herrn der Biester, Tanner, alle Herren der Biester ihre letzte Ruhe fanden.

„Eines Tages werde auch ich dort meinen Platz einnehmen“, dachte Tom.

Eine Hand schob sich in seine und drückte sanft zu. Freya sah ihn eindringlich an.