© 2022 Nachlass Ré Soupault/Manfred Metzner
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Titelabbildung: Ré Soupault, Paris 1964
Gestaltung & Satz: philotypen, Dortmund
eISBN: 978-3-88423-643-7
Herausgegeben von Manfred Metzner
Vorwort des Herausgebers
Die Welt der Kelten. Eine Zivilisation und ihr Ende.
Paris. Bilder aus der Geschichte einer Weltstadt.
Bartholomäusnacht. Eine historische Erinnerung aus dem Zeitalter der Religionskriege.
Paris unter der Kommune. 18. März – 28. Mai 1871. Nach zeitgenössischen Dokumenten dargestellt.
Republikaner unter der Kommune. Louis Rossel, Kriegsdelegierter der Kommune. Porträt eines freien Gewissens.
Vorläufer der Moderne. Der Fall Lautréamont. Eine Revision.
Die Melodie der Vergänglichkeit: Rabindranath Tagore. Zum 100. Geburtstag von Tagore.
Der Weltbürger im Ersten Weltkrieg. Romain Rolland – Ein Porträt.
»Dem Tod die Waage halten« Antoine de Saint-Exupéry – zum 50. Todestag. Der fliegende Poet, der im Zweiten Weltkrieg starb.
Joseph Roths letzte Tage. Sein Leben. Sein Werk.
Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften in Frankreich.
Richard Huelsenbeck
Erinnerungen an Karl Jaspers.
Geht die »Despotie des Mannes zuende?« Die Rolle der Frau in der europäischen Kultur von der Antike bis heute.
RE SOUPAULT (1901–1996)
Dieser Band enthält eine Auswahl von vierzehn Radio-Essays – die Essays zum Dadaismus und Surrealismus wurden schon 2018 als Buch unter dem Titel Vom Dadaismus zum Surrealismus* veröffentlicht. Ré Soupault hat zwischen 1951 und 1986 mehr als fünfzig Essays verfasst, die von deutschen und schweizerischen Rundfunkanstalten produziert und gesendet wurden.
Völlig mittellos kehrt sie nach Ende des 2. Weltkriegs aus dem Exil in New York nach Europa zurück, lebt und arbeitet von 1948 bis 1958 in Basel. Sie muss sich neu erfinden, muss für ihren Lebensunterhalt sorgen. Durch eine glückliche Fügung bekommt sie durch ihre Freundin, die Kinderbuchautorin Lisa Tetzner, einen Kontakt zur Büchergilde Gutenberg in Zürich. So beginnt ihre Arbeit als Übersetzerin: Sie erhält 1948 einen Vertrag und übersetzt aus dem Französischen für die Büchergilde die Memoiren von Romain Rolland. Weitere Übersetzungen werden folgen. Die Honorare, die sie bekommt, reichen zum Leben nicht aus. Daher ist sie ständig weiter auf der Suche nach einer gestalterischen Arbeit, die ihren geistigen Interessen entspricht. Der Rundfunk ist ihr schon vertraut. Ihr Mann Philippe Soupault baute im Auftrag von Léon Blum, dem damaligen französischen Premierminister, Ende der 1930 er Jahre den französisch-arabischen Sender Radio Tunis auf (Tunesien war zu der Zeit ein französisches Protektorat). Nach Ende des 2. Weltkriegs wird er u. a. für Radio France arbeiten. Ré bekommt Kontakt zum Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Stuttgart, für den sie Romain Rollands Drama Jeanne de Piennes übersetzt, das 1951 als Hörspiel gesendet wird. Der Anfang ist gemacht. In Basel hat sie Kontakt zu Dr. Paul Meyer von Radio Basel. Von nun an wird sie für Radio Basel und fast alle deutschen Rundfunkanstalten Radio-Essays verfassen, bis in die späten 1980er Jahre.* Die Themen schlägt sie meist selbst vor. Sie beschäftigt sich mit historischen und aktuellen Themen: westliche und östliche Philosophien, die Emanzipation der Frau, Freiheitsideen, Portraits von Schriftstellern aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die Folgen des 1. Weltkriegs. Alle ihre Essays zeichnen sich durch fundierte Recherchen und inhaltliche Klarheit aus, sie haben an Aktualität nichts eingebüßt.
Der Text des Buchs entspricht der Rechtschreibung der Originaltexte. Offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Manfred Metzner
*Ré Soupault, Vom Dadaismus zum Surrealismus. Zwei Essays. Herausgegeben von Manfred Metzner. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 2018.
*Sabine Kubli, Am Rundfunk sind gewisse Möglichkeiten für mich. Ré Soupaults Anfänge als Radioautorin. S. 109 ff. In: Ré Soupault, Es war höchste Zeit … Eine Avantgardekünstlerin in Basel 1948–1958. Herausgegeben von Martina Kuoni und Manfred Metzner. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 2021.
Als Julius Cäsar, im Kampf gegen seinen Rivalen Pompejus, Marseille belagerte, diese Stadt, die sich nicht für einen der beiden Gegner entscheiden wollte, beschloß er, Schiffe bauen zu lassen, um die Flotte des Pompejus vom Meer aus anzugreifen. Aber die Kelten der Cevennen weigerten sich, die dazu nötigen Eichen zu fällen. Denn die Eiche war für sie der »heilige Baum« par excellence. Lieber den Tod als Teutates, den Höchsten der Götter, beleidigen. Die Römer, die wenige Jahre zuvor – 52 vor Christus – den endgültigen Sieg über Gallien errungen hatten, wußten, daß es vor allem galt, den Einfluß der keltischen Priester, der Druiden, zu vernichten. Denn diese waren Spiritualisten, während die Römer Materialisten waren. Für die Römer war der Staat eine Struktur aus einem Stück. Die Druiden sahen den Staat als eine freiwillige, moralische Ordnung, deren Idealismus mythisch war. Ihre Wissenschaft, ihre Philosophie, ihr Glaube lenkten die keltische Gesellschaft. Zu dem römischen Konformismus standen sie in flagrantem Widerspruch. Der Geist der Kelten war also eine Bedrohung für die sozialpolitische Ordnung der Römer. Darum wurden die Druiden verfolgt, bis sie aus Gallien und später aus Britannien verschwanden.
Das Recht der Römer war auf den Besitz – den individuellen Besitz – des Bodens gegründet, ein Besitz, der übrigens nur dem Familienoberhaupt zuerkannt wurde. Bei den Galliern dagegen war der Boden kollektiver Besitz. Die Römer sahen in der Frau ein Fortpflanzungs- und Vergnügungsobjekt. Die Kelten dagegen beteiligten ihre Frauen am politischen und religiösen Leben des Volkes. Später, als das Christentum Staatsreligion geworden war – das war zu Anfang des vierten Jahrhunderts –, setzte die Kirche, die alle Strukturen des römischen Staates übernommen hatte, die systematische Zerstörung der keltisch-geistigen Werte fort. Patriarchalische Gesellschaftstypen – und das Christentum, das offizielle Christentum, ist ein gutes Beispiel dafür – hielten alles, was keltisch war, für verdächtig, weil der keltische Geist nicht mit dem patriarchalischen Ideal übereinstimmte, auch nicht mit dem Glauben an einen Gott.
Eine fest umrissene Geschichte der Kelten gibt es nicht. Sie waren ein Volk ohne Schrift, das nur die mündliche Überlieferung kannte, ein Volk, dem nicht an Reichsgründungen lag, das aber eine auf Glauben, Gesetz und Freiheit gegründete hohe Zivilisation entwickelte. Woher kam dieses Volk? In historisch nicht erfaßbarer Vorzeit – so wird behauptet – kamen sie, wie alle indoeuropäischen Völkergruppen aus den weiten Ebenen Zentralasiens. Teile dieser Völker zogen in die Täler des Indus und des Ganges, andere bevölkerten die iranischen Hochebenen. Viel später, im Neolithikum – der jüngeren Steinzeit – wanderte eine dieser Völkergruppen westwärts, bis in die nordeuropäischen Ebenen. Eine andere, aus der Gegend der Karpathen kommend, ließ sich an den Ufern des Ägäischen Meeres nieder; das waren die in den homerischen Epen so gerühmten Achäer. Jener Teil der Kelten, der die Gebiete längs der Donau und des Rheines besiedelte, begann im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in das heutige Frankreich einzuwandern, was die Römer später Gallien nannten. Sie drangen bis nach Großbritannien, Spanien, Norditalien vor, ja, ihre Spuren sind im Balkan und in Kleinasien zu finden. Die Galater, seit dem 4. Jahrhundert vor Christus in Kleinasien ansässig, an die Paulus einen Brief richtete – siehe das Neue Testament – waren Kelten. Und Galiläa, dieser nördlichste Teil Palästinas? Läßt der Name nicht einen keltischen Ursprung vermuten? Während der sogenannten Hallstatt-Zivilisation, der frühen Eisenzeit – etwa 725 bis 480 vor Christus – organisierte sich die Gesellschaft der Gallier mit der Entwicklung von Handelsbeziehungen zu den Völkern der Mittelmeerländer. Griechische und etruskische Einflüsse machten sich in der keltischen Kunst bemerkbar. Spannungen zwischen Römern und Kelten gab es schon damals. Im Jahre 390 zog Brennus, der Häuptling des Stammes der Senonen, gegen die Römer und besiegte sie. Er plünderte Rom, war aber bereit, sich gegen ein Lösegeld zurückzuziehen. Was die Römer ihm nicht verziehen, war die Tatsache, daß die Gallier falsche Gewichte mitgebracht hatten, um die tausend Pfund in Gold – das verlangte Lösegeld – zu wiegen. Als Antwort auf ihre Proteste warf Brennus sein Schwert in die Waage mit dem Ruf: »Vae Victis!« (Wehe dem Besiegten!) Jetzt kannte der Haß der Römer keine Grenzen mehr, und tatsächlich wurde Brennus bald danach von dem römischen Feldherrn Markus Furius Camillus besiegt. Aber derartige Kriegszüge waren nicht Sache des gesamten keltischen Volkes. Die Kelten gründeten kein Imperium. Sie waren eine Gemeinschaft einzelner Stämme, eine freie Gemeinschaft; was sie einte, war ihre Sprache und ihre Religion.
Etwa zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung wurde von der äußersten Westküste Frankreichs, bis in die heutige Tschechoslowakei, bis nach Österreich, keltisch gesprochen. Als in den Fünfziger Jahren in Paris eine Ausstellung tschechoslowakischer Kunst – seit der Vorgeschichte bis ins 15. Jahrhundert – gezeigt wurde, befanden sich unter den etwa 300 Werken sechzig Stücke Vorgeschichtlicher keltischer Kunst, darunter sehr schöne Schmucksachen und der Kopf eines Kriegers. Die Qualität dieser Werke zeigte die hohe Entwicklung keltischer Zivilisation. Diese Zivilisation erreichte im ersten Jahrhundert vor Christus ihre höchste Blüte. Überall kam es zu Städtegründungen. In der Gewinnung von Metallen – Eisen, Bronze, Gold, Silber – zeichneten sich die Kelten schon seit langem aus. Neue Verfahren zur Glasherstellung wurden entdeckt, die Emailletechnik erfunden, der Schiffbau vervollkommnet. Die Landwirtschaft stand dem Handwerk nicht nach. Plinius der Ältere, der im Jahre 79, beim Ausbruch des Vesuvs ums Leben kam, schrieb bewundernd von den Kelten, daß sie den Radpflug benutzten, der dem Pflug ohne Räder der Römer weit überlegen war. Sie kannten auch die Egge und hatten eine Mähmaschine erfunden, die Plinius als »eine große Kiste« beschreibt, »deren Rand mit scharfen Zinken ausgerüstet ist, die auf zwei Rädern rollt und von einem Ochsen durch das Kornfeld gezogen wird. Die abgerissenen Ähren fallen in die Kiste.« Kein Wunder, daß die Kornernten der Gallier denen der Römer weit überlegen waren, und so entwickelte sich ein reger Handel zwischen Römern und Galliern. Fast alles, was wir von den Kelten wissen, verdanken wir vor allem den römischen und einigen griechischen Geschichtsschreibern. Denn die Kelten hatten keine Schrift. Die nur mündliche Überlieferung war Geheimnis der Druiden. Denn – so war die Überzeugung – das menschliche Denken darf nicht »in die gemeine Materie gebannt werden«. Alles Wissen mußte im Gedächtnis bewahrt werden, da ein geschriebenes Gesetz den Gedanken unbeweglich macht, ihn »festlegt«. Sie glaubten an die unsichtbaren Mächte, die die Welten lenken. Der Tod war für sie nicht das Ende. Die Geschichte der Menschheit interessierte sie nicht. Und doch waren sie keine Träumer. Wie wir schon hörten, waren sie erfinderisch und arbeitsam. Sie hatten Gesetze – nur waren sie ungeschrieben. Sie befolgten die dreifache Forderung der Druiden: »Ehre die Götter, tue nichts Böses, beweise deinen Mut!« Nie – bis zur Eroberung durch die Römer – hatten die Kelten ihren Göttern Denkmäler errichtet oder sie in menschlicher Gestalt dargestellt. Ihre Götter waren unsichtbar, aber überall gegenwärtig: in Steinen, Pflanzen, Bäumen, in Quellen, Flüssen, Bergen, in Donner und Blitz, in Sonne und Mond. Sie vereinigten sich mit allen Elementen, sie durchdrangen die ganze Natur. Ihre Namen sind zahllos und für uns nicht mehr auffindbar. Es scheint, daß in der vorrömischen Zeit die älteste und verehrteste Gottheit die »Mutter-Erde« war, ebenso gütig zu den Lebenden wie zu den Toten. Sie war die Göttin der Fruchtbarkeit, Quelle aller Güter. Ihr Gemahl war »Gott-Vater«, der Herr des Himmels, dessen Macht durch die antike Steinaxt symbolisiert wurde. Offenbar ist er identisch mit Teutates, dem »Höchsten der Götter«. Dieser gilt auch als der Gott des Friedens, des Beschützers von Feldern und Ernten, von Handel und Kunst. Belenos war der Gott alles dessen, was glänzt und brennt. Zu ihm gehört das Rad, das seit ferner Vorzeit das Bild der Sonnenscheibe war. Der Sonnenkult – der alte heidnische Glaube – ist in Mythen und Märchen überliefert. Grannos und Bormo waren die Götter der Heilquellen. Ogmios, eine Art von spirituellem Herkules, dessen Stärke nicht in den Muskeln, sondern im Wort lag, war der Gott der Redekunst, für die Kelten gewiß von höchster Wichtigkeit, da ja ihre Überlieferung nur mündlich war. Gwyon wurde als Gott der Künste und Wissenschaften verehrt. Esus, von dem der römische Dichter Lucanus schreibt, er sei der »Gott der mitleidlosen Altäre«, war der Gott des Krieges. Aber ein anderer Geschichtsschreiber behauptet, Esus sei das Symbol des Lebens und des Lichtes. Taranis sandte die Blitze vom Himmel.
Seit der Herrschaft der Römer wurde versucht, die keltischen Götter den römischen gleichzusetzen. So wurde Taranis zu Jupiter, Belenos zu Apollo und Teutates zu Merkur, eine Gleichsetzung, die gewiß sehr willkürlich geschah. Neben den großen Göttern gab es zahllose kleine Götter, wohltätige und bösartige, die später zu den Feen, Kobolden und Zwergen der Märchen und Sagen wurden. Der Mensch mußte durch Gebete versuchen, mit ihnen fertig zu werden. Es gab einen Kult der Quellen und Wasserläufe, der Bäume wie der Eibe, der Buche und vor allem der Eiche. Die Eiche wurde so tief verehrt, daß ein griechischer Autor aus ihr sogar einen Gott machte, und zwar nicht weniger als den höchsten Gott, den Zeus der Gallier. Der Kult der Steine, verbunden mit dem Sonnen- und Feuerkult, war von großer Bedeutung; denn der Stein war jahrtausendelang das einzige Werkzeug und die einzige Waffe der Kelten. Auch Tiere wurden verehrt: der Stier, das Wildschwein, das Pferd – oft auf Münzen dargestellt – der Hahn, dessen stolze Silhouette noch heute die Spitze der Glockentürme in Frankreich ziert, der gallische Hahn. Auf Denkmälern des ersten Jahrhunderts ist oft eine Schlange mit Widderkopf abgebildet, offenbar eine hohe keltische Gottheit. Die Schlange taucht häufig in alten Heiligenlegenden auf. Sie ist das Symbol der alten Macht des Heidentums. In frühen Kirchen sieht man manchmal die Statue eines Heiligen, der gegen einen Drachen kämpft.
Die Kriegerkaste der Kelten, die den Adel repräsentierte, hatte große Erfahrung in der Kriegskunst, die von den Römern bewundert wurde. Aber den Druiden, den Priestern, gehörte das Wissen der gesamten Überlieferung, die Kenntnis der Götter, der Gesetze und der Rechtsprechung. Sie kannten die Welt der Pflanzen und ihrer zerstörenden oder heilenden Kraft. Der bekannte Keltist Jean Markale schreibt über den Druidismus: »Die Philosophie der Druiden oder vielmehr des Denksystems, das die einzige wahre Einheit der Kelten bildete, beruhte auf Forschungsübungen des Denkens. Es handelte sich nicht um unbestimmte intellektuelle Spekulationen, sondern um Übungen zur Umformung des Wesens, einzige Voraussetzung zur Veränderung der Welt.« Ein angehender Druide brauchte 20 bis 25 Jahre, um sich die Überlieferung anzueignen. Cäsar schreibt in seinen »Kommentaren zum gallischen Krieg« – 6. Band, 14. Kapitel –, daß die Druiden vielerlei über das Universum und seine Gesetze lehrten, über die Formen und Dimensionen der Erde, über die Bewegung der Gestirne, über das Schicksal der Seelen und ihre Wiederverkörperung. Zahlreiche römische Geschichtsschreiber bezeugen die hohe Wissenschaft und die Philosophie der Druiden, die Tiefe ihrer Lehren. Das Resümee einer druidischen Synthese sind die »Triaden«, die – wie alles Wissen – nur mündlich überliefert wurden. Erst nachdem das Christentum durchgedrungen war, erhielten sie ihre schriftliche Form. Gewisse Kritiker behaupten, wahrscheinlich mit Recht, daß der Einfluß des Christentums sich in dieser Niederschrift bemerkbar mache. Die »Triaden« wurden vor etwa 1 000 Jahren ins Englische übersetzt. In Frankreich liegt erst seit dem vorigen Jahrhundert eine Übersetzung vor. Den »Triaden« zufolge gibt es drei Phasen oder Lebenskreise für den Menschen. Der Dualismus Gut-Böse scheint im keltischen Denken zu fehlen. Der Kelte war ursprünglich in seinem Wesen »amoralisch«. Die innere Bewegung, die sein eigenes Leben lenkte, galt genauso für das Weltall. Der Tod war für die Kelten nur ein kurzer Haltepunkt inmitten des grenzenlosen Lebens. Es gab keine Vorstellung von »Belohnung« oder »Strafe«. Man lebte auf dieser Erde, dann anderswo in neuer Verkörperung und so fort. Jede Tat konnte gut oder schlecht sein: Die Wertung lag beim Menschen, im gegenwärtigen Moment, unter den gegebenen Umständen. Das Leben hatte nichts Furchtbares. Die Kelten haben nie gewußt, was »Unbeweglichkeit« ist, wie sie in gewissen orientalischen Religionen praktiziert wird. Alles bei ihnen war Bewegung. Das »Nichts« war ihrem Denken fremd. Da sie den Tod nicht fürchteten, war ihre natürliche Haltung heiter und ruhig. Daraus erklärt sich auch ihr Mut und ihre Kühnheit im Kampf, die von den Römern so bewundert wurden. Ihr Denken war auf das Jenseitige, das Unsichtbare gerichtet. Darum die so häufige Berührung in den keltischen Traditionen zwischen der Welt der Toten und der der Lebenden.
Es scheint, daß die Druiden eine symbolische Pflanzenschrift kannten, Ogham-Schrift genannt, die aber nur den Eingeweihten zugänglich war. Es wurde – wie gesagt – nur mündlich gelehrt und zwar in Form von Versen zu Strophen geordnet, wahrscheinlich, weil es bei der Fülle der Überlieferung für das Gedächtnis bequemer war. Den Druiden zugeordnet, ja gleichgestellt, waren die Barden, die »heiligen Dichter und Sänger«. Der griechische Geograph und Geschichtsschreiber Strabon schrieb: »Die höchste Ehre bei den Galliern genossen die Barden, die Druiden und die Seher. Die Dichtkunst war eng mit der Religion verbunden.« Jeder weiß von der Zerstörung der Bibliothek von Alexandrien, die auf Befehl des Kalifen Omar niedergebrannt wurde, wodurch kostbare Dokumente des orientalischen Altertums verloren gingen, Wer aber weiß von der Zerstörung auf Cromwells Befehl der keltischen Bibliothek, die Graf Pembroke in dem Schloß von Rhaglan auf der Halbinsel Wales gegründet hatte und die reiche Manuskripte aus der Zeit der Barden enthielt? Die Barden verbreiteten durch ihre Gesänge die Lehren der Druiden im Volk. Es gab Barden, die zogen an der Spitze der Krieger in den Kampf, harfespielend und mit leidenschaftlichen Heldengesängen den Mut der Kämpfer anfeuernd. Der Name eines Barden aus dem sechsten Jahrhundert ist überliefert: Taliesin. Seine Poesie wird mit einer »hellen Flamme« verglichen, die »die Finsternis gewaltig durchdringt«, so heißt es in einer Schrift über Taliesin:
»Ich schüre das Feuer
zu Ehren des höchsten Gottes
ich bin ein Barde
Was ich singe
kommt aus den Tiefen der Tiefe.«
Aus diesem Geist der Tiefe des Wesens ist sein großes Gedicht Cad Goddeu oder »Kampf der Bäume« entstanden, eine erstaunliche und rätselhafte Dichtung. Mittelpunkt des Werkes ist der Kampf einer Gruppe von Bretonen, unter denen sich Taliesin und der Held Gwyddyon befinden und einer Truppe anonymer Feinde, deren Chef eine Frau ist. Der Kampf entwickelt sich zu ungunsten der Bretonen, so daß Gwyddyon gezwungen ist, seine Zauberkraft anzuwenden: Er verwandelt die Bretonen in Bäume und vielerlei Pflanzen, was ihnen erlaubt, zu siegen und Taliesin Gelegenheit gibt, eine Dichtung von hinreißender Begeisterung über die Metamorphosen zu verfassen. Der »Krieg der Pflanzen« ist in der keltischen Mythologie nicht selten. Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius, zu Beginn unserer Zeitrechnung geboren, schreibt über den Tod des Konsuls Postumius: »Da war ein großer Wald, von den Galliern Litana genannt, den die Römer passieren mußten. Rechts und links von dem Weg hatten die Gallier die Bäume gefällt, sie aber aufrechtstehen lassen, so daß sie bei der leichtesten Berührung umfallen mußten. Die Gallier hielten sich in einer gewissen Entfernung versteckt. Kaum befanden sich die Römer auf dem schmalen Waldweg, da gaben die Kelten den entferntesten dieser Bäume einen Fußtritt; die ersten stürzten auf die folgenden und so fort, bis alles unter den zusammenbrechenden Baumstämmen zermalmt war: Menschen, Pferde und Waffen. Kaum zehn Legionäre konnten sich retten.« Wahrscheinlich handelte es sich um einen mythischen Bericht, dessen sich Titus Livius bedient hat, um eine römische Niederlage zu tarnen. Übrigens bezeichnet der Wald Litana – oder Litava – das mythische Land der Toten. In gewissen keltischen Märchen kommen kämpfende Bäume vor, zum Beispiel in dem bretonischen Märchen von der Sonnenfrau: Das Kristallschloß. Wir sind in einer »jenseitigen Welt«. Am Ufer eines Flusses kämpfen zwei Bäume ununterbrochen und mit solcher Erbitterung gegeneinander, daß Rindenstücke und Holzsplitter weit fortgeschleudert werden. Der Held des Märchens tritt zwischen die Kämpfenden und redet sie an, worauf sie sich in Menschen verwandeln, in Mann und Frau, die ihm erklären, daß sie, als sie auf Erden lebten, sich ständig zankten und schlugen und seit dreihundert Jahren, in Gestalt von Bäumen, den Kampf fortsetzen mußten. Das Dazwischentreten des Helden brachte ihnen die Erlösung.
Die Barden waren die Seele des Volkes, aber die Druiden lenkten das tägliche Leben. Der Name »Druiden« kommt von Druwides, was bedeutet die »viel Sehenden«, die »viel Wissenden«. Sie lehrten immer in tiefen Wäldern oder Grotten. Ihr Tempel war die Natur, dort, »wo die Seele sich am besten mit dem Schöpfer vereinigt – so glaubten sie –, auf heiligen Lichtungen, genannt Nemeta. Neben der Eiche, dem Baum des höchsten Gottes, spielte die Birke eine große Rolle. Sie war der Baum des Lebens und des Todes, Symbol der Wissenschaft. Da die Druiden eine umfassende Kenntnis von den Heilpflanzen besaßen, waren sie mit der Pflege der Kranken betraut. Die Mistel, Zeichen der Unsterblichkeit, war die Pflanze der Erneuerung und der Gesundung. Sie ist bekanntlich ein Schmarotzerstrauch, der auf Bäumen wächst und ihnen durch Saugwurzeln Wasser und Nährstoffe entzieht. Die Mistel war besonders wertvoll, wenn sie – eine große Seltenheit – auf Steineichen wuchs. Sie ist heute noch in Frankreich und in England von symbolischer Bedeutung. Religiöse Feste waren Freudenfeste, bei denen um große Feuer getanzt und gesungen wurde.
Die römischen Geschichtsschreiber berichten aber auch von grausamen Opferungen. Was diese Opferungen für die Kelten bedeuteten, entzieht sich unserem Verständnis. Offenbar handelte es sich nicht darum, den Zorn der betreffenden Gottheit, für die geopfert wurde, zu besänftigen und sich ihrer Gnade zu versichern. Vielmehr wurde der Mensch, der geopfert wurde, als Botschafter der Gemeinschaft betrachtet, der nach dem Opfertod zu dem engen Kreis der Gottheit gehörte und als göttlich verehrt wurde. Es soll freiwillige Opfer gegeben haben, aber wer waren die anderen? Sicher ist, daß nach dem Glauben der Kelten jeder Tod nichts als eine Metamorphose war. Neuere Geschichtsschreiber glauben zu wissen, daß Opferungen schon seit Vercingetorix verboten waren. Vercingetorix, Häuptling des Stammes der Arverner, der 52 vor Christus versuchte, alle Stämme der Gallier gegen Cäsar zu vereinigen und geschlagen wurde. Aber etwa 100 Jahre nach Cäsars Sieg über Vercingetorix berichtete der römische Dichter Lucanus von grauenhaften Opferungen, die in den Wäldern vollzogen wurden: »Die Bäume tropften von Menschenblut, die Vögel wagten nicht, sich auf die Zweige niederzulassen. Selbst wilde Tiere suchten hier keine Zuflucht.« Es scheint, daß diese Art von Opferung zu Ehren des Gottes Esus geschah, daß die Opfer an die Bäume gehängt und Stück für Stück zerrissen wurden. Für den Gott Taranis wurde das Opfer in einem hohlen Baumstamm verbrannt. Die Opferungen für Teutates, den Höchsten der Götter, bestanden darin, den Kopf des zu Opfernden in einen Kessel zu tauchen, bis er erstickte. Ein solcher Kessel aus purem Silber – der Kessel von Gundestrup –, im Land der Kimbern gefunden, wird im Museum von Kopenhagen aufbewahrt. Gravuren an der Innen- und Außenseite des Kessels zeigen wahrscheinlich gewisse Metamorphosen. Porträtreliefs von Kriegern sind an der Außenwand verteilt. Es könnte sein, daß diese Art von Opferung nur für heldenhafte Krieger bestimmt war.
Das Recht der Kelten war von dem der Römer, wie schon erwähnt, sehr verschieden. Leider genügen die seltenen Bemerkungen darüber bei Cäsar, Dio Cassius, Strabon und anderen Geschichtsschreibern nicht, um einen genauen Überblick zu gewinnen. Aber wir können uns immerhin auf überlebende keltische Traditionen stützen, die das Urrecht durchblicken lassen. Diese Traditionen sowie die keltische Sprache sind vor allem in Irland lebendig geblieben. Aber auch im Nordwesten Schottlands, auf der englischen Halbinsel Wales und – auf dem Kontinent – in der Bretagne, ursprünglich Armorika – das Land am Meer – genannt.
Die Basis der keltischen Gesellschaft ist die Familie im weitesten Sinn des Wortes. Familienoberhaupt ist der Vater – richtiger gesagt das Ehepaar, das über vier Generationen gebietet. Jenseits dieser Verwandtschaft beginnt eine andere Familie mit eigener Güterverteilung. Mehrere Familien bilden einen Stamm, Tuath genannt, der zum Beispiel in Irland die politische Urzelle ist. Der Tuath genügt sich selbst. Er hat eine fest umrissene soziale Hierarchie. Der Häuptling oder König wird gewählt. Der Boden war Gemeingut, also unteilbar. Der König – als der von der Gemeinschaft gewählte Verwalter des Tuath –, kann einem Stammesangehörigen – sei es zur Belohnung für geleistete Dienste, sei es – im Gegenteil – in Erwartung einer Arbeit für das gemeinsame Wohl –, gestatten, über einen Teil des Bodens zu verfügen, dort seine Wohnstätte zu errichten und den Boden zu nutzen. Wenn der König so handelt, dann nicht etwa als ein Feudalherr, der gegen Entgelt den Boden verleiht, sondern allein im Interesse der Gemeinschaft. Die Frauen sind nicht von der Möglichkeit des Königtums ausgeschlossen. Ein Beispiel: Die Königin des Stammes der Iceni, namens Bodicea, die von den Römern ausgepeitscht wurde und mitansehen mußte, wie ihre Töchter von den römischen Legionären vergewaltigt wurden. Bodicea löste den großen britischen Aufstand des Jahres 61 aus, an dem alle Völker Britanniens teilnahmen. Dies geschah, nachdem die Armee des Suetonius Paulinus alle Druiden von der Insel Mon auf grausame Weise ermordet hatte.
Die Privilegien der Keltin im Vergleich zu der Römerin jener Zeit sind unleugbar. Wollte ein junges Mädchen sich verheiraten, so wurde ein Fest veranstaltet, an dem alle Jünglinge, die es wünschten, teilnehmen konnten. Das junge Mädchen reichte dem Erwählten Wasser zum Händewaschen. Dies war offenbar ein kultischer Akt. Beim Heiratsvertrag jedoch galten die Gesetze des Stammes, denn eine Familie zu verlassen, um in eine neue einzutreten, geht die Gemeinschaft an. Der Mann hat eine bestimmte Summe zu zahlen, ebenso die Frau. Beim Tode eines der Ehegatten erhält der Überlebende nur seine Mitgift nebst dem Gewinn während des Gemeinschaftslebens. Die Mitgift des Verstorbenen – ob Mann oder Frau – geht an dessen Familie zurück. Komplizierte Klauseln betreffen die Rückzahlung der Mitgift, falls der Witwer – oder die Witwe – sich zum zweiten Mal verheiratet, ja, es ist sogar die Rede von eventuellen dritten, vierten, fünften und mehreren Eheschließungen. Die jungvermählte Keltin mußte nicht in die Familie des Mannes hinüberwechseln, im Gegensatz zur römischen Gesetzgebung. Während die Germanin von der Erbfolge ausgeschlossen war, hatte die Keltin das Recht auf eigenen Besitz. Außer der Mitgift mußte der Mann oder seine Familie einen bestimmten Preis für die Jungfräulichkeit der künftigen Gattin zahlen, und zwar vor der ersten Nacht. Dieses Gesetz galt auch bei Römern und Germanen, nur wurde die Summe erst nach der ersten Nacht gezahlt, die sogenannte Morgengabe. Eine kleine Nuance, aber sehr aufschlußreich für die Achtung der Kelten für die Frau. War es möglich, sich scheiden zu lassen? Es ist überraschend, festzustellen, daß die Scheidung bei den Kelten sehr leicht war. Die Heirat war immer nur ein Vertrag. Wenn die Klauseln nicht respektiert wurden, war der Vertrag hinfällig. Nie ist die Rede von einer religiösen Heiratszeremonie. Aber die Scheidung bei den Kelten darf nicht mit einer Verstoßung verwechselt werden, wie sie im alten Rom sowie in der guten christlichen Gesellschaft üblich war, diese Verstoßung, die sich immer gegen die Frau auswirkte. Nichts Derartiges bei den Kelten. Dagegen haben sie immer zwischen Polygamie und Monogamie gezögert, sich nie klar für das eine oder andere entschieden. Cäsar erwähnte sogar – wenn auch sehr unklar –, daß bei gewissen Stämmen Polyandrie – das heißt Vielmännerei – üblich war. Daß die Polygamie erlaubt war, ist erwiesen. Wir finden ihre Spuren im geschichtlichen Zeitalter als legale Institution: der Mann konnte sich eine oder mehrere Nebenfrauen kaufen. Interessant ist, daß er sie für ein Jahr kaufen konnte, auf den Tag genau. Aber es war möglich, den Vertrag zu erneuern. Der Besitz von Nebenfrauen verminderte in keiner Weise das Recht der legitimen Frau, die sich im Hause von der Nebenfrau helfen lassen konnte. Sie war aber auch berechtigt, sich der Gegenwart einer Nebenfrau im Hause zu widersetzen, und wenn der Mann nicht nachgab, die Scheidung zu fordern. In der Legende der heiligen Brigitte von Kildar wird der Fall des Druiden namens Dubhthach erwähnt, der eine Konkubine gekauft hatte. Als diese von ihm schwanger wurde, drohte die legitime Frau mit Scheidung, wenn er sich nicht von dieser Nebenfrau trennen würde. Bei einer Scheidung aber mußte ihr der Kaufpreis und ihr persönliches Eigentum zurückgezahlt werden. Worauf der Druide auf die Nebenfrau verzichtete. Die Keltin – ob verheiratet oder nicht – hatte Zugang zu vielerlei Ämtern. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Erziehung der Kinder und Jugendlichen, auch war sie immer bereit, selbst im Kampf, ihrem Mann beizustehen. Diodor von Sizilien beschreibt sie als »ebenso stark wie ein Mann und ebenso mutig.« Ein anderer Geschichtsschreiber namens Ammianus Marcellinus, gestorben 300 nach Christus, schildert seine Beobachtungen sehr plastisch: »Die Laune der Gallier ist ungemein streitlustig und arrogant. Der erste Beste unter ihnen nimmt es mit mehreren Fremden zugleich auf, ohne anderen Beistand als den seiner Frau, die als Gegner noch furchtbarer ist als er. Dies muß man gesehen haben: Richtige Mannweiber, die Halsadern vor Wut geschwollen, ihre robusten schneeweißen Arme hin- und herschwenkend und mit Füßen und Fäusten Hiebe austeilend, die dem Loslassen einer Schleuder gleichen.« Es muß die Römer sehr erstaunt haben, Frauen zu sehen, die sich dem Mann gleichgestellt fühlten. Daß dies kein Grund sein konnte, sie durchweg als »Mannweiber« zu bezeichnen, versteht sich von selbst. Wir erinnern nur an Tristan und Isolde, an Genièvre, die Frau des Königs Artus, die von Lancelot, einem Ritter der Tafelrunde, um ihrer Schönheit willen verehrt wurde. Noch eine andere Aufgabe dieser in Kriegstaten und Erziehung erfahrenen Frauen ist die der sexuellen Unterweisung, einer Art von – mehr oder weniger – »geheiligter« Prostitution. Die sexuelle Freiheit war sehr ausgeprägt bei den Kelten. Der Begriff »Sünde«, den das Christentum einführte, fehlte ihnen gänzlich. Zwar ist nicht erwiesen, daß die Keltin das Priesteramt ausüben durfte, obwohl in keltischen Mythen und Sagen manchmal von Druidinnen die Rede ist. Dagegen wurde sie als Zauberin oder Hellseherin anerkannt. Dies waren sehr geschätzte Fähigkeiten bei den Kelten. In einem bretonischen Volksmärchen ist die Rede von einer »Groac’h«, was im Keltischen »alte Frau« bedeutet. Aber es wird versichert, daß man diesen Namen den Druidinnen, den keltischen Priesterinnen gab, die auf einer der armorikanischen Küste benachbarten Insel lebten. Der ursprüngliche Sinn der »alten Frau« ging verloren, und man bezeichnete mit »Groac’h« eine Frau, die Macht über die Elemente hatte und deren Reich sich »inmitten der Fluten« befand. Also eine Art von Wasserfee, meistens böser Natur. In die Kategorie der bösen Zauberinnen gehört auch Dahud, die Tochter des Königs von Cornwallis. Sie trug die Schuld an dem Untergang der Stadt am Meer, namens Ker-is. Diese Stadt hat existiert. Ihre Spuren sind auf dem Grunde des Meeres gefunden worden, dort, wo sich heute die Bucht von Douarnénèz befindet. Die Sage erzählt, daß Dahud einen ausschweifenden Lebenswandel führte, daß sie nachtsüber Orgien feierte und wenn sie eines ihrer Geliebten müde war, ihn kurzerhand ins Meer werfen ließ. Eines Tages aber kam aus einem fremden Land ein Prinz an den Hof ihres Vaters, der ihr überlegen war. Um diesem diabolischen Liebhaber zu gefallen, entwendete sie die Schlüssel der Hafenschleusen, die ihr Vater, der König, stets bei sich trug. Die Stadt wurde überschwemmt und versank im Meer. Es gibt viele Fassungen dieser Ker-is-Sage. Eine darunter ist besonders phantasievoll. Sie läßt Dahud unter den Wassern weiterleben. Fischer wollen sie gesehen haben, wie sie – von riesigen Fischen begleitet – durch die Fluten schwimmt. Bei ruhigem Wetter – so erzählt die Sage – erkennen die Seeleute auf dem Grunde des Meeres die Stadt, ihre Mauern, Paläste und Kirchen, und »sie hören den traurigen Klang der Glocken.« Zugleich aber wird prophezeit, daß die Stadt eines Tages wieder emporsteigen wird, und »der erste, der den Klang ihrer Glocken hört, wird König über das ganze Land.« Das Volk singt heute noch die Ballade des Untergangs von Ker-is.
Und da wir von keltischen Sagen sprechen, dürfen wir nicht eine der berühmtesten vergessen: Die Sage von König Artus und seiner Tafelrunde, deren Überlieferung wir Chrétien de Troyes, dem Dichter des 12. Jahrhunderts, verdanken. König Artus lebte im 6. Jahrhundert. Er stammte aus Britannien. Arm von Geburt, schloß er sich einer Gruppe – heute würde man sagen: einer Widerstandsgruppe –, an, deren Chef er bald wurde. Es war die Zeit der angelsächsischen Invasionen, der Verteidigung gegen die Eroberer. In Wales wurde sein Name schnell berühmt, denn er rief die Kelten zum Widerstand gegen die nordischen Horden auf, befestigte die Klöster, beschützte die Kirchen und lieferte eine siegreiche Schlacht gegen den Feind. Aber er war gezwungen, sich nach Armorika – der heutigen Bretagne – zurückzuziehen. Mit seinen Rittern – Erek, Gawan, Iwein, Lancelot, Merlin, Parzival, Tristan – begab er sich auf die Suche nach dem Heiligen Gral. Der Gral – das war die wundertätige Schale, in der Joseph von Arimathia das Blut Christi aufgefangen hatte –, befand sich in der sagenhaften Gralsburg Monsalvatsch. In Deutschland waren es vor allem Wolfram von Eschenbach und Richard Wagner, die die Sage vom Gral, von Artus und seiner Tafelrunde bekanntmachten.
Weder der Materialismus der Römer noch der Feudalismus der Franken haben die keltischen Traditionen total zerstören können. Zahlreiche Druiden hatten vor den römischen Verfolgungen in Irland Zuflucht gefunden. Andere, die sich nicht zur Auswanderung entschließen konnten, zogen sich in die großen, undurchdringlichen Wälder der Basse-Bretagne und auf die vielen Inseln der bretonischen Küste zurück. Ihr lebendig gebliebener Einfluß zeigte sich, als im dritten Jahrhundert die Christianisierung begann. Zwei Jahrhunderte lang blieb das Christentum dem heidnischen Glauben an die Naturgötter gegenüber machtlos. Die Barden haben ein Echo dieser unerbittlichen Kämpfe hinterlassen. Von den Teilen Europas ausgehend, wo sich die keltische Sprache und Tradition erhalten hat, macht sich heute der leidenschaftliche Wunsch bemerkbar, an diesen Überlieferungen festzuhalten, sie zu vertiefen und zu verbreiten. Wir nannten bereits diese Inseln keltischer Kultur: Vor allem Irland, dann der nord-westliche Teil Schottlands, die englische Halbinsel Wales und – auf dem Kontinent – die Bretagne, genauer gesagt, die Basse-Bretagne, das heißt der westliche Teil der Bretagne, der eine Halbinsel bildet. Hier wird keltisch gesprochen. Die Sprachgrenze beginnt etwa östlich von Vannes, zieht sich nordwärts und verläuft westlich von St. Brieuc. Warum dieser Wunsch, zu den Quellen zurückzukehren, die die römischen Sieger, dann die Germanen und Franken zu verschütten suchten und die heute von endgültigem Untergang bedroht sind?
Das Wort des französischen Historikers Fustel de Coulanges gibt zu denken: »Der Mensch kann die Vergangenheit vergessen, aber sie stirbt nie ganz in ihm. Er trägt sie in sich. Denn er ist das Ergebnis und das Resümee aller vergangenen Epochen.« Eine ganze Anzahl von Historikern – unter ihnen Michelet, Edgar Quinet, Ernest Renan – sind überzeugt, daß 90 % der Franzosen Kelten geblieben sind, daß nach dem Sieg der Franken über die Römer, diese in Massen über die Alpen zogen, um in ihr Land zurückzukehren, daß die Franken nur etwa 38 000 waren, während die Kelten 50 Millionen zählten. Gewiß, die Römer bauten Straßen, Denkmäler, große Gebäude und Städte, sie gründeten römische Schulen und zwangen den Besiegten die lateinische Sprache und Schrift auf. Aber kam es zu einer totalen Vermischung beider Völker? Nachweislich nicht. Die Römer waren gar nicht zahlreich genug. Sie hatten einen gut organisierten Verwaltungsapparat und sie verstanden, den Reichtum des Landes und die Fähigkeiten der Gallier zu nutzen. Aber nur eine kleine gallische Elite wurde von ihnen integriert.
Und die Franken? Gewiß, sie eroberten das Land, aber was sie brachten, war nur neue Unterdrückung. Sie teilten sich den Boden und richteten die Feudalherrschaft ein. Frankreichs Adel, seine Könige waren Franken. Wenn die römische Herrschaft, die vier Jahrhunderte dauerte, den Galliern gewisse Wohltaten gewährte, so brachte die habgierige Verwaltung der Franken dem Lande den Ruin und zerstörte seine Widerstandskraft. Die tieferen Gründe für die große französische Revolution sind nach Ansicht eminenter Historiker in der Auflehnung des Volkes gegen die Ausbeutung durch den fränkischen Adel zu suchen.
In Irland, dieser Insel, wo die keltischen Traditionen am reinsten bewahrt wurden, wird bis heute das Gälische – ein Zweig der keltischen Sprache – offiziell anerkannt, eine reiche Sprache, vielfältig in ihren Ausdrücken, in der sich die keltische Seele spiegelt, beweglich und sensibel, leidenschaftlich begeistert für jede gerechte Sache. Die Geschichte dieses Landes war jahrhundertelang ein einziges Martyrium. Die Verfolgungen zwangen die Hälfte der Bevölkerung auszuwandern. Von acht Millionen blieben nur vier. Seitdem findet man Kelten über die ganze Erde verstreut, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Irland war und ist die Insel der Barden. Der Dichter Yeats – William Butler Yeats – gestorben 1939, der 1923 den Nobelpreis erhielt, gilt als der Initiator der Wiedergeburt irländischer Traditionen. Die Quelle seiner Inspirationen sind die alten Mythen, in denen die leidenschaftliche Seele Irlands lebendig ist. Daß der Ire Bernard Shaw sich für Jeanne d’Arc interessierte und ihr – außer seinem Bühnenstück Die heilige Johanna – einen ausführlichen Essay gewidmet hat, ist nicht erstaunlich, denn beide waren Kelten. Darum verstand er sie und wußte, daß sie die Wahrheit sprach, wenn sie sich auf »ihre Stimmen« berief. James Joyce, der Ire, suchte in seinen Schriften nach dem verborgenen Sinn der Worte, nach dem Geheimnis der Dinge und der Begegnungen. Dies war sein keltisches Erbe. Sir W. Barrett, nach dem Ersten Weltkrieg Professor an der Universität Dublin, Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften in London und Mitbegründer der Gesellschaft für psychische Untersuchungen, ist der Verfasser eines Werkes, das den Titel trägt: Au seuil de l’invisible – An der Schwelle des Unsichtbaren. In seinen Schlußfolgerungen heißt es unter anderem: »Es ist anzunehmen, daß auf den äußerst radikalen Wechsel des Denkens seit der christlichen Ära, die Wissenschaft von der Imanenz einer geistigen Welt folgen wird. Einigen privilegierten Seelen wurde das innere Ohr, die Hellsicht, das inspirierte Wort gegeben, aber wir alle nehmen manchmal eine innere Stimme wahr, schwaches Echo jenes reicheren Lebens, das die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte langsam aber sicher entdeckt. Der wahre Sinn der Natur liegt nicht in der materiellen Welt, sondern in dem Geist, der sie interpretiert, in dem Geist, der trägt und eint, der über die von ihm geschaffene Welt der Erscheinung hinausgeht, in der jeder von uns eine Weile zubringt.«
Zwar gebührt Irland der erste Platz unter den Bewahrern keltischer Tradition, aber die Basse-Bretagne, im äußersten Westen des europäischen Kontinents gelegen, ist unter allen Provinzen Frankreichs die reichste an überlieferter Volksliteratur. Die Mythen sind Teil des täglichen Lebens der Bretonen. Dies bewiesen die Sammler der alten Sagen, Märchen und Legenden, die im 19. Jahrhundert – angeregt und ermutigt durch die Brüder Grimm – die Erzählungen des Volkes aufzeichneten und veröffentlichten. Welch einen Schatz an mündlicher Überlieferung haben wir diesen Sammlern zu verdanken, ein Schatz, der heute kaum mehr gehoben werden könnte.
Emile Souvestre, geboren 1806 in Morlaix, war der erste, der 1835 bis 1836 ein Werk über Sitten, Gebräuche und Lieder seiner bretonischen Heimat veröffentlichte: Les derniers bretons – Die letzten Bretonen. 1845 erschien die erste Sammlung von Märchen und Sagen dieses Autors unter dem Titel: Le foyer breton - Das bretonische Heim. Er schrieb: »Wer unsere alte Sprache versteht und an einem schönen Sommerabend über die Berge von Cornwallis wandert, der hört den Hirten zu. Sie singen alte Balladen in Melodien, die heute keiner mehr erfindet und die von Wundern, Verbrechen und Liebe künden.« Sie kamen alle aus dem Volk, diese Erzähler von Sagen und Märchen, konnten weder lesen noch schreiben, aber ihr Gedächtnis war hoch entwickelt. Die Sammler waren sämtlich bodenständige Leute. Zu einem Fremden hätte keiner der Erzähler gesprochen. Erzählen war eine Vertrauenssache. Handelte es sich um eine ernste Geschichte, die von Helden und tragischen Ereignissen berichtete, dann bekreuzigte sich der Erzähler, bevor er begann. Dies als Zeichen, daß nichts an dem Wortlaut der Erzählung geändert worden war, die er von seinen Vorfahren gelernt hatte. Jede Änderung wäre Sünde gewesen. Bei lustigen Geschichten dichteten die Erzähler gewiß oft dazu. Denn das Erzählertalent war ihnen angeboren. In den Memoiren eines Bretonen, die Pierre Jakez Hêlias unter dem Titel Le cheval d’orgueil veröffentlichte, erzählt der Autor aus seiner frühen Kindheit, die er in Gesellschaft seiner beiden Großväter verbrachte. Beide waren erstaunliche Erzähler. Der eine, ein Holzschuhmacher, verschwand manchmal die halbe Nacht, weil er von Freunden und Bekannten angehalten worden war, die seine Geschichten hören wollten. Beim Arbeiten meditierte er, und niemand durfte ihn stören. An der Kartoffelernte beteiligten sich alle Erwachsenen und Kinder des Dorfes. Wenn es Abend wurde, gingen die Erwachsenen nach Hause, aber wo sind die Kinder? Besorgt geht die Mutter aufs Feld zurück. Da sitzen sie alle im Kreis und lauschen gespannt dem Holzschuhmacher, der ihnen erzählt, »wie ein Bretone König von England wurde«. Der Enkelsohn durfte den Großvater manchmal auf die großen Bauernhöfe der Nachbarschaft begleiten, nach Keldreg, Brenizenec, Lestrougi, auch nach Kervinou. Unvergeßlich ist dem Kinde die Mühle von Kerzuot, wo noch das Gespenst des alten Quellec umgeht, der für jedes seiner zwölf Kinder eine Mühle gebaut hatte. In Kerzuot hat der Großvater den Ehrenplatz: Er sitzt auf dem Stuhl des reichen Quellec selbst. Und das Kind sitzt ihm zu Füßen und sieht bis in die hinterste Ecke des großen Saales die Augen der Zuhörer leuchten. Der Großvater erzählte manchmal auch Anekdoten, die er frei erfunden hatte, sogar in Gegenwart des Helden selbst, und er beschrieb den Ort, die Zeit und die Ereignisse so genau, daß der Betreffende schließlich selber daran glaubte und die Geschichte weitererzählte, als wäre sie ihm wirklich passiert. Der zweite Großvater von Pierre Jakez gehörte zu einer anderen Art von Erzählern: Er erfand die kuriosesten Dinge. »Ihr werdet mir nicht glauben«, sagte er, und erst nachdem alle versichert hatten, daß sie ihm aufs Wort glauben würden, begann er, seine phantastischen Geschichten zu erzählen. Der kleine Pierre Jakez saß fasziniert auf der Bank am Kamin und neben ihm – obwohl der Platz leer war – saß »Jean Mensonge« – zu deutsch »Johann Lüge« –, an den er fest glaubte, weil Großvater mit ihm redete. Und Pierre Jakez machte sich noch kleiner als er schon war, um »Jean Mensonge« genügend Platz auf der Bank zu lassen. Im Jahre 1839 erschien ein aufsehenerregendes Werk unter dem Titel Barzaz-Breiz, was bedeutet Volkslieder der Bretagne. Der Sammler und Herausgeber war Theodor Hersart de la Villemarqué, 1815 in Nizon – Cornwallis – geboren. Mit dem Erscheinen dieses Werkes rückte die Bretagne plötzlich in den Vordergrund des Interesses. Niemand – selbst nicht in der Bretagne – hatte geahnt, welch ein Reichtum an keltischer Überlieferung im Volk bewahrt worden war. George Sand – 1804 bis 1876 – schrieb emphatisch: »Dieses Werk ist größer als die Ilias, schöner, vollkommener als irgend ein Meisterwerk des Menschengeistes.« Der Autor und sein Werk wurden schnell berühmt. Eine Ausgabe folgte auf die andere, und jedesmal wurde die Sammlung durch neue Entdeckungen bereichert. Eine Faksimile-Ausgabe der zweisprachigen Fassung von 1867 erschien kürzlich – 1981 – in Paris, im Verlag François Maspero. Wir finden in dem 530 Seiten starken Band, in Form einer Prosadichtung – so wirkt jedenfalls die französische Übersetzung – fast alle Sagen und Legenden der keltischen Überlieferung, darunter die Sage von Ker-is, von König Artus, von dem Zauberer Merlin sowie zahlreiche Hochzeitsgesänge und Festlieder, Legenden und religiöse Gesänge.
Hat das Christentum einen so tiefen Einfluß auf die heidnischen Kelten ausgeübt, daß nichts von den Ursprüngen übrigbleibt? Dies zu glauben, wäre ein großer Irrtum. In dem Christentum der Kelten lebt der alte heidnische Glaube weiter. Das Feuer der Sommersonnenwende wurde das Sankt-Johann-Feuer. Die Pflanze der heidnischen Götter, die Mistel, wurde das Kreuzkraut. An den Quellen wurden Kapellen für die Schutzheiligen errichtet, aber der Glaube an die Heilkraft der Quelle blieb derselbe. Namen wurden geändert, aber die alten Gebräuche leben weiter. Noch ein Wort zu dem Barzaz-Breiz von Hersart de La Villemarqué. Keltische Philologen begannen in neuerer Zeit über die Authentizität der keltischen Fassung dieses Werkes zu streiten. Doktorarbeiten darüber erschienen an der keltischen Fakultät der Universität Rennes sowie an der Sorbonne. Die Doktorarbeit von Donatien Laurent La VillemarqueBarzaz-Breiz