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© 2020 Hildegard Dubois
Umschlaggestaltung und Satz: Sascha Bühler
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783751913324
Mit großer Liebe
für meine Kinder geschrieben
und ihnen gewidmet
Lena verabschiedete ihre Gäste an der Terrassentür nach dem ausgedehnten, unterhaltsamen Frühstück. An diesem strahlenden Vorfrühlingstag freuten sich alle an der Wärme und der Helligkeit, wobei Lena auffiel, wie winterlich beschlagen die Blumenfenster nun nach einer Dusche schrien. Mach ich morgen, dachte sie. Zu fünft war die kleine Gruppe, ein Nachbarschaftsfrühstück, wie immer. Es ging reihum, diesmal war Lena dran. Hanna und Werner, als Ehepaar waren da und die drei Damen, leider zwei schon Witwen.
Die letzte Tasse des frisch eingegossenen Kaffees rutschte Werner aus der Hand und ergoss sich auf Untertasse und Tischtuch und auf den hellen Teppich. Laute „Ahs“ und „Ohs“ hörte Lena, doch mit Servietten wurde gelöscht, „halb so schlimm“, sagte die Hausfrau, „kann ja mal passieren.“
Beim Abräumen stellte Lena nun fest, dass die Spitze der hellen, beigefarbenen Mitteldecke an der Stelle braun gefärbt war. Normalerweise war solch ein Missgeschick kein Thema, doch gerade diese sehr hübsche, mit Spitze ringsum verarbeitete kleine Decke war ein Erbstück ihrer Mutter. Sie hatte sie zwar nicht selbst geklöppelt, doch in einem altbekannten Handarbeitsgeschäft in Köln gekauft und mehr gehütet als benutzt. Nun behandelte Lena sie auch vorsichtig und legte sie nur zu besonderen Anlässen auf. Da dachte sie an den hellen Teppich, aus dem sie vor Jahren den Kaffeefleck nie wieder entfernen konnte. Was sollte sie nun mit der kleinen Decke machen? Waschmittel? Salz? Zitrone? Was könnte sie nehmen? Vorerst legte sie die besagte braune Stelle ins kleine Becken mit klarem Wasser. Um den Teppich wollte sie sich später kümmern.
Unwillkürlich musste sie an Mutters Waschtag denken, als sie noch ein Dreikäsehoch war, an all die vielen Arbeitsgänge und die jeweils besonderen Behandlungen für manche Wäschestücke. Diese Arbeit erledigte Mutter alle vier Wochen immer an einem Montag. Allerdings wurde schon Sonntagabend in der Waschküche im Keller die weiße und die dunkle Wäsche getrennt in je einer Zinkwanne in kaltem Wasser über Nacht mit Henko eingeweicht. Die Flecken in Vaters dunkler Arbeitskleidung wurden vorher mit Schmierseife und der Wurzelbürste über dem Waschbrett eingerieben. Aus dem Wasserhahn über dem großen Waschkessel ließ Mutter Wasser einlaufen bis er halbvoll war. Als Magdalene vier oder fünf Jahre alt war, ging sie gerne mit in die Waschküche. Manchmal durfte sie sogar die Wäschestücke der Mutter anreichen. Am Montagmorgen, wenn der Vater nach dem Frühstück gegangen war, band Mutter sich den Turban um, indem sie das Kopftuch nach oben zuknotete.
„Mit Rücksicht auf die Dauerwelle“, sagte sie, und stapfte mit Magdalene nach unten um zu allererst unter dem großen Waschkessel Feuer anzuzünden. Mit Zeitungspapier und kleinen Holzstückchen fachte Mutter an, Magdalene holte aus dem Keller nebenan immer zwei Briketts in einem kleinen Korb und legte sie neben den Ofen, damit Mutter sie einlegen konnte. Dann sah sie zu, wie Mutter die große Holz-Wäschezange nahm , die so lang wie Magdalene groß war, und wuchtete die eingeweichten weißen Wäschestücke damit aus der danebenstehenden Zinkwanne in den Kessel, dazu streute sie noch Persil-Seifenflocken aus einem Karton hinein. Nun hob sie mit zwei Händen den großen Deckel auf den Waschkessel, und sie beide gingen wieder nach oben. Zwischendrin sagte Mutter: „Ich muss die Wecker-Uhr einstellen, damit die Wäsche nur nicht überkocht!“ Ab und zu sprang sie prüfend nach unten.
„Jetzt kocht sie endlich“, sagte sie als sie hochkam und stellte wieder die Uhr ein. Die Federbetten, die sie zum Lüften ins offene Schlafzimmerfenster gelegt hatte, holte sie nun wieder rein und legte sie fein säuberlich aufs Bett. Jetzt wollte sie noch schnell spülen, bevor es wieder nach unten gehen musste. Magdalene war stets neben ihr, denn Bestecke, aber keine Messer, durfte sie schon abtrocknen und in die Schublade legen.
Nach einer Weile stiegen sie beide wieder in den Keller. Nun kam eine gefährliche Arbeit, dabei durfte Magdalene nicht in Mutters Nähe kommen, sondern musste vor der offenstehenden Tür bleiben. Die Waschküche lag eine Stufe tiefer als der Kellergang. Zuerst rollte Mutter die Miele-Waschmaschine ganz nah an den heißen Waschkessel heran. Sie sah aus wie ein Fass, nur dicker, hatte einem Wringer seitlich angebracht, und stand auf einem viereckigen Holzgestell, das Räder hatte. Mutter steckte das Kabel in die Steckdose und schaltete ein. Jetzt summte der Motor unter dem großen Bottich und das Drehkreuz bewegte sich. Vorher hatte sie mit einem Schlauch Wasser in die Waschmaschine laufen lassen und gab aus einem Karton Sil dazu. Dann nahm sie mit einem Ruck den Deckel von der kochenden Wäsche im Waschkessel. Im Nu war die Waschküche voll Dampf. Gut, dass es zwei große Fenster gab! Nachdem sie den Wringer eingeschaltet hatte, nahm sie nun mit der großen Zange ein dampfendes Wäschestück nach dem anderen aus dem Waschkessel und klemmte es in den Wringer, das dann in die Waschmaschine fiel. Das war gar nicht einfach, denn die Zange durfte auf keinen Fall zu nah an die beiden Walzen vom Wringer kommen, oder gar dazwischen.
„So, nun muss sie solange schlagen bis keine Flecken mehr zu sehen sind, auch nicht auf deiner Schneewittchen-Serviette“, sagte sie.
„Warum sagst du ‚schlagen‘ Mutti? Das Drehkreuz dreht sich doch nur, einmal so rum und einmal anders rum.“
„Stimmt“, sagte Mutter, „aber durch diesen Wechsel schlägt es jedes Mal an die Wäsche, das ist so, als ob ich sie feste mit der Wurzelbürste einreibe, weißt du.“
Danach nahm sie aus der zweiten Zinkwanne die dunklen Wäschestücke und hob sie mit der langen Zange in die Lauge im Kessel, die nun nicht mehr so sehr dampfte. Nur ein Brikett legte sie noch zu, denn kochen durfte diese Wäsche ja nicht, sagte sie. Wieder ging’s nach oben. Jetzt kochte Mutter eine Erbsensuppe, am Waschtag gab es immer Eintopf. Die Hülsenfrüchte hatte sie schon am Abend vorher eingeweicht, viel Suppengrün aus dem Garten, Kartoffeln und ein Stück Suppenfleisch kamen dazu.
„Nun muss auch der Topf im Kachelofen kochen“, sagte Magdalene. Mutter lachte: „Ja, heute kochen wir auf allen Etagen. Doch das im kleinen Topf schmeckt nachher gut.“
Etwas später stiefelte sie mit Magdalene wieder nach unten. In die zwei leeren Zinkwannen füllte Mutter mit dem Schlauch Wasser ein und legte das Blaupapier dazu. Nun stellte sie das Drehkreuz ab und ließ aus der Waschmaschine das Wasser ablaufen, denn in der Mitte der Waschküchen war ein Abfluss. Sie füllte frisches Wasser nach und wiederholte den Spülvorgang dreimal. Jedes Mal wurde die Wäsche wieder durch den Wringer gedreht. Dann tauchte Mutter die weiße Wäsche in die beiden Zinkwannen. Nach kurzer Zeit musste alles noch einmal durch den Wringer und kam dann in den großen, viereckigen Weiden-Wäschekorb. Diesen schweren Korb mit der nassen Wäsche wuchte Mutter bei Sonnen-Wetter nach oben in den Garten. Die Frottee-Handtücher, die Unterwäsche von allen in der Familie und alle anderen kleinen Teile hängte Mutter auf die Leine. Hierbei konnte Magdalene helfen, sie reichte Mutter die Wäscheklammern an. Die großen Teile, wie Tisch- und Bett-Wäsche, legte Mutter zum Bleichen fein säuberlich ausgebreitet auf den Rasen, ließ zwischen den Stücken immer zwei handbreit frei, konnte dort gehen und mit der großen Gießkanne die Wäsche benetzen wenn sie von der Sonne ausgetrocknet war. Magdalene durfte auch mit ihrer kleinen Kanne helfen. Das machte sie sehr gerne.
„So“, sagte Mutter, „die weiße Wäsche wäre vorerst versorgt. Komm mit, du Fräulein Gernegroß, jetzt haben wir uns die Erbsensuppe auch redlich verdient“, und ging mit Magdalene an der Hand eine Treppe runter, an der Waschküche vorbei, den Kellergang durch und wieder eine Treppe hoch.
„Aber es gibt auch einen Nachtisch, oder?“, fragte Magdalene.
„Noch habe ich keinen, doch ich könnte schnell einen Vanillepudding kochen.“
„Mit Schokoladensoße?“
„Die sparen wir uns heute, weil wir nicht so viel Zeit haben. Aber Sonntag gibt’s eine, fest versprochen“, sagte Mutter wie sie oben ankamen. Doch als sie eine frische Milchflasche öffnete, die mit einem Stanniol-Hütchen verschlossen war, und daran roch, sagte sie: „Die ist nicht ganz koscher, die hat einen Stich“, und nahm eine andere Flasche.
Nach dem Mittagessen für sie beide ging es wieder runter in die Waschküche. Nun kam die gleiche Prozedur mit der dunklen Wäsche. Zwischendurch durfte Magdalene nach oben in den Garten und die weiße Wäsche mit ihrer kleinen Gießkanne wieder besprenkeln. Nach dem letzten Arbeitsgang für die bunte Wäsche war Mutter auch oben und hängte alle dunklen Stücke auf die Leine. Die großen, trockenen weißen Teile faltete sie grob zusammen, bevor sie diese im Korb auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades mit ihrer kleinen Tochter an der Hand zum Mangeln schob. Dort reckte und streckte sie mit Frau Reinhard die Wäschestücke feste in die gerade Richtung. Aber hierbei konnte Magdalene nur zuschauen.
„Morgen Nachmittag können Sie dann alles abholen“, sagte Frau Reinhard. „Bis morgen“, sagte Mutter setze Magdalene auf den Gepäckträger und lenkte Fahrrad mit Tochter nach Hause.
„Wir könnten vorher noch schnell einkaufen“, sagte sie plötzlich und hielt ihr Gefährt vor der Drogerie. Wie immer trafen sie Herrn Weinhag an, der Magdalene stets beschenkte. „Bitte einen Alaunstift für meinen Mann“, sagte Mutter, „und eine Dose Kaloderma.“
„Aber immer“, sagte Herr Weinhag, ein großer, schmaler Mann, der sich gerne mit Mutter unterhielt, wenn außer ihr niemand im Laden war. Sie sprachen oft über die Ostsee, Mutters Jungmädchen-Urlaubsziel. Seine Heimat war Wismar, hatte er Mutter schon erzählt. Diesmal erhielt Magdalene als Geschenk ein kleines Tütchen mit Honigbonbons, wofür sie sich sehr bedankte, und Mutter sagte: „Eins darfst du nehmen, aber nur lutschen, nicht beißen.“ Na, das wusste sie nun schon. Mutter zahlte und wendete sich zur anderen Straßenseite zum Fleischer. Eine oberflächlich freundliche Frau Mertens stand hinter der Theke. Mutter kaufte ein Stück Leberwurst und Rindfleisch aus der Hüfte für Vaters Schabefleisch. Magdalene passte gut auf und blieb immer stumm, wie sie von Mutter gelernt hatte.
„Na, du“, sagte Frau Mertens, „magst du denn eine Scheibe Fleischwurst?“ Da schaute Magdalene zuerst ihre Mutter an, die nickte, „ja“, sagte Magdalene, und Mutter sagte: „Vielen Dank“, und zu ihrer Tochter: „Hast du denn das Bonbon schon gelutscht?“ „Längst“, war die Antwort.
Auf ihrem Heimweg kamen sie an der Bäckerei Distler vorbei. Ein Lehrbub brachte jeden Morgen eine Tüte mit fünf Brötchen und legte sie neben die beiden Milchflaschen, die vom Butter-Eier-Käse-Laden, Breuer, gebracht wurden. Das war ein toller Service, damals, zu meiner Kleinkinderzeit, dachte Lena, als sie die Stühle um den runden Esstisch wieder zurechtrückte. Das kann sich heute wahrscheinlich kaum jemand vorstellen. Doch dann war im und nach dem Krieg diese Annehmlichkeit natürlich vorbei. Und genau gegenüber vom Bäcker Distler lag der Lebensmittelladen, Scheurle, erinnerte sie sich. Der Inhaber war der erste Schwabe, den Magdalene kennenlernte, ein freundlicher, kleinerer Mann. Seine Aussprache war eine völlig andere als die, die Magdalene kannte. Er sagte zu Mutter: „Grüß Gott, Frau Tippela“, ihren französischen Familienname konnte er wohl nicht aussprechen.
Daheim nahm Mutter die nun trockene Buntwäsche von der Leine, legte alles in den Korb und sagte: „Heute konnte ich bei diesem wunderschönen Wetter mein komplettes Wäschepensum erledigen. Es war ein langer Arbeitstag! Jetzt bin ich geschafft, aber glücklich, denn alles ist wieder sauber! Den Rest bügele ich morgen.“
Doch an Regentagen musste Mutter die nasse Wäsche hoch auf den Speicher tragen und dort auf die Wäscheleinen hängen. Viel helfen konnte Magdalene dabei nicht, nur Mutter die Wäscheklammern anreichen. An solchen Tagen dauerte diese zeitaufwendige Tätigkeit sogar zweimal zwölf Stunden. Doch Mutter sagte manchmal: „Ein guter Anfang ist der halbe Erfolg!“
Nur zwischen Weihnachten und Neujahr durfte nicht gewaschen werden. Das erklärte ein Spruch von Oma, den Magdalene überhaupt nicht verstand: „Wer zwischen den Jahren wäscht bekommt einen untreuen Ehemann!“ So was!
Da stand Lena am Tisch, schaute auf die nasse Stelle des großen Tischtuchs, lächelte, schüttelte den Kopf und hielt ein lautes Selbstgespräch: „Wieso denk ich an solch alte Geschichten und Begebenheiten, die so lange zurück liegen? Und doch sehe ich uns beide, Mutter und mich, in dieser großen, dampfenden Waschküche stehen und Mutter hantieren. Ich rieche noch den Duft der in Persil gekochten Wäsche. Welch harte und körperlich schwere Arbeit für eine Hausfrau früher allein mit dieser Tätigkeit verbunden war! Obwohl Mutter diese elektrische Miele-Waschmaschine hatte, sogar mit Wringer! Doch sie klagte nie. Auch nicht bei der Erntearbeit aller Früchte aus dem Garten oder der Büroarbeit. Wobei doch alles immer erledigt werden musste, Tag für Tag.“
„Manche Menschen fühlen den Regen, andere werden einfach nur nass“, der Spruch traf in jedem Fall auf Mutter zu. Sie fühlte und beobachtete die Dinge, und las zwischen den Zeilen und sie half, wo es Not tat, zu helfen, immer und jedem.
„Die Zeit für all die vielen Dinge ist oft viel zu kurz, der Tag müsste noch mal zwölf Stunden haben!“, sagte sie häufig. Sie stand früh auf und war die Letzte, die zu Bett ging. Sie war immer müde, sodass sie manchmal bei Tisch, nach dem Mittagessen, wenn sie mit Magdalene alleine war, den Kopf auf den Unterarm fallen ließ und mit krummem Rücken sofort einschlief. Damals konnte Magdalena das nie verstehen.
Doch vom Vater erhielt Mutter gar keine Hilfe, das bemerkte Magdalene sehr wohl. Er kümmerte sich nur um seinen LKW, ‚Magirus‘, die Fahrten für seine Kunden und um seinen PKW, den ‚Adler‘. Für ihn war die Pflege der beiden Autos sehr wichtig, wie Öl- und Zündkerzen-Wechsel, der Einbau des neuen Motors für den Scheibenwischer und alle technischen Neuerungen, die es damals gab. Aber alle Dinge, die im und ums Haus zu erledigen waren, betrachtete er als Mutters Arbeit. Und wie er verwöhnt wurde, fiel Lena ein: ihm wurde serviert, das Frühstück und das Abendbrot zubereitet und gereicht. Er saß am Tisch, rauchte Zigaretten, las Zeitung und verpasste im Radio keine Nachrichten. Er tat keinen Streich. Selbst wenn er ins Bad ging rief er laut nach der frischen Unterwäsche. Mutter sprang auf, holte und brachte. Wen hatte sie, den sie um etwas bitten konnte? Niemand, dachte Lena traurig. Ich war damals noch viel zu klein.
Später im Krieg wurde vieles noch komplizierter. Vaters schlechte Laune stieg an als ihm zunächst der Magirus und dann sein geliebter Adler genommen wurde, konfisziert als wichtige Kriegsgüter. So musste er sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Wo er als Ingenieur wieder etwas gefunden hatte? Merkwürdig, daran konnte Lena sich überhaupt nicht mehr erinnern. Doch alsbald begann Mutter ihre Bürotätigkeit in der Wohnungsgenossenschaft.
Und heute, dachte Lena in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer, während sie den Blumen Wasser gab. Sie kannte so viele junge Ehemänner und Väter die mithalfen, zu Hause, im Garten, beim Einkaufen und bei den Kindern, weil sie wussten, wie viel sie sonst versäumten. Oft arbeiteten die Ehefrauen auch, doch die Kinder hatten beide, Mutter und Vater, die sich um sie kümmerten. Auch Lenas Söhne handelten so. Wie schön wäre solch eine Einteilung damals auch zu ihrer Kinderzeit gewesen! Doch sie wuchs mit einem so sehr patriarchalisch geprägten Vater auf, dass nur sein strenges und oft sehr hartes und ungerechtes Regiment für die ganze Familie galt.
Lena dachte an die Zeit als sie ein Backfisch war. Da wunderte sie sich schon längst nicht mehr, dass Mutter alles, was der Vater von sich gab, schluckte und tat, was er verlangte. Das hatte sie schon zu oft erlebt. Auch wenn sie Mutter um Hilfe bat, ihre Wünsche mit zu bekräftigen, ihr beizustehen gegenüber Vaters Anschuldigungen und Strafen, erhielt sie Mutters Unterstützung nur selten, und wenn, dann nützte sie meistens nichts. Mutter hatte sicher selbst Angst vor seinen Wutausbrüchen. Damals erhielt ihre kleine Schwester natürlich keine Strafen von ihm. Später, als sie älter war, erklärte sie sich nie mit Lena solidarisch.
Zu der Zeit hatte Vater wieder seine Spedition mit ein paar Angestellten, die nach getaner Arbeit am Abend zur Abrechnung alle in Mutters Küche saßen, tranken die von Mutter angebotenen Getränke und aßen oft ihr Selbstgebackenes. Auch diese Liebesdienste waren für Vater völlig normal. Alles, was Mutter leistete, war für ihn selbstverständlich. Er sah seine Frau offenbar nur als ein funktionierendes Wesen für die Familie und die Firma. Was sie fühlte, dachte und wünschte lag, seinem Verhalten nach, außerhalb seines Interesses. Er kränkte sie vor anderen häufig mit dem Satz: „Mit einem Sachsen kannst du zehn Sack Salz fressen, dann weißt du immer noch nicht, was für ein Mensch er ist.“
Und Mutter? Sie blieb stets stumm, viel zu bescheiden war sie, auch nur ein Wort zu sagen, zu unterwürfig, ja, das war sie, fühlte Lena nun. Aber warum?
Lena hielt inne beim Spülmaschine-Einräumen und sah sich an einem dunklen Regentag mit Mutter auf der Coach sitzen. Als sie ungefähr sechs Jahre war, erzählte Mutter ihr die Geschichte der Elisabeth von Thüringen, die eine sehr hilfsbereite und gütige Frau war, oft den Armen in ihrer Umgebung Lebensmittel und andere Dinge brachte, die ihnen fehlten. Sie war eine ungarische Königstochter, hatte Mutter gesagt, die schon mit vierzehn an den thüringischen Landgrafen Ludwig verheiratet wurde, im 13. Jahrhundert. Seither wird sie als die Elisabeth von Thüringen verehrt.
Genau so eine, dachte Lena, war Mutter auch in dieser Kölner Familie, eine stets Liebenswürdige, Helfende, eine immer Gebende und Geduldige, mit guter Laune. Sie war so fleißig, besonders in der schlimmen Notzeit, während und nach dem Krieg. Erfinderisch, mutig und tapfer war sie im Besorgen von Lebensmitteln, damit alle etwas zu essen hatten. Sie war einfühlsam, hilfsbereit und immer freundlich zu jedem, vor allem zu ihrer Schwiegermutter, die sie zeitlebens missachtet und schikaniert hatte. Darüber hinaus war Mutter stets bescheiden und oft einfach stumm, dabei doch hochintelligent.
„Eigentlich“, sagte Lena laut in das Geklapper des Geschirrs, „gehört sie auf einen Sockel gestellt! Ein Denkmal hätte sie verdient. Viel zu selten fahre ich nach Köln an ihr Grab, das ist schon sehr traurig! Doch auch bei häufigeren Besuchen – was würde ihr das jetzt nützen? Zu ihren Lebzeiten hätte ich mich viel mehr um sie kümmern müssen. Doch immer lagen meine Berufstätigkeit, zunächst noch die Familie und 360 km zwischen uns. Deshalb habe ich auch nicht an ihrem Sterbebett sitzen können, und das tut mir im Nachhinein besonders weh.“
Was Lena lange nicht verstand, war Mutters Schweigsamkeit. Nie erzählte sie Dinge von sich aus ihrer Kindheit und Jugend, und auf Lenas Fragen antwortete sie stets dürftig und ausweichend. Diesem Verhalten wollte sie nun auf die Spur kommen. Nach dem Mauerfall – Mutter war leider vier Jahre zuvor gestorben– fuhr Lena in Mutters Heimatstadt, Leipzig, und recherchierte. Was sie dort herausfand machte sie noch trauriger, bis auf den heutigen Tag.
Ihre Mutter ließ das Neugeborene gleich nach der Geburt im Krankenhaus zurück und verschwand. Nie hatte das Baby die Wärme und Fürsorge einer Mutter gespürt, empfunden und bekommen. Sie hat wahrscheinlich ihre Mutter nie gesehen. Zunächst wurde das Wickelkind ins Waisenhaus gebracht, später dann zu verschiedenen Pflegeeltern, bis sie mit zweieinhalb bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, Max und Lina Sonntag, bleiben durfte. Doch die Pflegeeltern hatten sie nie adoptiert, sie trug den Familiennamen ihrer leiblichen Mutter. Und das, so dachte Lena, war in dieser Kölner Familie ihre Krux. Als Mutter sieben Jahre alt war, kam ihre Halbschwester Gertrud, genannt Trudel, fast zwei Jahre alt, auch zur Familie Sonntag. Ob sie die kleine Schwester gemocht hatte und froh mit ihr war? Doch sie, die Große, war ganz sicher in der Beamtenfamilie eine folgsame Tochter, dachte Lena. Sie wurde gewiss sehr gut erzogen und erhielt alle Privilegien, die man zur damaligen Zeit den höheren Töchtern angedeihen ließ. Sie besuchte das Lyzeum in Leipzig, machte Abitur, war sehr musikalisch und durfte zum Klavier-Unterricht gehen. Obendrein lernte sie auch, auf der Zither zu spielen.
Lena erinnerte sich noch gut an Mutters Instrument, das sie aus Leipzig mitgebracht hatte. Es stand in seinem schwarzen, harten Kasten unter Mutters Bett. Wieder ein Beweis für ihre Bescheidenheit, und für das notorische Desinteresse, das der Vater zeitlebens Mutters Liebe zur Musik entgegenbrachte.
Einmal, erinnerte sich Lena, wählte Mutter in der Weihnachtszeit aus den Schellack-Platten eine aus, als die beiden Cousinen zu Besuch waren. Die kleine Magdalene durfte mit der Kurbel das Grammophon aufziehen und Mutter sagte: „Das ist die ‚Petersburger Schlittenfahrt‘. Wenn ihr die Augen schließt, könnt ihr die Pferde im Schnee schnauben und die Glöckchen an ihren Halftern klingeln hören. Das wäre schön, wenn wir einmal eine solche Schlittenfahrt zusammen machen könnten. Aber leider gibt es in Köln so etwas nicht, vor allem noch nicht einmal einen schneereichen Winter zum Schlittschuhlaufen und Schneewandern, wie in Leipzig.“ Traurig sagte sie das.
„Bist du auch Schlittschuh gelaufen, Tante Hilde?“, hatte Flori gefragt.
„Aber ja, auf der zugefrorenen Weißen Elster und den Seen ringsum Leipzig, meistens mit Klärchen, meiner Freundin“, hatte sie geantwortet und wie tief in Gedanken zum Fenster hinausgeschaut.
Und manchmal, wenn im Radio Volkslieder oder Schlager gespielt wurden, die Mutter kannte, dann sang sie mit, natürlich nur, wenn sie mit Magdalene alleine war. An einem Regentag, wenn Magdalene nicht in den Garten gehen konnte, sang Mutter ihrer kleinen Tochter: „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen, das merke dir, die sind ein Gruß von mir“, und drückte sie ganz fest an sich.
Ein anderes Lied gefiel Mutter wohl besonders gut. Später wusste Lena, dass es aus einem Film mit Willy Fritsch und Lilian Harvey war, dem Film-Liebespaar der zwanziger und dreißiger Jahre:
„Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück,
und ich träum davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt gibt’s ein bisschen Seligkeit,
und ich träum davon schon lange, lange Zeit.
Wenn ich wüsst, wo das ist, ging ich in die Welt hinein,
denn ich möchte einmal recht so von Herzen glücklich sein.
Irgendwo auf der Welt fängt der Weg zum Himmel an,
irgendwo, irgendwie, irgendwann.“
Das wird ihre Sehnsucht gewesen sein: weggehen dahin, wo auch sie ein kleines Glück finden würde, da, wo sie ganz neu anfangen und alles Schwere und Traurige hinter sich lassen könnte. Doch nie im Leben hätte sie den Mut gehabt, ihre kleine Familie zu verlassen, niemals hätte sie sich das getraut, dachte Lena. Doch sie wusste ganz sicher auch, dass es kein Fundbüro gab für verpasste Gelegenheiten.
Der Blick aus dem Küchenfenster zeigte Lena den blühenden Forsythienstrauch in kräftigem zitronengelb. Da erinnerte sie sich plötzlich an den Spaziergang mit Mutter durch den Blücherpark, voller blühender Forsythienbüsche. Noch war sie warm eingepackt mit der weißen Lammfellmütze und Handschuhen, sie war höchstens vier. Und Mutter zeigte ihr die ersten, kleinen Frühlingsboten, wie sie sie nannte, die Schneeglöckchen, die ersten Krokusse in den Farben Weiß und Gelb, die Märzbecher und die Schlüsselblumen.
„Nein“, hatte Mutter gesagt, „wir dürfen sie noch nicht pflücken, sie sind das erste Futter für die Bienen, die uns den guten Honig machen.“
Ja, dachte Lena, sie liebte nicht nur die Musik, sondern auch die Natur. Nur einmal hatte sie erwähnt, wie oft sie mit den Eltern im Erzgebirge, in der Sächsischen Schweiz, im Vogtland, im sächsischen Burgenland mit den vielen Schlössern und im Thüringer Wald gewandert waren und welche Freude sie hatte, zu sehen, wie viel die Natur uns Menschen gibt, besonders im Frühling, wenn alles wächst und blüht, duftet, zwitschert, flötet und singt. Und doch hatte sie in ihren vierundfünfzig Kölner Jahren kaum eine Chance, dieser Liebe nachzugehen. Ihre ‚Natur‘ war nur der eigene Garten hinterm Haus, der bearbeitet werden musste.