Für Sabine und Martin
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© 2019 Carlos Huber
Umschlagfotos © Johannes Ihle
Umschlaggestaltung © Thomas Herzberger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-750-46546-6
„Und, klappt des, Männer?“, erkundigte er sich in breitem Schwäbisch und knipste das Licht aus. Jeder mehr oder weniger passionierte Billardspieler der Kneipe kennt diesen Vorgang. Für meine Freunde und mich war es ein Unbekannter. Also Vorgang, nicht jener Chef der Kneipe, der sich gerne den kleinen Streich des Glühbirnenentzugs während Billardpartien seiner Stammgäste erlaubt.
Zur Vorbereitung des Schabernacks pirscht er sich an der Theke beginnend über den Gästeraum, vorbei an hölzernen Tischen und Stühlen, an den Billardtisch am Eingang der Kneipe an. Hinunter eine kleine Treppenstufe, die für die meisten Gäste erst ab fünf Bier zur Stolperfalle wird. Im dortigen Empfangsraum folgt meist das Ablenkungsmanöver direkt vor dem bespielten Billardtisch: Aschenbecher ausleeren und die getränkelosen Gläser einsammeln. Das Ziel ist klar, er muss von hier aus von hinten in die warme Küche, deren Eingang sich auf der anderen Seite des Raumes gegenüber der Kneipentür befindet. Es liegen ungefähr fünf Meter Luftlinie bis dahin vor ihm, eine Rechts-Links-Kurven-Kombination um den Billardtisch stellt die zusätzliche Schwierigkeit dar. Nun entscheidet der tausendfach geübte Ablauf über das Gelingen seines Streichs, das Timing muss stimmen. Während des mit Gläsern bepackten Vorbeischreitens an den Spielern muss auf Höhe des Ölofens, der eineinhalb Meter vor dem Hintereingang der Küche die Kneipe erwärmt, die Frage nach dem Funktionieren des Spiels gestellt werden. Der Chef weiß, dass die meisten Spieler eine halbe Sekunde für ihre im Chor gebrachte Antwort „ja klar“ brauchen. In dieser Zeit verfrachtet er die Gläser ausschließlich in seine rechte Hand und dringt vom Ölofen aus bis in die Zielzone vor. Hier befinden sie sich neben dem Türrahmen auf Hüfthöhe: die Lichtschalter. Nachdem seine Linke nun zum Empfangen neuer Aufgaben bereit ist, steht die letzte Hürde an. Möglichst gleichzeitig muss er es schaffen, die sechs Lichtschalter, jeweils in V6-motorartigen Zweierblöcken untereinander angebracht, umzulegen. Hierfür ist das korrekte Anpeilen der Starthöhe und die darauffolgende, schnelle Abwärtsbewegung mit Zeige- und Mittelfinger, jeder auf einer Schalterreihe, Pflicht.
Die Quote an reibungslosen Abläufen dieses Vorgangs spricht für ihn. Die Stammgäste stimmen in das Lachen des Chefs ein, sie nehmen das Spiel nicht so ernst.
Doch was bedeutete es, wenn er denselben Spaß, den er sonst mit den Stammgästen macht, auch bei uns vorführte? Gehörten wir etwa dazu? Oder war es nur eine kurze Laune oder eine Verwechslung?
Nach außen bezeichnete ich die Kneipe damals schon länger als „meine Stammkneipe“. Mit 17 behauptet man so etwas schnell und oft. Ich wollte verruchter und verrauchter wirken, als ich es in Wirklichkeit war. So zierte zu dieser Zeit mein Anrufbeantworter ein Spruch des Kult-Fußballers Ansgar Brinkmann: „Ich bin bis morgens um fünf Uhr in meiner Stammkneipe zu erreichen.“ Erst später würde ich mich damit beschäftigen wollen, was eine Stammkneipe und das Stammgasttum eigentlich ausmacht.
Nachdem wir vom Chef auf den Arm genommen wurden, spürte ich, und ich glaube auch mein Freundeskreis, einen gewissen Stolz über unsere Behandlung. Vermutlich beschlossen wir auch deshalb am darauffolgenden Wochenende wieder für eine Partie Billard die Kneipe zu besuchen. Zu unserem Nachsehen belegten einige uns in puncto Körperlichkeit und kneipeninternem Ansehen deutlich überlegene circa 30-Jährige den Tisch. Sie waren so überlegen, dass wir niemals auf die Idee gekommen wären, sie selbst nach ein paar getrunkenen Bieren herauszufordern. Wir mussten uns mit Würfelspielen begnügen. „Auch gut“, dachte ich, rauschtechnisch durch die bei einer Niederlage zu zahlenden Würfelschnäpse ebenfalls effektiv. Ich war in Zeit- und dadurch Trinkdruck. Um halb eins musste ich zu Hause sein, das besagte die elterlich vorgegebene Deadline, zwanzig Minuten Fußweg noch mit eingerechnet!
Schnell war der Abend für mich gelaufen. Nicht aufgrund des Alkohols, sondern angesichts meines katastrophalen Würfelniveaus, das mich fast alle Runden verlieren ließ. Das am Mittag zuvor mehr oder minder hart durch meine Tätigkeit als Nachhilfelehrer erarbeitete Geld war schon mehrfach dahin. An der Bar nun bereits wohl bekannt, bestellte ich die x-te angefallene Runde beim Chef. Dieser erkundigte sich nach dem Billardspiel der Vorwoche: „Und, letschde Woche em Dunkeln genauso verlora wie jetzt grad?“ „Bitte? Ach so, ja, bin anscheinend im Formtief!“, entgegnete ich leicht nervös ob der Ansprache des Wirts. „Was für ein blöder Satz, der sagt ja rein gar nichts aus“, schimpfte ich innerlich mit mir selbst. Meine Gedanken unterbrach der Chef: „Ha, Formtief, au gut. Du, was anderes, wie heißsch du ‘n eigentlich?“ „Carlos“, antwortete ich, „Sie dürfen mich als Carlos auf den Bestellungsblock schreiben.“
„Ne, ned deswega. Nur dass du’s weißsch, wir brauchad hier fei emmer zuverlässige Typpa zom Arbeida.“
Die letztwöchige Ehrung mit dem Lichtverlust wurde jetzt anscheinend noch übertroffen. War das etwa ein Angebot? So recht verstand ich es noch nicht als solches, weshalb es mir schwerfiel, eine angebrachte Reaktion zu finden. Eine sofortige, unverzügliche Zusage fiel deshalb schon mal flach. Trotzdem fühlte ich mich auf eine gewisse Weise ertappt. Falls ich die Aussage des Wirts tatsächlich als Offerte auffassen durfte, war mir und wohl auch ihm direkt klar, dass ich zusagen würde. Er durchschaute mich, winkte mit dem Zucker und der Affe würde springen. „Überlegsch dir’s halt mal und gibsch dann Bescheid!“, vertagte der Wirt dankenswerterweise meine Zusage.
Mit meinen Getränken in der Hand stolzierte ich ungläubig zu meinen Freunden zurück. Schon beim Zuprosten konnte ich mich nicht mehr zurückhalten: „Das glaubt ihr mir jetzt nicht…“
Nachts im Bett dachte ich das erste Mal über irgendwelche Folgen dieses Jobangebots nach. Kann ich mich dann Barkeeper nennen? Komme ich dann echt besser bei Frauen an? Wie es wohl ist, tatsächlich einmal bei einer Party zu arbeiten und von so vielen angesprochen zu werden? Ob es Glück war, dass ich die Runde verloren hatte und somit gefragt wurde? Oder wären auch meine Freunde gefragt worden, wenn sie verloren hätten? War ich der Auserwählte oder hatte ich tatsächlich nur Glück?
Gegenüber meinen Eltern blieb ich an diesem Abend stumm. Ich hatte dann doch noch aus der Freude heraus etwas mehr getrunken und fürchtete mich vor alkoholbedingten Verhasplern und Silbendrehern. Mein Sprachzentrum war recht schnell betroffen, das wusste ich schon aus meiner eineinhalbjährigen Bierkarriere. Der Mittagstisch am nächsten - für mich - Morgen diente als eine Art Stuhlkreis, um meine Eltern mit der Neuigkeit zu überraschen. Mit Stolz rekapitulierte ich die Nacht und seine entscheidende Szene in der Erwartung, das gleiche unvertuschbare Lächeln, das bei mir am Abend zuvor aufkam, in ihren Gesichtern wiederzuerkennen. Doch nur wenig Regung war zu vernehmen und ich bemerkte, dass sich beim Berichten das erste Mal zum Gefühl purer Freude und der Ehre auch ein Hauch Scham gesellte. Sie waren erfreut, ja. Aber ich las in ihren Gesichtern, was sie dachten: Möchtegernerwachsener, der denkt, er könnte mit Alkohol und sonstigen Problemen in der Kneipe umgehen. Vielleicht waren ihre Gedanken nicht derart radikal in ihrer Formulierung, aber trotzdem reichten sie aus, um mir bewusst zu machen, dass eine Anstellung durchaus eine weitreichende Änderung in meinem Leben sein könnte - wenn auch unwissend, inwiefern. Die positiven Assoziationen und Fragen der Vornacht wurden nun zurecht gedimmt. Wenn der Chef das Licht am Billardtisch nur dimmen würde anstatt es gänzlich zu löschen, wären einige Queue-Schwinger auch glücklicher.
Im festen Willen der Zusage besuchte ich die Kneipe in den nächsten beiden Wochen deutlich häufiger, ohne jedoch das Wirtsehepaar anzutreffen. An einem Freitag war es soweit. Freudig erblickte ich den Wirt hinter dem Tresen. Mein schneller Schritt wurde immer langsamer, meine Überzeugung der Zusage wurde immer geringer auf dem kurzen Weg zu ihm. Bis dahin war ich mir unreflektiert sicher, dass meine überschwängliche Euphorie für den neuen Job auf ein ähnliches Ausmaß an Begeisterung der Kneipiers für den potentiellen neuen Mitarbeiter treffen würde. Die plötzlich bei Betreten der Kneipe in mir hochgestiegenen Zweifel ob der Richtigkeit dieser einfach von mir vorausgesetzten Grundannahme verunsicherte mich deutlich und war wohl auch der ausschlaggebende Grund für die Gehgeschwindigkeitsverringerung. Aber warum fällt einem so etwas auf zehn Metern Fußweg ein, anstatt in den drei Wochen zuvor? „Alles wieder auf den letzten Drücker!“, wäre wohl die Reaktion meiner Mutter auf diesen Gedankengang gewesen. Sie hätte Recht. Aber puh, „besser spät als nie“ ist ja irgendwo auch ein angesehenes Sprichwort.
Leider führte mein langsameres Schritttempo zu weiterer verfügbarer Nachdenkzeit und damit auch zu neuen Fragen. Wenn ich dem Wirt gleich meine freudige Botschaft verkünde, kommt bei ihm wirkliche Freude auf? Wenigstens alltägliche Freude? Freudentechnische Fast-Gleichgültigkeit? Freudentechnische, gänzliche Gleichgültigkeit? Oder noch viel besser: Was ist, wenn einige für den Job angefragt wurden und meine Konkurrenz mal wieder auf einem früheren Drücker war als ich?
Mit solch negativen Gedanken empfand ich mich natürlich nicht sofort im Stande dazu, direkt mit offenen Karten zu spielen und umgehend zuzusagen. Erstmal also ein Bier bestellen und langsam vorfühlen. Dieser von meinem Freundeskreis in der Damenbezirzung angewendete Grundsatz ließ sich problemlos auf meine Situation übertragen. Bald stand ich also mit einem Bier an der Theke. Die Drucksituation löste sich trotz des Bieres nicht auf. Gesprächseinstiege würde ich bei einem Bewerbungsgespräch nicht als meine Stärke nennen können ohne die Schamesröte der Lüge wegen im Gesicht stehen zu haben.
Die Gäste vom Stammtisch schauten derweil immer wieder kurz auf das einsame Würstchen an der Theke. Vielleicht schon mal gesehen. Irgendwo. Kann sogar sein, hier drinnen. Kommt er überhaupt von hier? Die Fragen, die in ihren Gesichtern standen, lassen sich in der meist von schwäbischen, älteren Damen anlässlich eines zufälligen Aufeinandertreffens bei Spaziergängen oder in der Kirche gestellten Frage „wo g’hörsch ´n du nah?“ übersetzen. Wahlweise wird sich auch mit einem „wem g’hörsch ´n du?“ nach der Herkunft erkundigt. Kann man fragen, muss man aber nicht.
Ich versuchte mich aus kreativem Mangel heraus an Small-Talk-Fragen. Langsam das Gespräch in Richtung Kneipe lenken: Wetter, Zigarettenpreise, Tischdeko. Weiter in Richtung Arbeitsstelle: Tolle Party letztens. Der Wirt lachte meist kurz auf und antwortete ebenso. Er konzentrierte sich auf die neue Bierrunde am Stammtisch. Ich traute mich noch nicht an der Theke zu rauchen. Zeitgleich mit dem Zuprosten der Stammgäste fiel mir auf, dass mich die Art von Aufregung, die ich verspürte, an Chlor erinnerte: Wintersporttag, achte Klasse, die halbe Schule im Schwimmbad. Nachdem ich ungefähr eine dreiviertel Stunde auf dem stark frequentierten Fünfmeterturm verbringen durfte, ohne den Absprung zu wagen, nahm es demütigende Züge an. Während ich mit bereits vollständig getrockneter Badehose seitlich oben auf dem Turm stand, wagte die kleine Schwester meiner Mitschülerin - fünfte Klasse - schon das achte bis zehnte Mal den tiefen Fall. Ich ließ ihr und den anderen immer freundlich den Vortritt, bis irgendwann Ärger und Scham einsetzten (die ersten von den von mir einbestellten Zuschauern des Sprungs wandten sich bereits der Saunalandschaft zu).
Der Gedanke an das Turmspringen funktionierte, der Unmut über meine Feigheit brachte mich weiter: „Ah stimmt, was ich auch noch kurz fragen wollte: Letztens haben Sie doch mal gemeint, dass Sie hier gute Mitarbeiter immer gebrauchen könnten. Ich glaube, ich bin zumindest nicht ganz schlecht. Wäre die Stelle noch frei?“ „Ha, ja klar, fängsch hald an, den Rest machsch mit der Chefin aus!“ Der Rest wurde dann mit der Chefin aus gemacht.
Meine Einlern-Schicht fand an einem heißen Julitag statt. Mein neuer Kollege Marten, der mich während der ersten Arbeitsnacht unterstützen und leiten sollte, holte mich kurz vor 18 Uhr zu Hause ab: „Ist ja Quatsch, wenn nachts zwei Autos vor der Kneipe stehen bleiben.“ Trotz des Biergartenwetters war der Biergarten leer. Kneipengänger wollen meist Kneipenatmosphäre. Hierfür sind übermäßige UV-Strahlung, Wespenflug und Sitzkissen auf Klappstühlen nicht zuträglich. Deshalb fanden wir unsere heutigen Gäste am Stammtisch vor, den die hereinzwinkernde Sommersonne geschwächt vom feinen Rauchvorhang der Zigaretten erreichte. Wir begrüßten sie, legten unsere Geldbeutel und Handys ab und platzierten uns hinter der Theke.
Lektion I;, 18:02 Uhr:
Orientierung. Wo steht was, welche Kühltheke ist mit welchem flüssigen Inhalt befüllt, welches Glas ist für welches Getränk das Richtige. Das erste Herantasten des Stammtisches folgte alsgleich: „Arbeitet ihr heute zu zweit?“ Einigen war vielleicht mein Name oder mein Gesicht bekannt. Meine neue Tätigkeit, die sie direkt betraf, wohl nicht. „Ja, heute brauchen wir Doppelschicht, rechnen mit schwerem Ansturm“, witzelte meine Chefin aus der Küche. Sie kam gerade mit Nora, deren Schicht mit unserer Ankunft endete, vollbepackt mit Getränken aus dem Keller. „So, und wir trinken jetzt erstmal ‘nen Schichtübernahmeschnaps!“, gab Nora die Richtung vor. Jetzt wusste ich auch endgültig, warum wir mit nur einem Auto angereist waren.
Lektion II, 18:29:
Preisliste lernen. Bisher waren mir lediglich die Bierpreise und eventuell noch Schnapspreise von privaten Vergnügungsbesuchen in der Kneipe bekannt. Besonders was den (Schaum-)Wein und die antialkoholischen Getränke betraf, fand ich mich selbst gänzlich ungebildet vor. „Alles kannst ja noch nicht wissen und mit der Zeit bekommst die automatisch ins Hirn!“, beruhigte mich Marten. Er bemerkte, dass ich, trotz des Starterschnapses, wohl doch etwas nervös war: „Lass mal eine rauchen!“ Dies war seine dritte Zigarette in der ersten halben Stunde, kein schlechter Schnitt. „Wichtig am Anfang: viel rauchen, nachher ist was los und dann kommst nicht mehr dazu!“, erwiderte Marten. Er hatte wohl meinen Blick auf seine Zigarette bemerkt. „Ah, also Nikotinhaushalt gleich mal schön auffüllen.“ Ich fragte mich, ob mein Witz locker wirkte.
Lektion III, 18:38 Uhr:
Biereinschenken. Unterteilt in zwei Teildisziplinen mit unterschiedlichen Anforderungen: Das Hefeweizen aus dem Fass ist die Diva unter den einzuschenkenden Brauerzeugnissen. Manchmal scheinbar grundlos launisch, bei falscher Behandlung vor Wut schäumend, aber auch anmutig und mit ihrem eleganten Auftreten im langen Glaskleid Extravaganz versprühend. Mit ihr möchte man ausgehen, einmal ein Rockstarleben führen, eine skandalöse Liaison durchschreiten, die in einem finalen Streit mit einem an der Wand zerbrochenem Meißener-Porzellan-Service1 endet. Und das Ganze trotz ihres unsexy Namens „Hefeweizen“. Aber nicht jede Barbara, Hildegard oder Gertrude erscheint ja qua Definition auch uncharmant.
Das Helle, oder um im hiesigen Sprachgebrauch zu bleiben, die Halbe, stellte die zweite Etappe im Bierkurs dar. Sie gesteht dem am Zapfhahn Stehenden deutlich mehr Fehler zu. Bei einer zu schwachen Schaumentwicklung im Glas neigt man dieses etwas steiler oder vergrößert die Fallhöhe des Bieres. Bei zu viel Schaum verzeiht es die Halbe, wenn man einfach die Fließgeschwindigkeit verringert. Eher bauchig im Willibecher serviert, spielt sie mehr die tiefen Tubatöne gegensätzlich zur Weißbiergeige. Bodenständig ist die Halbe, unaufgeregt während des Schankvorgangs und ehrlich zu ihren Trinkern. Mit ihr möchte man sein Leben verbringen. Den gewissen Anspruch, den sie besitzt, brachte mir Marten bei: „Schenk‘s bitte nicht einfach auf einmal ins Glas, der Schaum ist dann gleich weg. Und ganz wichtig: Hau niemals den Zapfhahnhebel nach hinten, um den Schaum aufs Bier zu bekommen, das ist das absolute Armutszeugnis für das Biereinschenkertum.“
Ich durfte mit der einfacheren Halbedisziplin beginnen. Das erste selbstgezapfte Bier bestellte Wolf mit einem Lächeln: „So jetzt schauen wir mal, wie weit er schon ist.“ Ich versuchte alle Regeln zu befolgen: zu wenig Schaum, also wurde das Glas etwas tiefer gehalten, zuerst bis gut zur Hälfte gefüllt, kurz abgesetzt, dann noch zwei weitere Schankschübe bis ein steife Sahne ähnlicher, fester Schaum ungefähr zwei Zentimeter über den Willibecherrand hinaus stand. Das Ergebnis war zufriedenstellend, wenn auch keine Offenbarung.
Doch das Zubereiten des Getränks nahm lediglich den zweiten Schritt einer Bestellung ein. Zuerst wird von einem Barkeeper erwartet, dass er zum richtigen Zeitpunkt ein frisches Getränk anbietet.
Lektion IV, 18:53 Uhr:
Bestellungsaufnahme. „Schau, der Mario hat jetzt gleich alle, den darfst du ruhig jetzt schon nach ‘nem neuen Bier fragen.“ Ich schritt um die Theke herum, trat dabei noch leicht auf den im Weg stehenden, unteren Mülleimer-Hebel, sodass der Metalldeckel nach oben schnellte, gegen den danebenstehenden Glücksspielautomaten hämmerte und mir somit die Aufmerksamkeit des Stammtisches bescherte. Was mich in diesem Moment noch zum Erröten brachte - aufgrund der Jahreszeit könnte ich dies auf einen Sonnenbrand schieben, falls mich jemand nach meinem nervösen Gesichtsteint fragte - sollte mir in meinen weiteren Schichten noch einige hunderte Male passieren. Da auch Mario mich nun erstmal mit einem Lächeln musterte, konnte ich direkt nachhaken: „Darf ich Ihnen noch ein Bier anbieten?“
Es begann bei Wolf mit einem leichten nasalen Grunzen. Fortgeführt wurde es von Marios Frage: „Ha, meinst du jetzt mich?“ Oskar war der Erste, dem das Lachen gleichzeitig mit der Entschuldigung hierfür („ist nicht bös‘ gemeint“) aus dem Mund hüpfte. Ludger löste die für mich unbehagliche Situation auf: „Heieiei du kannst doch nicht im Ernst den Mario siezen. Das hat ja wirklich noch keiner gemacht.“
Meine „Siezerei“ war wohl einer der ersten Gesprächspunkte, als sich meine Chefin bei den Stammgästen nach dem Eindruck des Neulings erkundigte. Ich behielt es mir bei, nachdem ich feststellte, dass es bei nahezu jedem zu einem Lächeln anlässlich meiner Kneipenfremdheit führte. Aber gerade deshalb fungierte es als Eisbrecher, vor allem gegenüber mir noch unbekannten Gästen. Nach den Duzbestätigungen führte sich das Bedienen leichter aus.
„Gibt aber auch ein paar, bei denen darfst du, im Gegensatz zu Mario, noch nicht nach ‘nem neuen Getränk fragen, solange sie noch etwas im Glas haben. Die sind sonst eingeschnappt“, differenzierte Marten. Stichwort: Individuelle Bedienanpassung! Wer aber zur Frühfragen- und wer zur Abwarten-Kategorie gehört, musste ich in den folgenden Jahren nach und nach selbst herausfinden.
„Und falls hier später wirklich noch was los sein sollte, dann kannst das auch einstellen mit der Tischbedienung und dem Nachfragen, wenn sie leer haben“, klärte mich Marten auf. „Ab wie vielen Gästen kann man denn von „was los“ sprechen? Ungefähr?“, mir fiel auf, dass ich viel zu wenig Fragen stellte. Kompetenz vorzutäuschen kann auch als Desinteresse interpretiert werden. Solche Fragen beschützten mich jedoch davor, als zu kompetent wahrgenommen zu werden.
Eine weitere vorteilhafte Knigge-Regel der Bestellungsaufnahme stellt das Warten auf die Beendigung des Gesprächs der potentiellen neuen Bierbesteller dar. Keine gute Kneipenbedienung unterbricht Gäste, nur um sich zu erkundigen, ob man seine Arbeit nun schnellstmöglich ausführen darf. So lernte ich, dass es ein Teil des Service ist, Zeitlosigkeit und Lockerheit zu suggerieren.
Als Marten mich noch auf einige Eventualitäten des kommenden Abends vorbereitete, klopfte ihm und mir jeweils eine Hand auf die Schulter: „Seeeeervus, na alles Roger bei euch, oder?“ Mein neuer Chef hieß erst uns und dann auch den Stammtisch bei sich willkommen. „Und, großer Tag heit bei dir?! Lass dich ned stressen, komm erschtmal locker nei“, wandte er sich mir zu. Ich schnaufte ein extrem unlockeres „ja, klar, wir fangen locker an“ aus. Während ich meine zweite Bierbestellung nun ausführte, überflog der Wirt mit geschultem Blick die drei belegten Tische. Schnell ersah er, wonach er suchte: Der zweite Aschenbecher des Stammtisches war üppig gefüllt mit Zigarettenkippen. „Ha super, Lehrbeispiel: Carlos gug mal, wenn sie so voll send (ungefähr ab zweistelliger Fluppenanzahl) dann leer se einfach aus. I find‘ des ganz wichtig.“ Die erste Aufgabe, die mir mein Chef persönlich zuwies, verinnerlichte ich natürlich besonders. Das Aschenbecherleeren setzte sich später sogar zu einem privaten Tick von mir durch. Auch als Barkeeper nimmt man - zumindest Teile der - Arbeit mit nach Hause.
Was bei zukünftigen Schichten als Ärgernis wahrgenommen werden sollte, wurde jetzt als freudiges Ereignis empfangen…
Lektion V, 19:58 Uhr:
Krisensituationen lösen. Ein erfahrener Barkeeper hätte schon die frühen Vorwehen erkannt, diese richtig gedeutet und alle Personen, Wertsachen und Habseligkeiten in Sicherheit gebracht. Doch dies war bei mir leider noch nicht der Fall. Der tatsächliche Ausbruch begann mit einem ersten Beben im Vulkan-Schlot. Wenige Sekunden später folgte ein explosionsähnlicher Ausbruch. Das mit überschüssigem Sauerstoff angereicherte und bis zur maximalen Schaumigkeit aufgeschossene Lager ergoss sich erst in das aus Sicherheitsgründen angebrachte Auffangbecken namens Willibecher. Nach kurzer Zeit übertrat die Flüssigkeit das Glasufer und verbreitete sich großräumig in der umliegenden Umgebung aus. Währenddessen spuckte der auf den Kopf gestellte Geysir nur noch schubweise das ungenießbare Liquid aus. Der Ausbruch schnitt die Gäste, inklusive des Stammtisches, von der Bierversorgung ab, während die Akustik wohl eher einer amerikanischen Eisdiele glich, in der eine Horde übergewichtiger Jugendlicher zeitgleich energisch versucht, die Milchshakereste am Boden des Bechers durch einen Trinkhalm aufzusaugen.
Ein Barkeeper ist in diesem Moment auch Katastrophenschutzbeauftragter. Und in dieser Funktion war ich völlig überfordert und machtlos. Der Ausbruch traf mich gänzlich unvorbereitet bei meiner vierten oder fünften einzuschenkenden Halbe. Während ich apathisch auf das Naturschauspiel starrend meinen Platz hinter der Theke besetzte, eilte Marten herbei und drückte den Ausschankhebel nach hinten um den Bierschaumfluss zu stoppen: „Sooo, Fass leer, passiert gerade rechtzeitig. Dann kann ich dir auch gleich mal zeigen, wie man ein Neues ansticht. Wenn das wieder passiert, einfach gleich den Hahn zudrehen, dann hast die Suppe hier nicht überall rumlaufen.“
Inbegriffen in Lektion fünf war also auch das „Anstechen“ eines neuen Bierfasses. Hierzu folgte ich Marten im Entenschritt durch die Küche die Kellertreppen hinunter. Kurz vor ihrem Ende mussten wir uns etwas ducken, um dann durch den Partykeller im Kneipenformat auf den Kühlraum zuzugehen. In Erwartung eines technisch hochanspruchsvollen Vorgangs wurde ich angenehm von einer Drei-Schritte-Mechanik überrascht. Erstens: Stellen Sie die Leitung ab, indem sie den schwarzen Hebel um 90 Grad wenden. Trennen Sie nun den Zapfstutzen vom Fass. Drücken Sie hierzu den Kopf an der Unterseite der Halterung des Zapfstutzens und ziehen Sie diesen gleichzeitig nach vorne weg vom Fass. Zweitens: Entfernen Sie das Fass sachgemäß und lösen Sie die Verschlusskappe von der Andockstelle des neuen Fasses. Drittens: Führen Sie die zum Entkoppeln von Leitung und Fass getätigte Bewegung rückwärts aus. Halten Sie den Knopf unter der Zapfstutzenhalterung gedrückt und ziehen Sie diesen auf der Andockstelle nach hinten, bis die gewünschte Position erreicht ist. Lassen Sie nun den Knopf los und bringen Sie den Leitungshebel in die Ursprungsposition, um den Bierfluss in Gang zu setzen. Viel Spaß beim Nachmachen.
Zurückgekehrt aus den Tiefen des Kneipenkellers stand eine gemütsberuhigendere Phase an. Das Einschenken ging nun einfacher von der Hand, wo ich vom Bierfass eine Weile nichts zu befürchten hatte und ich befolgte Martens Rauch-Tipp, was zusätzlich für Entspannung sorgte. Einige der mir noch fremden Gäste am Stammtisch verließen das Lokal, wenige neue kamen. In Folge des Kundenschwundes setzten sich auch Marten und ich bei den Stammgästen nieder. Teilweise konnte ich mich sogar, trotz des für mich recht abenteuerlichen Themenfrühstücks, mit Kommentaren am Gespräch beteiligen. Was von einigen meiner Gäste in diesem Moment wohl als etwas befremdlich und fragwürdig wahrgenommen wurde, löste bei mir das wohltuende Gefühl aus, hier wenigstens nicht völlig an der falschen Adresse zu sein. Dummschwätzen als Selbstzweck.
Lektion VI, 21:09 Uhr:
Gästeansturm managen. Der Abend nahm seinen Lauf, Marten und ich durften nach und nach den ersten Gästezustrom meiner Barkeeperkarriere verzeichnen. Als ein paar neue Besucher zeitgleich die Kneipe betraten, sprang ich von meinem Stammtischplatz auf. Meine Hoffnung auf mir bekanntes Kundentum, das sich nach der Bestellung umdrehen und sagen würde „puh, wusstest du, dass der hier arbeitet?“, meine neue gesellschaftliche Stellung eventuell sogar in der Öffentlichkeit weiterverbreiten würde, wurde enttäuscht. Trotz dessen euphorisiert, nickte ich zu Marten: „Jetzt geht’s wohl richtig los.“ Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen, das, wie mir spätestens an noch ausstehenden Großveranstaltungen deutlich wurde, sagen sollte: „Du wirst schon noch sehen, wenn‘s richtig losgeht.“ Es entwickelte sich das, was wohl als geselliger, ruhiger Abend bezeichnet werden kann.
In solchen Nächten ging laut Marten das Gros der Gastschaft recht frühzeitig vor zwei Uhr und meist in Gruppen nach Hause. Doch wie auch an diesem Abend blieben eine Hand voll Gäste beharrlich auf den Barhockern sitzen, immun gegen die Ansteckungskraft der allgemeinen Aufbruchsstimmung. Und das aus verschiedensten (Nicht-)Beweggründen: Der eine hatte zu spät mit dem Bier angefangen und musste aufholen, der andere hatte zu früh angefangen und wollte schon vor drei Stunden im Bett liegen, O-Ton „jetzt ist’s schon rum ums Eck“. Trotzdem gehörte es ab nun zu meinen Aufgaben, für sie alle den Heimgehzeitpunkt vorzugeben. Kleine Beschleunigungstipps hierfür aus dem grundkursbegleitenden Handbuch „Barkeeper for Dummies“: Fenster öffnen, Theke putzen, Tische aufstuhlen, Licht nach und nach löschen.
Lektion VII, 2:21 Uhr:
Ein Ende finden. Mit diesen Mitteln lässt sich leicht eine Art Aufbruchsstimmung herbeiführen. Bevor aber das letzte Thekenlicht an diesem Abend gelöscht wurde, stand noch die Reinigung der Arbeitsflächen aus. Hierbei konnte auf den hygienischen Maßnahmen, die zur Beendigung des Kundenkontakts ergriffen wurden, aufgebaut und angeschlossen werden. „Ist eigentlich immer der gleiche Ablauf gen Ende“, klärte mich Marten auf. „Am besten hast den automatisch drinnen, dann kannst‘s, auch wenn eigentlich ein paar zu viel getrunken hast.“ Zuerst wurden die umfangreicheren Aufgaben abgearbeitet. Der aus Edelstahl gefertigte Teil der Theke mit Zapfhahn musste, nachdem man die darauf abgestellten Gläser alle abgetrocknet und korrekt eingeräumt hatte, mit Scheuermilch möglichst hochglanzähnlich poliert werden. Die Schwierigkeit hierbei lag darin, die korrekte Dosierung an Putzmittel zu finden. Zu viel sorgt für unschöne Schlieren, die mehrmaliges Nachputzen nötig machen, zu wenig lässt die Theke am nächsten Morgen bleich wie so mancher Gast des letzten Abends wirken.
Weiter ging es im Keller. Um die zuvor von den gereichten Getränken verlassenen Kühlthekenplätze wieder zu füllen, mussten volle Flaschen aus dem Lagerraum geholt werden. Durch die enge Treppe, die niedrige Decke und vor allem die mangelnde Muskelkraft waren zwei volle Kisten für mich als Fracht schon absolut ausreichend. Marten stampfte die Stiegen mit zwei Kisten Wein und einem Korb voller Schnaps hinauf, ich schlingerte wie ein überladener Anhänger hinterher.
Als letztes umfangreiches Abschlussarbeitsgebiet wurde mir das Aufräumen der Küche nähergebracht. Nachdem wir die Spülmaschine mit den von unserer nächtlichen Zwischenmahlzeit angefallenen Tellern und restlichen Gläsern bestückt hatten, säuberten wir die Arbeitsplatten von Bröseln, Zitronenkernen und dem vom Tag angehäuften Schmutz. Für die drei Spülbecken empfahl mir Marten die Anwendung von Essig-Reiniger.
Nach der Pflicht kam die Kür. Wir leerten die Aschenbecher aus und polierten sie. Anschließend schauten wir in den Toiletten nach dem Rechten. Alle Fenster