Für alle, die mit mir sind.
Besonders für Heike, Thomas und Christie.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2019 Andreas Langbein
Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7494-8985-5
In den Erinnerungen Arzt im Kuckucksnest wird teilweise diskriminierendes Vokabular in der Figurenrede verwendet. Im Folgenden werden diese Begriffe in Anführungszeichen oder kursiv gesetzt. Damit soll eine Distanzierung des Autors von diesen Ausdrücken kenntlich gemacht werden.
Wie immer fuhr mich mein alter Vater. Diverse Einsätze: Judokämpfe, Fallschirmsprünge, Frauen – mehr oder weniger hübsch. Diesmal: Die Psychiatrie! Die Insel, die Klapper, das Kuckucksnest.
Sonntagabend im Herbst ging ich zu einem Haus der riesengroßen Klinikanlage. Beherzt klopfte ich. Eine Schwester herrschte mich an: Was ich denn hier wolle?! »Ich bin der neue Arzt und möchte gern hinein!« »Ahh – der neue Arzt – natürlich. Wir haben hier nur neue Ärzte und außerdem Könige und sogar Napoleon! Na gut, kommen Sie rein«, und sie schob mich durch die Tür mit den Worten: »Rein lasse ich Sie, aber nicht mehr raus!« Und sie schloss hinter mir ein Psychiatrieschloss, das war seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend konstruiert. Der Direktor hatte mir versprochen, ein Zimmer sei fertig, der Dienstarzt wisse Bescheid, alles sei vorbereitet. Nichts von dem traf zu. Die Schwester sagte: »Na gut, ich hätte ein freies Bett im großen Männersaal. Das kann ich Ihnen bieten.« Ich dachte, für einen Nervenarzt die erste Nacht im großen Männersaal – das ist o.k. Ich war erschöpft von den Tagen davor und schlief durch. Am Morgen wurde ich von einem Engel geweckt, eine bildhübsche junge Schwester vermeldete, dass das Frühstück fertig sei. Als ich etwas schlaftrunken aus dem großen Männersaal taumelte, wurde ich von einer riesengroßen Stationsschwester angeherrscht: »Die Medikamentenausgabe ist da vorn!« Aber da kam schon der hübsche Engel und schob mich in Richtung Frühstücksraum. Dann begleitete sie mich noch zum Direktor – dieser Flachzange – und der tat bestürzt. Was kein Zimmer? Er hatte es schlicht vergessen, irgendetwas klarzumachen. Immerhin brachte er mich dann zu meiner neuen Arbeitsstelle: Akute Psychiatrie, Aufnahmehaus Männer. Da fand man alles, was Psychiatrie bereithielt. Gegenüber sah ich ein Dach mit einem Loch mit den Umrissen eines Menschen, quasi wie im Zeichentrickfilm. Ich fragte einen Pfleger, was denn da passiert sei. Der sagte mir, dass letzte Woche wieder einer vom Schornstein gesprungen wäre, die Höhe habe bisher immer ausgereicht. Im akuten Männerhaus begrüßte mich der Chefarzt mit den Worten: »Sie wollen Nervenarzt werden – das ist gut! Sie werden Nervenarzt für die Patienten, für die Angehörigen, für die Kollegen und für sich! Sie sehen, es gibt viel zu tun!«
Die Entdeckung schlechthin für mich wurde aber ein Afrikaner. Der war zehn Jahre Dschungelarzt im Sudan, er war schwarz wie die Nacht und das, was meine Großmutter ein Urvieh nannte. Öfters sagte er: »Ich bin der Neger, großer Krieger, Strong Man macht viel Ziggie-Ziggie! Frauen wissen: Neger macht gern und sie wollen machen mit Neger. Neger weiß das und hilft den Frauen«, und dann lachte er sehr laut, ein tiefes afrikanisches Lachen.
Bald kamen die ersten Dienste. 1200 Betten, die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen. Die Nächte konnten ruhig sein, geradezu still. Ab und an rief ein Kauz in der Nähe der Pathologie, den kannte ich schon. Anders in Vollmondnächten. Da rief mich schon bald ein Pfleger aus einem speziellen Haus mit den Worten: »Kommen Sie schnell, meine ›Idioten‹ haben sich übel zugerichtet!« Seine ›Idioten‹ – das war extrem ernst gemeint. Seine ›Idioten‹ verglichen mit einem Gorilla, ich weiß nicht, wie das IQ-mäßig ausgefallen wäre. Die Verrückten waren bei Vollmond aufeinander losgegangen und hatten sich tiefe Fleischwunden verpasst. Die Ohren hingen zum Teil an einem Hautfaden herab. Leider konnte man nicht sagen: »Komm, lieber Patient, wir fahren ins Krankenhaus zur Chirurgie.« Ich begriff: selbst ist der Mann, und rief meinen Freund, den Afrikaner, an. Der sagte mit tiefer afrikanischer Stimme: »Kleener, jetzt kommt der Neger, der Neger ist großer Krieger, musst du nicht mehr Schiss haben!«
Und wir nähten und nähten, Ohren wieder an, tiefe Gesichtswunden, tiefe Fleischwunden, überall war Blut. Als wir fertig waren, sagte der große Krieger: »Kleener! Bist du gar nicht so dumm! Du kannst richtig nähen! Wirst du Chirurg, wenn du groß bist! Gehst du hier weg! Alle hier verrückt, nur der Kleene nicht und der Neger!« Und dann lachte er wieder sein tiefes afrikanisches Lachen.
Am nächsten Tag musste diese Aktion natürlich in irgendeiner Form gefeiert werden. Der Afrikaner rief mich an, ich solle zu ihm kommen, er habe da etwas ganz Besonderes. Von seiner Regierung bekam er Geld, auch Dollar. Damit konnte er im Inter-Shop kaufen, was er wollte. Und er stellte eine große Flasche gefüllt mit einer goldenen Flüssigkeit auf den Tisch. Der Tag geht, Johnny W. kommt! Und mit einem Daumendreh war die Flasche offen und zwei Sekunden später waren zwei Gläser gefüllt. Das erste Mal im Leben dieser fantastische rauchige mir völlig unbekannte Geschmack.
Ich hatte bei der Armee alles Mögliche an Alkohol geschmuggelt und meinen Arsch riskiert und alles Mögliche getrunken. Aber das war wirklich etwas ganz Besonderes: Whisky! Jetzt war mir klar, warum die Cowboys in meinen Filmen so heiß drauf waren und natürlich auch die Indianer, die ihn Feuerwasser nannten. Das war eine echte Entdeckung. Da hatte mir der Afrikaner – der große Krieger – zwei wesentliche Dinge gezeigt: Whisky und den Hinweis, dass ich gar nicht so doof sei, weil ich nähen konnte. So eine Flasche war natürlich schnell leer.
Und der große Krieger erzählte mir von Afrika, von der Jagd auf Antilopen und dass Kämpfe noch mit Speer und Schild ausgetragen werden. Ich erzählte von meinem Dorf. Von den grünen Hügeln am Horizont und wie ich beim Militär oft Alkohol schmuggelte, weil ich alle Autos fahren konnte und es mir gefiel, die Truppen mit Stoff zu versorgen. Wobei Letzteres natürlich nur Alkohol war.
Der Afrikaner war zehn Jahre Dschungelarzt und der einzige Arzt im Umkreis von 500 Meilen, wie er sagte. Er und Allah hätten alles behandelt, was kam. Ich fragte ihn: »Und wenn du nicht weiterwusstest?« »Dann hat Allah das gemacht!« Er hatte Hunger erlebt und Gewalt und immer wieder erwähnte er: »Allah macht alles! Musst du dir keine Sorgen machen, musst du Allah vertrauen!« Bei uns ist das wohl Gottvertrauen, und er lebte das sehr konsequent. Er war immer lebensfroh und dem Leben zugewandt. Ich dachte, als guter Moslem ist er sicher immer treu, logisch. Da lernte ich erst einmal, dass ein Moslem prinzipiell vier Frauen haben kann, wenn das Einverständnis der Frauen vorliegt. Treu? Da lachte der Afrikaner laut. »Wenn du zu Allah kommst und sagst, ich war immer treu, dann sagt Allah: ›Du bist aber schön blöd‹, und fragt: ›Wozu habe ich dir dein Ding gegeben?‹« Und wieder lachte der Afrikaner laut. Er vertraute immer fest auf Allah und immer strahlte er eine unwahrscheinlich starke innere Freude aus. Manchmal erzählte er mir Geschichten unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Da konnte er bei mir sicher sein. Nachts saßen wir oft auf dem Balkon und blickten hinüber zu der großen schönen Anlage der Nervenklinik. Wie ein großer Park. Grüne Flächen und ein Hain mit japanischen Kirschbäumen. Ich hatte ein kleines Arztzimmer mit Blick auf die Blütenpracht und ich dachte manchmal – hier könnte ich bleiben, für immer. Aber das Leben hat seine eigene Bewegung, Leben ist Veränderung. Der Afrikaner lehrte mich, Vertrauen zu haben. Die Anlage wirkte idyllisch, aber Vorsicht: Es war die Nervenklinik, die Irrenanstalt. Manche Abgründe erkannte man nicht gleich, erst allmählich. Aber grundsätzlich hatte mich mein Gottvertrauen nicht getäuscht: Es war zu diesem Zeitpunkt der richtige Platz für mich. Als Nervenarzt muss man weiter sein als Otto Normalverbraucher, man muss toleranter sein. Anders geht das nicht. Entweder man mag die Irren oder nicht, entweder man passt zu ihnen oder nicht. Sich zu Hause fühlen bei diesem Menschenschlag, der alles Vorstellbare und Unvorstellbare beinhalten konnte. Diesen Menschen nahe sein und gleichzeitig die Distanz nicht zu verlieren. Das war die Kunst. Das war eine Gabe, die man trotzdem üben musste. Der Afrikaner konnte das. Und er hatte viel erlebt in seinem Land in Afrika, er hatte viel Erfahrung und war, wie er sagte, ein alter Hund und jetzt auf der Insel, der Nervenklinik am Rande der Stadt. In den Häusern gab es alles, was man sich vorstellen konnte, und auch das, was man sich nicht vorstellen konnte. Gereizte Manie war eine der gefährlichsten Diagnosen für alle. Gereizte Manie wurde oft von der Polizei gebracht, und zwar gefesselt und geknebelt. Die Polizisten waren damit überfordert und machten solche Transporte sehr ungern. Es lief oft so ab, dass die gereizte Manie an die Tür des Aufnahmehauses für akute Psychiatrie gebracht wurde, dann wurde die Tür durch die Polizisten aufgerissen, die gereizte Manie hineingeschubst und dann hielten die Polizisten die Tür von außen fest zu. Wir als Behandlungsteam waren aber drin. Folglich ließ die gereizte Manie erst einmal die gesamten angestauten Aggressionen an der Inneneinrichtung aus. Ich stand mit dem Spritzentablett in einer Zimmerecke und sah, wie das Behandlerteam in alle Richtungen das Weite suchte. Die gereizte Manie (ein Patient 2 m groß und von athletischem Habitus) begann bereits Tische und Stühle zu zerschlagen. Ich stellte das Spritzentablett ab, griff nach hinten und da war eine Türklinke, zum Glück. In Windeseile verschwand ich durch die Tür und hielt sie meinerseits von außen zu. Die gereizte Manie fing an, die Inneneinrichtung gegen die Tür zu werfen. Drinnen hörte man es nur noch Krachen. Die gereizte Manie tobte sich voll aus, bis endlich Ruhe war. Das Behandlerteam, in dieser Situation quasi die Kampftruppe, sammelte sich indessen, bis das Zeichen zum Angriff kam. Die Taktik war einfach: vier Mann, vier Ecken, und eine Schwester hielt den Arm, in den ich Unmengen von i.v. Spritzen jagte. Bis die gereizte Manie endlich friedlich schlief und alle Spannung abfiel. Vor allem auch von uns.
Es gab alle Formen von Psychiatrie in einem Großkrankenhaus: Leichtere Fälle, die man heute Burn-out-Syndrom nennt, Depressionen, Neurosen und Psychosen aller Art und den Maßregelvollzug. Da musste ich oft rein im Dienst. Ein scheinbar normaler Mensch saß vor mir. Ich kümmerte mich ärztlich eben, wie es meine Pflicht war. Als ich wieder draußen war, fragte ich den Pfleger, warum der Patient denn hier sei. »Vierfacher Mord im Rahmen einer Psychose«, sagte der Pfleger. »Ach so«, sagte ich.
Der Afrikaner war schwarz wie die Nacht und lernte hier Psychiatrie und er konnte das machen, weil er die Sprache beherrschte, auch in den Feinheiten und den Details der Sprache, und er kannte die Seele. Die Seele kennt keine Hautfarbe. Und immer wieder sagte er: »Allah macht alles! Du musst dir keine Sorgen machen!«
Der Afrikaner und die Frauen – das wiederum war ein Thema für sich. Er sagte oft: »Frauen wollen machen mit Neger, weißt du, Kleener.« Und mich fragte er oft: »Kleener, hast du letzte Nacht Ziggie-Ziggie gemacht?« Wenn ich Ja sagte, antwortete er: »Kleener, du bist gut, du bist großer Krieger!« Wenn ich Nein sagte, antwortete er: »Kleener, du bist nicht gut, wozu hat dir Allah dein Ding gegeben?« Wir trafen uns immer mittags, nach der Konferenz. So hieß die Besprechung der Ärzte. Dann gingen wir in die Wohnungen, aßen etwas, rauchten und erzählten über das, was uns in den Häusern jeweils begegnet war. Einmal sagte er: »Kleener, habe heute was vor, kommst du am Abend, gehen wir in Kneipe.« Auf jeden Fall hörte ich in der Mittagspause eine ganze Weile Urlaute, vom Afrikaner und einer hohen Frauenstimme. Weiterhin schwankte meine Deckenlampe wie auf einem Schiff bei hohem Seegang hin und her, bis endlich Ruhe war. Mir war schon in etwa klar, was da oben abging. Als ich wieder zur Arbeit ging, traf ich den Afrikaner und stellte fest: »Großer Krieger – du siehst blass aus!« Und der große Krieger antwortete: »O Kleener, hatte Besuch von starker Frau, war wie Schlange, brachte mich fast um.« Als er mir dann sagte, wer die starke Frau war, wurde ich wiederum blass und wahrheitsgemäß konnte ich hinzufügen: »Die starke Frau hat dich nicht umgebracht, aber ihr Mann wird es tun, wenn er das erfährt!«
In der Wendezeit war ich oft bei dem Afrikaner. Er trug ein langes weißes Gewand und kochte afrikanisch. Dann spielte er seine heimatliche Musik ab vom Recorder und ich war für kurze Zeit weit weg, quasi in Afrika. Zumindest weit weg und in Sicherheit vor der Dramatik dieser Zeit. Das Großartige an dieser Zeit war spürbar, aber sie war auch extrem spannungsgeladen. Mehrere Kolleginnen und Kollegen dekompensierten völlig und mussten ärztlich behandelt werden. Da hörte ich lieber beim Afrikaner Trommelklänge!