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© 2019 Volker Griese
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Volker Griese
Frontispiz: Erich Mühsam, Haftanstalt Ansbach 1919
Herstellung u. Verlag: BOD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7504-4345-7
Eine der verbreitetsten Krankheiten
ist die Diagnose.
Karl Kraus
Gesammelter Speichel aus der
Trompete der Fauna.
Jean Paul
»›Sie reiten stehend auf zwei Gäulen‹, sagte mir einmal Frank Wedekind, ›die nach verschiedenen Richtungen streben; sie werden Ihnen die Beine auseinanderreißen.‹ – ›Wenn ich einen laufen lasse‹, erwiderte ich, ›verliere ich die Balance und breche mir das Genick.‹ (›Unpolitische Erinnerungen‹)
Einige Zeitgenossen sahen in Erich Mühsam den ungekrönten König der Bohemiens und Kabarettisten, einen Aussteiger, eine »Tagesberühmtheit« der Kunstszene. Anderen galt er schlicht als ein Bürgerschreck, bei dessen Anblick mit ungebändigt langem, rotem Haar und abgetragener Kleidung man gleich befürchten müsste, er würde eine Bombe aus der Tasche ziehen.
Während seiner Jugendzeit wurde versucht, ihn zu einem pflichtbewussten Preußen, zu einem den praktischen Dingen zugewandten Untertanen zu erziehen. Doch der zärtliche und träumerische Junge war eher künstlerisch veranlagt, was in die Welt des bürgerlichen Elternhauses nicht hineinpasste. Und je mehr versucht wurde, ihn zu disziplinieren, je mehr er physisch und psychisch von Vater und den Lehrern unter Druck gesetzt wurde, desto mehr zog er sich einerseits in die Traumwelten der Literatur zurück und wendete sich andererseits rein äußerlich gegen jegliche Autorität. Es blieb nur der Versuch, sein Anderssein im Elternhaus wie auch in der Schule förmlich mit dem Rohrstock aus ihm herauszudreschen. Doch es misslang gründlich. Schließlich musste er wegen aufrührerischer Umtriebe die Schule verlassen, da er einen prügelnden Lehrer in einer sozialdemokratischen Zeitung bloßstellte. Der Revoluzzer und Anarchist wurde geboren.
In Berlin und schließlich München, den äußeren Zwängen des Elternhauses entflohen, genoss Erich Mühsam die Freiheit, die Unabhängigkeit, die Boheme in vollen Zügen. Vom gehassten Vater gelangte zwar regelmäßig ein geringer Geldbetrag zu ihm, eine vorzeitige Auszahlung des Erbteils, aufgebessert durch dichterische und sonstige literarische Gelegenheitsarbeiten, die in renommierten Zeitschriften der Zeit erschienen wie ›Simplicissimus‹, ›Gesellschaft‹, ›Aktion‹ oder in Maximilian Hardens ›Zukunft‹. Berühmt waren seine Auftritte in den Kabaretten. Seine für sich oder andere geschriebenen aggressiven und satirischen Chansons kamen an. Legendär sind bis heute seine spontanen Reimereien, die seine Wortmacht immer wieder aufblitzen lassen. Vor allem die Schüttelreime gehörten zu seinem Spezialgebiet. Hierin war er der ungekrönte König der Kunstszene. Von Karl Kraus ist überliefert, dass es Erich Mühsams Auftritte waren, die ihn für das Kabarett begeisterten.
Nicht zuletzt durch seinen äußeren Habitus – die magere Gestalt eines Hungerleiders, die wirr-langen roten Haare, der abgetragene Mantel – auch durch sein ganzes Wesen, durch das Ausleben seiner Ansichten, eines freien, von keiner obrigkeitlichen Herrschaft bestimmtes Leben, galt er als »die« Berühmtheit der Berliner später der Münchener Boheme. Er selbst war ein Teil der Kunstszene, wirkte sein Auftreten für Außenstehende doch als Gesamtkunstwerk. Er genoss das Zusammentreffen mit Künstlern, mit Schauspielern und Dichtern in den Kaffeehäusern und Bars in vollen Zügen. Hier las er seine Zeitungen und schrieb manche seiner Gedichte und Artikel. Hier wurde gefachsimpelt, geblödelt und getändelt. Zahlreiche arrivierte Dichter erkannten ihn als ihresgleichen an. Mit Alexander Roda Roda hockte er zusammen und spielte Schach, mit Heinrich Mann und Frank Wedekind wurde in den Kaffeehäusern und Weinstuben ausgiebig diskutiert und an manchen Abenden mehr als ein Gläschen geleert. Immer wieder einmal bestimmten Trinkgelage, Geldnöte, Gedichte und eine Menge Sex die Tage. Oft waren es Damen des Theaters oder eines Kabaretts, die nur Zärtlichkeiten oder einfach das Bett mit ihm teilten. Durch ihr selbstbestimmtes Leben auf der Bühne von vielen bürgerlichen Personen als Außenseiter der Gesellschaft betrachtet, fanden sie in Erich Mühsam einen Menschen, der sie als Künstler und als Person ernst nahm.
Doch da ist auch die andere Seite. Seine sagenhafte von Altruismus geprägte Freigebigkeit, die ihn immer wieder selber in Bedrängnis brachte. Für jede gescheiterte Existenz und in Bedrängnis geratene Person schien er die letzte Hoffnung darzustellen: Für das verstoßene oder entlaufene Dienstmädchen, für angehende, verkannte und ohne eigene Geldmittel dastehende Künstler oder einfach nur für Schnorrer, immer war Erich Mühsam da und versuchte oftmals bis zur Selbstaufgabe zu helfen.
Als er in München die untersten Gesellschaftsschichten mit einer von ihm gegründeten Gruppe für bewusstes, eigenbestimmtes Handeln zu gewinnen suchte, geriet er erstmals mit den Staatsorganen in Konflikt und ins Gefängnis. Wenige Jahre später, als das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg in Scherben lag, waren es zahlreiche Intellektuelle, die das politische Vakuum für sich erkannten und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um eine neue Gesellschaftsordnung zu etablieren. Die Münchener Räterepublik entstand und Erich Mühsam sah seine Chance gekommen. Er engagierte sich bis an seine physischen Grenzen. Er wirkte mit seiner legendären rhetorischen Begabung als Propagandaredner, formulierte Aufrufe und Depeschen, übernahm kleinere Ämter, war überall dabei und doch keiner der Anführer. Doch nach außen, als eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, war gerade er es, der die Gallionsfigur der Bewegung abgab. Als der Spuk blutig endete, erschien es fast wie ein Wunder, dass er mit dem Leben davonkam. Obwohl er kaum direkt politisch noch exekutiv gewirkt hatte, meinte das Standgericht in ihm als Agitator eine der gefährlichsten Personen der Rätezeit zu erblicken und verurteilte ihn mit 15 Jahren Festungshaft zur Höchststrafe. Nach mehr als fünf Jahren erfolgte seine vorzeitige Freilassung.
Fortan betätigt er sich als aufmüpfiger linker Propagandist, der in seinen Balladen, Gedichten und Essays schonungslos politische Themen der Zeit ansprach und unumwunden zum Klassenkampf aufrief. Doch er stand wieder einmal alleine da. In den Augen der Kommunisten war er, der ein revolutionäres Bündnis links von den Parteien postulierte, als Anarchist und Nonkonformist indiskutabel und bedenklich, den Anarchisten erschien er zu nah auf der Linie der Kommunisten und den Sozialdemokraten war der Mensch einschließlich seiner Ansichten einfach nur suspekt. Und für die politische Rechte bildete er als Jude eine Zielscheibe allerersten Ranges. Stand er doch vor allem als Person für selbstständig bestimmtes Handeln und Denken, für ein sich niemanden unterordnendes Individuum, und bildete so das sprichwörtliche »Rote Tuch« für die im Gleichschritt daherkommenden braunen Schergen.
Als die Nationalsozialisten die Macht erhielten, war es Erich Mühsam, der als einer der Ersten verhaftet und ins Konzentrationslager verbracht wurde. Trotz Intervention aus dem Ausland war es nur eine logische Folge, dass er das vom Propagandaminister postulierte Verdikt, »dieses Judenaas muss krepieren«, mit all seinem dazugehörenden Martyrium, bis zur bitteren Neige, auskosten musste.
*
Die Chronik erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; sie ist in ihrer Auswahl, die notgedrungen Schwerpunkte setzen muss, für den Leser als handliches Hilfsmittel zur Orientierung und als Nachschlagewerk gedacht. Wichtige Daten, die zur Darstellung von Erich Mühsams Existenz als Mensch und seiner Entwicklung vom Apothekergehilfen zum Dichter, Bohemien, Anarchist und weiter zum Sprachrohr der Münchener Räterepublik exemplarisch sind, werden in Form einer tabellarischen Kurzbiografie dargebracht. Eine reiche Auswahl an Selbstzeugnissen, vor allem aus Werken, Briefen und Tagebüchern, die selbstverständlich wie bei jeder Selbstaussage zwischen absichtlicher Selbstverhüllung und bewusster Verstellung schwanken, dienen der Ergänzung. Dessen ungeachtet besteht ein Einblick in das Leben einer Person, die zu den berühmten aber auch verachteten und verkannten Literaten zwischen dem ausgehenden Kaiserreich und dem Untergang der ›Weimarer Republik‹ gehört, und die ferner zu den ambivalenten Größen deutscher Sprache zu zählen ist. Das vorliegende Werk orientiert sich größtenteils an bereits publiziertem Material und hängt dementsprechend von dessen Zuverlässigkeit ab. Offensichtliche Unstimmigkeiten oder Fehler wurden korrigiert, sie sind über die entsprechenden Quellenverweise transparent.
Mühsams eigene Äußerungen und Zitate aus seinen Werken sowie Werktitel sind durchweg kursiv gesetzt. Die verschiedenen Rechtschreibungen der zitierten Quellen wurden beibehalten. Zu guter Letzt: Bei der bewältigten Datenfülle erscheint es vermessen, davon auszugehen, dass keine Unachtsamkeiten oder Versehen unterlaufen sind.
Volker Griese, Wankendorf
[AdK] Archiv der ›Akademie der Künste‹ Berlin.
[Autographenhandel] Gängige Kataloge des Autographenhandels wurden anhand des ›Jahrbuchs der Auktionspreise für Bücher, Handschriften und Autographen‹ durchgesehen.
[AW] Erich Mühsam: Ausgewählte Werke. Hrsg. Christlieb Hirte. Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke. Bd.2: Publizistik. Unpolitische Erinnerungen. Bd.3 Streitschriften. Literarischer Nachlaß. Berlin: 2 1985 u. 1984.
[Bauschinger] Sigrid Bauschinger: Else Laske Schüler Biographie. Göttingen 2004.
[Bernhardt] Rüdiger Bernhardt: Ich bestimme mich selbst. Das traurige Leben des glücklichen Peter Hille (1854–1904). Jena 2004.
[Blaubuch] Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben. Literatur und Kunst. 1906ff.
[Brehm] Eugen M. Brehm: Spätgeburt. Sybillenlieder und andere Gedichte. Berlin 1980.
[Bruhns] Franz-Ludwig Bruhns: Joachim Ringelnatz als hermetischer Mariner. Eine freimaurerisch motivierte Spurensuche. o.O. 2008.
[Bruns] Karin Bruns: Die neue Gemeinschaft. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Hrsg. Wulf Wülfing u.a. Stuttgart u. Weimar 1998.
[BSM] Bayerische Staatsbibliothek, München.
[Buchwesen] Archiv für Geschichte des Buchwesens. Hrsg. von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Frankfurt a.M. 1956ff.
[Chronik] Brockhaus. Chronik des 20. Jahrhunderts. 1900–1999. 25 Bde. Gütersloh 2002.
[DLM] Deutsches Literaturarchiv, Marbach.
[Exilliteratur] Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933–1950. Bd.1. Die Vorgeschichte des Exils und seine erste Phase. Stuttgart 2004.
[Faulhaber] Faulhaber. Kritische Online-Edition der Tagebücher. www.faulhaber-edition.de.
[Fritzen] Erich Mühsam. Sich fügen heisst lügen. Leben und Werk in Texten und Bildern. Hrsg. Marlis Fritzen. 2 Bde. Göttingen 2003.
[Gerstenberg] Günter Gerstenberg: Erich Mühsm. »Wo kommen Sie her? Wer ist die Dame? Was wollen Sie?« In: Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten, Nr.12, Aschaffenburg 2004.
[Geschütteltes] Mühsam’s Geschütteltes. Schüttelreime und Schüttelgedichte. Zusammengestellt und mit einem Reimregister versehen von Reiner Scholz. Frankfurt a.M. 1994.
[Graf] Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis. München 1982.
[Gruner] Wolfgang Gruner: Ein Schicksal, das ich mit sehr vielen anderen geteilt habe. Alfred Kantorowicz – sein Leben und seine Zeit von 1899 bis 1935. Kassel 2007.
[Hay] Frank Wedekind. Die Tagebücher. Ein erotisches Leben. Hrsg. Gerhard Hay: Frankfurt a.M. 1986.
[Herrmann-Neiße] Max Herrmann-Neiße. Gesammelte Werke. Hrsg. von Klaus Völker. 10 Bde. Frankfurt a.M. 1986–88.
[Hirte] Chris Hirte: Erich Mühsam. Eine Biographie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Stephan Kindynos. Freiburg 2009.
[Huch] Ricarda Huch. 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach a. Neckar 1994.
[Jacob] Der wahre Jacob. Stuttgart 1884–1924 u. 1927–1933.
[Junge Welt] Sabine Lueken: Der Scharfe Blick. Erich Mühsam in den Erinnerungen seiner Nachbarn: Eine Spurensuche in Berlin-Britz zum 80. Todestag. In: Junge Welt, Berlin 10.7.2014.
[Jünger] Ernst Jünger: Sämmtliche Werke. Tagebücher III, Strahlungen II. Stuttgart 1979.
[Kantorowicz] Alfred Kantorowicz: Porträts. Deutsche Schicksale. Berlin 1949.
[Karl-May-Chronik] Dieter Sudhoff u. Hans-Dieter-Steinmetz: Karl-May-Chronik. 5 Bde, Bamberg u. Radebeul 2005–2006.
[Kienecker] Peter Hille. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. Friedrich und Michael Kienecker. Essen 1986.
[KMJb] Karl-May-Jahrbuch 1923. Hrsg. Max Finke u. E. A. Schmid. Radebeul 1922, S.309ff.
[Kreszentia] Kreszentia Mühsam: Der Leidensweg Erich Mühsams. o.O. [Zürich u. Paris] 1935.
[Kugel] Wilfried Kugel: Der Unverantwortliche. Das Leben des Hanns Heinz Ewers. Düsseldorf 1992.
[Kürschner] Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1904ff. Hrsg. Dr. Heinrich Klenz u.a. Leipzig u. Leipzig.
[Linse] Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich von 1871. Berlin 1969.
[Litten] Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich u. Stefanie Schüler-Springorum: Denkmalsfigur: Biographische Annäherung an Hans Litten 1903–1938. Göttingen 2008.
[Medizingeschichte] Dominik Groß, Axel Karenberg, Stephanie Kaiser u. Wolfgang Antweiler (Hrsg.): Medizingeschichte in Schlaglichtern. Beiträge des ›Rheinischen Kreises der Medizinhistoriker‹. Kassel 2011.
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[MM] mühsam-magazin. Hrsg. Erich-Mühsam-Gesellschaft. Nrn.1–11, Lübeck 1990ff.
[Monacensia] Münchener Stadtbibliothek Monacensia.
[Mynona] Salomo Friedlaender/Mynona. Briefwechsel I–III. Hrsg. Harmut Geerken, Detlef Thiel u. Sigrid Hauff. Herrsching 2018f.
[Nachlass Bahr] Kunsthistorisches Museum Wien. Österreichisches Theatermuseum: Nachlass Hermann Bahr
[Nasselstein] Peter Nasselstein: Biographische Notizen über Wilhelm Reich und die Linke. In: Der Rote Faden. o.O. 2017. (www. orgonomie.net/hdoroterfaden.pdf; Zugriff 22.3. 2019)
[Nexö] Martin Andersen Nexö: Die braune Bestie. In memoriam Erich Mühsam. In: Kultur und Barbarei. Berlin 1957.
[PM] Paul Mühsam: Erich Mühsam. Typoskript o.J. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Paul Mühsam.
[Posaune] Erich Mühsam. In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Briefe 1900–1934. Hrsg. Gerd W. Jungblut. 2 Bde. Vaduz 1984.
[Reichstagsprotokolle] Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. 1.–7. Wahlperiode. Berlin 1921ff.
[Reventlow] Franziska Gräfin zu Reventlow u. Bohdan von Suchocki: »Wir üben uns jetzt wie Esel schreien …« Briefwechsel 1903– 1909. Hrsg. Irene Weiser u.a. Passay 2004.
[Ringelnatz] Joachim Ringelnatz: Mein Leben bis zum Kriege. In: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Hrsg. Walter Pape. Bd.6. Zürich 1994.
[Roth] Joseph Roth 1894–1939. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek. Frankfurt a.M. 1979.
[SBB] Staatsbibliothek zu Berlin
[Schaubühne] Die Schaubühne. Hrsg. Siegfried Jacobsohn. Berlin 1905–1918.
[Schnack] Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Bd.2. o.O. [Frankfurt a.M.] 1975.
[S-EMG] Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft. Nrn.1–44, Lübeck 1989ff.
[SLD] Stadt- und Landesbibliothek Dortmund.
[Szittya] Emil Szittya: Die Internationale der Aussenseiter. Ein Roman um Otto Groß und Ascona. Freudenstein 1998.
[Tb] Erich Müchsam: Tagebücher. Hrsg. Chris Hirte u. Conrad Piens. 15 Bde. Berlin 2011–2019.
[Teichmann] Färbt ein weißes Blütenblatt sich rot. Erich Mühsam. Leben in Zeugnissen und Selbstzeugnissen. Hrsg. Wolfgang Teichmann. Berlin 1978.
[Toller] Ernst Toller: Briefe 1915–1939. Hrsg. Stefan Neuhaus u.a. Bd.1 Göttingen 2018.
[UBL] Universitätsbibliothek Leipzig. Kurt-Taut-Sammlung.
[Vinςon] Frank und Tilly Wedekind. Briefwechsel 1905–1918. Hrsg. Hartmut Vinςon. 2 Bde. Göttingen 2018.
[Wenzel] Arnold Zweig 1887–1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Hrsg. Georg Wenzel. Berlin u. Weimar 1978.
[Wolf] Friedrich Wolf. Weltbürger aus Neuwied. Selbstzeugnisse in Lyrik und Prosa. Hrsg. Henning Müller. Neuwied 1988.
[ZLB] Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
[Zuckmayer] Carl Zuckmayer: Geheimreport. Hrsg. Gunther Nickel u. Johanna Schrön. Göttingen 2002.
[20.Jahrhundert] Das 20. Jahrhundert. Von Nietzsche bis zur Gruppe 47. Marbach 1980.
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Andrees allgemeiner Handatlas, in 126 Haupt- und 137 Nebenkarten. Hrsg. A. Scobel. Bielefeld u. Leipzig 1899.
Chronik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. Bodo Harenberg. Dortmund 9 1988.
Curt Vinz u. Günter Olzog (Hrsg.): Dokumentation deutschsprachiger Verlage. München u. Wien 1962.
Der große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Würzburg 32 2001.
Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung. Hannover 13 1991.
Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 24 Bde. Leipzig u. Wien 6 1905–1913.
Peter Sprengel: Geschichte der deutschen Literatur 1900–1918. Bd. IX,2. München 2004. (Innerhalb der Reihe: Helmut de Boor: Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart).
»Wir wollen eine andere Welt« Jugend in Deutschland 1900–2010. Zusammengestellt von Fred Grimm. Berlin 2010.
1878
6. April: Berlin. Während in der Spreemetropole Bismark sich mitten in den Vorbereitungen zum ›Berliner Kongress‹ befindet, erblickt im dritten Stock in der Kaiserstraße Nr.44 Erich Kurt Mühsam als zweiter Sohn eines jüdischen Apothekers das Licht der Welt. Er ist das dritte Kind von Siegfried Seligmann Mühsam (*2.9.1838 Landsberg i. Oberschlesien †20.7.1915 Lübeck) und Rosalie, geb. Cohn, (*10.4.1849 Berlin †24.3.1899 Lübeck). Der Vater, der seit Oktober 1871 die ›Adler-Apotheke‹ in der Brunnenstraße Nr.103 besitzt, ist in seiner sachlichen und gewissenhaften Art ein strenger, verschlossener Charakter, der kein Verhältnis zu Kunst, Kultur und Kreativität pflegt. Die Mutter ist verständnisvoll aber zurückhaltend und überlässt die Erziehung der Kinder ganz ihrem Mann.
1879
Februar: Lübeck-St. Lorenz. Übersiedlung in die ehemalige Hansestadt an der Trave. Durch eine Erbschaft seiner Frau zu Geld gekommen, lässt der Vater ein in der Vorstadt an einer Ecke zum ›Lindenplatz‹ an der Moislinger Allee Nr.2c gelegenes imposantes Apotheken-Gebäude errichten. Die ›St. Lorenz-Apotheke‹ besteht aus drei Stockwerken und enthält Verkaufsräume, Laboratorien und Wohnräume. Neben der Konzession als Apotheker erhält er später die Zulassung als Gerichtschemiker und Apotheken-Revisor. Er wird Mitglied der ›Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit‹ und der Freimaurerloge ›Zur Weltkugel‹. Mit Durchsetzungsvermögen und Weitsicht wird er sich zielstrebig seinen Platz im gehobenen Bürgertum der Stadt sichern. Die Kinder sollen es ihm einmal gleichtun.
Dafür will er sorgen. [Hirte, S.15 | wikipedia.org/wiki/Siegfried_Mühsam;Zugriff 23.3.2019]
1881
20. September: Lübeck-St. Lorenz. Geburt der Schwester Charlotte, die später als Frauenrechtlerin und Lübecker Bürgerschaftsabgeordnete unter dem Namen Charlotte Landau-Mühsam bekannt werden wird.
1884
Mitte April: Lübeck-St. Lorenz. Zu Ostern kommt M in die Vorschule des ›Katharineums‹, ein Gymnasium für den gehobenen Bürgerstand. [Posaune, S.135]
1885/86
nach April: Lübeck-St. Lorenz. »Mit 7 Jahren hatte ich einen Lehrer, namens Brüning, der offenbar Sadist war und mich als sein Opfer auserwählt hatte. Er prügelte mich jeden Tag fürchterlich, konnte mich aber nicht zum Weinen bringen. Ich hatte mir vorgenommen, unter keiner Bedingung zu weinen. Ich höre noch wie heute, wenn er mich vorrief ›Müsle, komm mal her. Ich will mal sehn, ob du nicht schreist, wenn ich dich verhaue.‹ Und mit dieser Begründung ließ er den Retstock auf meiner strammgezogenen Hose tanzen.« [Tb, Bd.7 S.23]
1887
?: Lübeck-St. Lorenz. Der Vater wird als einer der ersten jüdischen Bewohner der Stadt in die Lübecker Bürgerschaft gewählt, der er bis zu seinem Tod angehört. [Hirte, S.15]
Mitte April: Lübeck. Zu Ostern erfolgt die Aufnahme Ms in die Sexta des ›Katharineums‹. Mitschüler ist der spätere Professor der Rechtswissenschaft, Reichstagsabgeordneter und Justizminister Gustav Radbruch. Ein paar Klassen über ihn befinden sich Thomas und Heinrich Mann. [MM, Nr.2 S.6] ◊ »Gegen Lehrer und Lehrplan faßte ich sehr früh ein tiefes Mißtrauen, das in trotziger Faulheit zum Ausdruck kam. Die zahlreichen Prügel, die in Schule und Haus zur Austreibung dieser Untugend aufgewandt wurden, erreichten das Gegenteil ihrer Absicht, und obgleich ich ungewöhnlich leicht lernte und zweifellos intellektuell weit über den Durchschnitt befähigt war, vernachlässigte ich meine Pflichten in dem Maße, daß ich in Quinta, Quarta und Untertertia je zwei Jahre zubringen mußte.« [Posaune, S.135] ◊ »Erich war als Knabe sehr schmächtig, er hatte eine krumme Haltung und auffallend dünne Beine, die ihm den Spitznahmen ›Spinne‹ einbrachte. Er war immer gefällig und gut und nicht nachtragend.« (Charlotte Landau, geb. Mühsam) [S-EMG, Nr.34 S.30]
1889
?: »Ich glaube, ich habe Verse gemacht, ehe ich schreiben und lesen konnte. Als Elfjähriger dichtete ich Tierfabeln«. [›Unpolitische Erinnerungen‹. AW, Bd.2 S.485f.] ◊ »Man kannte meine Neigung, Bücher zu lesen. Nie erhielt ich welche geschenkt, und als man dahinter kam, daß ich nachts heimlich aufstand, an den Bücherschrank der Eltern ging und mir die Werke Kleists, Goethes, Wielands, Jean Pauls herausholte, da verschloß man den Schrank und nahm mir die einzige Möglichkeit, meine tiefe Sehnsucht zu befriedigen.« [Tb, Bd1 S.32]
Sommer: Lübeck-St. Lorenz. M erhält Musikunterricht. Das Instrument, Cello, wählt er selbst. Als er nach drei Monaten ein schlechtes Zeugnis mit nach Hause bringt, heißt es vom Vater, der Musikunterricht störe die Schularbeit. »So strafte mich mein Vater für ein schlechtes Zeugnis fürs ganze Leben.« [Tb, Bd1 S.34]
1891
7. Juli: Lübeck. Aufstehen um 6 Uhr. Nach dem Frühstück begibt sich die Familie zum Bahnhof und fährt um 8 Uhr 5 nach Sylt. Wohl vom Vater als erzieherische Maßnahme gedacht, führt M penibel aber emotionslos ein Tagebuch über seinen Tagesablauf. [MM, Nr.5 S.15]
8. Juli: Sylt. Eintritt in die ›Sylter Kompagnie‹. M exerziert vor Erbgroßherzog Friedrich v. Baden, liegt in einer Strandburg, geht in den Dünen spazieren und begibt sich um 21 Uhr 45 zu Bett. [MM, Nr.5 S.15]
9. Juli: Sylt. Nach dem Aufstehen um 8 Uhr wird erst einmal Kaffee getrunken, und noch bevor es Frühstück gibt, geht es zum Strand. Erneutes Exerzieren mit der ›Sylter Kompagnie‹ vor Erbgroßherzog von Baden. [MM, Nr.5 S.16]
10. Juli: Sylt. Aufstehen um 8 Uhr. Nach Frühstück und Spaziergang wiederum exerzieren mit der ›Sylter Kompagnie‹. Das Mittagessen besteht aus: »Mokturtlesuppe, Steinbutt mit Sauce Hollandaise, Hammelcotlets, Mohrrüben mit Erbsen, Kartoffeln, Roastbeef, Salat, Kronsbeeren, Krême-Schnitten, Butterbrot und Käse.« Nach dem Abendbrot Aufsuchen des Lesesaals. Ins Bett geht es um 10 Uhr. [MM, Nr.5 S.15]
11. Juli: Sylt. Ist mit der ›Sylter Kompagnie‹ am Strand und gräbt im Sand. Am Nachmittag exerzieren sie wieder vor dem Erbgroßherzog von Baden, um anschließend »nach dem Kirchhof der Heimatlosen« zu gehen. Sieht Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee. [MM, Nr.5 S.16]
12. Juli: Sylt. Konzertbesuch. [MM, Nr.5 S.16]
13. Juli: Sylt. Ist mit der ›Sylter Kompagnie‹ am Strand und buddelt im Sand. [MM, Nr.5 S.16]
14. Juli: Sylt. Geht zusammen mit seiner Schwester Charlotte ein Geburtstagsgeschenk für seinen Bruder Hans einkaufen. [MM, Nr.5 S.15]
15. Juli: Sylt. Geburtstag des Bruders. [MM, Nr.5 S.17]
16. Juli: Sylt. »Gegraben. Dabei warf Hans Korken ins Wasser. Wir stritten uns um diesen. Hans schupste mich und ich lag im Wasser. Deshalb mußte ich nach Hause gehen und mich umziehen. Bis auf Weste und Kragen war alles naß.« Die Tagebucheintragungen enden mit diesem Tag. [MM, Nr.5 S.17]
28. Juli: Sylt. Rückreise. [MM, Nr.5 S.15]
20. Oktober: Lübeck. Zur Kontrolle seines Sohnes lässt sich der Vater vom Klassenlehrer wöchentlich über dessen schulische Leistungen berichten. Der Lehrer M. Reuter kommt dem nach und trägt umgehend ins Zensurenheft ein, dass M »seine lat. Vokabeln nicht gewußt u. seine Fehlerverbesserung vom Extemporale so schlecht geschrieben (außerdem einen puren Nachlässigkeitsfehler darin gemacht), daß ich ihm eine nochmalige Abschrift auferlegen u. ihn deswegen ins Klassenbuch einschreiben mußte.« Der Vater bestraft den Sohn durch »Entziehung verschiedener Vergünstigungen« [MM, Nr.5 S.20]
26. Oktober: Lübeck. Wieder weiß M die lateinischen Vokabeln nicht. Darüber informiert, bestraft ihn der Vater. [MM, Nr.5 S.20]
20. November: Lübeck. »Erich ist heute im Französ. getadelt worden, weil er seine schriftliche Arbeit geradezu geschmiert hat.« (M. Reuter) Als der Vater das Zensurenheft liest, erhält der Sohn wieder eine Bestrafung. [MM, Nr.5 S.21]
30. November: Lübeck. Für eine Klassenarbeit gibt es eine mangelhafte Note. [MM, Nr.5 S.21]
1892
?: Lübeck. Lernt u.a. mit dem Roman ›Die Sklavenkarawane‹ die Traumwelten Karl Mays kennen. [Kain, 2.Jg Nr.1 S.14]
19. Januar: Lübeck. Wurde M in der ersten Stunde wegen Trägheit getadelt, so kommt es in der dritten Stunde noch schlimmer. Er erhält wegen groben Unfugs und Störung des Unterrichts einen Eintrag ins Klassenbuch. »Wegen des für seine Trägheit empfangenen Tadels wird Erich während acht Tagen vom Vater durch Entziehung verschiedener Vergünstigungen bestraft werden. Den von Herrn Dr. Hausberg empfangenen Tadel behauptet Erich nicht verschuldet zu haben. Erich ist von seinem Nachbar Stave gekitzelt worden und schnellte infolgedessen unwillkürlich in die Höhe, gerade in dem Augenblick, als Herr Dr. Hausberg feststellen wollte, wer durch Grunzen absichtlich gestört hat.« (Siegfried Mühsam an Lehrer M. Reuter) Die daraufhin eingeleitete Untersuchung ergibt allerdings, dass es tatsächlich M war, der den Unterricht gestört hatte und nicht durch Kitzeln aufgesprungen war, sondern durch seinen Nachbarn dazu animiert wurde, sich bei der diesbezüglichen Frage zu stellen. [MM, Nr.5 S.22f.]
20. Januar: Lübeck. »An Strenge meinerseits soll es nicht fehlen.« (Siegfried Mühsam an Lehrer M. Reuter) [MM, Nr.5 S.23] – »Es steigt etwas wie Haß in mir auf, wenn ich mir die unsagbaren Prügel vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte […] Ich denke mit wahrem Grauen an die Tage, wo ich herumschlich, angstvoll auf die versprochenen Keile zu warten. […] und ich war wohl zwölf, dreizehn Jahre alt, voll kindlicher erwachender Sehnsucht und tiefer empfindend als andere Jungen.« [Tb, Bd.1 S.32f.] ◊ Der Erfolg der Erziehungsmethode ist eine vollständige Emanzipation Ms. Er erkennt fortan keine Autoritäten mehr an: weder Vater noch Lehrer. Später wird er diese Welt der Väter auf den Staat, auf Behörden und Politiker transponieren und auch ihren Machtanspruch auf ihn, auf das Individuum, ablehnen.
29. Januar: Lübeck. M erhält im Französischunterricht wegen einer gelungenen Klassenarbeit ein Lob. [MM, Nr.5 S.23]
20. Februar: Lübeck. Wegen einer nur halb fertigen Hausarbeit gibt es einen Tadel ins Zensurbuch. [MM, Nr.5 S.20]
1894
?: Lübeck. Eigenen Angaben zufolge verdient M als knapp Sechzehnjähriger drei Mark in der Woche, »indem ich – in ängstlicher Heimlichkeit vor Eltern und Geschwistern – für den Komiker eines Lübecker Zirkus-Varietés regelmäßig die letzten lokalen und politischen Aktualitäten in seine Couplets hineinwob«. [›Unpolitische Erinnerungen‹. AW, Bd.2 S.486]
1895
10. Dezember: Lübeck. Während einer Rechenarbeit am Nachmittag wird ein Mathematiklehrer von Schülern mit Papierkugeln beworfen. Auf die Frage, wer das war, meldet sich niemand. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Schon vorher gab es Konflikte zwischen diesem Erzieher und seinen Schülern. Er zeigt das Ereignis beim Direktor Dr. Johannes Julius Schubring an. Der statuiert ein Exempel. Drei Schüler werden Tage später vom Institut relegiert, einer verlässt freiwillig die Anstalt, über 50 erhalten Karzer. [MM, Nr.2 S.9ff.]
21. Dezember: Lübeck. Während der feierlichen Zeugnisvergabe, nimmt sich Direktor Dr. Schubring seine sämtlichen Schützlinge vor und weist in einer Ansprache auf das Fehlverhalten einiger Schüler Tage zuvor hin, um auch die Unbeteiligten vor Aktionen dieser Art zu warnen. M, der nicht in diese Sache involviert war, ist ein aufmerksamer Zuhörer. [MM, Nr.2 S.12f.]
22. Dezember: Lübeck. Die ›Eisenbahn-Zeitung‹ berichtet nach Hörensagen über die Vorfälle am ›Katharineum‹. [MM, Nr.2 S.6]
24. Dezember: Lübeck. Im sozialdemokratischen ›Lübecker Volksboten‹ wird der Vorfall zunächst dementiert. M schreibt daraufhin die Rede des Direktors aus dem Gedächtnis nieder und lässt das Schreiben, mit weiteren Informationen versehen, der Zeitungsredaktion zugehen. Daraufhin beginnt die Redaktion mit eigenen Nachforschungen zu dem Vorfall. [MM, Nr.2 S.8ff.]
1896
1. Januar: Lübeck. Von M über die wahren Umstände des Vorfalls und der Rede des Direktors informiert, berichtet der ›Lübecker Volksboten‹ erneut über den Vorfall. Der Direktor fühlt sich und sein Institut mit diesem »Schmäh- und Schandartikel« bloßgestellt und »mitten darinnen war meine Rede abgedruckt, mit hämischen Zwischenbemerkungen, verstümmelt, entstellt, ins Gemeine gezogen […].« Schnell ist der Übeltäter ermittelt, da M sein Vorgehen dem Vater gegenüber gebeichtet hatte, und der versäumt es nicht, flugs Direktor Schubring über den Zeitungsinformanten zu informieren. Das Urteil steht fest: »Mit diesem hinterlistigen Verrat trat Mühsam gänzlich aus dem Rahmen der Schule heraus und zerschnitt das sittliche Band mit der Schule.« (Dr. Schubring an den Gymnasialdirektor in Parchim, 16.1.1896) [MM, Nr.2 S.8ff.]
11. Januar: Lübeck. Wenn er auch an den Vorgängen gegen den Mathematiklehrer nicht beteiligt war, wird M wegen Ausplauderns von Interna von der Schule verwiesen. Im Abgangszeugnis aus der UIIa steht: »nur im ganzen gut wegen Neigung zu Störungen und Vergeßlichkeit, zuletzt kam ein schwerer Disziplinarfall hinzu«. Zu Aufmerksamkeit und Fleiß wird vermerkt: »meist zu wenig angestrengt«. Die einzelnen Zensuren bewegen sich von »mangelhaft« (Physik), »nur teilweise befriedigend« (Sprachen, Turnen, Erdkunde, Geometrie) über »noch befriedigend« (Arithmetik), »befriedigend« (Zeichnen, Geografie) bis hin zu »befriedigen, teilweise auch besser« (Deutsch). [S-EMG, Nr.12 S.25]
14. Januar: Lübeck. Ms Vater wendet sich an den Direktor des Parchimer ›Friedrich-Franz-Gymnasiums‹ und wünscht, dass sein Sohn dort das Abitur ablegen soll. [MM, Nr.2 S.14]
16. Januar: Lübeck. Auch Direktor Dr. Schubring bittet seinen Parchimer Kollegen, »sich des jungen Mannes zu erbarmen. Eine scharfe Zucht wird ihn, glaube ich, auf dem guten Wege erhalten.« [MM, Nr.2 S.12f.]
17. Januar: Der Direktor des Parchimer Gymnasiums erklärt sich zur Aufnahme des Lübecker Jungen einverstanden. [MM, Nr.2 S.15]
19. Januar: Lübeck. Der Vater fordert aus Parchim einen Schulbericht an. Sein Sohn soll sich zunächst mit Privatunterricht bei erstklassigen Lehrern auf den Stoff vorbereiten. Da der Junge durch den Vorfall mitgenommen ist, soll er bis Ostern noch etwas Zeit erhalten. [MM, Nr.2 S.6]
2. Februar: Lübeck. Sein Sohn sei bestrebt »nicht nur das in der Schule Versäumte nachzuholen, sondern durch Eifer und Gewissenhaftigkeit und ein gesetztes Benehmen den Kummer, den er den Eltern bereitet, wieder gutzumachen. Er hat den aufrichtigen Wunsch, durch sein ferneres Verhalten zu beweisen, daß er die Kinderschuhe ausgezogen hat und in den alten Schlendrian nicht mehr verfallen will.« (Siegfried M an den Direktor des Parchimer Gymnasiums) [MM, Nr.2 S.6]
11. April: Parchim. Da die beiden Eisenbahnenverbindungen über Bad Kleinen oder Büchen eine Ankunft erst kurz nach 12 Uhr mittags ermöglichen, hat der Direktor die Aufnahmeprüfung für den neuen Schützling aus Lübeck auf die Nachmittagsstunden verlegt. [MM, Nr.2 S.17] ◊ M besteht den Test und wird in die Obersekunda des ›Friedrich-Franz-Gymnasiums‹ aufgenommen. »Dort fand ich sowenig Verständnis für mich wie in Lübeck.« [Fritzen, Bd.2 S.134]
14. April: Parchim. Berichtet seinen Eltern über die herrschende Schulordnung: »In den belebten Straßen und Vororten darf nicht geraucht werden. Im Zimmer und bei Ausflügen ist es den Sekundanern und Primanern erlaubt, zu rauchen. Tertianer müssen, wenn sie rauchen wollen, eine Bescheinigung von den Eltern oder Vormündern bringen, daß sie es dürfen.« [Hirte, S.34]
19. April: Parchim. Für die mit Trommeln und Pfeifen unternommenen Turnausflüge hat er sich für die Querflöte entschieden: »Bis jetzt bekomme ich noch keinen Ton aus der Pfeife heraus.« (an die Eltern) [Hirte, S.34]
24. April: Parchim. Musste sich zahlreiche Bücher für den Unterricht anschaffen und der Querflöte lässt sich schon die Tonleiter entlocken. [Hirte, S.34]
25. u. 26. April: Parchim. Von den 2 Mark, die er zur eigenen Verfügung erhalten hat, gönnt er sich am Sonnabend Nachmittag und Sonntag je ein Glas Bier. [Hirte, S.35]
27. April: Parchim. Das Flöten strengt doch sehr an. [Hirte, S.35]
30. April: Parchim. »Ich bin vom Flöten zurückgetreten.« (an die Eltern) [Hirte, S.35]
6. Mai: Parchim. Meldet den Eltern, dass er am besten im Fach Deutsch ist. [Hirte, S.35]
11. Mai: Parchim. »Wir haben immer ziemlich viel Schularbeiten auf, die besonders im Lateinischen und Griechischen furchtbar genau gemacht werden, weil unser Klassenlehrer ein fruchtbarer Pedant ist und alles immer ganz wörtlich haben will.« Der Mathematiklehrer scheint zwar sehr gelehrt zu sein, doch kann er das Wissen nicht vermitteln, auch gebraucht er Ausdrücke, die M unverständlich sind. (an die Eltern) [Hirte, S.36]
16. Mai: Parchim. Dass er zu Pfingsten zu Haus nicht erwünscht sei, tue ihm leid. (an die Eltern) [Hirte, S.36]
2. Juni: Parchim. Würde gerne eine Jahreskarte für die Schwimmanstalt kaufen. Bittet die Eltern, ihm dafür zwei Mark zu senden. [Hirte, S.36]
9. Juni: Parchim. Turnerfest mit Musik und Tanz. »Ich wurde bei der Damenwahl dreimal aufgefordert. Ich habe nur 15 Pf dabei für Bier ausgegeben.« (an die Eltern) [Hirte, S.36]
12. August: Parchim. Bei einem Feuer mit dem Brand zweier Ställe beteiligt sich M an der Löschaktion. Die Löschwagen und Pumpen im Ort werden von Schülern und Soldaten gezogen. [Hirte, S.36]
9. September: Der Vater verkauft die Apotheke in Lübeck. [S-EMG, Nr.34 S.26]
10. November: Parchim. Bittet die Eltern, um dringende Zusendung von Geld. Wenn sie ihm auch nicht das Rasieren und Haarschneiden bezahlen wollen, so stehen doch wieder größere Ausgaben für Schulhefte an. [Hirte, S.37]
1897
22. März: Vater Siegfried fordert vom Gymnasialdirektor vorab ein Qualifikationszeugnis, das er für die medizinische Untersuchung zum anstehenden einjährig freiwilligen Militärdienst benötigt. Doch angeblich verweigert die Militärbehörde wegen »sozialistischer Umtriebe« die Zulassung zum Militär. [MM, Nr.2 S.18 | Fritzen, Bd.2 S.134]
vor Ostern: Parchim. M verlässt mit dem Zeugnis zur Mittleren Reife das ›Friedrich-Franz-Gymnasium‹, zieht zurück nach Lübeck und beginnt eine Lehre zum Apothekergehilfen in der ›Adler-Apotheke‹ in der Mengstraße Nr.10. [Fritzen, Bd.2 S.134]
6. April: Lübeck. »In meinem Beruf gefällt es mir bis jetzt sehr gut. Es ist doch ganz etwas anderes, ob man auf der Schulbank sitzt und Tag für Tag seine sechs Stunden sich abquält, oder ob man sich seine Zeit im praktischen Leben so einteilen kann, wie es einem gerade bequem ist. Mein Dienst erstreckt sich auf Handverkauf und Einfüllung von Vorrat in die dazubestimmten Gefäße. Die Anfertigung von Rezepturen wird mir vorläufig noch nicht anvertraut.« Der tägliche Dienst dauert von 8–22 Uhr, nur unterbrochen von einer einstündigen Mittagspause. Zwei Nachmittage in der Woche sind frei sowie jeder zweite Sonntag. (an Unbekannt) [Fritzen, Bd.2 S.21]
1898
24. Januar: Lübeck. Postkarte an Minna Adler in Lübeck, Braut seines älteren Bruders Hans. [MM, Nr.11 S.25f.]
1899
24. März: Lübeck. Die Mutter, Rosalie Mühsam, stirbt. [MM, Nr.3 S.17] ◊ Um den Vater nicht zu kränken, verspricht M seiner Schwester Margarete, auf jeden Fall die Lehrzeit mit dem Examen abzuschließen und erst dann den schon länger gehegten Wunsch, Schriftsteller zu werden, in die Tat umzusetzen. [Tb, Bd.1 S.34]
1. April: Lübeck. Ende der Lehrzeit. M wird als Apothekergehilfe in der ›Adler-Apotheke‹ in der Mengstraße Nr.10 übernommen. [MM, Nr.4 S.14]
15. April: Mit ›Volksbildung und Sozialdemokratie‹ erscheint der erste mit dem Namen Ms gekennzeichnete Aufsatz. »Der Kern der Sozialdemokratie […] sitzt in den egoistischen Hirngespinsten der wenigen Sozialistenführer, denen das Volkssehnen nach eigenem Denkenkönnen eine willkommene Lockspeise an die Angel ihrer geld- oder ruhm-, jedenfalls aber selbstsüchtigen Pläne knotet.« [Das neue Jahrhundert, 1.Jg. Nr.2] ◊ Er entfaltet schon bald als ungenannter Artikelschreiber für die Lübecker Tageszeitungen eine rege Tätigkeit. [›Unpolitische Erinnerungen‹. AW, Bd.2 S.486]
1900
Frühjahr: Der in den 1890er Jahren in Friedrichshagen von den Brüder Julius und Heinrich Hart gemeinsam mit Wilhelm Bölsche und Bruno Wille als Künstlerkolonie gebildete ›Friedrichshagener Kreis‹ löst sich auf. Die Brüder Hart mieten in der Uhlandstraße Nr.144 in Wilmersdorf eine Vierzimmerwohnung und gründen die ›Neue Gemeinschaft‹, mit der ein Sonderweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus versucht werden soll. Inspiriert von der englischen Gartenstadt-Bewegung, basierend auf Ideen von William Morris, plant man dem »Moloch der Großstadt« zu entfliehen und der Entfremdung der Menschen in einer zunehmend industrialisierten Welt entgegenzuwirken. Dazu erfolgt die Veröffentlichung der Programmschrift ›Vom höchsten Wissen, vom Leben im Licht‹ die zahlreichen Zeitschriftenredaktionen zugesandt bekommen. Es ist ein Bund, der bald starken Zulauf weiterer Gesellschaftsutopisten und Sozialreformer erhalten wird. Zunächst wird versucht, über gemeinsames Essen, Unterweisung von Kindern in kunsthandwerklichen Betätigungen, Vorträgen, Rezitationen, Lesungen, den Menschen eine vorbildliche Sozialbildung zu liefern. Der junge Georg Levin, schon bald als Herwarth Walden bekannt, bereichert dabei mit seinem Klavierspiel die musikalischen und künstlerischen Darbietungen.
9. Mai: Lübeck. Brief an Hermann Sudermann mit der Bitte um Aufnahme in den im März gegen die Bestrebungen der Zensur der ›Lex Heinze‹ gegründeten ›Allgemeinen deutschen Goethe-Bund‹. »Meine Erwartung, daß sich in meiner Vaterstadt Lübeck eine Ortsgruppe des Goethebundes bilden würde, hat sich leider nicht erfüllt. Meine eigenen Bemühungen darum blieben erfolglos. Sie fanden nur in wenigen gleichaltrigen und jüngeren Freunden Beifall. Ich wurde einfach nach Berlin verwiesen. […] Sollte einmal die Zeit kommen, da der Bund eine jugendlich begeisterte Kraft braucht, zur Wahrung seiner idealen Interessen, so mag er auf mich zählen.« [AdK]
16. Mai: Hugo Landsberger, Herausgeber der Zeitschrift ›Das Neue Jahrhundert‹ bespricht enthusiastisch die ihm zugesandte weltanschauliche Programmschrift ›Vom höchsten Wissen, vom Leben im Licht‹ der Gebrüder Hart. Möglich, das M darüber auf die Gruppe in Berlin aufmerksam wird und er es seinem Vater wissen lässt. [MM, Nr.8 S.63]
Anfang Juni: Lübeck. Als bekannt wird, dass mit der ›Löwen-Apotheke‹ eines der ältesten Häuser der Stadt abgerissen werden soll, um einem modernen Gebäude zu weichen, regt sich Widerstand. Auch M ergreift Partei. »Der Freund [Curt Siegfried] hatte mir tags zuvor die Mitteilung gebracht, und ich setzte mich hin, schrieb meine fünf Aufsätze bis kurz vor Mitternacht, und Siegfried gelang es, in sämtlichen Redaktionen, deren jede natürlich glaubte, die erste und einzige Alarmbläserin zu sein, die Aufnahme noch in der Frühnummer durchzusetzen. Die Wirkung war erstaunlich.« [›Unpolitische Erinnerungen‹. AW, Bd.2 S.486f.] ◊ ›Modernisierung‹: »Da wäre es doch angebracht, wenn sich das Volk einmal auf sich selbst besänne, wenn die ›breite Masse‹ ihr Veto einlegte gegen das pietätlose Räumen mit den Überlieferungen der Vorzeit. In Resolutionen müßte Einspruch erhoben werden gegen die ›Modernisierung‹ unserer Straßen und Plätze, und für die Erhaltung unserer schon an und für sich sehr zusammengeschmolzenen Baudenkmäler.« [Lübecker Volksbote, 6.6.1900] ◊ Das Vorhaben gelingt. Zahlreiche Vereine sprechen sich ebenfalls für den Erhalt aus. Der Druck auf den Eigentümer wächst. Dank Spenden über 12 000 Mark kommt es bis Ende Juni unter der Vermittlung der ›Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Thätigkeit‹ zu einer für alle annehmbaren Lösung. [MM, Nr.10 S.33ff.]
Ende Juni: Lübeck. Der Vater vermittelt M eine Stelle in einem 3300 Einwohner zählenden Provinzstädtchen im Fürstentum Lippe, weitab irgendwelcher literarischer, sozialreformerischer oder städtebaulicher Visionen. [MM, Nr.8 S.59]
1. Juli: Blomberg. Beginn als Gehilfe bei Apotheker Friedrich Kopp am Marktplatz, bei dessen Familie er auch wohnt. Der Verdienst ist ausreichen und so hält sich der junge Angestellte eine Reihe von Zeitschriften darunter Landsbergers ›Das Neue Jahrhundert‹ und das führende Organ der Naturalisten ›Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik‹. Er ist hingerissen von der hier präsentierten modernen Lyrik. Erstmals dem strengen Vaterhaus entronnen, kann er ganz seine Gefühle freien Lauf lassen. »Angefüllt mit der Schulstubenlyrik Uhlands und Geibels traten wir neugierig ins Leben hinaus und erlebten mit staunender Bewunderung die heiße Kunst Liliencrons und Dehmels. Das waren ganz neue Klänge, das war das persönliche Bekenntnis und wilde Musik, und wir zitterten in dem Gefühl, ein großes Neuwerde mit anzusehen und mühten uns in Stunden der Versenkung, den neuen Vorbildern nachzustreben.« [Kain, 3.Jg Nr.8] ◊ Auf Wanderungen zum Detmolder Hermannsdenkmal entstehen mehrere Gedichte, die er seinem Lübecker Schulfreund Curt Siegfried zusendet. Er beginnt auch mit der Abfassung der Erzählung ›Tante Klodt‹. [MM, Nr.8 S.58ff.] ◊ Ein Dichter reift heran.
26. Juli: Blomberg. Visitation der Apotheke: »Mit seiner Thätigkeit und seiner Führung [des Gehilfen M] ist sein Prinzipal leidlich zufrieden.« (F. Beissenhirz) [MM, Nr.8 S.62]
29. September: Blomberg. M beendet seine Stellung als Apothekergehilfe. Er konnte seinem Vater glaubhaft machen, dass für sein weiteres Fortkommen Berlin der richtige Ort wäre. Dabei dachte er, anders als sein Vater, natürlich an sein zukünftiges literarisches Wirken. Über familiäre Kontakte, Ms Mutter ist die Cousine einer Berliner Apothekersfrau, lässt sich der Wunsch in die Tat umsetzen. [MM, Nr.8 S.62] ◊ Eine weitere Kontrollmöglichkeit bietet der wohlhabende Onkel Leopold Cohn, der Bruder seiner Mutter, der in Waidmannslust bei Berlin wohnt. Doch anders, als es der Vater wohl denkt, wird der Onkel seinen Neffen gewähren lassen. Der Großvater von Ms Mutter hatte all sein Erspartes in unbebautes Land am Rande von Berlin angelegt, das während der Gründerzeit als lukratives Bauland gefragt war. Mit seinem Tod hinterließ er zehn Mietshäuser, die die Enkel erbten. Leopold verwaltet das Erbe für sich und seine Geschwister. Wenn Ms Vater dann regelmäßig für mehrere Tage zu Besuch nach Berlin kommt, um für seine Frau die Abrechnung aus den Mieteinkünften mit dem Schwager zu besprechen, kleidet der den Neffen zuvor neu ein. M lässt sich dann auch die wild wuchernde Haarmähne stutzen und verkauft sie an einen Perückenmacher. Bei diesen zukünftigen Treffen mit dem Vater muss er sich dann immer wieder die Litanei über fleißige Altersgenossen anhören, die es schon zu etwas gebracht haben. [PM, S.6f.]
1. Oktober: Berlin. M beginnt seine neue Stelle bei Dr. phil. Josef Riesenfeld in der ›Adler-Apotheke‹, Reinickendorfer Straße Nr.1, am damaligen ›Wedding-‹, heute ›Nettelbeckplatz‹.
nach 1. Oktober: Berlin. Hier in der Hauptstadt gelingt es ihm, die Schrift der Gebrüder Hart zu erwerben, über die Hugo Landsberger im Mai im ›Neuen Jahrhundert‹ so emotional berichtet hatte. Er erfährt dadurch von der ›Neuen Gemeinschaft‹ in Wilmersdorf, die ein Ort von freien Geistern sein soll, in der niemand zu Gericht über den anderen sitzen, in der kein Führer, kein Regierender herrschen soll. Das Antiautoritäre spricht den während der Schulzeit jahrelang von Lehrer und Vater Gezüchtigten und von letzterem immer wieder Bevormundeten an. Und so macht er sich auf den Weg und nimmt Kontakt auf. [MM, Nr.8 S.62f.]
20. Oktober: Die erste Ausgabe ›Die Neue Gemeinschaft. Mitteilungen für Mitglieder und Gleichgesinnte‹ erscheint. Als Herausgeber fungiert für den ersten Jahrgang bis Dezember der in Friedrichshagen lebende Verleger Albert Weidner.
1. Dezember: Es erscheint der Grundsatzartikel der Vereinigung von Gustav Landauer ›Durch Absonderung zur Gemeinschaft‹. [Die Neue Gemeinschaft, 1.Jg Nr.6]
3. Dezember: Berlin. Im Saal der ›Academischen Bierhallen‹ in Charlottenburg findet eine Zusammenkunft der Anhänger der ›Neuen Gemeinschaft‹ statt. M ist zu Besuch und erhält von Heinrich Hart Landauers Schrift ›Durch Absonderung zur Gemeinschaft‹, die ihn während und nach der Lektüre erschüttert, überwältigt und innerlich aufwühlen wird. [MM, Nr.48S.64]
nach 3. Dezember: Besuch bei Heinrich Hart in der Rönnestraße Nr.11. Der junge Apothekergehilfe erfährt hier die ersehnte Aufmunterung.: »Dann fragte er mich nach meinen eigenen Angelegenheiten, und als ich ihm nun erzählte, daß mir die Apothekerei bis zum Halse stehe, daß ich die Berufung zum Dichter in mir fühle, daß ich deshalb meine Existenz als freier Schriftsteller führen wolle, daß mir aber von allen Seiten abgeraten und die schrecklichste Enttäuschung prophezeit würde, da rief er fröhlich: ›Unsinn! Wenn Sie keine Angst haben vor ein bißchen Hunger und ein paar Fehlschlägen, dann tun Sie getrost, was Sie ja doch tun müssen. Wie kann man denn einem Menschen von dem abraten, wozu es ihn drängt!‹« [›Unpolitische Erinnerungen‹. AW, Bd.2 S.501]
22. Dezember: Berlin. Nach April 1899 erscheint ein weiterer Aufsatz Ms, in der von Hugo Landsberger herausgegebenen Zeitschrift ›Das neue Jahrhundert‹. Mit ›Ein Stiefkind der Gesetzgebung‹ prangert er Missstände im Apothekenwesen an und macht sich für eine Reform stark u.a. fordert er die Verstaatlichung der Apotheken. [Posaune, S.729]
31. Dezember: Berlin. M kündigt seine Gehilfenstelle in der Apotheke. Fortan will er sich hauptberuflich als Schriftsteller und Dichter betätigen. [MM, Nr.4 S.14]
1901
?: Berlin. Erster Kontakt mit dem späteren badischen Landtagsabgeordneten der SPD, dem Mannheimer Rechtsanwalt Ludwig Frank. Der wollte von einem Insider etwas über den neuen Bund der Gebrüder Hart erfahren. M lässt in jugendlichem Enthusiasmus an der Politik der Sozialdemokraten kein gutes Haar und hält die freiheitlichen und sozialethischen Lehren der ›Neuen Gemeinschaft‹, die fortan die Grundlagen seiner eigenen Weltanschauung werden sollen, positiv überzeichnet dagegen. Frank versucht, mit Ironie das Ungestüme in Ms Auftreten herunterzuspielen. [Berliner Tageblatt und Handelszeitung, 43.Jg. Nr.611, 1.12.1914]
ab 1. Januar: Berlin-Moabit. Freier Schriftsteller. M bezieht ein Zimmer im dritten Stock der Wilsnacker Straße Nr.41 und nimmt engeren Kontakt zur alternativen ›Neuen Gemeinschaft‹ auf. Schon bald verwaltet er deren Bibliothek. Auf einer Veranstaltung lernt er Else Lasker-Schüler kennen, die von dem angehenden Dichter wenig begeistert ist und ihn später als »Läuserich« bezeichnen wird. [Bauschinger, S.72 u. 168] ◊ Schon bald ist er im Gegenentwurf der bürgerlichen Existenz zu Hause, der Boheme. Doch er geht noch einen Schritt weiter. Fühlen sich die meisten Bohemiens als etwas Besonderes, umgeben sich in ihrem Künstlertum mit snobistischen und elitären Attitüden, so gestaltet M seine Lebensweise als provokanten Gegenentwurf: auf der einen Seite demonstrativer Künstler und Individualist, andererseits soziales Gewissen und Sprachrohr aller Benachteiligten. Etwas, das nicht zuletzt ausgelöst wird durch die nähere Bekanntschaft mit dem Anarchisten Gustav Landauer, der für ihn in den folgenden Monaten und Jahren eine Art Lehrer darstellen wird. »Landauer führt mich ein in die Lehren Proudhons und Bakunins, Kropotkins und Marxens, welchen letzteren wir beide mit gleicher Leidenschaftlichkeit ablehnten. Die Klärung meiner Ansichten verdanke ich meinem Freund Gustav Landauer1900/01Hart ihre Zustimmung setzen: »So soll es sein! lieber Erich! Julius Hart«. [MM, Nr.7 S.10]