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Impressum
© Marie-Luise Decker 2020
© Reinhard Decker 2020
Redaktion, Fotos und Gestaltung:
Reinhard Decker, Marie-Luise Decker, Elisabeth Schmidle
Herstellung:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9-783-751-961042
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Dieses Buch ist in zwei Teilen aufgebaut. Der erste Teil umfasst meine Diplomarbeit nach einer dreijährigen Ausbildung in der Privatschule der Diözese Feldkirch als „Dipl. Trainerin für prozessorientierte Gruppenarbeit“. In dieser Diplomarbeit befasse ich mich mit den Grundlagen des Pilgerns im Unterschied zum Wallfahren.
In den vergangenen zehn Jahren bin ich viele Pilgerwege allein oder mit Gruppen gegangen. Dazu waren intensive Vorbereitungsmaßnahmen notwendig. Diese Pilgerwege habe ich im zweiten Teil ausführlich beschrieben und zusätzlich die Karten und Pläne mit GPX-Koordinaten auf meiner Webseite www.reluhop.at/Pilgerwege hinterlegt. Mit dem Passwort „Pilgern6820“ können Sie sich alle Unterlagen auf Ihren PC downloaden. Das Haus Domino der Pfarre Frastanz veranstaltet jeweils zweimal jährlich einen Pilgertag, der von mir vorbereitet und durchgeführt wird. Viele Pilgerwege führen von Frastanz zu einem Endpunkt oder umgekehrt nach Frastanz. Die angegebenen Zeiten sind reine Gehzeiten ohne Aufenthalte.
Pilgern ist meine Leidenschaft und ein Teil meines Lebensweges. Es macht mir Freude, diese Leidenschaft mit anderen Menschen zu teilen und auch sie für das Pilgern zu begeistern. Ich wünsche Ihnen mit diesem Buch viel Freude und vielleicht gelingt es mir, auch in Ihnen einen Samen für das Pilgern zu pflanzen.
Marie Luise Decker
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Das Wallfahren und Pilgern kenne ich aus meiner Kindheit. Bei uns zu Hause war es üblich, im Frühjahr und im Herbst eine Wallfahrt zu machen. Meinen Eltern war es wichtig, der Muttergottes für ein gutes Jahr, für die gute Ernte, aber auch für Glück und Segen in der Familie zu danken und zu bitten.
Meine vier Geschwister und ich waren noch sehr klein, als wir mit unseren Eltern zu Fuß von Bürserberg1, über den weit obenliegenden Ortsteil Tschengla zur Kapelle in Kühbruck2 im Gamperdonatal gepilgert sind. Auf dem Weg haben wir gebetet und gesungen und am Ziel bei der Kapelle in Kühbruck eine stimmungsvolle Dankfeier im Familienkreis gefeiert. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie meine Eltern die Lieder zur Muttergottes, wie „Maria, breit den Mantel aus“, „Glorwürdige Königin“ oder „Maria zu lieben“ mit voller Inbrunst auswendig gesungen haben. Inzwischen können wir diese Lieder auch noch in der heutigen Zeit auswendig, so oft wurden sie von uns gesungen.
Nach der Dankesfeier wurde noch etwas gegessen und Tee getrunken. Dann ging es wieder den Berg hinauf und die ganze Strecke retour. Das war immer ein besonderer, aber auch sehr anstrengender Tag für uns. Nach ca. sieben Stunden Gehzeit waren wir dann alle so ziemlich geschafft. Und dennoch freuten wir uns schon das ganze Jahr über auf diesen besonderen Tag.
Ich denke, dass ich das „Pilgern“ im Blut habe. Seit etwa 15 Jahren pilgere ich mit Freundinnen oder auch mit meiner Familie mindestens vier- bis fünfmal von der Kapelle Stellfeder3 (oberhalb von Nenzing) auf dem Bibelweg zur Kapelle Kühbruck und wieder zurück. Es ist jedes Mal eine neue Erfahrung und es finden wertvolle Begegnungen statt. Einmal pilgern wir im Schweigen, dann wieder ein Stück des Weges singend, betend oder wir tauschen uns zu zweit zu einem bestimmten Thema aus. Zu Fuß unterwegs zu sein, hat mich immer schon fasziniert. Den Boden unter die Füße zunehmen, das bewusste Auftreten, das Abrollen und wieder loslassen, ist für mich immer wieder ein „Aha-Erlebnis“. Inzwischen kenne ich auch andere Pilgerstätten und Pilgerwege, die mir sehr vertraut geworden sind.
Ich spüre immer wieder eine große Sehnsucht, mich als Pilgerin auf den Weg zu machen. Das bewusste Gehen in der Natur mit allen Sinnen, mit einem bestimmten Anliegen, ist mir wichtig und wertvoll geworden. Meine Begeisterung, meine Erfahrungen und Eindrücke in einer Gruppe, oder ganz alleine für mich zu pilgern, gebe ich gerne an interessierte Personen weiter.
So kommt es, dass ich mich gerade mit diesem Thema befasst habe. Jedes Mal, wenn ich pilgernd unterwegs bin, Schritt für Schritt bewusst gehe, spüre ich, wie mich das innerlich und äußerlich beruhigt. Ich merke, wie in mir Energie aufkommt, ich mich frei fühle, dadurch Distanz von alltäglichen Gewohnheiten und Verpflichtungen bekomme und mich dadurch immer mehr selbst spüren kann.
Im bewussten Wahrnehmen der Umgebung, im Loslassen, im Wandern mich zu wandeln, im Hier und Jetzt zu sein, achtsam mit meinem Körper umzugehen, auf ihn zu hören und so ganz bei mir zu sein. Diese Erfahrungen lassen mich immer wieder neu aufbrechen, um dadurch Kraft und Neuorientierung zu finden, um schlussendlich mich selbst zu finden.
Die Sehnsucht nach Innehalten, Empfindungen bewusst wahrzunehmen, sich eine Auszeit zu nehmen, neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken, sich neu zu orientieren, loszulassen und ganz bei sich zu sein, haben viele Menschen in sich. Dem nachzugehen, diese Möglichkeiten ernst zu nehmen, braucht viel Mut und ist eine ständige Herausforderung für jeden Einzelnen. Einfach aufzustehen, Altes zurück zu lassen und aufzubrechen ist der Anfang aller Veränderung und Verwandlung.
Mit diesem Buch möchte ich mich noch mehr mit der Thematik „Pilgern“ beschäftigen und sie verinnerlichen. Es war mir ein Anliegen, mich in dieses Thema ganz einzulassen und mich mit verschiedener Fachliteratur einzulesen, um dadurch mehr Hintergrundwissen zu bekommen. Ganz besonders spricht mich das „bewusste Gehen, Schritt für Schritt mit allen Sinnen“ an.
Ich möchte mit diesem Buch meine Erfahrungen, sowohl als „Pilgernde“, als auch als Begleiterin des Pilgerns darlegen und so vielen Menschen das Pilgern schmackhaft machen. Ich will sie motivieren, sich ganz bewusst einmal eine Auszeit zu nehmen und einfach aufzubrechen, die Erfahrung des Aufbrechens, des Gehens, des Innehaltens und des Ankommens einmal auszuprobieren, um dann vielleicht verwandelt, in den Alltag zurückzukehren.
So geht es im ersten Teil meiner Arbeit um die Geschichte und die Theorie des Pilgerns. Im Weiteren beschreibe ich verschiedene Aspekte des Pilgerns, den Unterschied zwischen Wallfahren und Pilgern, Wege, Orte und Symbole des Pilgerns. Dann zeige ich verschiedene Arten des Pilgerns auf und am Schluss kommt die Bedeutung einer Pilgerbegleiterin.
1 Bürserberg: Ein malerisches Bergdorf am Eingang eines der schönsten Hochtäler des Rätikons, dem Brandnertal. Die Gemeinde liegt auf einer Seehöhe von 870 m.
2 Kühbruck: Wallfahrtskirchlein im Gamperdonatal und der Muttergottes geweiht. Steht auf einer niedrigen Erhebung der Talsohle. Jedes Jahr findet eine Wallfahrt von Nenzing nach Kühbruck statt.
3 Stellfeder: Steht eine kleine Kapelle. Der Name Stellfeder lässt sich zurückführen auf ein romanisches Kastell aus dem 3. Jhdt. nach Chr., das erst in den Jahren 1940/41 bei umfangreichen Ausgrabungen entdeckt wurde.
Anselm Grün, Benediktinerpater und Autor zahlreicher Bücher, lebt in der Abtei Münsterschwarzach bei Würzburg. Er beschreibt in seinem Buch „Die Weisheit des Pilgerns“ einige Aspekte des Pilgerns.
„Der Pilger, der Vieles sieht, relativiert das Wissen. Es kommt nicht auf das Wissen an, sondern darauf, das Sein überhaupt zu verstehen, in die Geheimnisse des Seins einzutauchen.“4
Um die Weisung Gottes zu erfahren, pilgerten die Griechen zu den Orakelorten. Die Juden spürten Gottes Nähe besonders in ihren Tempeln in Jerusalem und pilgerten deshalb dorthin. Die Wirkungsstätten Buddhas faszinierten die Buddhisten immer wieder aufs Neue. Die Tradition des Pilgerns gab es in China und Tibet schon vor dem Buddhismus. Viele Menschen aus den verschiedensten Religionen pilgerten zu bestimmten Orten, in denen sie die Nähe Gottes in besonderer Weise erfahren durften.5
Das Wort „pilgern“ stammt vom lateinischen Wort „peregrinus“6 und heißt übersetzt: In der Fremde sein. Den Ursprung der christlichen Wallfahrt finden wir in der alttestamentarischen Wahlfahrtstradition. Ganze Völker waren unterwegs auf der Suche nach einer besseren Heimat. Von Anfang an gehörte das Pilgern zum Christentum. Immer schon machten sich Menschen auf den Weg, um heilige Orte, wie z.B. das Hl. Land, Rom, Assisi zu erpilgern. Pilgern wurde im Laufe der Zeit zu einer Massenbewegung, zu einem „frommen“ Tourismus auf festgelegten Straßen, die im Laufe der Jahrhunderte ein Wegenetz durch ganz Europa bildeten. Die christlichen Pilger waren zuallererst religiös motiviert. Sie waren überzeugt, dass die geistige Kraft der heiligen Orte sie im Glauben stärken wird.7
Anselm Grün schreibt, dass zwei Pole die Menschheit bestimmen. Ein Pol steht für die Sesshaftigkeit, der andere für die Wander- und Pilgerschaft.8 Für mich heißt das, für ein erfülltes Leben braucht es beides. Alles hat seine Zeit. Wenn ich in mir die Sehnsucht nach Pilgern spüre, dann muss ich mich auf den Weg machen, mir eine Auszeit gönnen, Schritt für Schritt im bewussten Gehen mich selber wieder mehr spüren, im Schweigen mit allen Sinnen in der Natur auftanken, um Kraft und Energie für den Alltag zu holen.
Das wahre Pilgern ist das Schweigen. Mit dem Schweigen begibt sich der Mensch auf eine innere Reise der Stille und wandert aus der Wohnung des Wortes. Der Mensch ist immer auf dem Weg, weil er letztlich auf dem Weg zu Gott ist.
Pilgern kann auch ein Weg der Sehnsucht genannt werden. Der Mensch geht auf den Weg, um Antworten zu finden. Gott hat in unser Herz einen Keim gepflanzt, der uns in Berührung mit dieser Sehnsucht bringt. Dieser Keim treibt viele Menschen an, den Spuren anderer Pilger zu folgen. Die Pilger lassen Vertrautes und Erreichtes hinter sich, um neue Sichtweisen für ihre Anliegen zu bekommen. Die Menschen auf dem Weg spüren sich dadurch lebendig.
Laut Anselm Grün heißt pilgern unter anderem: „leben und wandern auf dieser Erde.“9 Menschen waren immer schon pilgernd und wandernd unterwegs nach dem Vorbild Jesu Christi. „Jesus wanderte und pilgerte durch Galiläa, um das Reich Gottes zu verkünden.“10 Er pilgerte von Tempel zu Tempel, verkündete die frohe Botschaft, heilte und lehrte Menschen. Am Kreuz endete der irdische Pilgerweg Jesu. Jesus geht aber weiter bis heim zu seinem Vater, wo er herkam. Auf seiner lebenslangen Reise ist Jesus nicht nur als Verkünder des Reiches Gottes unterwegs, sondern zugleich verwirklicht er es im Unterwegssein auf dem Pilgerweg.11 Die rechte Art des Glaubens, wurde in der Pilgerschaft Jesu aufgezeigt.
Deshalb haben Mönche diese Idee des Pilgerns aufgegriffen und waren teilweise ein Leben lang auf Pilgerschaft nach dem Vorbild Jesu. Damit sie nicht an einen Ort gebunden waren, lebten sie in einfachen Zelten, die sie jederzeit verlassen konnten. Sie verstanden ihren geistigen Weg als Auftrag, immer mehr Christus pilgernd nachzufolgen.12
„Wer Jesus wirklich folgen will, muss Familie, Arbeit und das ihm vertraute Umfeld verlassen. Denn der Ruf Jesu ist kompromisslos radikal.“13
Meinen Erfahrungen nach heißt das, dass ich alles, was mir vertraut ist, zurücklassen muss, um mich in meiner Einfachheit, befreit von Ballast, auf den Weg zu machen und auf mein Inneres, mein Sein einlassen zu können, im Vertrauen auf den Ruf Gottes dieses Wagnis einzugehen und auszuprobieren.
Die Wurzel des deutschen Wortes „Pilgern“ ist >ager> = „Acker, auf dem Acker sein.“14 Wesentlich ist hier die Abwesenheit vom Vaterland, Heim, Haus.
„Der Pilger ist der Archetyp der Veränderung, die Figur, die in der Psyche auftaucht, wenn es Zeit wird, wieder aufzubrechen und eine neue Welt zu suchen.“15
Das Wort beschreibt den Vorgang des Reisens oder Wanderns, aber auch das Wohnen, den Aufenthalt in der Fremde.16
Das griechische Wort >Xenos> bedeutet nicht nur Ausländer, der Fremde, sondern auch der Gastfreund. Das heißt: Der Fremde, Andersartige, Beängstigende oft unheimlich Wirkende muss gastfreundlich aufgenommen werden. Durch den Fremden erfahren wir, dass wir selbst fremd auf dieser Erde sind.
Als oberstes Gebot aller Religionen schreibt Anselm Grün in seinem Buch ist: „Einen Fremden immer aufzunehmen.“ Dieser Satz passt ganz gut für mich und meine Einstellung zu diesem Thema. Mein offenes, gemütliches Haus schätzen sehr viele Menschen, die bei mir ein - und ausgehen. Jeder ist bei mir herzlich willkommen. Einen Platz und Zeit für den Nächsten zu haben, ist mir ganz besonders wichtig. Gastfreundschaft ist für mich etwas Selbstverständliches.
Die Pilgerwege waren so etwas wie ein „Internet des Mittelalters“. Auf dem langen, mühsamen (Fuß -) Weg erlebten die Menschen alles, was zu einer Pilgerschaft gehört: Kälte und Entbehrung, Gefahren aller Art, Blasen an den Füßen, Einsamkeit und Verzweiflung, aber auch die Freude an der Schönheit, der Natur und vor allem die Gemeinschaft mit anderen Pilgern, mit Gleichgesinnten.17
Pilgern war und ist keine Individualreise. Selbst die Abenteuerlust kommt nicht zu kurz. Die große Sehnsucht nach der Ferne, die Hoffnung, dort das Glück des Lebens zu finden, war für manchen Pilger Anlass, aufzubrechen. Die eigenen Grenzen neu auszuloten oder zu spüren, sind wertvolle Erfahrungen für jeden Pilger auf einer Pilgerwanderung. In jedem Menschen lebt die Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei des Alltags und aus der Enge seiner gewohnten Umgebung. Immer wieder lockt ihn das Andere, das Fremde.
Nur wenn wir den Pilger in uns lebendig erfahren, bleiben wir innerlich und äußerlich auf dem Weg. Auf diesem Weg stoßen wir auf Hindernisse oder unvorhergesehene Pannen, die uns das Weitergehen mühsam machen. Jeder Aufbruch ist mit Ängsten, Einsamkeit und Unbehagen besetzt. Kein Pilger weiß, was ihn erwartet. Es gibt aber auch die andere Seite. Auf jeder Pilgerwanderung trifft der Pilger Menschen, die ihn begleiten, beschützen und es gut mit ihm meinen.18
In jedem Pilger lebt die Ahnung von Freiheit und Weite. Neue Erfahrungen zu machen ist die Sehnsucht jeden Pilgers.19
Auch ich spürte eine große Sehnsucht aufzubrechen, Schritt für Schritt pilgernd unterwegs zu sein. Um mich in meiner Ganzheit zu spüren, pilgerte ich ganz bewusst schweigend und alleine. Diese tiefe Erfahrung war für mich sehr kostbar und wichtig. Mit der Gewissheit, Gott geht alle Wege mit, in Verbindung zwischen Himmel und Erde, mit allen Sinnen unterwegs zu sein, im Wandern verwandelt zu werden, das war für mich Grund genug, einfach aufzubrechen und mich auf dieses Abenteuer „Pilgern“ einzulassen.
Was bewegte die Menschen früher zu pilgern?
Für alle Religionen galt dasselbe: „Die Verehrung eines Heiligtums oder eines Heiligen.“ Sie suchten nach Heilung für das Leben hier, im Blick auf das Jenseits. Um von Schuld und Sünden befreit zu werden, pilgerten Menschen zu einem „heiligen Ort“. In der Hoffnung und im Vertrauen auf ein Wunder, z.B. Heilung einer schweren Krankheit, pilgerten Menschen ganz bewusst nach Lourdes.
Die Menschen im Mittelalter hatten spezielle Beweggründe, sich pilgernd auf den Weg zu machen. Durch das Pilgern auf dem Jakobsweg zeigten Könige, Äbte und Fürsten erstens, wer sie waren und auf welcher politischen Seite sie standen.
Reiche Leute hatten mitunter bezahlte „Deligationspilger“. Diese pilgerten stellvertretend in ihrem Namen oft mehrere Wochen.
Es gab Menschen die statt ins Gefängnis nach Santiago geschickt wurden. Anerkannt wurde die Pilgerreise nur mit der bestätigten Urkunde. Somit war die Strafe erlassen.20 In den Pfarreien waren es die fixen Wallfahrtstage oder die Bittprozessionen, die die Menschen in Anspruch nahmen, z.B. 1. Mai, Christi Himmelfahrt....
Die Pfarrwallfahrt von Nenzing nach Kühbruck wurde immer zu Fuß gepilgert, andere Wallfahrten wurden mit dem Bus gemacht. z.B. Klaus von der Flüe, Birnau am Bodensee, Locherboden in Tirol....
Ungefähr seit 10 Jahren ist das Pilgern in der Gesellschaft wieder sehr stark da. Es ist vor allem, das „Fußwallfahren“ ganz „In“ geworden. Ein richtiger Boom hat eingesetzt.
Es gibt übereinstimmende Beweggründe von früher und heute für das Pilgern:
Die Reiselust war immer schon da, das Interesse für andere Kulturen, die Geschichte dazu war eine große Motivation von Pilgern, dazu kam das Abenteuer, fremdes Land zu durchpilgern.
Tapetenwechsel: Durch das Pilgern können die Menschen eine gewisse Zeit aus dem Alltag aussteigen.
Eine große Sehnsucht nach einfachem Leben über eine längere Zeit macht sich bei vielen Menschen breit.
Der Wunsch ohne Terminkalender, ohne Handy auszukommen, ist sehr stark da.
Die Suche nach religiösen, spirituellen Erfahrungen, mit den Füßen zu beten, war und ist einer der Beweggründe, sich auf den Weg zu machen.
Selbsterfahrung über das bewusste Gehen, die körperliche Anstrengung, sich ganzheitlich zu erfahren, von Altem zu verabschieden, um bewusstes Neuorientieren bei einem Lebensübergang zu erahnen, das war und ist ein Ziel der Pilger.21
Wandern heißt für mich, gemeinsam etwas zu unternehmen. Eine Gruppe von Menschen wandert frisch drauf los, macht zwischendurch eine Pause, sie erzählen einander dies und das. Sie machen sich einen feinen Tag und kehren am Abend voll mit neuen Eindrücken, aber zufrieden nachhause zurück. Wandern ist eine äußerliche Unternehmung. Über einen Stein zu stolpern, ist bei einer Bergwanderung ganz normal. Bei einer Pilgerwanderung sind es eher die inneren Stolpersteine, die dem Pilger zu schaffen machen.22 Mitunter verschwimmen die Unterschiede zwischen Wanderer und Pilger, z.B. wenn ein Wanderer, der das ganze Jahr nicht ans Beten denkt, bei einer Kapelle plötzlich stehen bleibt und laut ein „Vater Unser“ betet, weil er einfach nicht anders kann.
Im Gegensatz dazu stehen beim Pilgern das Beten und das Fasten, das bewusste Unterwegs sein im Vordergrund. Pilger sind das wandernde Volk Gottes durch die Zeit. Pilgern bedeutet, sich auf die Grundlagen des Menschseins zu besinnen, dabei völlig „auf-zu-gehen“, auf dem Weg..., im Rhythmus des Gehens, in der wunderschönen Natur, zu einer Kirche, Kapelle oder auch zu einem Kloster. Grundsätzlich sucht der Pilger „heilige Orte“ auf.“ Mir als Pilgerin geht es ebenso. Immer wieder spüre ich eine große Sehnsucht, einfach aufzubrechen und loszugehen. Sehr oft pilgere ich auf dem Bibelweg oberhalb von Nenzing nach „Kühbruck“. Dieser Ort ist für mich und für viele Menschen ein „heiliger Ort“. Schon der schön angelegte Bibelweg durch das romantische Gamperdonatal berührt mich jedes Mal aus Neue. In der Kapelle einfach nur in Stille da zu sein, meinen Atem zu spüren, wie er kommt und wieder geht, da gelingt es mir gut, ganz bei mir zu sein. Aus dieser tiefen Erfahrung schöpfe ich immer wieder Kraft und Mut für meinen Alltag.
Die Kapelle „Maria Knotenlöserin“ im schweizerischen Rheintal entdeckte ich im letzten Jahr im Zuge meines Projektes als einen ganz besonderen Ort. Bewusst mit meinem Knoten, Schritt für Schritt von Rankweil bis ins schweizerische Rheintal zu Fuß zu pilgern und den Knoten dann bei der „Knotenlöserin“ abzulegen, war für mich als Pilgerbegleiterin mit meinen Pilgerfrauen ein sehr tiefes Erlebnis.
Mit einer Pilgerbegleiterin durfte ich in einer Frauengruppe ein Stück Jakobsweg gehen. Wir pilgerten mit verschiedenen Impulsen von Ludesch nach Bludesch zur Jakobskirche. Den Pilgerweg singend, betend und schweigend in der wunderschönen Herbststimmung zu erleben, hatte für mich eine besondere Qualität. Der stimmungsvolle, sehr persönliche Abschluss in der Kirche bleibt mir immer in Erinnerung.
Jedes Jahr in der Nacht zum ersten Mai pilgere ich in einer Gruppe von Frastanz nach Rankweil zur Bergkirche und wieder zurück. In der Nacht aufzubrechen und in den Tag hinein zu pilgern, hat eine eigene Dynamik für mich. So vom Dunkel ins Licht zu kommen, löst bei mir tiefe Freude und Erleichterung aus. Diese Erfahrung jedes Jahr aus Neue zu machen, ist für mich schon zu einem Ritual geworden. Immer wieder habe ich die Chance, bei mir selber anzukommen. Ein Pilgerweg führt mich immer zu mir selbst, wenn ich bereit bin, mich auf dieses Abenteuer „Pilgern“ einzulassen. Im religiös-christlichen Verständnis ist jeder Mensch eine Pilgerin, ein Pilger, der lebenslang auf der Suche nach einer Antwort auf die Fragen ist: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Voller Sehnsucht nach „Mehr als Alles“ unterwegs zu sein, das bedeutet für mich pilgern, denn wir haben keine bleibende Stätte hier, wir suchen nach der künftigen, endgültigen Stätte.